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Nachdem ihre Mutter die Familie schon vor Jahren verlassen hat, leben Eva und ihr jüngerer Bruder Klaus mit ihrem Vater zusammen. Bis zu dem Tag, an dem sie ein Polizist sprechen möchte und ihr mitteilt, dass ihr Vater tödlich verunglückt ist. Ein schrecklicher Verlust, aber es kommt noch schlimmer. Auch wenn ihr Onkel Klaus sie zu sich nehmen kann, muss Eva doch die Schule abbrechen und sich eine Arbeit suchen. Sie ist mit einem Mal völlig auf sich allein gestellt. Nachdem sie ihre Arbeit als Haushaltshilfe verloren hat, sieht sie keine andere Möglichkeit, als ihr Geld als Bardame zu verdienen. Sie verliebt sich in Axel, doch die Schatten der Vergangenheit holen sie wieder ein. Wird sie trotzdem ihr Glück finden?Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 401
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Marie Louise Fischer
Roman
Saga Egmont
Wenn eine Frau liebt
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1962 by Bertelsmann Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719046
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Es war der Tag nach den großen Ferien.
Eva Langer radelte von der Schule nach Hause. Sie hielt ihre rechte Hand fest um den Lenker geschlossen, die linke fuhr immer wieder zu den Knien hinunter, denn ihr weiter maisgelber Rock mit den beiden steifgestärkten Petticoats darunter zeigte eine gefährliche Neigung, bei jedem Stoß emporzuflattern und ihre schlanken braunen Beine freizugeben. Mancher der Kraftfahrer, die sie überholten, streifte Eva von der Seite mit einem wohlgefälligen Blick. Sie bot einen ungemein erfreulichen Anblick, wie sie sich da auf ihrem Fahrrad durch den lebhaften Verkehr strampelte. Ihre Haut war glatt und sonnendurchglüht, ihr goldbrauner lockiger Pferdeschwanz wippte und tanzte in ihrem Nacken wie ein munteres Fähnchen.
Eva Langer merkte nichts von dem Wohlgefallen, das sie erregte. Sie hielt die klaren grauen, weit auseinanderstehenden Augen mit den schöngeschwungenen dunklen Wimpern aufmerksam geradeaus gerichtet, ihr voller kleiner Mund war leicht geöffnet. Sie sang, fast unhörbar und ohne die Lippen zu bewegen, vor sich hin: »Bambine, oho, Tschintschina, oho oho …« Sie war bester Laune.
Niemandem, selbst Irene, ihrer besten Freundin nicht, hätte sie zugegeben, daß sie froh war, weil die Schule wieder begonnen hatte. Die Ferien waren für sie ziemlich öde gewesen. Als einzige von allen Klassenkameradinnen war sie zu Hause gewesen. Alle anderen waren verreist, selbst ihr Bruder Klaus, dreizehn Jahre, hatte an einem Ferienlager teilgenommen. Sie konnte nicht fort, weil sie ihren Vater hatte versorgen müssen.
Immer noch fröhlich vor sich hin trällernd, bog Eva in die stille Albertstraße ein, überquerte, nach einem vorsichtigen Blick über die Schulter, in einem eleganten Bogen die Fahrbahn, stieg vom Rad und schob es auf den Bürgersteig. Sie öffnete die Haustür, stemmte ihren Fuß dagegen, hob ihr Rad hoch und trug es durch den Flur in den Keller hinunter. Schöberls, die Hausbesitzer – ihnen gehörte der Kolonialwarenladen im Haus, sie wohnten im zweiten Stock – duldeten weder Fahrräder noch Kinderwagen oder Roller im Hausflur, jede Schmutzspur hatte eine Untersuchung zur Folge.
Eva schnallte ihre Schultasche vom Gepäckträger und hüpfte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Vor ihrer Wohnungstür stand ein Polizist.
Frau Schöberl, im hellblauen Kittel, mit dem sie unten im Laden bediente, lehnte am Treppengeländer und sprach auf ihn ein. Als Eva heraufkam, verstummte das Gespräch. Eva wollte mit kurzem Gruß vorbei, denn sie hatte es eilig, das Essen aufzustellen.
»Eva!« rief Frau Schöberl mit einer seltsam atemlosen Stimme.
Eva drehte sich um. »Ja?« Unter den Blicken Frau Schöberls und des Polizisten wurde ihr unbehaglich. Sollte sie irgend etwas angestellt haben?
Frau Schöberl kam, die Arme weit ausgebreitet, auf sie zu und zog sie, ehe Eva es verhindern konnte, an ihren mächtigen hochgeschnürten Busen. »Armes Kind«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Mein armes, armes Kind!«
Eva begriff gar nichts. Der fremde Geruch, gemischt mit Schweiß und allen Düften des Kolonialwarenladens, der ihr aus Frau Schöberls Kittel in die Nase stieg, bereitete ihr Unbehagen. Sie war froh, als die Nachbarin sie endlich freigab.
»Was ist denn?« fragte sie irritiert. »Ist etwas … passiert?«
Plötzlich, noch ehe jemand geantwortet hatte, glaubte sie begriffen zu haben. »Klaus?« rief sie erschrocken. Sie hatte den Bruder schon oft genug gewarnt, nicht wie ein Wilder durch den Straßenverkehr zu brausen.
»Nein, Fräulein«, antwortete der Polizist, »mit Ihrem Bruder ist alles in Ordnung. Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen … aber ich glaube, es ist besser, wir besprechen das nicht im Treppenhaus.«
»O Gott, ja!« Frau Schöberl schlug die Hände zusammen. »Ich muß ja ins Geschäft zurück! Kopf hoch, Kindchen! Ich schau’ nachher noch mal rein!«
Sie watschelte die Treppe hinunter.
Eva schloß die Wohnungstür auf und ließ den Polizisten eintreten. Sie stellte ihre Schulmappe am Garderobenständer ab und ging voraus ins Wohnzimmer. »Bitte, sagen Sie endlich … was wollen Sie von mir?«
Der Polizist sah sich um, dann nahm er auf einem der Sessel Platz.
»Setzen Sie sich, Fräulein … Ja, so ist es richtig. Wissen Sie zufällig die Adresse Ihrer Mutter?«
Eva Langers Gesicht verschloß sich. »Nein.«
»Schade, sehr schade. Sie stehen also ganz allein auf der Welt?«
»Wir leben mit unserem Vater zusammen.«
Der Polizist räusperte sich. Ihm war sichtbar unbehaglich zumute. »Sie sind doch schon ein großes, vernünftiges Mädchen«, begann er, dann unterbrach er sich. »Wo arbeiten Sie eigentlich?«
»Ich gehe aufs Realgymnasium.«
»Ach so. Na ja, das wird sich alles irgendwie ordnen lassen, hoffe ich. Sie lesen doch Zeitung, ich meine … Sie wissen sicher, daß heutzutage leicht mal was passieren kann, wie?«
»Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden!« sagte Eva heiser. Sie stemmte sich innerlich gegen die böse Ahnung, die in ihr aufstieg.
»Na ja, um es geradeheraus zu sagen … Ihr Vater hat einen Verkehrsunfall gehabt. Sein Auto ist mit einem Lieferwagen zusammengestoßen. Ecke Baler- und Martinstraße. Der andere hatte die Vorfahrt. So was kommt alle Tage vor, wissen Sie. Aber wenn es einen trifft …« Der Polizist zuckte hilflos die Achseln.
Eva war aufgesprungen. »Wo ist Vater?«
»Man hat ihn gleich ins Krankenhaus gebracht …«
»Ich werde sofort zu ihm fahren.«
Der Polizist stand auf und legte Eva die Hand auf die Schulter. »Fräulein Langer …«
»Welches Krankenhaus ist es?«
»Es hat keinen Sinn mehr. Er ist … tot.«
Eva war es, als wenn ihr Blut mit einem einzigen furchtbaren Stoß zu ihrem Herzen strömte. Sie starrte den Polizisten mit weitaufgerissenen Augen an. Sie war sich bewußt, daß er auf sie einredete, aber sie konnte kein einziges Wort in sich aufnehmen. Nur ein einziger Satz füllte mit entsetzlicher Klarheit ihr ganzes Inneres aus:
Vater ist tot.
In ihren Ohren brauste es.
Erst als sie wieder im Sessel saß und einen Schluck von dem Glas Wasser getrunken hatte, das der Polizist ihr an die Lippen hielt, kehrte ihr Bewußtsein zurück. Sie hörte deutlich, wie er zu ihr sagte: »Weinen Sie doch, Fräulein, weinen Sie … dann wird’s gleich besser!«
Aber sie konnte nicht weinen. Ihre Augen blieben trocken und brennend heiß. Sie starrte auf die Brieftasche ihres Vaters, die der Polizist vor sie auf den Tisch gelegt hatte, sein Portemonnaie – es war aus braunem Krokodilleder, sie selber hatte es ihm letztes Weihnachten geschenkt, sein Schlüsselbund. »Bitte, gehen Sie jetzt!« sagte sie mit angestrengter Stimme. »Mein Bruder muß gleich heimkommen, und ich möchte …«
»Haben Sie Verwandte? Haben Sie irgendeinen Menschen, der sich um Sie kümmern kann?«
Eva dachte angestrengt nach. »Nein … ich weiß nicht«, sagte sie endlich.
»Dann muß ich das Jugendamt benachrichtigen. Die werden jemanden schicken.«
Eva hob die Hand. »Nein, bitte nicht … Vielleicht könnte Onkel Werner …«
»Wer ist das?«
»Ein Bruder meines Vaters. Studienrat Doktor Werner Langer. Wir haben kaum Verbindung mit ihm gehabt, aber jetzt, wo Vater …« Ihre Stimme brach ab.
»Bitte, geben Sie mir die Adresse.«
»Schloßschule Oberbeuern, Kreis Rosenheim …«, sagte Eva.
»Danke. Das ist großartig. Ich werde Ihren Onkel anrufen. Rosenheim ist ja nicht weit, dann kann er noch heute abend da sein.«
Während der Polizist im Telefonbuch zu blättern begann, stand Eva mühsam auf. Sie hatte ein seltsames Gefühl in den Beinen, als wenn sie aus Watte wären. Mit vorsichtigen Schritten ging sie in die Küche hinüber. Sie stellte den Topf mit der Gemüsesuppe, die sie schon gestern gekocht hatte, auf den Herd, um sie aufzuwärmen. Dann begann sie den Küchentisch für sich und Klaus zu decken. Sie tat alles mechanisch, nicht fähig, irgend etwas zu denken, als daß der Vater tot war. Er würde nie mehr mit ihnen hier am Tisch sitzen, sie würden nie mehr zusammen sonntags ins Grüne fahren. Sie würde ihn nicht mehr um Rat fragen können, er würde sie nicht mehr necken und nicht mehr mit Klaus schimpfen. Er war fort. Für immer. Er würde nie wiederkommen. Sie wußte, daß es so war, aber sie war nicht imstande, es voll zu begreifen.
Eva hörte nicht, daß Klaus nach Hause gekommen war. Sie fuhr zusammen, als er in der Küchentür stand und ihren Namen rief.
Er machte ein finsteres Gesicht, wie immer, wenn er etwas nicht begriff. »Möchtest du mir gefälligst erklären, was hier los ist?« fragte er. »Was will dieser Polizist in unserem Wohnzimmer?«
Eva suchte nach Worten. Sie sah ihren kleinen Bruder an. Sie hätte ihn gerne in die Arme genommen, aber sie wußte, daß er Zärtlichkeiten haßte. »Klaus …«, sagte sie schwach mit den Tränen kämpfend.
»Red schon! Mach’s nicht so spannend!«
»Klaus, Vater … bitte, erschrick nicht! Vater ist …« Sie brachte das letzte, das entsetzliche Wort nicht über die Lippen.
Aber Klaus hatte schon verstanden. In seinen hellen blauen Augen stand Entsetzen. »Vater ist … tot?«
Sie konnte nur stumm nicken. Plötzlich löste sich ihre Verkrampfung. Sie sank auf einen Küchenstuhl, warf ihre Arme auf den Tisch und weinte hemmungslos.
Der Polizist ging mit der Versicherung, daß Onkel Werner noch heute nach München kommen würde.
Es wurde eine trostlose Mahlzeit. Eva konnte keinen Bissen hinunterbringen. Klaus, der in einem Alter war, wo man immer und in jeder Situation Hunger hat, hätte gerne gegessen, doch er schämte sich vor der Schwester. So ließ auch er seinen Teller unberührt stehen. Nachher ging er in sein Zimmer. Er war froh, als er noch eine halbe Tafel Schokolade fand. Sie schmeckte ihm überhaupt nicht, aber immerhin stillte sie das Hungergefühl in seinem Magen. Nachher warf er sich aufs Bett und starrte in die Luft. Er war noch weniger als Eva in der Lage, zu begreifen, was der Tod ihres Vaters für sie bedeutete.
Eva zwang sich, ihre Schularbeiten zu machen. Zwar hatte sie das Gefühl, daß alles, was sie jetzt tat, ganz sinnlos war, aber sie mußte irgend etwas tun. Sie wollte nicht wieder und wieder über all das nachdenken, das geschehen war.
Um drei Uhr klingelte es. Irene Breuer, Evas beste Freundin, stand vor der Tür. Sie war ein rundliches Mädchen mit kurzen blonden Locken und blitzblauen Augen. Sie hatte sich in der Pause mit Eva verabredet, gemeinsam zum Schwimmen ins Prinzregentenbad zu gehen. Irene grüßte vergnügt, dann erst bemerkte sie Evas verweinte Augen.
»Was ist los?« fragte sie. »Krach gehabt?«
»Nein.«
»Um so besser. Dann mach los! Die anderen warten schon.«
»Irene, es ist … ich kann nicht mitkommen.«
»Nicht? Bist du mit Mathe noch nicht fertig?«
Evas Lippen begannen zu zittern. Sie mußte sich zusammenreißen, um ihre Stimme in der Gewalt zu halten. »Nein, Irene«, sagte sie, »das ist es nicht. Würdest du mich bitte morgen bei Doktor Schreiber entschuldigen? Ich kann auch morgen nicht in die Schule kommen.«
»Ja, sag mal, bist zu verrückt geworden? Du willst nicht in die Schule kommen? Warum denn nicht? Bist du etwa krank?«
Eva hatte nicht vorgehabt, der Freundin irgend etwas zu erzählen, aber als Irene kurz entschlossen in die Wohnung trat und die Tür hinter sich zumachte, blieb ihr nichts anderes übrig.
»Es ist … mein Vater ist verunglückt«, sagte sie.
»Ist er … ?«
»Ja.«
Eine Sekunde lang verwünschte Irene, daß sie hereingekommen war. Sie hatte noch niemals einen Todesfall erlebt und keine Ahnung, was sie jetzt tun oder sagen sollte. »Ach …«, war das einzige, was sie über die Lippen brachte. Dann, als Eva nichts mehr sagte, fügte sie hinzu: »Woher weißt du …«
»Ein Polizist war hier.«
Darauf wußte Irene nichts zu sagen, sie suchte krampfhaft nach Worten. »Du kommst also nicht mit?«
»Nein.«
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«
»Wie denn?«
»Ich weiß auch nicht.«Irene hatte ihr natürliches Gleichgewicht schon wiedergefunden. »Hör mal, Eva«, sagte sie, »auf den Schreck muß ich mich erst mal setzen.« Sie öffnete die Tür zu Evas kleinem Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. »Was willst du denn jetzt tun?«
Eva blieb vor ihr stehen. Sie zuckte die Achseln. »Mein Onkel kommt heute abend …«
»Der Studienrat? Vorsicht, Eva, laß dich nicht in ein Internat stecken! Von wem soll ich denn sonst Latein abschreiben?«
Eva mußte lächeln, zum erstenmal, seit sie die Nachricht vom Tode ihres Vaters erfahren hatte.
»Darüber mache dir keine Sorgen«, sagte sie, »soviel Geld wird gar nicht da sein.«
Irene tippte sich mit dem Zeigefinger an die Nase. »Ach so, natürlich. Daran habe ich gar nicht gedacht. Weißt du, wenn ihr knapp seid, dann mußt du dir ganz einfach einen Job suchen, das tun doch viele. Herbert zum Beispiel. Er trägt jeden Tag vor der Schule Zeitungen aus, damit verdient er sich ein prima Taschengeld. Und ich …«
»Ihr lebt bei euren Eltern, Irene.«
»Na und? Die Wohnung habt ihr doch. Überhaupt, Eva, wenn man’s richtig bedenkt … Die ganze Geschichte hat auch ihre guten Seiten. Jetzt brauchst du dir von niemandem dreinreden zu lassen. Mensch, wenn ich bloß daran denke, was man hier in der Wohnung für ein zünftiges Faß aufmachen könnte.«
Eva schwieg.
»Was machst du für ein Gesicht?« fragte Irene. »Habe ich was Falsches gesagt?«
»Nein, gar nicht. Nur … mir ist augenblicklich wirklich nicht nach Partys zumute.«
»Jetzt nicht. Klar. Aber später wird es ganz prima werden.«
Eva ließ sich auf den Stuhl neben ihrem Schreibtisch sinken. Sie holte tief Atem. »Ich habe Angst«, sagte sie dann.
»Angst? Vor was?«
Eva erwiderte:
»Daß ich von der Schule muß.«
»Ach, Unsinn! Das brauchst du dir doch gar nicht gefallen zu lassen.«
»Und Klaus?«
»Wegen dem würde ich mir überhaupt keine Sorgen machen. Für einen Jungen ist ja immer alles viel leichter. Weißt du was, Eva, ich spreche mit meinem Vater, ob er euch beiden nicht einen Job bei Oberpollinger verschaffen kann. Die brauchen immer Leute für alles mögliche, zum Verkaufen, in den Büros, zum Verpacken, zum Austragen, was weiß ich. Ich wette, der findet was für euch.«
»Meinst du?«
»Ehrensache!« Irene stand auf. »Jetzt muß ich aber brausen. Kannst du mir dein Latein mitgeben? Ich werde heute abend noch mit Vater reden. Morgen nachmittag gebe ich dir Bescheid. Tschau, tschau, Eva … Es klappt bestimmt.«
Am Abend kam Dr. Werner Langer.
Er trug einen dunkelgrauen Anzug, dazu einen schwarzen Schlips, um den Arm einen Trauerflor. In der Hand hielt er einen langen schwarzen Regenschirm und einen kleinen Lederkoffer. Stumm schüttelte er Eva und Klaus die Hände.
Die Kinder hatten den Bruder ihres Vaters seit Jahren nicht mehr gesehen, er war für sie ein Fremder.
Dr. Langer stellte sein Köfferchen ab, hängte den Regenschirm an den Garderobenständer, rieb sich verlegen die Hände und sah sich um. »Ich habe mir drei Tage Zeit genommen«, sagte er, »ich kann also bei euch bleiben, bis alles geordnet ist.«
Klaus und Eva schwiegen.
»Ich denke, das einfachste wird sein, ich schlafe in …«, er räusperte sich, » … in Georgs Bett.«
»Vater hat immer auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen«, sagte Klaus.
»Gut, dann werde ich das auch tun.« Onkel Werner musterte die Kinder mit grauen, durchdringenden Augen. »Wie seht ihr denn aus?«
Eva und Klaus wechselten einen verständnislosen Blick. Sie schwiegen.
»Hättet ihr euch nicht umziehen können? Oder findet ihr dieses helle Sommerzeug etwa passend?«
Eva schaute an ihrem maisgelben Leinenkleid herunter, sie errötete. »Entschuldige bitte, Onkel. Daran habe ich gar nicht gedacht.«
»Ich habe bloß meinen blauen Firmungsanzug«, sagte Klaus, »und der ist mir zu klein.«
»Wie auch immer … ich wünsche euch morgen so gekleidet zu sehen, wie es dem Anlaß entspricht. Wo kann ich mir hier die Hände waschen?«
Eva öffnete dem Onkel die Tür zum Badezimmer. »Möchtest du etwas essen, Onkel Werner?«
»Bitte.«
Eva hatte den Abendbrottisch in der Küche gedeckt. Sie teilte die Gemüsesuppe aus, die heute mittag stehengeblieben war.
Onkel Werner aß zwei Teller leer. »Vorzüglich«, sagte er, »wirklich, ganz vorzüglich. Wer hat die Suppe gekocht?«
»Ich«, sagte Eva.
Onkel Werners graue Augen wurden um eine Nuance freundlicher. »Donnerwetter! Das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Das Essen in unserem Internat ist … nun ja, ihr werdet es euch vorstellen können … nun, eben Massenabfertigung. Und ich als Junggeselle … Aber das wird euch kaum interessieren.«
»Möchtest du noch ein Brot hinterher essen?« fragte Eva. »Und ein Stück Käse?«
»Danke, nein.« Der Onkel schob den Teller von sich, zündete sich eine Zigarette an. Nach kurzem Zögern hielt er auch Eva die Schachtel hin.
»Nein, danke«, sagte sie, »ich rauche nicht.«
»Sehr vernünftig. Leider ist diese Unsitte unter den jungen Leuten ja in erschreckendem Maße eingerissen. Ich freue mich … Wie alt bist du eigentlich?«
Eva stand auf und holte einen Aschenbecher. »Ich werde siebzehn.«
Onkel Werner streifte seine Asche ab. »Dieser Unglücksfall, nun ja, es hat keinen Sinn, große Worte zu machen. Wie heißt es doch? Rasch tritt der Tod den Menschen an. Es ist für euch und auch für mich ein sehr schmerzlicher Verlust. Um gleich in medias res zu gehen … ich nehme doch an, daß euer Vater eine Lebensversicherung zu euren Gunsten abgeschlossen hat. Könnt ihr mir vielleicht sagen, wie hoch sie sich ungefähr beläuft?«
»Er hat es immer vorgehabt«, sagte Eva leise.
»Was? Soll das etwa heißen, er war nicht versichert?«
Klaus, warf den Kopf in den Nacken. »Woher sollen wir denn das wissen?«
Onkel Werner seufzte. »Na ja, das wird sich ja alles feststellen lassen. Das beste wird sein, ich mache mich sofort an die Arbeit. Vielleicht bist du so freundlich, Eva, mir eine Tasse Kaffee zu kochen.«
Als Eva an diesem Abend zu Bett ging, saß Onkel Werner im Lieblingssessel ihres Vaters am Schreibtisch, einen gewaltigen Stoß Papiere vor sich. Eva hatte ihm die Couch für die Nacht zurechtgemacht, sie hatte dabei die Zähne zusammenbeißen müssen, um nicht zu weinen. Vater würde sie nie mehr benutzen.
Lange lag sie schlaflos im Bett. Sie dachte an ihre Mutter. In all den vergangenen Jahren hatte sie versucht, ihre Mutter zu vergessen. Sie war sieben Jahre alt gewesen und Klaus drei, als die Mutter sie verlassen hatte. Sie erinnerte sich nicht, daß es je böse Worte zwischen den Eltern gegeben hatte, aber plötzlich war Mutter fortgegangen. Sie hatte nicht verstanden, was geschehen war. Aber sie hatte gespürt, daß der Vater immer traurig wurde, wenn sie nach ihr fragte. Erst viel später hatte sie begriffen, daß ein anderer Mann im Spiel gewesen sein mußte. Damals war sie sehr böse auf ihre Mutter geworden. Wie hatte sie es fertigbringen können, den guten Vater, sie und Klaus zu verlassen? Aber heute, ganz plötzlich, hatte sie Sehnsucht nach ihr. Wenn Mutter doch zurückkommen würde. Dann würde alles anders sein.
Vielleicht würde sie die Todesanzeige in der Zeitung lesen. Vielleicht würde sie dann zu ihr und Klaus kommen. Vielleicht …
Über diesen Gedanken schlief sie ein.
Am nächsten Morgen zog Eva ihr geradegeschnittenes, dunkelgraues Flanellkleid an, obwohl es immer noch sommerlich warm war. Sie hatte es im letzten Herbst aus einem alten Anzug ihres Vaters schneidern lassen, und sie fand, daß es sie sehr erwachsen machte. Ihr langes goldbraunes Haar schlug sie im Nacken ein und steckte es hoch.
Klaus erschien in seinem Firmungsanzug. Er war ihm wirklich viel zu klein geworden, seine Handgelenke schauten ein gutes Stück aus den Ärmeln hervor.
Das Frühstück verlief schweigend. Nachher bat Onkel Werner Eva und Klaus zu sich ins Wohnzimmer. Er sagte: »Setzt euch, Kinder, und hört mich an. Vorweg: Ich habe die halbe Nacht gebraucht«, er wies mit einer Handbewegung auf die Papiere, die jetzt vorgeordnet in kleinen Stapeln den Schreibtisch bedeckten, »bis ich mich einigermaßen durchgefunden habe.«
»Vater war immer sehr ordentlich!« warf Eva ein.
»Mag sein. Aber für einen Außenstehenden … bitte, versteht mich nicht falsch, es liegt mir völlig fern, Kritik an dem Verstorbenen zu üben. Alles in allem habe ich jedoch den Eindruck, Georg, euer Vater hat niemals daran gedacht, daß ihm etwas zustoßen könnte.«
»Wer denkt denn auch an so was!« sagte Klaus.
Onkel Werner warf ihm einen verweisenden Blick zu, dann fuhr er fort: »Ich hätte euch gern eine erfreulichere Mitteilung gemacht, aber Tatsache ist, euer Vater hat euch nichts hinterlassen.«
Klaus sprang auf. Sein junges Gesicht war ganz verstört. »Gar nichts?«
»Nein. Es würde zu weit gehen, euch alles in Einzelheiten zu erklären, aber ihr dürft mir schon glauben. Wir können nur von Glück sagen, daß wenigstens das Auto ganz bezahlt war. Georg hat leider – durch ein Versehen, nehme ich an – versäumt, die letzte Versicherungsrate termingemäß zu zahlen. Aus dieser Richtung dürft ihr euch also keinen Pfennig erhoffen. Und sonst … die Außenstände decken gerade die Schulden.«
»Aber wir haben doch die Wohnung«, sagte Eva schwach.
»Eine Altbauwohnung ohne Baukostenzuschuß. Ihr werdet nichts dafür bekommen, wenn ihr sie aufgebt.«
»Aber warum sollen wir denn das?« rief Klaus. »Man könnte doch … könnte man nicht …«
»Ja, Onkel Werner, könnten wir sie nicht möbliert vermieten? Das große Zimmer und das Bad. Dann könnten doch Klaus und ich …«
»Eine Untervermietung wird im Mietvertrag ausdrücklich ausgeschlossen. Bitte, Kinder, glaubt mir doch, ich habe mir alles gründlich durch den Kopf gehen lassen. Wie man die Dinge auch dreht, euch bleibt nichts.«
Klaus stand ganz verdattert da. »Ich werd’verrückt«, sagte er tonlos. »Ich werd’verrückt …«
»Bitte, Klaus, nicht diese Ausdrücke!« rügte Onkel Werner. »Du hast übrigens am wenigsten Grund zu verzweifeln, für dich habe ich mir schon eine Lösung ausgedacht. Ich habe mir deine Zeugnisse durchgesehen. Ich bin ziemlich sicher, daß ich unter den gegebenen Umständen eine Freistelle für dich auf der Schloßschule in Oberbeuern bekomme. Meine wirkliche Sorge ist, was sollen wir mit dir anfangen, Eva?«
Eva schluckte.
»Du meinst, Klaus und ich können nicht weiterhin zusammenbleiben?«
»Nun nimm aber mal Vernunft an, Eva!« sagte Klaus. »Wir müssen verdammt froh sein, daß Onkel mich mitnimmt.«
»Wir beide könnten doch …«
Eva stockte. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die ihr in die Augen stiegen.
»Was?« fragte Onkel Werner.
Eva schwieg. Sie hatte von Irenes Vorschlag, für sie beide einen Job bei Oberpollinger zu besorgen, sprechen wollen, aber plötzlich schien ihr alles sinnlos. Wenn sie die Wohnung aufgeben mußten, fiel auch dieser Plan ins Wasser.
»Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen, Eva«, sagte Onkel Werner. »Ich werde mich nach einem Heim umsehen müssen, wo ich dich unterbringen kann.«
»Ein Internat?«
»Wie bitte?« Onkel Werner legte die Hand ans Ohr, als wenn er schlecht verstanden hätte. »Wer, glaubst du, soll das bezahlen? Ich etwa? Ich könnte es nicht, selbst wenn ich es wollte. Nein, daß du die Schule aufgeben mußt, das sollte dir doch wohl schon klar sein. Wir müssen versuchen, dich so rasch wie möglich auf eigene Füße zu stellen.«
Im Kolonialwarenladen erzählte Frau Schöberl all ihren Kunden ausführlich von dem schrecklichen Unglück, das über die Kinder von Langer hereingebrochen war. Das Thema gab ausgiebig Stoff zum Tratschen. Man konnte wieder einmal die alten Geschichten über Frau Langer aufrühren, die seinerzeit sang- und klanglos ihren Mann und ihre beiden kleinen Kinder mit einem Schauspieler verlassen hatte. Man konnte sich über den ständig zunehmenden Straßenverkehr aufregen und über die Unvernunft mancher Autofahrer, die sich in angeheitertem Zustand ans Steuer setzten. »Ich will ja nichts gesagt haben«, wiederholte Frau Schöberl immer wieder, »aber Sie wissen ja selber, wie das ist … ein Spirituosenvertreter, und nicht trinken, wo gibt’s denn das? Es ist ja auch nichts weiter dabei, nur wenn einer weiß, daß er sich nachher ans Steuer setzen muß und daß zu Hause zwei unmündige Kinder auf ihn warten … Jaja, die Menschen werden halt immer unvernünftiger.«
»Hör mal, Anni«, begann Herr Schöberl, als der Laden für einen Augenblick leer von Kunden war, »ich habe auch über die Sache nachgedacht …«
»Ist schon recht. Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht mit dem Auto zum Stammtisch fahren. Vielleicht wird dir das jetzt mal eine Lehre sein.«
Herr Schöberl hatte im Laufe der Jahre eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt, die Vorwürfe seiner Frau zu überhören. »Eigentlich wäre das doch eine Gelegenheit«, sagte er gelassen, »ich meine, wo das arme Ding jetzt doch ganz allein auf der Welt steht. Wir suchen doch schon lange jemand, der dir ein bißchen im Haushalt hilft.«
Frau Schöberl ließ den großen westfälischen Schinken, den sie weglegen wollte, sinken und sah ihren Mann an. »Ach, so meinst du das! Ob sie das tun wird? Sie ist doch eine Studierte, die geht doch auf die hohe Schule!«
»Das kostet ja nichts. Ich meine, so nebenbei könnte sie bei uns den Haushalt machen. Wir geben ihr dafür ein Taschengeld. Ich sehe es gar nicht gerne, Anni, daß du dich dauernd so abrackern mußt.«
Frau Schöberl stöhnte. »Jaja, die Arbeit wächst mir schon manchmal über den Kopf. Aber ob das Mädel will?«
»Ich kann sie ja fragen, aber nur, wenn es dir recht ist.«
»Ja, tu das, der Onkel ist jetzt bei ihnen. Sprich mit dem. Sie soll es ja gut haben bei uns, die Eva.«
Herr Schöberl ließ sich Zeit. Er prüfte umständlich und gründlich den Kassenstand, nahm einen Hundertmarkschein heraus und legte statt dessen Wechselgeld in die Schublade, dann erst, als seine Frau wieder alle Hände voll zu tun hatte, neu eingetretene Kunden zu bedienen, schlängelte er sich unauffällig aus der Hintertür.
Mit wenigen Sätzen war er die Treppe hinauf und wollte schon auf die Türklingel bei Langers drücken, als er es sich anders überlegte.
Er lief noch eine Treppe höher und schloß seine Wohnung auf.
Im Schlafzimmer wechselte er seinen hellblauen Ladenkittel mit einer grauen Flanelljacke. Mit Bedacht wählte er einen eleganten silbergrauen Schlips, band sich einen sorgfältigen Knoten. Dann trat er vor den Spiegel. Mit Genugtuung stellte er fest, daß sein Haar, wenn auch schon von einigen grauen Fäden durchzogen, immer noch voll und dicht war. Er bürstete es kräftig, um ihm Glanz zu geben. Prüfend strich er sich mit der Hand über die Wange, die Rasur war in Ordnung. Er lächelte seinem Spiegelbild zu.
Dann erst stieg er zu Langers hinunter. Unwillkürlich zog er den Bauch ein, als Eva die Wohnungstür öffnete.
Eva Langer zwang sich zu einem Lächeln, als sie Herrn Schöberl sah, aber ihre grauen klaren Augen blieben ernst.
Sie war sehr niedergeschlagen. Vor wenigen Minuten hatte ihre Freundin Irene angerufen, strahlend stolz, sie hatte einen Job für Eva in Aussicht. »Stell dir vor, du verdienst dreißig Mark in der Woche, ist das nicht dufte?«
Irene war beleidigt gewesen, als Eva ihr erklärt hatte, daß sie von diesem Geld, wenn sie Wohnung, Verpflegung und Kleidung selber bezahlen mußte, nicht leben konnte. »Na ja, wenn du solche Ansprüche stellst«, hatte sie gesagt, »dann kann ich dir auch nicht helfen.«
Tatsächlich wußte Eva nicht mehr ein noch aus. Von einem Tag zum anderen war ihr Leben aus der Bahn geworfen worden. Der Vorschlag Herrn Schöberls kam für sie wie ein Geschenk vom Himmel.
Onkel Werner gab sein Einverständnis. Er war froh, die Sorge um Eva los zu sein. Einen Augenblick spielte er sogar mit dem Gedanken, Herrn Schöberl die Vormundschaft zuzuschieben, aber dann nahm er von dieser Idee doch wieder Abstand. Es war seine Pflicht als Onkel, Evas weiteres Schicksal im Auge zu behalten.
Als Eva Herrn Schöberl zur Tür brachte, sagte sie: »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
Er tätschelte ihr lächelnd die Wange. »Sei nur recht lieb zu mir, Kleines«, sagte er zärtlich, und als er ein leichtes Befremden in Evas Augen bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Ich habe mir immer schon so ein Töchterchen gewünscht wie dich.«
Die nächsten Tage wurden für Eva ein Alptraum. Ein Altwarenhändler schickte einen Taxator, der mit Onkel Werner um jedes einzelne Möbelstück feilschte, bis es um einen lächerlich niedrigen Preis, wie es Eva schien, den Besitzer wechselte. Den neuen Staubsauger, von dem erst die ersten drei Raten bezahlt worden waren, mußte Klaus in das Geschäft zurückbringen, wo er gekauft worden war. Auch Vaters Anzüge wurden verramscht. »Das Umarbeiten lohnt sich nicht«, bestimmte Onkel Werner, »so was kann man heutzutage viel villiger von der Stange bekommen.«
Eva wagte nicht zu widersprechen. Sie hatte alle Hände voll damit zu tun, Schränke und Kommoden auszuräumen und zu entscheiden, was man behalten sollte und was nicht. Bettwäsche, Tischwäsche, Besteck und Geschirr wurden in zwei große Kisten verpackt und auf den Speicher gestellt. »Für deine Aussteuer später, Eva«, sagte Onkel Werner.
Später half Eva dem Bruder beim Packen. Es war ihr furchtbar schwer ums Herz, und sie begriff nicht, wie Klaus bei alledem so munter und unternehmungslustig sein konnte.
»Mensch, du, Eva, das ist ein ganz tolles Internat!« erzählte er aufgeregt. »Onkel Werner sagt, sie haben auch Perser dort und Brasilianer und was nicht alles. Lauter Jungens aus ganz reichen Familien. Schicke Sache, was?«
Eva ließ das Hemd sinken, das sie gerade in den Koffer legen wollte, und sah ihren kleinen Bruder an. »Freust du dich, daß du fortkommst?«
»Na ja, wie man’s nimmt«, sagte Klaus leicht verlegen, dann fügte er trotzig hinzu: »Jedenfalls brauche ich von jetzt an nicht mehr Geschirr zu spülen und abzutrocknen. Dafür haben sie Personal dort.«
»Klaus!« sagte Eva entsetzt.
»Ist doch wahr!«
Eva sah Klaus an, der über dem Packen auf seine alte Briefmarkensammlung gestoßen war, mit der er sich schon seit Monaten nicht mehr beschäftigt hatte. Er hatte seine Lupe hervorgekramt und betrachtete jedes einzelne der meist leicht beschädigten Exemplare mit größtem Interesse. Er war ja noch ein Kind, ein kleiner Junge. Sie durfte nicht ernst nehmen, was er sagte. Es war ihr Fehler, wenn sie das tat. Sie strich ihm leicht über das Haar. Klaus zuckte unter dieser zärtlichen Geste unangenehm berührt zusammen.
Eva tat, als wenn sie es nicht gemerkt hätte. »Damit ich nicht vergesse«, sagte sie, »ich habe noch was für dich. Reiseproviant!«
Sie gab ihm die Tafel Nußschokolade, die Herr Schöberl ihr zugesteckt hatte.
Klaus begriff sofort. »Mensch, prima!« sagte er begeistert. »Vom alten Schöberl?«
Eva nickte lächelnd.
»Du, das ist überhaupt die Masche! Bei denen liegt doch bestimmt viel so Zeugs rum … sieh zu, daß du da hin und wieder was abstauben kannst.«
Eva runzelte die glatte, helle Stirn. »Du meinst doch nicht im Ernst, daß ich klauen soll, was?«
»Nö, natürlich nicht. Ich dachte nur, du könntest dir gelegentlich mal was schenken lassen. Bestimmt bekommen alle anderen Jungens in der Schule Pakete von zu Hause.«
Eva lag es auf der Zunge, ihm zu erklären, daß alle anderen Jungen bestimmt auch ein Elternhaus hätten, Väter und Mütter, die Geld verdienen, und daß er sich langsam daran gewöhnen müßte, allein auf der Welt zu stehen. Statt dessen sagte sie nur: »Ich werde sehen, was ich tun kann, Klaus, das weißt du doch!«
Am Tag der Beerdigung war der Himmel blau. Die Bäume auf dem Waldfriedhof leuchteten golden, gelb und rot. Es war ein Herbsttag von seltener Pracht.
Eva merkte von alledem nichts. Sie sah nur den schwarzen langen Sarg, der auf den Schultern der Träger vor ihr her schwankte, sie zwang sich, zu begreifen, daß es ihr Vater war, der heute für immer in die Erde versenkt wurde. Klaus und sie hatten ihn nicht sehen dürfen.
Noch auf dem Friedhof zündeten sich Onkel Werner und Herr Schöberl eine Zigarette an. Es wurden ein paar belanglose Worte gewechselt, dann mußten Eva und Klaus sich trennen. Der Bruder fuhr mit Onkel Werner zum Bahnhof, Herr Schöberl brachte Eva in seinem Auto zur Albertstraße zurück. Er sprach kein Wort mit ihr auf dieser Fahrt, und Eva war ihm dankbar dafür. In Schöberls Wohnung ging sie sofort in das kleine Zimmer, das Frau Schöberl ihr eingeräumt hatte, drehte den Schlüssel im Schloß um und warf sich aufs Bett. Sie weinte.
Dann, als sie hörte, daß die Wohnungstür ins Schloß fiel und Herr Schöberl in den Laden hinuntergegangen war, raffte sie sich auf. Sie durfte sich nicht gehenlassen, das Leben ging weiter.
Sie zog ihr graues Kleid und die schwarzen Strümpfe aus, nahm ein einfaches Baumwollkleid aus dem Koffer, band sich eine Schürze um, ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht.
Als Schöberls in der Mittagszeit nach oben kamen, war der Tisch gedeckt und das Essen gekocht. Am Nachmittag packte Eva ihre Sachen aus und richtete sich ihr Zimmer so wohnlich wie möglich ein.
Es war fast wie zu Hause.
In der Schule war alles wie immer. Nur für Eva hatten sich die Dinge verändert. Sie hatte keine Freizeit mehr.
Morgens um fünf Uhr stand sie auf und brachte die Wohnung in Ordnung, machte das Frühstück. Wenn sie mittags um zwei Uhr aus der Schule kam, hatten Schöberls, die um drei Uhr wieder im Laden stehen mußten, meist schon gegessen. Eva wärmte sich auf, was übriggeblieben war. Dann machte sie sich gleich daran, für den nächsten Tag zu kochen, putzte die Küche und konnte sich dann erst ihren Schularbeiten widmen – wenn nicht grade noch eine Extraarbeit anfiel.
Eva lernte bald begreifen, daß es viele Extraarbeiten in Schöberls Haushalt gab. Als sie noch mit ihrem Vater und Klaus zusammen lebte, hatten sie die große Wäsche stets außer Haus gegeben. Schöberls hatten eine automatische Waschmaschine, aber bügeln mußte Eva. Da Herr Schöberl jeden Tag ein frisches Hemd anzog, jeden Tag mindestens zwei Kittel schmutzig machte, von der Tischwäsche, den Servietten und Handtüchern ganz zu schweigen, mußte Eva jeden zweiten Tag bügeln. Bei Langers hatte das Fensterputzen stets die Zugehfrau besorgt, jetzt mußte Eva auch diese Arbeit übernehmen, vom Silberputzen, das mindestens alle vierzehn Tage an die Reihe kam, ganz zu schweigen. Oft wurde es Abend, ehe Eva sich an ihre Schularbeiten machen konnte, und dann war sie meist schon todmüde.
Es half auch nichts, daß Herr Schöberl ihr, wann immer er konnte, etwas zusteckte – eine Apfelsine, eine Tafel Schokolade, eine Handvoll Bonbons. Eva freute sich darüber. Es tat ihr wohl, daß Herr Schöberl so nett zu ihr war, aber sie rührte nichts von diesen kleinen Geschenken an.
Einmal im Monat machte sie ein kleines Paket und schickte es an Klaus.
Von ihrem Bruder bekam sie kurze, ziemlich inhaltlose Briefe, in denen er sich für ihre Pakete bedankte und immer wieder um Geld bat. Alle Klassenkameraden hatten, wenn man seinen Briefen glauben durfte, Taschengeld im Überfluß, nur er wurde von Onkel Werner furchtbar knapp gehalten. Er brauchte Geld, und Eva schickte ihm jeden Pfennig, den sie erübrigen konnte. Es fiel ihr nicht schwer, denn außer Dingen, die sie für die Schule brauchte, hatte sie kaum Gelegenheit, einzukaufen.
Dann kam der Tag, an dem sie in der Schulbank einschlief.
Es war im Physikzimmer. Fräulein Dr. Baierlein hatte das Licht ausgeknipst, weil sie vorn am Lehrtisch Experimente mit verschiedenfarbig brennenden Gasen durchführen wollte. In der Dunkelheit des Raumes wurden Äpfel und Butterbrote gegessen, getuschelt und Witze erzählt.
Fräulein Dr. Baierlein merkte wie immer nichts von alledem. Ihre eigene, nicht ungefährliche Tätigkeit nahm sie voll in Anspruch. Sie hätte auch nichts davon gemerkt, daß Eva eingeschlafen war, wenn sie, wie alle anderen, als das Licht anging, gerade und aufrecht auf ihrem Platz gesessen hätte. Aber Eva wachte nicht auf. Sie schlief, den Kopf in den Armen vergraben.
Ihre Nachbarin stieß sie heftig in die Seite. »Eva! Komm hoch!«
Schlaftrunken hob Eva den Kopf. Sie wurde erst wirklich wach, als sie Fräulein Dr. Baierlein dicht vor sich stehen sah. Kopfschüttelnd schaute die Lehrerin auf sie herunter und wunderte sich über Eva.
Eva sprang auf, ihr Gesicht war blutrot geworden. »Bitte, entschuldigen Sie … entschuldigen Sie vielmals!« stammelte sie. »Ich weiß gar nicht … es tut mir furchtbar leid.«
In diesem Augenblick klingelte die Schulglocke. Die Stunde war aus. Ohne ein Wort zu sagen, machte Fräulein Dr. Baierlein sich eine Notiz in ihr kleines Buch, klappte es zusammen und verließ nach kurzem Gruß die Klasse.
»Mensch, Meier, das gibt was!« sagte Irene. »Die wird es bestimmt Doktor Schreiber petzen.«
Eva zuckte nur stumm und hilflos mit den Schultern. Sie spürte, der Lauf der Dinge war nicht mehr aufzuhalten. Sie war nicht einmal aufgeregt, als der Klassenlehrer sie in der fünften Stunde bat, nach Schulschluß auf ihn zu warten. Sie war viel zu müde, um sich noch ängstigen zu können.
Das Gespräch mit Dr. Schreiber fand im leeren Klassenzimmer statt. Der Klassenlehrer, ein schlanker, knochiger Mann mit einem hageren Pferdegesicht und tiefliegenden dunklen Augen, wurde wegen seiner Strenge und seiner Energie gefürchtet, aber auch geliebt. Er gehörte zu jenen Lehrern, die es ihren Schülern nicht leicht machen, aber bei denen sie das sichere Gefühl haben, tatsächlich etwas zu lernen. Eva hatte bisher noch nie einen Zusammenstoß mit ihm gehabt.
»Bitte, Eva, setzen Sie sich«, sagte er und nahm sich selbst einen Stuhl zu einem der langgestreckten Tische, an denen sonst nur die Schülerinnen saßen.
Eva blickte an ihm vorbei auf den Regen, der unablässig an das Fenster klopfte.
»Schauen Sie mich gefälligst an, wenn ich mit Ihnen spreche!« sagte Dr. Schreiber hart. »Oder wagen Sie es nicht mehr, mir in die Augen zu schauen?«
Müde schlug Eva die dunklen seidigen Wimpern hoch und sah ihn aus ihren grauen umschatteten Augen an.
»Was ist los mit Ihnen, Eva? Sie haben sich in der letzten Zeit sehr verändert … Bitte, widersprechen Sie mir nicht, ich habe Sie genau beobachtet. Ich habe Sie bisher immer als eine interessierte und aufmerksame Schülerin geschätzt. Seit einiger Zeit aber haben Ihre Leistungen in auffallender Weise nachgelassen. Ich habe mich mit Ihren anderen Lehrern unterhalten. Ihre Hausaufgaben sind schusselig gemacht, meistens kommen Sie völlig unvorbereitet in die Schule, und im Unterricht träumen Sie und denken an andere Dinge, die Ihnen anscheinend interessanter sind. Was ist los mit Ihnen? Ich bitte um eine klare Antwort.«
»Ich weiß nicht …«, sagte Eva zögernd. Sie hätte Dr. Schreiber von Schöberls erzählen können, von der vielen Arbeit, die man ihr aufbürdete, und daß sie einfach nicht mehr die Kraft und die Zeit zum Lernen fand. Aber es widerstrebte ihr, sich zu beklagen. Schöberls hatten sich in einem Augenblick größter Not ihrer angenommen. Sie wollte nicht undankbar sein.
»Mir scheint«, sagte Dr. Schreiber, der nichts von alledem ahnte, »Ihre seltsame Veränderung ist gleichzeitig mit dem Tod Ihres Vaters eingetreten. Offensichtlich fehlt Ihnen die starke Hand. Sie brauchen jemanden, der auf Sie aufpaßt und Sie zur Arbeit anhält. Das ist beschämend. Sie sind kein Kind mehr, Eva, Sie sind für sich selber verantwortlich. Ich hätte niemals gedacht, daß ausgerechnet Sie sich nachts herumtreiben …«
»Das ist nicht wahr!« sagte Eva, plötzlich hellwach. »Ich treibe mich nicht herum!«
»Wollen Sie mir dann bitte erklären, wie es kommt, daß Sie vor lauter Müdigkeit nicht imstande sind, dem Unterricht zu folgen? Und heute morgen sind Sie im Physikunterricht sogar eingeschlafen.«
»Das wird nicht wieder vorkommen, ich verspreche es!« sagte Eva.
»Das möchte ich hoffen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Eva … Falls Sie der Meinung sind, daß Ihnen die Schule nichts mehr zu bieten hat, gehen Sie ab. Wenn Sie so weitermachen, vertrödeln Sie hier nur Ihre Zeit. Das Schuljahr hat gerade eben begonnen, aber ich kann Ihnen schriftlich geben, daß Sie, wenn Sie Ihr ganzes Verhalten nicht grundlegend ändern, im nächsten Herbst nicht aufsteigen werden. Haben Sie das verstanden?«
»Jawohl, Herr Doktor.«
»Danke.« Dr. Schreiber stand auf. Er sah, wie Eva mit müden Bewegungen ihre Schultasche unter dem Tisch hervorzog, sie zudrückte und, die Schultern leicht vorgebeugt, nach kurzem Gruß die Klasse verließ. Gegen seinen Willen überkam ihn Mitleid. Er folgte ihr auf den Flur und half ihr – was er noch nie bei einer anderen Schülerin getan hatte – in ihren Regenmantel.
»Eva«, sagte er in verändertem Ton, »es tut mir sehr leid, daß ich Ihnen das sagen mußte. Wenn Sie Sorgen haben, bitte, sprechen Sie sich offen mit mir aus. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Sie standen sich jetzt sehr dicht, Auge in Auge, gegenüber. Um Evas Mundwinkel zuckte es. Am liebsten hätte sie sich Dr. Schreiber an die Brust geworfen und ihm alles erzählt. Aber sie riß sich zusammen.
»Danke, Herr Doktor«, sagte sie, »aber – mir kann niemand helfen!«
Sie drehte sich plötzlich um und rannte davon, damit er ihre Tränen nicht sehen sollte.
»Eva!« rief Dr. Schreiber hinter ihr her, aber sie hörte ihn nicht mehr.
Nachdenklich ging er ins Lehrerzimmer, um seinen Mantel anzuziehen. Er hatte das unbehagliche Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, aber er wußte nicht, was es war.
Noch am selben Tag schrieb Eva ihrem Onkel. Sie berichtete ihm offen ihre ganze Situation, schrieb ihm von den schlechten Noten, die sie geschrieben hatte, verschwieg auch nicht, daß sie im Unterricht geschlafen hatte und was Dr. Schreiber ihr gesagt hatte. »Bitte, sei nicht böse, daß ich Dich belästige, Onkel Werner, aber Du weißt ja, ich habe sonst keinen Menschen. Ich schaffe es einfach nicht. Ich bin so müde, daß ich drei Tage und drei Nächte hintereinander schlafen könnte. Was soll ich bloß tun. Bitte, gib mir einen Rat!«
Im geheimsten Winkel ihres Herzens hoffte sie, daß Onkel Werner auch sie auf der Schloßschule Oberbeuern unterbringen könnte. Sie wußte aus den Briefen ihres Bruders, daß es auf dem Internat auch Mädchen gab.
Warum konnte Onkel Werner nicht, was er für Klaus getan hatte, auch für sie tun? Dann wäre sie aus allen Sorgen herausgewesen.
Die Antwort ihres Onkels war niederschmetternd. Er legte ihr den Durchschlag seines Briefes an den Schuldirektor bei, in dem er sie vom Realgymnasium abgemeldet hatte.
»Ich habe diesen Schritt schweren Herzens getan, glaube mir«, schrieb er, »aber es scheint mir die einzige vernünftige Lösung. Ich bin Schulmann genug, um klar zu erkennen, daß Du unter den gegebenen Umständen das Ziel der Klasse nicht erreichen kannst. Das soll kein Vorwurf sein, Eva, sondern nur die Feststellung einer Tatsache. Ich habe übrigens, um ehrlich zu sein, eine humanistische Bildung für Mädchen niemals notwendig gefunden. Sieh zu, daß Du Deine Kenntnisse in der Haushaltsführung vervollständigst – daß Du kochen kannst, habe ich mit Freude bemerkt. Damit bist Du vielen Deiner Altersgenossinnen weit voraus. Ich wünsche Dir von Herzen, daß Du in ein, zwei Jahren einen netten Menschen findest, mit dem Du Dein Leben für immer verbindest. Bis dahin wirst Du, da bin ich überzeugt, bei Schöberls am allerbesten aufgehoben sein.« –
Irene, die am Nachmittag erschien, um während der Arbeit Eva Gesellschaft zu leisten und dabei ihr Herz auszuschütten – sie hatte sich in einen Oberprimaner namens Heinz verliebt, der aber bis jetzt noch nichts von seinem Glück wußte und ihr niemals auch nur einen Gruß geschenkt hatte –, erfuhr als erste von Onkel Werners Entschluß.
Sie war außer sich. »Aber das brauchst du dir doch nicht gefallen zu lassen, Eva!« rief sie. »Das ist ja unglaublich! Du mußt zum Vormundschaftsgericht gehen und dich beschweren! Das darf er doch gar nicht, dich einfach von der Schule abmelden, und wenn er tausendmal dein Onkel ist!«
»Beschweren? Was hat das für einen Zweck? Onkel Werner hat ja recht. Und Doktor Schreiber auch. Ich schaffe es nicht. Schule und Haushalt, das ist zuviel für mich.«
»Aber als dein Vater noch lebte …«
»Das war was ganz anderes. Da haben alle mitgeholfen. Aber jetzt …«
Eva sprach den Satz nicht zu Ende.
»Sag es nur! Sprich es aus! Du bist viel zu anständig für diese Leute. Sie nutzen dich einfach aus … und ich sage dir, das dürfen sie nicht. Du mußt dich wehren!«
»Ach, Irene, das stimmt ja alles nicht, was du sagst. Schöberls stehen alle beide von früh bis spät im Laden … woher sollten sie da Zeit nehmen, sich auch noch um den Haushalt zu kümmern?«
»Das ist mir egal. Jedenfalls bist du nicht ihr Dienstmädchen. Du kriegst ja auch kein richtiges Gehalt … oder?«
Eva wußte, daß ihre Freundin nicht so unrecht hatte, aber helfen konnte ihr das auch nicht. Gegen den Willen des Onkels weiter zur Schule zu gehen, hätte keinen Sinn gehabt, Schöberls zu verlassen noch weniger. Wo sollte sie hin? Sie hatte keinen Menschen, der für sie eingestanden hätte.
Schöberls freuten sich über die neue Veränderung in Evas Leben, und sie sprachen es auch offen aus.
»Das Lernen hat dir nie gutgetan, Kleines«, sagte Herr Schöberl. »Ich habe das längst bemerkt. Jetzt kannst du morgens eine Stunde länger schlafen, du wirst mal sehen, wie dir das bekommen wird.«
Frau Schöberl war der Meinung, daß Eva jetzt, da sie nur noch für den Haushalt zu sorgen hatte, nicht mehr genug ausgelastet war. In jeder freien Minute wurde sie in den Laden hinuntergeholt, um aufzuräumen, zu putzen, Kisten auszupacken.
Herrn Schöberl gefiel diese neue Ordnung der Dinge nicht, und er wagte einen Vorstoß bei seiner Frau.
»Sei mir nicht böse, Anni … natürlich, du weißt immer ganz genau, was du tust … aber findest du es wirklich richtig, daß das Mädel jetzt auch noch im Laden helfen muß?«
»Wenn diese jungen Dinger zuviel Zeit haben, kommen sie bloß auf dumme Gedanken«, sagte Frau Schöberl energisch. »Ein Zweipersonenhaushalt wie der unsere macht doch keine Arbeit. Und außerdem, immer allein oben in der Wohnung, das ist doch nichts für ein junges Mädel. Sie kann froh sein, daß sie hin und wieder unter Leute kommt.«
»Wie wär’s, wenn wir sie in die Lehre nehmen würden, Anni? Das ist natürlich nur ein Vorschlag, aber dann hätte sie doch wenigstens eine Ausbildung, sie könnte Verkäuferin werden, später …«
»Schnickschnack! Wozu denn? Du hast ja gelesen, was ihr Onkel geschrieben hat. Heiraten soll sie. Dazu braucht sie nichts zu lernen.«
Herr Schöberl erwiderte:
»Aber ich meine doch …«
»Ja, an das Mädel denkst du, aber an mich nicht. Wenn wir sie in die Lehre nehmen, wer soll denn dann den Haushalt machen?«
»Ein bißchen helfen könnte sie trotzdem.«
»Nein, schlag dir das aus dem Kopf, Sepp«, sagte Frau Schöberl entschieden. »Daraus wird nichts. Überhaupt, ich muß mich wundern … Wieso bist du immer so besorgt um das Mädel? Hat sie dir etwa Eindruck gemacht?«
Herr Schöberl lachte. »Die? Aber Anni, die ist doch so ein verhungerter Spatz. Du solltest doch schon wissen … ich liebe andere Formen. « Er klopfte seiner Frau zärtlich auf den mächtigen Popo.
An einem Dienstag im November fuhr Frau Schöberl zu Besuch zu ihrer Schwester nach Wiessee. Sie wollte erst am Mittag des nächsten Tages zurückkehren.
Eva war es etwas unbehaglich, allein mit Herrn Schöberl in der Wohnung zu sein.
Als sie aufstand, um den Abendbrottisch abzuräumen, hielt er sie fest: »Wie wär’s, wenn wir beide zusammen heute abend mal bummeln gehen würden?«
»Nein!« sagte Eva verblüfft. »Das geht doch gar nicht. Ihre Frau …«
»Können wir beide nicht mal ein kleines Geheimnis zusammen haben?«
Evas graue Augen verdunkelten sich. »Ich mag so was nicht.«
Herr Schöberl stand auf. »Aber ich. Du hast mir mal versprochen, dankbar zu sein. Hast du’s schon vergessen?«
»Es geht wirklich nicht, Herr Schöberl«, sagte Eva. »Ich muß noch das Geschirr spülen und Silber putzen … Sie wissen genau …«
»Das kannst du alles morgen früh tun. Komm, ich trage das Tablett in die Küche … und du gehst jetzt auf dein Zimmer und ziehst dich eins, zwei, drei um.«
Eva stand noch immer zögernd.
»Du weißt doch, daß ich es gut mit dir meine«, sagte er herzlich, »du hast wirklich mal eine kleine Abwechslung verdient.«
Als sie in ihr Cocktailkleid schlüpfte – es war aus starrer, stahlblauer Seide mit einem eleganten halsfernen Ausschnitt –, überkam sie plötzlich gute Laune. Sie freute sich darauf, zu tanzen und unter Menschen zu kommen. Mit kräftigen Strichen bürstete sie ihr braungoldenes Haar, steckte es am Hinterkopf mit einer weißen Spange zusammen, die genau zu ihren weißen Klips paßte. Sie strich sich mit dem befeuchteten Zeigefinger leicht über die schmalen geraden Brauen und über ihre langen, sanft gebogenen Wimpern, zog die Lippen mit einem hellroten Stift nach. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, glücklich über ihren eigenen Anblick.
Mit Herrn Schöberls Auto fuhren sie ins ›P 1‹. Ein Kellner führte sie zu einem kleinen Tisch in der Nähe der Tanzfläche. Herr Schöberl bestellte eine Flasche Sekt. Er sah ausgezeichnet aus in seinem tadellos geschnittenen dunkelgrauen Anzug mit der silberhellen Krawatte. Lächelnd stieß er mit Eva an: »Auf deine Zukunft, Kleines!«
Nach dem ersten Glas Sekt stieg Farbe in Evas helle Wangen. In ihren grauen Augen begann es zu funkeln, sie lachte herzlich über jeden von Herrn Schöberls Witzen, obwohl sie sie alle schon kannte.
Dann tanzten sie. Die italienische Band spielte heiße Rhythmen. Eva liebte die südamerikanischen Tänze, Herr Schöberl paßte sich ihr an wie ein gelehriger Bär.
Dann erkannte sie Dr. Schreiber. Er stand nahe der Tanzfläche und sah sie an, die Augenbrauen hochgezogen, ein verächtliches Lächeln um die Lippen.
Eva empfand dieses Lächeln wie einen Peitschenschlag. Sie zuckte zusammen.
Herr Schöberl spürte es sofort. »Was ist los?« fragte er.
Eva löste sich aus seinem Griff. »Bitte, ich möchte nach Hause!«
»Aber warum denn?«