Von wegen Hokuspokus - Willibert Pauels - E-Book

Von wegen Hokuspokus E-Book

Willibert Pauels

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Beschreibung

Mit viel rheinischem Humor stellt sich Willibert Pauels der Frage, wie man heute noch an Gott glauben könne: "Bin ich bekloppt?" – ganz im Gegenteil! Willibert zeigt in kurzen Geschichten, Witzen, Liedern und Gedichten, wie die Sehnsucht Glauben stiftet, der auch durch Zeiten des Leidens trägt. Der Glaube ist kein "Hokuspokus"! Er macht Lust auf Leben!

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Willibert Pauels

Von wegen Hokuspokus

Die befreiende Kraft des Glaubens

Titel der Originalausgabe: Lachen, Leiden, Lust am Leben.

Die befreiende Kraft der Religion

© Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2018

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und des Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: Panptys / GettyImages, © seamartini / GettyImages

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN (Print): 978-3-451-03445-9

ISBN (EPUB): 978-3-451-83450-9

Inhalt

1. Vom Durst und der Quelle

1.1 Bin ich bekloppt?, oder: Fast ein Vorwort

1.2 Was Thomas Bernhard mit der Sachsenklinik verbindet, oder: Atheismus ist nicht schön

1.3 Hollywood zeigt, was ein Literatur-Nobelpreisträger denkt, oder: Von der Sehnsucht nach ewiger Heimat

1.4 Da berühren sich Himmel und Erde, oder: In der Liebe und der Kunst können wir das Ewige ahnen

1.5 Von wegen Hokuspokus, oder: Es lohnt sich, Nahtod-Erlebnisse ernst zu nehmen

1.6 Ein schweigender Ochse und ein Freund des Judas, oder: Was Thomas von Aquin und Blaise Pascal gesehen haben

2. Vom Leiden und Glauben

2.1 Heinerle, komm bet mit mir, oder: Warum lässt Gott das Leid in der Welt zu?

2.2 Was Wanderer und der Namensgeber eines Kekses wissen, oder: Kann man das Licht schätzen, ohne die Finsternis zu kennen?

2.3 Ich brauche jetzt etwas mit Haut drumherum, oder: In Jesus ist Gott begreifbar geworden

2.4 Die von der Bärengruppe sind doof, oder: Der Herdentrieb gehört zur Natur des Menschen

2.5 Kann man das Meer in ein Loch am Strand schaufeln?, oder: Gäbe es das Dogma der Dreifaltigkeit nicht, man müsste es erfinden

3. Vom Lachen und Witze-Machen

3.1 Der dicke Denker und sein Pater Brown, oder: Warum Glauben und Lachen zusammengehören

3.2 Mach aus dem »Highway to hell« einen »Highway to heaven«, oder: Um psychisch gesund zu sein, sollte man über den Dingen stehen können

3.3 Scheiß auf den Terror – Hauptsache, das Bier ist in Sicherheit, oder: Gerade in der Not braucht der Mensch Humor

3.4 Ein Hoch auf politisch inkorrekte Witze, oder: Lasst euch von keiner Diktatur der Welt das Lachen verbieten

3.5 Kommt ein Papst in den Himmel, oder: Witze als Lackmustest für die Gesundheit einer Religion

4. Von Geschichten und Wahrheiten

4.1 Wenn man in Märchen und Gedichten erkennt die wahren Weltgeschichten, oder: Bilder tiefer Wahrheit finden

4.2 Ich wollte wie Orpheus singen, oder: Erkenntnisse auf Sizilien

4.3 Den Sprung von der Folter zum süßen Backwerk schaffen, oder: Heilige lehren uns die österliche Perspektive

4.4 Wahrheiten aus Lügien und Trügien, oder: Ein Lob auf Hans Conrad Zander

4.5 Entweder man nimmt die Bibel wörtlich oder ernst, oder: Vom lohnenden Blick ins Buch der Bücher

5. Vom Leben und Sterben

5.1 Dank sei dem Hochamt der Sinneslust, oder: Karneval ist gesund

5.2 Das Grab ist leer, der Held erwacht, oder: Ich brenne für die österliche Botschaft

5.3 »Karl-Heinz, du tot im Flur? So kenn ich dich ja gar nicht!«, oder: Aus der österlichen Perspektive kann man sogar Witze über den Tod machen

5.4 Mysterium schlägt Moral, oder: Vom innersten Kern der Religion und seinem Ausdruck in der Liturgie

5.5 Lasst die Kirche im Dorf, oder: Ein Plädoyer für anbetendes Staunen

5.6 Der die Finsternis in Licht verwandelt, oder: Fast ein Nachwort

Dank

Der Autor

Quellenhinweise

1. Vom Durst und der Quelle

1.1 Bin ich bekloppt?, oder: Fast ein Vorwort

Als Kabarettist, Karnevalist und Diakon werde ich oft als Redner angefragt – von Pfarrgemeinden, Kolpingsfamilien, Katholischen Frauengemeinschaften, Karnevalsvereinen und allen möglichen anderen Veranstaltern. An eine Anfrage erinnere ich mich trotzdem besonders deutlich, obgleich sie schon viele Jahre zurückliegt. Ein Herr Dr. Vohwinkel von der Giordano-Bruno-Stiftung rief mich an. Sehr freundlich fragte er, ob mir diese Stiftung bekannt sei. Giordano Bruno sei mir ein Begriff, sagte ich, von einer entsprechenden Stiftung hätte ich allerdings noch nichts gehört.

Wie sich herausstellte, handelt es sich dabei um eine der leidenschaftlichsten und kämpferischsten atheistischen Verbindungen, die wir in Deutschland haben. Auch Herr Dr. Vohwinkel war, wie er weiterhin in sehr sympathischem Tonfall erklärte, Atheist aus tiefster Überzeugung. Seine Lebensgefährtin allerdings sei treu katholisch, worauf mir prompt herausrutschte: »Wenigstens eine Vernünftige in der Familie!« Zum Glück hörte ich, dass der Mann am anderen Ende der Leitung ein kurzes Lachen nicht unterdrücken konnte. Ohne weiter auf meinen Einwurf einzugehen, erklärte er mir, dass die Giordano-Bruno-Stiftung regelmäßig einen sogenannten atheistischen Stammtisch veranstalte und er mich zu einem solchen gern als Gast einladen würde. Damals habe ich – heute sage ich: leider – mit dem Argument abgelehnt: »Danke, aber man lädt ja auch keinen Vegetarier zum Grillen ein.« Stattdessen habe ich meinerseits Dr. Vohwinkel sehr herzlich eingeladen, zu einem meiner Kabarettabende ins Senftöpfchen-Theater nach Köln zu kommen. »Da«, so mein Vorschlag, »können wir uns dann nachher noch zusammensetzen und unterhalten.« Dr. Vohwinkel nahm – viel höflicher als ich – die Einladung an.

Vor Beginn des Programms hatte ich mich vergewissert, dass er die auf seinen Namen an der Kasse hinterlegte Eintrittskarte auch tatsächlich abgeholt hatte. So stand ich kurze Zeit später also auf der Bühne in dem Wissen, mindestens einen bekennenden Atheisten im Publikum zu haben. Der Abend begann prächtig: ausverkauftes Haus, tolle Atmosphäre, aufmerksames, gut gelauntes Publikum. Getragen davon konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, meinen Ehrengast zum Running Gag des Abends zu machen. Schon in der Begrüßung wies ich darauf hin, dass auch Herr Dr. Vohwinkel von der atheistischen Giordano-Bruno-Stiftung im Saale sei. »Ich weiß jetzt nicht, wo er sitzt«, sagte ich, »aber Sie erkennen ihn an zwei kleinen Hörnern und leichtem Schwefelgeruch.« Immer wieder baute ich den armen Kerl in mein Programm ein – frei nach dem Motto: »Auch wenn Dr. Vohwinkel jetzt wahrscheinlich Schnappatmung kriegt, möchte ich Folgendes zu meinem Glauben sagen …«

Nach der Vorstellung, die mit lang anhaltendem Applaus und Zugabe-Rufen geendet hatte, war ich deshalb sehr gespannt, ob mein Gast unsere Verabredung wahrnehmen würde oder ob er vielleicht beleidigt nach Hause gefahren sei, was ich ihm nicht einmal hätte verübeln können. War er aber nicht! Ich sah ihn im Foyer stehen – erkannte ihn gleich, obwohl ich ja noch kein Foto von ihm gesehen hatte –, und ich muss sagen: Auf den ersten Blick schon war mir dieser Mann zutiefst sympathisch, und ein wenig bereute ich es, ihn für meine Gags »benutzt« zu haben. Nachdem ich meine Pappnas weggebracht hatte, gingen wir zusammen ins Brauhaus und haben uns dort sehr lange, sehr gut und sehr angeregt unterhalten. Dass ich ihn beim Kabarett als Witzfigur missbraucht hatte, nahm Dr. Vohwinkel – von Beruf übrigens Astrophysiker, also nicht gerade einer der dümmsten Menschen auf diesem Planeten – mir kein bisschen übel.

»Ihr Programm ist sehr unterhaltsam, Herr Pauels«, lobte er. »Ich habe viel gelacht! Aber immer, wenn Sie auf den Glauben zu sprechen kamen, dachte ich: Wie kann ein aufgeklärter Mensch das nur ernsthaft meinen? Früher, das ist klar, da brauchten die Menschen die Religion, um sich die Welt zu erklären. Aber wer heute, wo uns die Wissenschaft doch diese Erklärungen liefert, immer noch daran festhält, der ist – entschuldigen Sie bitte die etwas drastische Ausdrucksweise – ein Stück weit geistesgestört.« In diesem Moment stellte ich mir (mal wieder) die Frage: Willibert, bist du eigentlich bekloppt? Warum kannst du einfach nicht aufhören, an Gott zu glauben?

Würden meine Verleger nicht gerade aus Süddeutschland kommen und eine gewisse Scheu vor rheinischer Direktheit mitbringen, hätte übrigens dieses Buch auch so heißen können: »Bin ich bekloppt?! Warum ich nicht aufhören kann, mehr und mehr an Gott zu glauben.« Denn um nicht mehr und nicht weniger als diese kleine, bescheidene Frage nach der Existenz Gottes geht es in diesem Buch. Auch die ebenso reizenden Geschwister dieser Frage tauchen auf: Wenn es Gott gibt, warum lässt er das Leid in der Welt zu? Und was ist mit dem Tod?

Wenn ich mich Antworten nähere – und mehr werde ich nicht tun: Ich mag bekloppt sein, aber so verrückt zu behaupten, ich hätte tatsächlich endgültige und unwiderlegbare Antworten auf diese Fragen gefunden, bin selbst ich nicht –, wenn ich mich also Antworten nähere, dann geht es mir weniger um Studien, Statistiken und stringente Argumentationen, sondern vielmehr um das, was mich schon bewegt, seit ich ein Kind war: die Erfahrung der Sehnsucht nach Gott, die Erfahrung der Nähe Gottes und die Erfahrung der Gottferne. Immer wieder werde ich dabei Zitate und Gedanken anderer aufgreifen – von Chesterton bis Drewermann, von Cusanus bis Böll. Ich tue das nicht aus Bequemlichkeit, weil es mir zu anstrengend wäre, eigene Gedanken zu formulieren, sondern weil ich mich so in eine Gemeinschaft derer eingebunden weiß, die wie ich und mit mir auf dem Weg der Sehnsucht sind. Und ich würde mich freuen, wenn Sie, liebe Leserin und lieber Leser, mich durch die folgenden Kapitel ein Stück auf diesem Weg begleiteten.

Seit Jahrtausenden stellen Menschen die Frage nach Gott – und immer wieder, durch alle Zeiten hindurch, kommen sie zu der Überzeugung: Ja, unsere Sehnsucht hat ein Ziel. Jenseits alles rational Erklärbaren ist der Mensch im Letzten geborgen bei Gott.

Deswegen hat dieses Buch den Untertitel »Von der befreienden Kraft des Glaubens«. Denn eine befreiendere Botschaft als die, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, kann ich mir nicht vorstellen. »Leck mich am Arsch, Sisyphos, der Stein ist oben« hätte mir deshalb als Titel auch gut gefallen.

Auf Sisyphos werde ich noch einmal zurückkommen, auch auf Orpheus und Arion. Es wird um die heilige Agatha gehen und um Pater Brown, um Heiner Geißler und Thomas von Aquin, um Benedikt XVI. und einen ziemlich berühmten Rabbi aus Nazareth. Es wird nicht um Depressionen gehen – das war Thema meines Buches »Wenn dir das Lachen vergeht«, das ich mit dem wunderbaren Leo Linder zusammen geschrieben habe –, dafür aber zum Beispiel um Humor und um Nahtod-Erlebnisse, um Karneval und um Liturgie. Wer mein erstes Buch gelesen hat, dem mag das eine oder andere bekannt vorkommen, aber was ich dort nur andeuten konnte, will ich hier in den Mittelpunkt stellen.

Ich werde Geschichten erzählen und Witze. Ich werde Lieder zitieren und Gedichte. Ich werde vom Thema abkommen und wieder zurückfinden. Und bei all dem geht es mir letztlich zwischen Zweifel und Glauben um ein ehrliches »Und dennoch …«. In seiner »Einführung ins Christentum« schreibt Josef Ratzinger: »Der Gläubige und der Ungläubige treffen sich im Zweifel.« Es stimmt: Der Zweifel ist ein treuer Begleiter all derer, die ihren Verstand und ihr Herz nicht abgeschaltet haben und abgestumpft sind gegen das Leid und die entsetzlichen Ungerechtigkeiten dieser Welt.

Nicht mit einem Wort möchte ich die Grausamkeiten abmindern, mit denen wir Tag für Tag konfrontiert werden. Wenn ich lese, höre oder sehe, was Menschen Menschen antun, dann kommen auch mir immer wieder Zweifel, ob wirklich ein gütiger Gott über allem steht. Und es müssen gar nicht immer die großen Ereignisse sein, die den Glauben in Frage stellen. Oft genug ist es einfach nur ein immer wieder mal hochkommendes Gefühl der Angst, dass der Tod vielleicht doch ins Nichts führt – mich und alle, die ich liebe.

Umgekehrt sind es auch keine großen Crash-Boom-Bang-Erlebnisse, die die Angst vertreiben. Stattdessen ist es ein warmes Fühlen dieser einen österlichen Sonne, die alle Finsternis vertreibt. Es ist ein Gefühl der unbedingten Geborgenheit in Gottes Liebe – und es gibt Millionen Ausprägungen davon: im Betrachten der Schönheit der Natur, in der Begegnung mit Tieren, in der Liebe von Menschen, … »da berühren sich Himmel und Erde«, wie es in einem Neuen Geistlichen Lied heißt.

Dabei ist es die gleiche Natur, die zerstörerisch erschüttern kann. Es sind die gleichen Tiere, deren Grausamkeit einen zweifeln lässt, ob diese Schöpfung wirklich die beste aller möglichen ist. Und es sind die gleichen Menschen, die mit Herzlosigkeit und Hass die Angst in einem schüren, dass am Ende nichts bleibt als kalte Dunkelheit.

Im Letzten hängen beide Seiten auf für mich nicht erklärbare Weise zusammen. Denn könnte ich das Licht schätzen, ohne die Dunkelheit zu kennen? »Das Symbol der christlichen Hoffnung ist das Licht«, wird Goethe manchmal zitiert. »Licht bedeutet nicht, dass es keine Nacht mehr gibt, aber es bedeutet, dass die Nacht erhellt und überwunden werden kann. Ich glaube, dass wir einen Funken jenes ewigen Lichtes in uns tragen, das im Grunde des Seins leuchten muss und welches unsere schwachen Sinne nur von ferne erahnen können.« Diesem Glauben schließe ich mich an – und nicht dem von Stephen Hawking, der gegenüber der Zeitung »The Guardian« einmal gesagt hat: »Ich sehe das Gehirn als einen Computer, der die Arbeit einstellt, wenn seine Komponenten versagen. Es gibt keinen Himmel für kaputte Computer. Das ist ein Märchen für Menschen, die sich vor der Dunkelheit fürchten.«

Ich kenne die Furcht vor der Dunkelheit, aber ich halte den Himmel nicht für ein Märchen. Hans Küng – einer, der nun wirklich jeder kirchlichen Frömmelei und ultra-konservativen Verhaftetheit unverdächtig ist, – hat in der Einleitung des Buches »Ewiges Leben?« den sehr treffenden Begriff »vernünftiges Vertrauen« dafür gefunden. »Ich möchte nicht endlos leben«, schreibt er, »möchte nicht eine unbeschränkte Verlängerung des irdischen Lebens in Zeit und Raum. Ich hoffe auf ein unendliches Leben: in einer völlig anderen, unsichtbaren Dimension, in der Dimension Unendlich, ein vollkommen verwandeltes Leben in Gottes Ewigkeit. [...] Dass ich in ein ewiges Leben hineinsterbe, das mit der Wirklichkeit Gottes identisch ist, kann ich nicht beweisen. Dazu kann ich nur in einem vernünftigen Vertrauen Ja sagen. Vernünftig, weil ich es keineswegs als vernünftige Lösung ansehe zu behaupten, dass Welt und Mensch aus dem Nichts kommen und ins Nichts gehen. Sinnlos, vernunftlos, von Anfang bis Ende: Nein, das will mir nicht in meinen Kopf.«

Dem kann ich mich nur anschließen. Deshalb glaube ich, dass es Gott gibt und dass er es gut mit uns meint. Dass der Tod nicht das Ende ist, sondern das Tor, durch das wir gehen auf unserem Weg nach Hause. Diese befreiende Botschaft ist für mich Dreh- und Angelpunkt der Religion. Sie ist der archimedische Punkt, mit dem sich die Welt aus den Angeln heben lässt. Und sie ist das Fundament, auf dem man Lachen, Leiden und Lust am Leben problemlos nebeneinanderstellen kann.

1.2 Was Thomas Bernhard mit der Sachsenklinik verbindet, oder: Atheismus ist nicht schön

Wenn ich heutzutage mit der Position konfrontiert werde »Jaaaaa, früher brauchten die Menschen den Glauben, um sich die Welt zu erklären, heute aber liefert die Wissenschaft die Erklärungen, und wer trotzdem an Gott glaubt, ist geistesgestört«, dann bitte ich mein Gegenüber gerne: »Dann erkläre mir doch mal bitte wissenschaftlich, was Leben ist.« Die häufigste Antwort, die ich dann zu hören bekomme, ist eine reduktionistische, nämlich: Leben ist letztlich eine biochemische Reaktion in Zellen. Solange diese biochemische Reaktion erfolgt – sei es bei einem Farn, bei einem Rhesusäffchen oder dem sogenannten Homo Sapiens –, ist Leben da. Sobald sie endet, ist kein Leben mehr da. Und auch das, was wir im Bereich der geistigen Welt, der Gefühle, der nicht materiellen Lebensräume empfinden, ist diesem Denkansatz nach im Grunde nichts anderes als eine – mit meinen Worten – biochemische, elektromagnetische, neuronenbefeuerte Reaktion im Gehirn.

Wer mir so daherkommt, dem stelle ich dann folgende Frage – auch, wenn sie gemein ist, weil sie voll ins emotionale Zentrum meines Gegenübers zielt: Kannst du deinem Kind in die Augen schauen und dabei wirklich konsequent der Perspektive folgen, die du mir gerade gesagt hast? Wenn ja, musst du es ertragen können zu denken oder sogar zu sagen: Kind, letztendlich bist du nichts anderes als eine Zellformation, noch drastischer: ein Zellhaufen, der biochemisch reagiert. Und auch, wenn ich meine, dich lieb zu haben, ist das letztlich nichts anderes als ein biochemischer Prozess im limbischen System meines Gehirns. Und wenn du stirbst, Kind, weil aus welchen Gründen auch immer die biochemische Reaktion in dir aufgehört hat, gehst du in die Verrottung auf den kosmischen Abfallhaufen des Nichts. Es gibt kein Woher. Es gibt kein Wohin.

Wer davon überzeugt ist: bitteschön! Aber er soll mir nicht weismachen, dass diese Perspektive ihn heiter und gelassen leben lässt. Wer das behauptet, ist in meinen Augen nicht weniger zynisch als Albert Camus, wenn der sagt: »Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.« Ich bitte Sie! Sisyphos! Jene Gestalt der griechischen Mythologie, die dazu verdonnert wurde, einen Stein auf einen Berg hinaufzurollen, obwohl der Stein kurz vor dem Gipfel immer wieder herabrollte. Homer berichtet in seiner Odyssee: »Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: von Neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.«

Klingt das erstrebenswert? Toll? In irgendeiner Weise positiv? Also ich finde die implizierte Sinnlosigkeit dieses Tuns einfach entsetzlich! Sie ist grausam und unerträglich! Und genau das wäre es auch, wenn der Mensch nicht mehr wäre als ein biochemisch reagierender Zellhaufen. Das allein ist natürlich noch kein Argument gegen diese Auffassung, so nach dem Motto: »Es kann nicht sein, was nicht sein darf.« Aber dazu später mehr. Jedenfalls kann ich kaum glauben, dass es einen Menschen gibt, der eine solche Definition von Leben nicht als zutiefst trostlos empfindet! Damit will ich nicht sagen, ein Atheist könne nicht glücklich sein – »Gottlos glücklich« heißt ja zum Beispiel ein Buch des Pressereferenten der Giordano-Bruno-Stiftung. Das wäre wirklich anmaßend! Was ich mir aber beim besten Willen nicht vorstellen kann, ist, dass ihn die Frage nach dem Woher und Wohin nicht umtreibt. Es sei denn vielleicht, wir reden hier von einem Menschen, der sich diese Fragen gar nicht stellt, frei nach dem Motto »no brain, no pain«, also: Wer nicht nachdenkt, hat auch keine Probleme. Ansonsten gilt wohl eher der Spruch: »Ich komme und weiß nicht woher. Ich gehe und weiß nicht wohin. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.«

Wobei es ja tatsächlich keiner weiß! Der sogenannte Gläubige glaubt, dass es einen Ursprung und ein Ziel seines Lebens in einer anderen Dimension gibt, die wir Christen Gott nennen. Der Atheist, fälschlicherweise manchmal der »Ungläubige« genannt, glaubt, dass es diesen Ursprung, dieses Ziel, diesen Gott nicht gibt. Aber noch einmal: Dass diese Perspektive ihn heiter und gelassen leben und sterben lässt, will mir nicht in den Kopf.

Und viele Atheisten bestreiten ja auch gar nicht, dass das eine unschöne Perspektive ist. Wie der französische Existenzialist Jean-Paul Sartre schreibt: »Märtyrertum, Heil, Unsterblichkeit, alles fällt in sich zusammen, das Gebäude sinkt in Trümmer, ich habe den Heiligen Geist im Keller geschnappt und ausgetrieben; der Atheismus ist ein grausames und langwieriges Unterfangen.«

Was dieses Unterfangen Atheismus so grausam macht, will ich an einem vermeintlich banalen Beispiel zeigen. Stichwort: Getränkeautomat!

Zu den beliebtesten Sendungen im Fernsehen gehören Arztserien. Kein Wunder, denn perfekt bespielen sie die Klaviatur der Gefühle: Hoffnung, Angst, Liebe, Intrigen, Verzweiflung, Glück … All das wird uns geboten, wenn etwa Dr. Stein und Dr. Heilmann in der Sachsenklinik am OP-Tisch stehen. Doch die großen und kleinen Dramen, die uns die Serie »In aller Freundschaft« in die Wohnzimmer bringt, spielen sich nicht nur im OP ab, sondern auch in den Krankenzimmern, auf den Fluren, in der Cafeteria, selbst an der Tür zur Toilette. Nur an einem Ort spielen sie nicht, weil es ihn offenbar nicht gibt in der Vorstellung der Drehbuchautoren – und das hat Konsequenzen. Welcher Raum das ist?

Betrachten wir Szenario eins: Ein Kind ist sterbenskrank, die Ärzte ringen um sein Leben, das Drama erreicht seinen Höhepunkt. Wie Rilkes Panther laufen die Eltern vor dem OP auf und ab und werden fast wahnsinnig vor Angst – »als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt«. Der Getränkeautomat ist in ihrer Not die einzige Anlaufstelle. Es gibt nichts, was sie tun können! Wirklich nicht? In dem Krankenhaus meines Drehbuchs hätte es zumindest einen Ort gegeben, wo sie hätten hingehen können: die Krankenhauskapelle! Die Eltern hätten dort vor Maria mit dem Kinde stehen und gegen das Gefühl der Ohnmacht eine Kerze anzünden können. Sie hätten dort beten können … oder auch nicht, aber sie hätten zumindest die Möglichkeit dazu gehabt.

Szenario zwei: Das Kind wird gerettet. Überglücklich fallen die Eltern dem Arzt um den Hals. »Wir wissen gar nicht, wie wir Ihnen danken sollen, Herr Doktor!« In meinem Drehbuch hätten sie danach auch in die Kapelle gehen und dort eine Kerze aufstellen können als Ausdruck ihrer Dankbarkeit.

Und Szenario drei? Das Kind stirbt. Mit professionellem Ernst oder vielleicht auch selbst um Fassung ringend sagt der Arzt es den Eltern. Und dann? Was wollen die Macher der Serie dann zeigen, wenn auch der Arzt keine Antwort hat? Ein Gang zum Getränkeautomaten hilft dann auch nicht mehr!

Gäbe es in der Sachsenklinik eine Kapelle, könnten die Eltern dorthin gehen. Sicher nicht, um unmittelbar Trost zu empfangen, wohl aber, um dem Gekreuzigten alle Wut und alle Verzweiflung entgegenzuschreien, die ein Mensch nur empfinden kann. Und vielleicht, nach einiger Zeit, wenn die Wunde des Verlustes sie nicht mehr im brüllenden Schmerz wahnsinnig macht, sondern nur noch leise pocht unter einer heilenden Narbe, dann hätten sie noch einmal wiederkommen können in diesen Raum. Vielleicht hätten sie dann in einer Nische, die ihnen vorher gar nicht aufgefallen ist, eine Pietà entdeckt, eine Skulptur, die Maria zeigt mit dem toten Jesus in ihrem Schoß. Sie hätten sehen können, dass selbst die Gottesmutter die gleichen Qualen hat erleiden müssen wie sie. Aber vielleicht hätten sie in ihren Augen auch einen Funken Trost entdecken können und spüren, was meine Mutter mir immer sagte, wenn die Panik mich mal wieder zu erfassen drohte und ich nur noch stammeln konnte »Mama, wenn du stirbst …?« »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie dann. »Wir werden uns wiedersehen!«

Dieser kleine Ausflug in die Welt der Arztserien mag zeigen: Ohne Gott zu leben, ist das eine. Ohne ihn zu sterben, das andere. Und das zeigt sich nicht nur in der trivialen TV-Kultur. Als großer Opernfan hat etwa der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einmal geschildert, wie sehr ihn jedes Mal das Ende von Puccinis »La Bohème« zutiefst berührt und erschüttert: Sie lieben sich, sie bekommt die Schwindsucht, sie stirbt – und die Musik, die großartige Musik von Puccini, sie reißt in dem Schrei »Mimiiiii« abrupt ab. Nichts folgt. Stille. Und diese Stille ist grässlich, sie ist entsetzlich. Stärker als jede Musik es könnte, zeigt sie die hässliche Fratze des Nichts, die einen verstört aus dem Opernsaal entlässt. In Worte gefasst hat Reich-Ranicki diese hässliche Fratze, als er das Lebenswerk Thomas Bernhards mit den Worten zusammenfasste: »Das Leben ist letztlich nichts anderes als die Einleitung des Todes und angesichts des Todes hat alles keinen Sinn.«

Wie gesagt: Eingefleischte Atheisten mögen so denken. Aber ich behaupte: Trotzdem wird es kaum jemand von ihnen übers Herz bringen – es sei denn, er ist ein Psychopath –, einer Mutter, die ihr totes Kind im Arm hält, zu sagen: Letztlich war es ja nur ein Zellhaufen. Und warum nicht? Weil er spürt: Es wäre der Abgrund der Grausamkeit!

Nun lässt sich auch diese Tatsache aus atheistischer Perspektive erklären. Dass wir das als so grausam empfinden und dass sich etwas in uns sträubt, ein Kind als reinen Zellhaufen zu sehen, ist demnach evolutionär sinnvoll, damit wir alles dafür tun, dass Kinder am Leben bleiben und die Art erhalten wird. Aber: Ist das wirklich die plausibelste Erklärung dafür, dass wir eine Sehnsucht in uns tragen nach mehr als dem »Nichts«?

1.3 Hollywood zeigt, was ein Literatur-Nobelpreisträger denkt, oder: Von der Sehnsucht nach ewiger Heimat

Fest steht: Es gibt diese Sehnsucht! Selbst Agnostiker, die es beim besten Willen nicht fertigbringen, an Gott zu glauben, geben dieser Sehnsucht eine Sprache. Eines der ehrlichsten und berührendsten Beispiele liefert für mich Wolf Biermann, wenn er in einem seiner asphaltpoetischen Chansons 1999 davon singt, dass das »doch nicht alles gewesen sein« könne: Kinderschreien, Geldverdienen und Fernsehen. Da fehlt ihm der Sinn. Da müsse »doch noch irgendwas kommen«.

Ich bin überzeugt, dass darin eine Sehnsucht zum Ausdruck kommt, die weit hinausgeht über den etwa von Udo Jürgens besungenen Wunsch nach Ausbruch aus der kleinbürgerlichen Welt mit ihren Treppenhäusern »voll Bohnerwachs und Spießigkeit«. Aus Biermanns Zeilen spricht die Ahnung, dass in uns etwas ist, das die rein materielle Welt übersteigt.

Dieser Ahnung Ausdruck zu verleihen, gelingt Hollywood-Regisseuren oft besser als der Deutschen Bischofskonferenz. Etwa, wenn Steven Spielberg den jungen Elliot, ein Kind der amerikanischen Vorort-Welt mit ihrem materiellen Wohlstand und ihrer seelischen Leere, ein extra-terrestrisches Wesen finden lässt, einen »E.T.«. Eine Erlöserfigur, die den Jungen aus seiner Einsamkeit holt und ihm Freund wird. Ein Wesen aber auch, das mit zu Herzen gehender Intensität auf das nicht-irdische Zuhause verweist. Wer hat nicht sein sehnsuchtsvolles »home phone«, »nach Hause telefonieren« im Ohr? Und E.T. streckt seinen Finger aus wie einst Adam auf einem der berühmtesten Bilder der Welt aus dem Deckenfresko des Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle in Rom. Der Mensch streckt seinen Finger aus nach jener anderen Seite, jenem Zuhause jenseits des Irdischen –, und dort ist Gott, der seinerseits dem Menschen den Finger entgegenstreckt. »Home phone!« – »Nach Hause telefonieren!«

Das ist ein Gedanke, den auch der deutsche Schriftsteller und Romancier Heinrich Böll zum Ausdruck gebracht hat in einem Interview mit dem Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein. Einem Mann, der selbst religiös sozialisiert war, sich dann aber spektakulär in vielen Statements vom vermeintlichen Irrsinn der Religion losgesagt hat. Und doch ist er nie ganz davon losgekommen, bis zuletzt wie ein Engel mit gebrochenem Flügel fortwährend um den Altar zu schwirren. Dieser Rudolf Augstein wollte nun von Heinrich Böll in dem Interview wissen, warum er, obwohl doch ein hochdekorierter und ausgezeichneter Schriftsteller und ein Mann von brillanter Intelligenz, immer noch mit kindlicher Sturheit an der Religion festhalte. Woraufhin Böll antwortete: »Weil wir in dieser Welt nie ganz zu Hause sind.« Wohlgemerkt: Das war die Antwort jenes Heinrich Böll, der in seinen Büchern so hinreißend die Religiosität seiner Zeit kritisiert hat, die sich nährte aus einem politisch-verfestigten, vermieften 50er-Jahre-Katholizismus. Jener Heinrich Böll hat gesagt: »Ich meine die Tatsache, dass wir eigentlich wissen – auch wenn wir es nicht zugeben –, dass wir hier auf der Erde nicht zu Hause sind, nicht ganz zu Hause. Dass wir also noch woanders hingehören und woanders herkommen. Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der sich nicht – jedenfalls zeitweise, stundenweise, tageweise oder auch nur augenblicksweise – klar darüber wird, dass er nicht ganz auf diese Erde gehört.«

Diese Tatsache hat mich schon oft aus der nicht ganz leichten Situation befreit, wenn ich irgendwo eingeladen war, aufbrechen wollte und mit dem Satz aufgehalten wurde: »Erst schreiben Sie aber noch etwas in unser Gästebuch, oder?« Ohne zu zögern, ergreife ich dann nämlich den dargebotenen Stift und bediene mich eines Zitates von Romano Guardini, indem ich schreibe: »Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass wir einander Rast geben auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.«

»Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu.« Auf wie vielen christlichen Beerdigungen wurde dieses Lied schon gesungen? Aber nicht nur auf christlichen Beerdigungen, sondern auch da, wo Familie und Angehörige sich im Friedwald versammeln und die Asche des Verstorbenen an einer Eiche beisetzen. Auch dort wünschen sich viele Leute dieses Lied – weil es einfach und schlicht erzählt von der Reise unseres Lebens. Und zwar einer Reise, die nicht darin endet, dass wir in den Nährstoffen des Waldbodens aufgehen und über die Kapillaren der Wurzeln bis in die Baumspitzen transportiert werden, wo wir in der Fotosynthese zu Sauerstoff werden. Sondern von einer Reise, die in der ewigen Heimat endet: dem Ziel unserer Sehnsucht.

Damit sind wir bei der zweiten möglichen Antwort auf die Frage: Warum tragen alle Menschen, die nicht gerade Psychopathen sind, in sich die Sehnsucht, dass wir mehr sind als ein biochemischer Zellhaufen? Nämlich: Weil wir mehr sind! Nicht, weil das für die Arterhaltung sinnvoll ist, sondern weil es wahr ist. Wir haben diese Sehnsucht, weil es eine Quelle gibt, die diese Sehnsucht stillt. Wie der Theologe Eugen Drewermann es formuliert hat: »Der plausibelste Hinweis, dass es Wasser gibt, ist der Durst!«

Und dieser Durst ist uralt. Aurelius Augustinus formulierte vor mehr als 1.700 Jahren: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.« Und der Psalmist schrieb schon vor 2.600 Jahren in einem der ältesten Texte der Weltliteratur: »Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.«

Apropos Hirsch: Ein kleiner Hirsch steht am Bergsee und trinkt von dem klaren Wasser. Als sich die Wasseroberfläche beruhigt, betrachtet er sein Spiegelbild und ruft, völlig begeistert von sich selbst: »Ich bin der König der Tiere!« Wieder nimmt er ein paar Schlucke, wartet, bis sich das Wasser beruhigt, ergötzt sich an seinem Spiegelbild und ruft: »Ich bin der König der Tiere!« So geht es noch zwei-, dreimal. Plötzlich donnert eine schwere Pranke auf seine Schulter nieder. Der kleine Hirsch dreht sich um und sieht einen riesigen Grizzlybär hinter sich stehen, der ihn wütend anbrüllt: »Waaaas bist du?« »Och«, sagt der Hirsch, »man sagt viel, wenn man was getrunken hat!«

Den Durst nach Gott sehr poetisch in Worte gefasst hat auch der Dichterpriester Ernesto Cardenal. Politisch hat der im Jahr 2020 Verstorbene meiner Meinung nach zwar nicht alle Latten am Zaun, weil er bis zuletzt noch für den Kommunismus plädierte, aber in seiner religiösen Sprache ist er für mich ein wahrer Goldmund. Er schrieb: »In den Augen aller Menschen wohnt eine unstillbare Sehnsucht. In den Pupillen der Menschen aller Rassen, in den Blicken der Kinder und Greise, der Mütter und liebenden Frauen, in den Augen des Polizisten und des Angestellten, des Abenteurers und des Mörders, des Revolutionärs und des Diktators und in denen des Heiligen: In allen wohnt der gleiche Funke unstillbaren Verlangens, das gleiche himmlische Feuer, der gleiche tiefe Abgrund, der gleiche unendliche Durst nach Glück und Freude und Besitz ohne Ende.« Für Ernesto Cardenal war diese Sehnsucht eine Sehnsucht nach Gott, das Verlangen ein Verlangen nach Gott, der Durst ein Durst nach Gott.

»Dieser Durst, den alle Wesen spüren«, schrieb er, »ist die Liebe zu Gott. Um dieser Liebe willen werden alle Verbrechen begangen und alle Kriege gekämpft, ihretwegen lieben und hassen sich die Menschen. Um dieser Liebe willen werden Berge bestiegen und die Tiefen der Meere erforscht, für sie wird geherrscht und intrigiert, gebaut und geschrieben, gesungen, geweint und geliebt. Alles menschliche Tun, sogar die Sünde, ist eine Suche nach Gott. [...] Der unstillbare Hunger der Diktatoren nach Macht und Geld und Besitz ist in Wirklichkeit Liebe zu Gott. Der Liebende, der Forscher, der Geschäftsmann, der Agitator, der Künstler, der kontemplative Mönch, alle suchen sie dasselbe, nämlich Gott und nichts als Gott.«

Und in der ihm eigenen Poesie schloss er: »Die Gesichter der ganz jungen Mädchen tragen einen Abglanz Gottes, darum sind sie so faszinierend für uns, weil wir geschaffen wurden für das ewige Leben. Gott ist die Heimat aller Menschen. Er ist unsere einzige Sehnsucht. Gott ist im Innersten aller Kreatur verborgen und ruft uns. Das ist die geheimnisvolle Ausstrahlung, die von allen Wesen ausgeht. Wir hören seinen Ruf in der Tiefe unseres Wesens wie die Lerche, die in der Frühe von ihrer Gefährtin geweckt wird, oder wie Julia, die Romeo unter ihrem Balkon pfeifen hört.«

1.4 Da berühren sich Himmel und Erde, oder: In der Liebe und der Kunst können wir das Ewige ahnen

In diesem letzten Absatz bei Ernesto Cardenal klingt an, dass es Momente gibt, in denen das Ziel unserer Sehnsucht sozusagen in unsere Welt durchscheint. Momente, in denen wir nicht nur Durst haben, sondern in denen wir das Wasser förmlich schmecken, sehen, hören oder spüren können. Momente, in denen sich Himmel und Erde berühren. Und diese Momente sind ein weiterer Grund, weshalb ich es für alles andere als bekloppt halte, an Gott zu glauben.

Das kann zum Beispiel ein Moment der höchsten Lust sein – nicht umsonst nennen die Franzosen den Orgasmus »la petite mort«, den kleinen Tod. Denn wenn man im Tod nicht das Absterben der Zellreaktionen sieht, sondern das nach Hause kommen in Gottes unendliche Liebe, dann ahnen wir davon etwas im Moment, in dem sich zwei Seelen auf dem Gipfel der Lust vereinen. Dabei gilt, was schon die alten Römer erkannt und formuliert haben: »Omne animal post coitum triste est«, das heißt alle Lebewesen sind nach der Lust traurig. Das kann man rationalistisch erklären durch das Absinken des Dopaminspiegels nach dem Höhepunkt, oder aber poetisch. Dann ist es die Erkenntnis, die uns traurig macht, dass wir den Moment nicht festhalten können, in dem wir der Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht doch so nahe waren.

Auch der Moment, in dem uns die Liebe das erste Mal den Atem und die Sinne raubt, lässt uns Erfüllung ahnen. »An dem, was man Glück nennt, war’n wir nie näher dran!«, singt Reinhard Mey. »Es war nie mehr so ehrlich, nie mehr so total unschuldig und wehrlos, wie das erste Mal.« Es kann aber auch beim Betrachten eines Kunstwerks sein oder beim Hören eines Musikstücks, das die Welt jenseits unserer irdischen Existenz plötzlich sternschnuppengleich im Hier und Jetzt aufglühen lässt. Nicht zu fassen, nicht festzuhalten, aber unbestreitbar da.

»Peak-Experience«, Gipfelerlebnis, nennt die Wissenschaft solche Erfahrungen. Worum es dabei geht, das beschreibt der ehemalige Bundeswehroffizier Alois Serwaty in einem Vortrag zum Thema »Die Brüche des Lebens sind die Einfallstore des Unendlichen« so: »Wie nach einer anstrengenden Gipfelersteigung die Mühen und Schmerzen des Aufstiegs vergessen sind, so verflüchtigt sich der ›Staub und Moder‹ des Erdenlebens für einen kurzen Augenblick. Der Blick wird frei und öffnet sich für eine grandiose Rundumschau. [...] In diesen Augenblicken spüren wir, dass die Grenzen dieser Wirklichkeit weit über das hinausreichen, was Alltagsbewusstsein uns an Wahrnehmung erlaubt.«