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Die Autorin hat auf drei Kontinenten studiert und gelehrt. Im Ruhestand beginnt sie, alle Orte ihrer Vergangenheit und auch ihrer Sehnsucht aufzusuchen.
Mal alleine, mal mit ihrer Enkelin im Studentenalter, mal in einer Kleingruppe von Freunden, mal mit dem Zug, mal mit dem Auto unterwegs besucht sie alte Freunde in Frankreich, in der Türkei, in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Es sind keine Reiseberichte im klassischen Sinn, die Heilbronnerin Irene Schlör notiert mit Humor und scharfem Blick vor allem das, was ihr selbst als ungewöhnlich, bewegend, lustig oder komisch erscheint.
Illustriert werden die Schilderungen von eigenen Aufnahmen aus den Jahren 2015 bis 2017.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2017
Wenn Eine ein paar Reisen tut –
erste Reisen einer frischgebackenen Rentnerin
von Irene Schlör Konakci
Autoreise von der Osttürkei nach Westen
Autofahrten in der Osttürkei
Der Ararat
Wie ein wild gewordener Handfeger rast unser lieber Fahrer und Vater meines "Adoptivenkelkindes" Ilke die kurvenreichen steilen Straßen von Kars nach Iğdır hinab.
Kars liegt in einer kargen, unendlich weiten Hochebene, von der uns am Flughafen schon die Gelb- und Brauntöne der Felsen und ab und zu doch noch ein blasses Grün überwältigt haben. Überrascht haben uns auch die süßen Blütendüfte und der rauhe Wind, der sie vermischt und vor sich herträgt. Die Sonne brennt heiß, was man aber nur im Auto zu spüren bekommt.
Zum Glück hat es eine Klimaanlage, so wird es uns Damen (Ilkes Mutter, zwei ihrer Schwestern und mir) nicht allzu kuschelig. Ilkes Vater telefoniert derweilen mit der rechten Hand, denn die Sonne ist am Untergehen. Was heißt das? Ja, unsere Gastgeber werden in wenigen Minuten das an diesem heißen Junitag schon 16 Stunden andauernde Fasten brechen.
In die Ebene von İğdır sind es noch 50 steil nach unten führende Kilometer.
"Nein, nein, wir sind in fünf, höchstens zehn Minuten bei euch. Aber fangt bitte ohne uns an! Doch, ich bitte euch, fangt ohne uns an. Wartet nicht mit dem Essen!" versichert Yasin lautstark seinem Gegenüber. Wir Frauen rollen die Augen, wagen aber kaum zu atmen, geschweige denn zu kommentieren. Die türkische Übertreibung muss eben sein.
Dann stimmt alles.
Über das GPS finden wir die Wohnung der Verwandten problemlos. Es ist eine Stunde nach Sonnenuntergang. Alle begrüßen uns herzlich noch im Vorgarten. Nach Umarmungen und wiederholten Versicherungen, wie sehr man sich über die fünf Übernachtungsgäste freue, geht es zu Tisch. Hähnchen, Lammfleisch, Fischgerichte, Salate von Gemüse und Kräutern lassen den Tisch konkav aussehen. Wir setzen uns hungrig und beginnen mit einer Suppe, um drei Stunden später betäubt mit Wassermelonenschnitzen aufzuhören.
Doch ins Bett darf noch lange keiner. Erst gibt es im Wohnzimmer noch Kaffee und eine Süßspeise dazu. Ich fange alleine an, denn alle anderen sind auf der überdachten Veranda und rauchen.
Meine heimlichen Bedenken bezüglich der Nasszelle sind vollkommen unbegründet. Zwei geflieste Badezimmer, beide mit türkischer und europäischer Toilette ausgestattet, Berge von Handtüchern und - ständig fließendes Wasser. Nein, das hat niemand offengelassen, das gehört sich in Anatolien so. Damit erst gar kein Geruch entstehen kann.
Betten mit nach Lavendel duftenden Leintüchern versprechen einen erholsamen Schlaf.
Nach Artvin – in die Heimat
Die Fahrt entlang der Grenze gestaltet sich recht abenteuerlich. Plötzlich eine Barriere auf der Straße - Sandsäcke. Dann tauchen zwei in Tarnuniform auf. Keine Abzeichen, nur die Weste voller Patronentaschen, so dass es für den Laien aussieht, als hätten sie für jede Zigarette ein einzelnes Einsteckröllchen auf der Brust. Um die Schulter haben sie Sturmgewehre gehängt, wie wir einst die Gitarre, muss ich denken.
"Wohin die Reise?"
Yasin entgegnet cool und mit lokalem Akzent:
" In die Heimat, nach Artvin".
"Aussteigen, Kofferraum aufmachen".
Wie jung sie sind, geht es mir durch den Kopf. Sie können kaum älter als meine ehemaligen 12-er sein.
Nicht, dass wir etwas zu verbergen hätten. Und wieder erleben wir eine Schreckensminute, als Yasin entgegnet:
"Macht doch selber auf. Er ist offen. Im Übrigen bin ich Rechtsanwalt und einen Rechtsanwalt durchsucht man nicht."
Die beiden schauen sich verblüfft an. Schnell sagt der Zweite:
"Wissen wir auch. Gute Fahrt noch."
Puh! Abgehakt. Weiter an der azerbaidschanischen Grenze entlang, dann an der armenischen.
"Willkommen in Armenien" erscheint eine türkische SMS auf unseren Handys. Die Grenze ist hier ein Fluss namens Aras, der zwei Berge trennt. Auf der türkischen Seite besuchen wir die verlassene armenische Siedlung Ani. Ein Eingangstor ist noch gut erhalten, auch einige Kirchen ragen als Ruinen in den blauen Himmel. Die Kirchen sehen aus wie Moscheen mit leicht nach oben gezogenen Kuppeln. Die Steinmetzarbeiten faszinieren immer noch. Innen ausgebleichte, teilweise zerstörte Heiligenbilder und armenische Schriftzeichen.
Zwei „Reiseführer“ begleiten uns ständig und beantworten auch unsere Fragen.
Eingangstor zur ehemaligen armenischen Hauptstadt Ani
Ani ist das Eingangstor zu Kleinasien. Im 11. Jahrhundert betraten die seldschukischen Reiter von dort aus zum ersten Mal anatolischen Boden.
Reste einer Kirche in Ani
Weiter geht es an der georgischen Grenze nach Artvin, Kreis Şavşak, ins Dorf "Ortaköy", das erst seit kurzem so heißt. Dies ist die Gegend, wo christliche Völker am längsten unbehelligt ihrem Glauben nachgingen. Seit dem letzten Jahrhundert erst haben die meisten auch assimilierte Namen. Die meisten. Denn Yasins Zwillingsschwester Gül, die noch als Lehrerin im Bergdorf lebt, nannte mich gleich wie selbstverständlich "Irina".
Sema, Yasins Frau und Ilkes Mutter, hatte dort ihren großen Auftritt. Schließlich ist sie die "Gelin", die Braut des verlorenen Sohnes, die mit ihm und ihrer Tochter nicht alle Tage zu Besuch kommt.
Sema hat diese Reise organisiert. Für mich. Doch ihre beiden älteren Schwestern Selma und Saime durften auch mit. Semas Familie sind Kurden aus Zentralanatolien. Sema und Yasin haben sich beim Jurastudium in Ankara kennengelernt. So ist Ilke eine perfekte Synthese zweier intelligenter Landkinder, jetzt Istanbuler, die nie ihre Abstammung verleugnet oder vertuscht haben, sondern als Rechtsanwälte der Gewerkschaft ein Arbeitsleben lang die Rechte der Arbeitnehmer verteidigen.
Im Dorf sitzen wir alte Weiber dann am Abend an einem aus Holzlatten gezimmerten Bank-Tisch und trinken georgischen Wein aus dem Jahr 2008. Dazu gibt es Fladenbrot und Käse aus Kars. Nachbarn und Verwandte kommen nach und nach und bringen Selbstgebackenes und Selbstgekochtes. Es ist zum Heulen schön.
Zum Glück bleiben wir ein paar Tage und machen Ausflüge in die wunderschöne, fast unberührte Berglandschaft.