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Wenn einem Karnevalisten das Lachen vergeht, ist das nicht witzig. Wenn ein erfolgreicher und bekannter Karnevalist aber seine Depression wirksam bekämpft und mit dieser Krankheit offen umgeht, kann das – bei aller Traurigkeit – zum Schreien komisch sein. Willibert Pauels erzählt von seinem Leidensweg und wie er sich daraus befreien konnte. Ein wohltuendes Buch, nicht nur für Menschen, die mit der »Eiszeit der Seele« eigene Erfahrungen gemacht haben.
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Seitenzahl: 308
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Willibert Pauels mit Leo G. Linder
Das Buch
Wenn einem Karnevalisten das Lachen vergeht, ist das nicht witzig. Wenn ein erfolgreicher und bekannter Karnevalist aber seine Depression wirksam bekämpft und mit dieser Krankheit offen umgeht, kann das – bei aller Traurigkeit – zum Schreien komisch sein.
Willibert Pauels erzählt von seinem Leidensweg und wie er sich daraus befreien konnte. Willibert Pauels leistet mit seiner persönlichen Geschichte einen wichtigen Beitrag zur Endstigmatisierung von Depressionen.
Der Autor
Willibert Pauels alias »Ne Bergische Jung«, geb. 1954, ist ein kölsches Original, Büttenredner, Kabarettist und katholischer Diakon. Er schreibt als Kolumnist für den Bergischen Boten und ist regelmäßig mit seinem »Wort zum Samstag« im Kölner Domradio zu hören.
Willibert Pauels mit Leo G. Linder
Wie ich meine Depression überwunden habe
Genehmigte Taschenbuchausgabe von
»Wenn dir das Lachen vergeht: Wie ich meine Depression überwunden habe«
© Gütersloher Verlagshaus 2015
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf
Umschlagmotiv: © ChrisGorgio / GettyImages, © Annandistock / Getty Images
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster
ISBN Print: 978-3-451-03448-0
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83270-3
Der erste Auftritt des schwarzen HundesOder: Scheiß Doktor Sauerbruch!
Die Wandlungsfähigkeit des schwarzen HundesOder: In einem Raum mit verspiegelten Fenstern
Warum die heilige Teresa bei Schwermut vom Beten abrätOder: Ach, es hilft alles nichts
Von Menschen, die dummerweise keinen Filter habenOder: Mondo piccolo
Mein Weg in die KlinikOder: Der schwarze Hund greift an
Die biologischen Ursachen einer DepressionOder: Wenn die Botenstoffe verrücktspielen
Patentante Änni und ein Loblied auf meine KlinikOder: In der Psychiatrie ist es schön
Der entscheidende Punkt für meinen ArztOder: Ist der Karneval an allem schuld?
Der Arbeitstag eines ClownsOder: In einer Stunde steht mein Fahrer vor der Tür
Ein Wunder geschiehtOder: Die Wende
Der Beginn meiner Karriere als PappnaseOder: »Dreistes Studentlein stiehlt Profi die Schau«
Hin zum karnevalistischen OlympOder: Aufnahmeprüfung bestanden
Prominente LeidensgenossenOder: Als wäre ich ein Galeerensklave …
Der Satz eines 2000 Jahre alten PhilosophenOder: Was ich von Herrn Epiktet lernte
Eine Zahnlücke, ein Papst und ein TeppichOder: Jeder guckt hin, alle finden mich hässlich
Mein wunderbarer VaterOder: Drachen darf man nicht töten
Hat meine Depression etwas mit meinem Glauben zu tun?Oder: Wer einen Engel erzwingen will, erschafft eine Bestie
Eine Auseinandersetzung mit meinen atheistischen FreundenOder: Ein Staubkorn, verloren im sinnlosen Tanz der Atome
Märchen und GedichteOder: Die wahren Weltgeschichten
Lassen sich Kirche und Karneval vereinbaren?Oder: Das große Entweder-oder
Es gibt keine politisch korrekten WitzeOder: Ich bin so froh, dass ich nicht evangelisch bin
Erinnerungen an einen guten Freund und außergewöhnlichen MenschenOder: Eine Nacht mit Marc Aurel
Die Lehre des Herrn Epiktet aufs Leben angewendetOder: Die Welt im Licht der Hoffnung
Was hat Winnetou mit Theologie zu tun?Oder: Der Fels des Atheismus
Ein bisschen Kabarett zum SchlussOder: Heidewitzka, Herr Kapitän
Epilog von Dr. Martin Köhne
Dieses Buch handelt von einer Depression. Von meiner Depression. Es ist also kein wissenschaftliches Fachbuch. Es erzählt meine Geschichte, es spiegelt meine persönlichen Gedanken und Erlebnisse wider.
Wenn Sie selbst zu den Betroffenen gehören, werden Sie wahrscheinlich einiges wiedererkennen. Anderes wird mit Ihren Erfahrungen vielleicht nicht übereinstimmen. Lassen Sie sich dadurch nicht beirren. Die Depression hat viele Gesichter, sie kann sich auf unterschiedlichste Art auswirken. Ich kann hier nur schildern, was ich erlebt, gefühlt und erlitten habe; ich kann nur weitergeben, was meine behandelnden Ärzte mir erklärt haben.
Nichtsdestoweniger glaube ich, dass ich kein Ausnahmefall bin. Wer je Bekanntschaft mit der Depression gemacht hat, wird mir auf meinem Weg in die Depression folgen können; er wird sich mir auf meinem Rückweg von der Dunkelheit ins Licht gewiss auch gern anschließen wollen. Ich werde also das tun, was mir am meisten liegt: erzählen. Und vielleicht versteht man am Ende sogar, wie ein trauriger Clown ein fröhlicher Christ sein kann – oder ein trauriger Christ ein fröhlicher Clown.
Ihr Willibert Pauels
Ein wiederkehrendes Märchenmotiv ist die dreizehnte Fee, die unheimliche, die böse. Und stets spielt sich die Sache so ab: Einem Königspaar wird ein Kind geboren. Zur Feier des glücklichen Tags sollen im Schloss zwölf Feen bewirtet werden. Zwar leben im Reich des Königs dreizehn Feen, aber die Gedecke reichen nur für zwölf – eine hat das Nachsehen.
Die zwölf geladenen Feen treffen ein. Nacheinander treten sie an die Wiege des Neugeborenen und beschenken es; jede vermacht ihm ein besonderes Talent. Da geht die Tür erneut auf, ein kalter Luftzug weht herein, und die dreizehnte Fee steht im Zimmer. Auch sie tritt an die Wiege heran, auch sie hat ein Geschenk dabei, aber dieses Geschenk ist ein Fluch.
Mir hat die dreizehnte Fee den schwarzen Hund in die Wiege gelegt.
Den schwarzen Hund, so nenne ich meine Depression. Aber – um es gleich zu sagen: Erfunden habe ich ihn nicht. Erfunden hat ihn der englische Dichter Samuel Johnson im 18. Jahrhundert, ein Mann, der zeitlebens gegen die Schwermut ankämpfte – also depressiv war. Seither geht er um, dieser Höllenhund, und wem er sich anschließt, dem ist er treu. Mir ist er fast fünfzig Jahre lang nicht von der Seite gewichen. Oft war von ihm nur ein entferntes Knurren zu hören, aber von Zeit zu Zeit heulte er auf, dann sprang er mich an und warf mich zu Boden.
Als er sich das erste Mal auf mich stürzte, war ich zehn. Ich erinnere mich gut.
Sechzigerjahre. Im Fernsehen läuft ein alter UFA-Film über den berühmten Arzt Dr. Sauerbruch. Wie in jedem Ärztefilm geht es in den spannendsten Szenen um Leben und Tod. In Schwarz-Weiß sind sie noch eindrucksvoller. Die UFA-Regisseure sind Meister des düsteren, expressionistischen Stils, der dramatischen Licht-und-Schatten-Effekte, dazu die weit aufgerissenen Augen der Darsteller … Und dann folgende Szene: Dr. Sauerbruch wird spät abends, in einer sturmdurchpeitschten Nacht, ans Bett eines prominenten Patienten gerufen. War es Reichspräsident von Hindenburg? – Ich weiß es nicht mehr. Eine Berühmtheit jedenfalls, sterbenskrank, und Sauerbruch tritt ans Bett dieses Mannes. Der schlägt die Augen auf, erkennt seinen Arzt und fragt mit matter Stimme:
»Mein Freund, ist Gevatter Hein schon im Zimmer?« Worauf Dr. Sauerbruch mit ernster Miene entgegnet: »Im Zimmer noch nicht. Aber er geht schon ums Haus …«
»Schlaf gut, Willibert.«
Wie jeden Abend deckt meine Mama mich zu. Dann das Abendgebet: »Heiliger Schutzengel mein, lass mich dir anbefohlen sein …« Sie streicht mir übers Haar, sie gibt mir einen Kuss und ich sinke bald in den Schlaf.
Irgendwann in der Nacht wache ich auf, und da geschieht es: Aus der Dunkelheit springt mich der schwarze Hund an. Ein Gefühl hoffnungsloser Verlorenheit und panischer Angst. Ich weine. Ich schreie. Licht flammt im Zimmer auf. Mein Vater ist aus dem elterlichen Schlafzimmer herübergekommen.
»Willibert, hast du schlecht geträumt?«
»Nein.«
»Was ist denn?«
»Ich habe so Angst.«
»Wovor hast du Angst?«
»Doktor Sauerbruch.«
»Aha. Du sollst auch nicht immer diese Filme sehen. Dafür bist du noch zu jung.«
Er geht und lässt das Licht brennen. Aber die Angst bleibt. Die Verstörung bleibt. Ich liege wach, bis unruhiger Schlaf mir die Augen schließt.
In der zweiten Nacht dasselbe – Weinen, Schreie, Panik. Und in der dritten Nacht wieder. Diesmal reißt mein Vater die Tür auf, steht mit zerzaustem Haar in seinem Schlafanzug im Zimmer und brüllt bloß: »Scheiß Doktor Sauerbruch!«
Was ja schon wieder komisch ist. Ich habe meinen Zustand jedenfalls gleich mit diesem Film in Verbindung gebracht. »Gevatter Hein« – allein diese Umschreibung für den Tod, so vertraulich und gleichzeitig grausig! Dazu die Vorstellung, dass dich der Sensenmann holt, dass er bereits ums nächtliche Haus streicht, dass er womöglich bald vor dir steht und mit seinem kalten Atem dein Lebenslicht ausbläst … Das wird der Auslöser für meine Panik gewesen sein.
Aber die Ursache war es nicht.
Für meinen Vater stand fest: »Der Junge hat zu viel Fantasie.« Und es stimmt, ich bin sehr fantasiebegabt. Wenn mir eine spannende Geschichte serviert wird, sei es in einem Buch, sei es in einem Film, zieht es mich ins Geschehen rein. Für mich gibt es keine solide Absperrung zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Da geht es mir wie Bastian Balthasar Bux aus Michael Endes Unendlicher Geschichte, der das Land Phantásien nur deshalb retten kann, weil er sich von der Erzählung, die er gerade liest, buchstäblich aufsaugen lässt. Und richtig ist auch: Der Sauerbruchfilm war für einen kleinen Jungen wie mich starker Tobak. Da ging es um das Dramatischste, was ein Mensch aushalten muss, die Begegnung mit dem Tod – nur zu begreiflich, dass ich aufgewühlt war. Aber genauso wahr ist: Der schwarze Hund war immer schon da. Die dreizehnte Fee hatte ihn mir in die Wiege gelegt, und seither wartete er auf seine Stunde.
Das, wovon ich rede, ist keine gelegentliche Niedergeschlagenheit. Keine momentane Phase der Verzweiflung. Kein vorübergehendes Leiden an sich selbst oder der Welt. Ich rede von einer Veranlagung, einer depressiven seelischen Grundstruktur. Ich rede von einem aufgewühlten Meer der Angst, in das ich jederzeit stürzen kann, mitten im größten Trubel, und dem Gefühl, darin zu versinken, zu ertrinken. Und selbst heute, wo ich sagen würde: Willibert, du bist geheilt, du hast die rettende Insel erreicht … selbst heute ist es so: Ich wache morgens auf – und fühle mich dem neuen Tag nicht gewachsen.
Nicht dass ich ein Morgenmuffel wäre, der erst auf Trab kommen muss. Ich wäre froh, wenn es nur Schwunglosigkeit wäre. Aber es ist weitaus schlimmer. Es geht auch über das Gefühl hinaus: Ich weiß nicht, wofür ich aufstehen soll. Es ist ein regelrechtes Erschrecken. Im selben Augenblick, in dem ich die Augen aufschlage und mir meiner Selbst bewusst werde, befällt mich Panik. Da kommen alle möglichen Ängste angekrochen. Da stellt sich diese furchtbare Beklemmung wieder ein. Zwar nicht mehr als zähnefletschender schwarzer Höllenhund, aber immer noch als fieser, wütender Kläffer, groß genug, um mich davon zu überzeugen: Das wird heute ein ganz schlimmer Tag. Derart verstört ist es schon eine kaum zu bewältigende Aufgabe, mich anzuziehen. Und wenn jetzt jemand fragen würde: Ja, was ist denn so Schlimmes an diesem Tag? Dann müsste ich antworten: Nichts. Gar nichts. Keine Unannehmlichkeit erwartet mich, nichts und niemand setzt mich unter Druck. Kein Ungemach weit und breit.
Grundlose Angst. Völlig irrational. So war es immer, seitdem ich mich erinnern kann. Und doch ist alles anders geworden.
Verglichen mit dem, was ich in der Vergangenheit erlebt habe, sind meine Morgendepressionen heute harmlos. Das sind nur noch schwache Ausläufer meiner früheren Depression. Wer diesen Zustand nicht kennt, wäre entsetzt, und natürlich ist er auch für mich nicht schön, aber da ich ihn in seiner schwärzesten Ausführung kenne … Vor allem aber: Dieser Zustand hält nicht an. Wenn ich mich aufrappele, weil ich raus muss, weil ich einen Termin habe, dauert es keine fünf Minuten und die Panik verfliegt. Aber Morgen für Morgen ist es dasselbe. Erst das erschrockene Aufseufzen und die bange Frage: Was ist denn mit dir los? Wo kommt denn diese Niedergeschlagenheit her? Und dann die wundersame Erfahrung: Das Gespenst der Depression löst sich von einem Augenblick auf den anderen in Morgenluft auf.
Gottlob kann ich auch wieder schlafen. Selbst wenn ich nachts aufwachen sollte, fühle ich mich in Morpheus’ Armen geborgen und sage nur kurz zu mir: Hallo, da bist du ja, mein Freund. Komm, wir pennen noch ein bisschen weiter … Ich gehe sogar froh und zuversichtlich zu Bett, obwohl ich weiß: In der Frühe erwarten mich wieder meine panischen fünf Minuten. Aber das stört mich in diesem Moment gar nicht. Damit kann ich leben.
Nun, wahrscheinlich ist er nicht vollständig besiegt, der schwarze Hund. Aber zumindest ist er eingefangen und eingesperrt. Ganz los werde ich ihn wohl nie werden. Trotzdem fühle ich mich heute unendlich erleichtert, wie erlöst. Wie das kommt? Eines Tages, es war im August 2012, habe ich meinen Koffer gepackt und bin in die Psychiatrie gegangen. In die Klapsmühle, wenn Sie so wollen. Die Irrenanstalt. Die Klapse. Wo keiner landen will. Weil jeder weiß, was auf ihn zukommt, nämlich Türen ohne Klinken, Fenster, die sich nicht öffnen lassen, kräftige Männer, die schon mit der Zwangsjacke warten, Elektroschocks womöglich. Einer flog über das Kuckucksnest. Seither wissen wir Bescheid: In der Psychiatrie wirst du weggesperrt, gegen deinen Willen mit Medikamenten vollgepumpt und ruhiggestellt, bis deine Persönlichkeit zerfällt. Wenn du die Klapse je wieder verlassen solltest, bist du auf jeden Fall ein anderer, voraussichtlich ein dumpfes, verstörtes Wesen. Und vermutlich war dieser Ruf in früheren Zeiten wohlverdient.
Aber heute ist er es nicht mehr.
Jahre-, jahrzehntelang hat man als Depressiver geglaubt, nichts und niemand könne einem helfen – und dann macht man die Erfahrung, dass doch etwas hilft. Ich jedenfalls habe, als ich mein Zimmer in der Psychiatrie bezog, mit einer ungemein segensreichen Einrichtung Bekanntschaft gemacht. Mich in die Obhut der Ärzte dort zu begeben, war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Davon will ich in diesem Buch berichten. Von meinen Erfahrungen mit der Depression – und mit dem Ort, an dem einem wie mir geholfen wird. Und außerdem natürlich von Karneval und Kirche, von Humor und Glauben. Denn dies alles gehört bei mir zusammen.
Wie fühlt sich eine Depression an? Was erlebt einer, der das finstere Tal der Depression durchwandert?
Ja, damit beginnen die Schwierigkeiten schon.
Ein Psychiater sagte mir einmal: »Es ist schon fast tragisch … Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich mit Patienten, die an schwersten Depressionen leiden. Ich weiß aber gar nicht, wie sich Depressionen anfühlen, weil ich Gott sei Dank nie eine Depression gehabt habe. Wie würden Sie es beschreiben?«
Schwierigkeit Nr. 1 mithin: Da hat einer tagtäglich mit Depressionen zu tun, kann ihren Ursachen auf den Grund gehen, kann auch Abhilfe schaffen – aber was diese Menschen durchmachen, ist ihm letzten Endes ein Rätsel. So wie jedem anderen, der von Depressionen verschont bleibt. Aber so ist es. Wer diesen Zustand nicht kennt, kann sich unmöglich hineinversetzen. Er wird nie verstehen, was im Kopf eines Depressiven vorgeht.
Und Schwierigkeit Nr. 2: Als Depressiver würde man seinen Zustand am liebsten geheim halten. Man mag nicht drüber reden, und man kann es womöglich auch gar nicht. Man befindet sich schließlich selbst in Erklärungsnot – wie soll man da einem anderen erklären, was gerade mit einem los ist? Dem Betroffenen fehlen schlicht die Worte für eine Erfahrung, die andere zu ihrem Glück nie gemacht haben. Ganz abgesehen davon, dass sich die wenigsten in dieser jämmerlichen Verfassung der Öffentlichkeit – oder gar ihrem Freundeskreis – mitteilen wollen.
Schauen Sie: Wer eine Depression durchmacht, erlebt sie buchstäblich als Persönlichkeitszerstörung. Er hat jedenfalls nicht mehr die Kraft, seine bisherige Rolle in der Gesellschaft zu spielen – die des humorvollen Kumpels zum Beispiel, die des aufmerksamen Freundes oder die des allseits geschätzten Kollegen. Er kommt sich in diesem Zustand wie ein blasser Schatten seiner selbst vor, und das heißt: Er erkennt sich selbst nicht wieder. Begreiflicherweise will niemand vor seinen Mitmenschen ein derart jammervolles Bild abgeben. Man möchte, wenn die Depression endlich vorbei ist, auch nicht daran erinnert werden. Niemand soll sich erinnern. Wie Mehltau überzieht die Scham den ganzen Komplex der Depression. Je weniger die anderen also mitkriegen und wissen, desto besser. Schon deshalb folgt aus der Depression der Rückzug. Der Rückzug und das Verstummen.
Dazu kommt – Schwierigkeit Nr. 3 – eine weitverbreitete Abwehrreaktion. Gehört man womöglich in die Psychiatrie? Ist man am Ende reif für die Klapsmühle? Um Himmels willen – nein. Niemals. Man ist doch nicht verrückt … Alles in einem sträubt sich gegen diesen Gedanken – was durchaus verständlich ist. Wer in die Klapse muss, gerät ja immer noch leicht in den Ruf des Ausgestoßenen oder des bemitleidenswerten Versagers. Und die Irrenanstalten haben ihrerseits in der Vergangenheit oft wirklich kein ruhmreiches Bild abgegeben. Die Vorgeschichte der Psychiatrie ist schauerlich. Also am besten diesen ganzen Bereich mit Schweigen übergehen und sich äußerstenfalls nicht einmal selbst eingestehen, wie elend man dran ist, bevor sie dich womöglich einweisen und mit Psychopharmaka vollstopfen.
Und Schwierigkeit Nr. 4: Eine Depression ist uncool. Depression bedeutet ja: Schluss und Aus mit easy going. Damit passt sie einfach nicht zu unserer Spaß-Gesellschaft aus lauter strahlenden Erfolgsmenschen, nicht zur besinnungslosen Betriebsamkeit von Leuten, die alle davon träumen, die Nummer eins zu sein. Jemand, der lustlos rumhängt, fällt unangenehm aus dem Rahmen. Der funktioniert nicht mehr, der stört nur noch. Also lieber über den Hexenkessel im eigenen Inneren Stillschweigen bewahren und stumm leiden.
Es gibt aber noch eine tiefere Ursache des Verstummens. Denn die Depression stürzt einen Menschen in den Abgrund der Sinnlosigkeit. Nicht in jedem Fall, aber in ihrer schwersten Form gibt die Depression einen Vorgeschmack auf die Hölle, also auf ein Dasein ohne jeden Sinn.
In dieser Welt bist du überflüssig, da führst du eine vollständig sinn- und nutzlose Existenz. Aus allen Zusammenhängen herausgerissen, aus allen seelischen Sicherungssystemen herausgefallen, findest du dich in einem Kerker wieder, der jede Hoffnung auf einen Ausbruch erstickt. In diesem Kerker bist du allein. Du bist einsam. Kein Laut dringt herein. Kein Lichtstrahl erreicht dich dort. Es ist dunkel, es ist still, und in deiner Brust tobt die Angst, in deinem Kopf jagen sich die brennenden Fragen: Was – bedeutet das alles? Wie – bin ich hier hineingeraten? Warum – hat es mich getroffen? Wozu – soll ich jetzt noch weiterleben?
Eine schwere Depression ist die Erfahrung des Nichts. Die Abwesenheit von allem, was dich mit der Welt verbindet. Die Unfähigkeit, mit deiner Umgebung Kontakt aufzunehmen. Die Unmöglichkeit, dich in dieser Welt und unter den Menschen beheimatet zu fühlen. Die Depression entwurzelt dich gewissermaßen, sie reißt dich aus dem Mutterboden heraus, aus dem deine Seele ihre Zuversicht und ihren Lebensmut saugt. Oder, kurz gesagt: Wer unter einer solchen Depression leidet, fühlt sich in diesem Leben fehl am Platz. Und treibt in dem Meer aus Angst, welches unser Leben von allen Seiten umgibt wie der Ozean die Erdscheibe auf alten Weltkarten.
So war es jedenfalls bei mir. Die schwerste Form der Depression ist mir gottlob erspart geblieben – andere sind noch übler dran, als ich es war –, aber ich kenne die Angst, die Sinnlosigkeit, die Ausweglosigkeit. Wobei sich der schwarze Hund jedem, den er anspringt, in unterschiedlicher Gestalt zeigt. Meiner hat sich mir immer wieder in Form von Panikattacken und dem Gefühl tiefster Niedergeschlagenheit gezeigt.
Am ehesten lässt sich meine Erfahrung vielleicht nachvollziehen, wenn ich sie mit Albträumen vergleiche. Albträume kennt jeder, und keiner würde bestreiten, dass sie heftige Angstgefühle auslösen. Doch Albträume enden. Sie enden damit, dass der Träumende schweißgebadet erwacht, einen Moment verwirrt umherschaut und dann mit größter Erleichterung feststellt: Gott sei Dank – es war bloß ein Traum … Nun, meine Panikattacken sind wie Albträume, die nach dem Aufwachen weitergehen. Die gegen das Licht der Nachttischlampe oder der Morgensonne immun sind. Die ein Eigenleben führen, das unabhängig vom Zustand meines Bewusstseins ist.
Doch wie gesagt, der schwarze Hund ist wandlungsfähig. Freundlicherweise richtet er sich auch immer ein bisschen nach der Persönlichkeit dessen, den er anspringt. Mich beispielsweise hat er nie zum Verstummen gebracht. Ich habe mich zu keiner Zeit gescheut, offen über meine Depression zu sprechen; selbst in den schwärzesten Stunden hatte ich kein Problem, mich mitzuteilen. Wie’s aussieht, liegt mir das Verstummen nicht …
Also, die Symptome sind vielfältig, und sie können einzeln oder auch alle zugleich auftreten. Bei dem einen herrscht in diesem Zustand vielleicht abgrundtiefe Traurigkeit vor, bei dem anderen stille Verzweiflung, den Dritten plagt dauernde innere Unruhe, und dem Vierten verschlägt es womöglich ein Leben lang das Lachen wie das Weinen. Auch zu Wahnvorstellungen kann es kommen. So glaubt man im Wahn zum Beispiel, schwere Schuld auf sich geladen zu haben oder unheilbar krank zu sein. Und gelegentlich stellen sich sogar körperliche Symptome ein. Von Mitpatienten in der Klinik bekam ich zum Beispiel zu hören: »Ich hatte starke Schmerzen in der Herzgegend, aber der Arzt war ratlos, der fand nichts.« Oder: »Ich hatte ständig unerklärliche Schmerzen im Bein, kein Arzt konnte mir helfen.« Und zunächst hatte natürlich keiner dieser Mitpatienten etwas von einer Depression wissen wollen. »Ich bin doch nicht bekloppt«, war die übliche Reaktion gewesen. Aber – Depressionen sind einfallsreich. Sie können sich tatsächlich auch auf dem Umweg über den Körper Gehör verschaffen, und nur ein Arzt kann diese Zeichen deuten. Gemeinsam hingegen ist allen Formen der Depression die Antriebslosigkeit. In jedem Fall gehört es zum Krankheitsbild, dass du dich in dich selbst verkriechst. Du verkapselst dich, du verlässt womöglich dein Bett nicht mehr, du ziehst dir buchstäblich die Bettdecke über den Kopf, und im Extremfall kann die Antriebslosigkeit so weit gehen, dass ein Betroffener zu verdursten droht, weil es nicht einmal der rasende Durst mit der lähmenden Kraft der Depression aufnehmen kann. Das Schlimmste aller Symptome aber ist der Suizidwunsch, wenn dir die Vorstellung, mit dieser inneren Qual weiterleben zu müssen, unerträglicher erscheint als die Vorstellung, deinem Leben ein Ende zu setzen. So sagte mir jemand, den es immer wieder ganz schwer erwischte: »Ich habe es dann mit langen Waldspaziergängen versucht, aber ohne jeden Erfolg, weil ich mir bloß überlegte: An welchem Baum hängst du dich auf?«
Diesen Punkt habe ich nie erreicht, aber oft genug konnte ich diesen Wunsch verstehen. Denn die Phasen schwerer Depression sind wie nicht gelebtes Leben, von dem der Abschied in den dunkelsten Augenblicken leicht zu fallen scheint.
Wenn einen in dieser Verfassung vielleicht jemand trösten kann, dann berühmte Leidensgenossen. Imaginäre Weggefährten durch das finstere Tal der Depression. Menschen, die einen blind verstanden hätten, wenn man einander begegnet wäre; von denen man sich auch über den Abgrund von Jahrhunderten hinweg verstanden fühlt. Mir jedenfalls ging es so. Ich werde es sicher noch häufiger sagen, und ich sage es hier zum ersten Mal: Für mich war es eine kleine Offenbarung, als ich erfuhr, dass Goethe, unser Johann Wolfgang von Goethe, an Depressionen litt. Das lässt sich aus seinen Briefen herauslesen, dafür finden sich auch Anzeichen im Faust. Hätte er sonst so poetisch treffende Worte für den Grübelzwang gefunden, der jeden Betroffenen quält? »Weh! Weh! Wär’ ich der Gedanken los, die mir herüber und hinüber gehn«, heißt es an einer Stelle im Faust, und an anderer, in grausiger Anschaulichkeit: »Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten …«
Ja, wär’ ich die Gedanken los … Die Ängste kommen schließlich auf Gedanken angeritten. Dann schnürt es dir die Kehle zu, und schon schrillt die Alarmsirene, schon dreht sich das Blaulicht in deinem Kopf, und im selben Moment setzt das Grübeln ein: Wie kommt das, fragst du dich. Woran liegt es? Was mache ich jetzt? Wie komme ich da wieder raus? … Diese Gedanken sind schwarze Gedanken, und sie jagen dich von einer Kerkerecke in die andere, wo du überall gegen Mauern stößt, und irgendwann drehen sie sich nur noch wie toll im Kreis. Grübelzwang. So spielt sich das Denken im Kerker der Sinnlosigkeit ab. Es macht dich wahnsinnig.
Und die »schwankenden Gestalten«? Ich muss bei ihnen an die »Dementoren« in den Harry-Potter-Büchern denken. In schwarze Kapuzenmäntel gehüllt, gleiten sie geräuschlos heran. Wesen, die dir die Seele aussaugen. Du kennst sie, und du erschrickst. Denn diese Wesen nähern sich wieder, und auf das »Wieder« kommt es an. Man stelle sich den Satz ohne dieses Wörtchen vor – in dem Fall würde es fast nach Abenteuer klingen, da könnte man glatt sagen: Na, schauen wir doch mal, was es mit diesen schwankenden Gestalten auf sich hat, wer sich wohl unter diesen Kapuzen verbirgt … Aber nein, diese Gestalten nähern sich nicht zum ersten Mal. Sie nähern sich zum wiederholten Mal, es sind Wiedergänger, und aus bitterer Erfahrung weißt du: Sie bringen dich in ihre Gewalt. Sie werden über dich herrschen. Und ihre Macht ist absolut.
Zweimal, im Faust und bei Harry Potter, habe ich genial beschrieben gefunden, was das Wesen einer Depression in seinem innersten Kern ausmacht, nämlich der Grübelzwang und das Gefühl der Ausweglosigkeit. Und dieses Gefühl, also die völlige Hoffnungslosigkeit, ist vielleicht das Unbegreiflichste und, aus professioneller Sicht, Faszinierendste an der Depression, so, wie ich sie empfunden habe.
Ich will hier einmal zitieren, was mir ein Psychiater aus seiner Praxis dazu erzählt hat. Er sagte: Es gibt Patienten, die immer wieder kommen. Zwischenzeitlich ging es ihnen gut, aber dann ist es wieder so weit, die Depression ist zurückgekehrt, sie suchen mich also erneut auf, und im Aufnahmegespräch kommt es zu folgendem Dialog:
Patient: »Herr Doktor, diesmal komme ich da nicht mehr raus.«
Psychiater: »Aber Sie wissen doch, dass man aus einer Depression herausfinden kann. Sie haben es doch schon drei-, viermal selbst erlebt.«
Patient: »Ja, aber diesmal nicht. Diesmal besteht keine Hoffnung auf Besserung mehr …«
Mit anderen Worten: Diese Patienten sind felsenfest davon überzeugt, für den Rest ihres Lebens im dunklen Kellerloch der Depression ausharren zu müssen. Egal, wie oft sie diesem Loch schon entkommen sind – diesmal wird es nicht gelingen. Ich kenne das. Jeder, der eine Depression erlebt hat, kennt das. Du suchst den Schalter, mit dem sich der Grübelzwang abstellen lässt, aber du findest ihn nicht. Aus dem Reich der Dementoren gibt es kein Entrinnen. Alle Gewissheiten hast du verloren, bis auf die eine: dass du verloren bist. Dass du dazu verdammt bist, bis zum Ende deiner Tage durch ein eisiges, nachtschwarzes Universum zu taumeln, Lichtjahre entfernt von jedem irdischen Glück. Ich kenne das zur Genüge, und selbst heute geht es mir noch so, in den besagten fünf panischen Minuten nach dem Aufwachen. Ich kann mir dann nicht einreden: Bleib ruhig, Willibert, in fünf Minuten freust du dich wieder. Das kauft mir meine Seele nicht ab. Nie glaube ich, wenn ich aufwache, dass meine Depression im Handumdrehen vorbei sein wird. Ich zwinge mich dann aufzustehen, und fünf Minuten später ist es auch tatsächlich so, als wäre nichts gewesen. Doch solange ich drinstecke, frage ich mich, und zwar jedes Mal aufs Neue: Wie hast du es je geschafft, da rauszukommen? Für die Dauer von lächerlichen fünf Minuten erscheint es mir unmöglich.
In ihrer akuten Phase lehrt einen diese Krankheit nichts, sie beschenkt einen mit keiner wertvollen Erfahrung, man möchte nur, dass sie aufhört, und gleichzeitig ist man überzeugt, ihr ein ewiges Bleiberecht einräumen zu müssen.
Wahnsinn. Aber vielleicht wenigstens halbwegs nachvollziehbar, wenn man folgenden Vergleich heranzieht:
Stell dir vor, du befindest dich in einem unbekannten Raum. Du gehst ans Fenster, du willst hinausschauen, doch statt einer Scheibe ist da ein Spiegel. Alle Fenster dieses Raums sind Spiegel. Jeder Versuch, dir ein Bild von der Außenwelt zu machen, wirft dich auf dich selbst zurück, und nie siehst du in diesen Fenstern etwas anderes als das eigene Gesicht mit den schreckgeweiteten Augen und der schwarzen Höhle eines aufgerissenen Mundes, wie wir es von Edvard Munchs berühmtem Gemälde Der Schrei kennen.
So fühlte sich meine Depression an.
Ja, es stimmt. Ich muss den hoffnungslosen Patienten recht geben. Einmal in dieser Weise in sich selbst gefangen, hilft tatsächlich nichts mehr. Jedenfalls nichts, was unser gewohntes Leben zu bieten hätte. Nichts, was wir aus unserer Alltagserfahrung kennen würden. Trost prallt an einem ab, Karneval macht’s nicht besser, Trinken nützt genauso wenig, selbst Beten ist zwecklos.
Aber dazu mehr im nächsten Kapitel.
Von dem englischen Dichter Lord Byron stammt der herrliche Ausspruch: »Nichts wirkt so beruhigend auf unsre Seele wie Rum und Andacht.« Wohlgemerkt: … und Andacht, also Beten, nicht: … oder Beten.
Wie ich finde, hat er damit grundsätzlich recht. Mit dem Beten sowieso, aber auch mit dem Glas Rum.
Denn ich gebe es zu, ich schätze die Freuden alkoholischer Getränke und kann alle großen Zecher verstehen. Als rheinischer Jung feiere ich selbstverständlich für mein Leben gern, Trinklieder sind für mich die schönste Poesie, und die zahllosen angenehmen Seiten unseres Daseins habe ich immer gern besungen, am liebsten mit den Liedern von Karl Michael Bellmann. Der gehörte zu den großen Barock-Komponisten Skandinaviens, und seine großartigen Trinklieder wurden von Carl Zuckmayer kongenial ins Deutsche übersetzt, einem Rheinländer in Reinkultur also, der mit seinem Fröhlichen Weinberg ja seinerseits ein trunkenes, »bacchanalisches Fest« auf die Beine gestellt hat, ein Hohelied der Trunkenheit und Weinseligkeit.
Hier wird das Trinken als himmlischer Genuss besungen. Von Rotwein und Pimpernelle als Frühstück und einem schäumenden Krug zu Mittag ist poetisch die Rede.
Das ist kultivierteste Lebenslust, und als Ausbrüche solcher Lust sind mir Bellmanns Trinklieder lieb und teuer. Rausch und Trunkenheit, warum soll man dem Menschen das verbieten? Wie viele Freundschaften, wie viele Verbrüderungen gehen auf das Konto von Festen, wo Wein und Gerstensaft in Strömen flossen? Wie viele Einfälle, Eingebungen, Geistesblitze und Witze verdanken sich einem berauschten Kopf?
Aber – und mal ganz abgesehen davon, dass Karl Michael Bellmann sich schließlich elendiglich zu Tode gesoffen hat – als Medizin und Antidepressivum kommt Alkohol nicht infrage. Absolutes Tabu. Und zwar, weil berauschende Getränke teuflischerweise hochwirksam sind.
Du kannst den Grübelzwang durch Alkohol nämlich tatsächlich abstellen. Ein Glas Rum wird nicht reichen, aber nach drei bis vier Gläsern beginnt sich das innere Gefängnis zu weiten, und die schwarzen Gedanken schillern plötzlich in wundersam bunten Farben. Prima, denkst du.
Das Fatale ist: Wenn der Rausch verflogen ist, kommen die Gedanken, die du loswerden wolltest, zurück, und zwar mit doppelter oder zehnfacher Heftigkeit, und du gerätst in die Spirale der Sucht. Du weißt ja jetzt: Ich brauche nur zur Flasche zu greifen und mir so lange einzuschenken, bis sich die schwankenden Gestalten anstandslos zurückziehen. Und so richtest du dich in einem Dauerrausch ein, der dich in den Untergang führt.
Der Rausch als Rettungsanker – das ist ja an sich schon eine völlig absurde Vorstellung. Die Depression mit Alkohol zu bekämpfen, ist wie der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Es wird aber immer wieder gemacht. Ich bin überzeugt, dass alle Alkoholiker in die zerstörerische Abhängigkeit vom Alkohol gerutscht sind, weil ihnen der Alkohol als Rettung erschien, und gerade in der Depression greift man in seiner Verzweiflung nach jedem Strohhalm. Ich will es deshalb noch einmal klar und deutlich sagen: Wenn Alkohol nicht dem Genuss dient, der aus einer inneren Freiheit kommt, sondern als Heilmittel missbraucht wird, dann macht er erst recht krank. Auch ich musste das lernen. Denn diese Gefahr bestand auch bei mir.
Es hat ja jeder Betroffene so seine Tricks und Manöver und Ablenkungsstrategien, um seiner Depression irgendwie Herr zu werden. In meinem Fall war es die Flucht, vor allem die Flucht ins Feiern, in den Rausch, in den Trunk. Was die Sache – ich brauche es kaum zu sagen – nur schlimmer machte. Zwar war ich für den Augenblick von konkreten Ängsten befreit und fand das Leben sogar schon wieder halbwegs lustig, aber nur, um anschließend die schreckliche Erfahrung zu machen: Der schwarze Hund hatte bloß auf mein Erwachen aus dem Rausch gewartet. Und war am nächsten Morgen doppelt so groß wie vorher.
Einen körperlichen Kater hatte ich merkwürdigerweise nie, wohl aber jedes Mal einen seelischen Zusammenbruch, ein moralisches Herzrasen. Ich erlebte dann eine teuflische Melange, einen Cocktail aus drei verschiedenen Giften, nämlich: 1. Panik angesichts der Möglichkeit, im Rausch etwas verbockt oder Blödsinniges von mir gegeben zu haben und mich nicht mehr zu erinnern. Ich stellte mir also gleich ein paar Auswüchse vor, peinliche Fehltritte oder Ähnliches. Sodann 2. Schuldgefühle, sozusagen für alle Fälle, vorsichtshalber. Und 3. tiefste Niedergeschlagenheit, größte Verzweiflung über die Ausweglosigkeit einer Situation, in der das Einzige, was hilft, dich langsam, aber sicher zerstört …
Nein, so recht Lord Byron mit seinem Glas Rum oder Karl Michael Bellmann mit seinem Rotwein und seinem Schnäpslein hatten – in der Depression hilft Alkohol nicht.
Aber was ist mit dem Beten, dem zweiten Mittelchen auf Lord Byrons Rezept für Seelenruhe?
Zu mir haben schon Leute gesagt: »Entweder Sie sind fromm oder Sie sind depressiv.« Das waren natürlich Leute, die wissen: Der Willibert Pauels ist Diakon. Der hat im Kölner Dom die Weihe empfangen. Der predigt sogar im Altenberger Dom … Und die sagen: Also, was denn jetzt? Depressiv und fromm geht ja wohl nicht …
Was soll ich armer Sünder darauf antworten?
Bleiben wir mal beim Beten (zum Diakon kommen wir später noch). Selbstverständlich ist es in meinen Alltag eingewoben. Und zwar meist das klassische Gebet, das Stundengebet, das alle katholischen Priester und Ordensleute »von Manila bis Mülheim an der Ruhr und vom Hochland von Peru bis zum Hunsrück« (Hans Conrad Zander) beten. Natürlich kann das jeder sprechen – auch Sie, liebe Leserin, auch Sie, lieber Leser –, aber als Geistlicher geht man mit der Weihe eine regelrechte Verpflichtung ein, beim Stundengebet, so gut es eben geht, auf Regelmäßigkeit zu achten.
Das Wunderbare daran ist: Wenn ich das Stundengebet des heutigen Tages aufschlage und die alten Psalmen bete, tun das auf der ganzen Welt, zeitlich versetzt, sämtliche Kleriker in ihren Kämmerlein und sämtliche Ordensbrüder und -schwestern in ihren Klöstern auch. Zusammen mit mir betet der alte Missionar in Kuala Lumpur, der vor mehr als einem halben Jahrhundert mit jugendlichem Elan aus seiner Heimat im, sagen wir, Hunsrück ausgewandert ist. Es betet die Nonne in Lima. Es betet der junge, dynamische Kaplan in Massachusetts. Es betet der jetzige Papst, der Erste aus der Neuen Welt. Und an jedem Abend heißt es dann in der Komplet:
»Sei unser Heil, o Herr, derweil wir wachen. Behüte uns, da wir schlafen. Auf dass wir wachen mit Christus und ruhen in seinem Frieden. Nun lässt du uns, Herr, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Unsere Augen haben das Heil gesehen, und Herrlichkeit für das Volk Israel. Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie am Anfang so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.«
Diese Worte, zusammen mit dem Wissen um die weltumspannende Gemeinschaft der Betenden, sind ein großer Trost zum Abschluss des Tages – also, lieber Lord Byron: fürwahr eine treffliche Empfehlung. Und ein paar Stunden später ist dann auch schon das Morgengebet dran. Für mich ist Beten eben auch ein Ritual, und diese Regelmäßigkeit ist wichtig, denn sie gibt zusätzlichen Halt. Wie heißt es bei den Juden so schön? Nicht alle Juden halten den Sabbat, aber der Sabbat hält alle Juden.
Und darum geht es beim Beten in erster Linie. Ich sag’s mal ein bisschen blasphemisch: Dem lieben Gott ist es wurscht, ob ich bete. Wenn er von meinem Gebet abhängig wäre, reduzierte ich ihn zu einem lächerlichen Prüfungsbeamten. Aber mir kann es nicht wurscht sein. Denn, wie Thomas von Aquin gesagt hat: Das Gebet ist im letzten die Vergewisserung meiner Sehnsucht (interpres desideri) … Im Gebet komme ich zur Ruhe, so wie ein Schiff auf stürmischer See Halt findet, wenn es den Anker wirft. Deshalb sollte man meinen – und das habe ich früher auch selbst gemeint: Wenn dich der schwarze Hund anspringt, dann setze dich halt hin und sprich ein Gebet – der Seele wohltun wird es auf alle Fälle.
Aber nein, keineswegs! Tut es nicht!
Natürlich habe ich es mit Beten versucht. Natürlich habe ich die trostreichen Worte gesprochen, immer und immer wieder. Nur unmittelbar genutzt hat es nichts.
Aber warum? Wie ist das möglich?
Nun, um beim Bild des Schiffes zu bleiben: Wenn die See richtig tobt, kann es ein Schiff, das am Anker hängt, zerreißen. Oder, psychologisch gesprochen: Du bist ein frommer Mensch. Du hast immer darauf vertraut, dass wir in Gott geborgen sind. Und jetzt gerätst du in diese für dich vollkommen unverständliche und verzweifelte Situation, wo die Depression dir die Seele aussaugt und dich in dieses Meer aus Angst wirft, und nun merkst du, dass Beten nicht hilft, dass es dich durchaus nicht beruhigt … ja, daraufhin wird deine Depression natürlich nicht besser! Daraufhin wird sie womöglich noch schlimmer, weil sich dir obendrein der erschütternde Gedanke aufdrängt: Es ist alles Unsinn! Es ist alles Quatsch! Es hilft kein Gebet, es gibt keinen Gott, es ist alles nur noch furchtbar. Oder du fragst dich: Was habe ich verbrochen? Bei Lord Byron hat das Beten gewirkt, bei allen anderen wirkt es auch, nur bei mir wirkt es nicht – und plötzlich verstehst du, warum es zu den meisten Suiziden bei schönem Wetter kommt: Rings um dich her freuen sie sich, ein jeder genießt die Sonne, nur du kannst ihre Freude nicht teilen. Nicht einmal dem strahlendsten Sommertag gelingt es, diesen Überzug aus Eis auf deiner Seele zum Schmelzen zu bringen.
Und deshalb: Kluge Menschen haben es immer schon gewusst. Die heilige Teresa von Ávila zum Beispiel, eine emanzipierte Frau zu einer Zeit, als es das Wort noch nicht gab, eine Rebellin, die mit einer Schar von Frauen ein Haus besetzte und dort ein Kloster gründete … Die große Teresa von Ávila also hat ihren Ordensschwestern dazu geraten: Sollte eine Schwester an Schwermut leiden, unterlasse sie das Gebet! Statt zu beten, möge diese Schwester versuchen, sich zu zerstreuen.
Sich also auf andere Gedanken bringen, sich ablenken, um erst einmal dem Grübelzwang zu entkommen.