Wenn Prinzen fallen - Robert Goolrick - E-Book

Wenn Prinzen fallen E-Book

Robert Goolrick

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Beschreibung

New York der 80er Jahre: Rooney, der eigentlich künstlerische Ambitionen hat, muss erkennen, dass sein Talent nicht reicht. Stattdessen ergattert er einen Job als Trader bei einer Wall-Street- Firma und wird erfolgreich, geradezu absurd erfolgreich. Nichts scheint unmöglich für ihn und die anderen »Prinzen« von Manhattan. Skrupel, Moral, Integrität - Fehlanzeige. Hemmungsloser Hedonismus ist ihre Devise. Doch wer hoch fliegt, stürzt umso tiefer. Und nicht nur Rooney erlebt den Höllensturz. Viele der Weggefährten fallen dem exzessiven Lebensstil zum Opfer: Drogen, Alkohol und einer geheimnisvollen neuen Krankheit, die noch keinen Namen hat.

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Zum Buch

New York der 80er Jahre: Rooney, der eigentlich künstlerische Ambitionen hat, muss erkennen, dass sein Talent nicht reicht. Stattdessen ergattert er einen Job als Trader bei einer Wall-Street-Firma und wird erfolgreich, geradezu absurd erfolgreich. Nichts scheint unmöglich für ihn und die anderen »Prinzen« von Manhattan. Skrupel, Moral, Integrität – Fehlanzeige. Hemmungsloser Hedonismus ist ihre Devise. Doch wer hoch fliegt, stürzt umso tiefer. Und nicht nur Rooney erlebt den Höllensturz. Viele der Weggefährten fallen dem exzessiven Lebensstil zum Opfer: Drogen, Alkohol und einer geheimnisvollen neuen Krankheit, die noch keinen Namen hat.

Zum Autor

ROBERT GOOLRICK wuchs im Süden der USA auf. Als junger Mann zog er nach New York und war viele Jahre in der Werbung tätig. Heute lebt Goolrick als freier Schriftsteller in Virginia. Sein Romandebüt »Eine verlässliche Frau« war ein New-York-Times-Nummer-1-Bestseller. Zuletzt erschien im btb Verlag seine Autobiografie »Das Ende der Welt, wie wir sie kennen«.

ROBERT GOOLRICK BEI BTB

Eine verlässliche Frau. Roman

Ein wildes Herz. Roman

Das Ende der Welt, wie wir sie kennen

Robert Goolrick

Wenn Prinzen fallen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Judith Schwaab

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel»The Fall of Princes« bei Algonquin Books of Chapel Hill, a division of Workman Publishing Company Inc., New York.

Der überwiegende Teil der Schauplätze dieses Romans entspricht realen Gegebenheiten. Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Passagen aus dem Book of Common Prayer folgen der deutschen Ausgabe des Anglikanischen Mess- und Gebetbuch, Schwarzenborn 2015. Verlag und Übersetzerin danken Herrn Pfarrer Günther Thomann von der Anglican Mission of King Charles the Martyr für seine freundliche Unterstützung.

Der Abdruck aus »Leda und der Schwan« und »Kein zweites Troja« aus: William Butlers Yeats: Die Gedichte. Hrsg. von Norbert Hummelt. München, 2004, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literaturverlags, München.

1. AuflageDeutsche Erstausgabe Januar 2018 Copyright © 2015 by Robert GoolrickCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenPublished by arrangement with Algonquin Books of Chapel Hill, a division of Workman Publishing Company Inc., New YorkUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: © Ian Bray/Getty ImagesSatz: Uhl + Massopust, AalenMK · Herstellung: scISBN 978-3-641-17146-9V001www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

Für Billy Lux,der verschwand.Und für Carolyn Marks BlackwoodundDana Martin Davis,die auftauchten.

1. KAPITELDie Erfindung des Geldes

Wenn man ein Streichholz anzündet, brennt es in der ersten Nanosekunde heller, als es das in der Folge tun wird. Dieses erste Aufglühen. Dieses plötzliche, helle Aufglühen wie ein Blitz. Wir schrieben das Jahr 1980, und ich war das Streichholz, und es war das Jahr, in dem ich lichterloh brannte.

Ich war ein Geschoss auf der Suche nach Hitze, das sich direkt in deinen Leib bohren wollte. Los, aus dem Weg, oder ich bring dich zur Strecke. Das schwöre ich. Ich bin nicht stolz darauf. Tatsächlich treibt mir die Erinnerung die Schamesröte ins Gesicht. Doch das war damals, und damals war das eben so. Heute sind die Dinge anders, und ich bin dieser Mensch nicht mehr.

Damals war ich dieser glühend heiße, brennende Kopf eines Streichholzes, dort wo alles und jeder zusammenlief. Selbst aus dem Weltall konnte man mich klar und deutlich sehen, ein heißer, leuchtend weißer Fleck, der sich ohne jedes Schuldgefühl und ohne jedes Mitleid durch die heißeste und hellste Stadt des ganzen Erdballs bewegte, und wer auch immer sich irgendwann in der Nacht auf einem Weltraumspaziergang befand, hatte einen Platz in der ersten Reihe und wurde Zeuge meiner geschäftlichen Betrügereien und meiner privaten Ausschweifungen. Ob ich nun unter meinem Federbett lag, das tausend Dollar gekostet hatte, auf einer Matratze für fünfzehntausend, ob ich in meiner marmorgefliesten Dusche stand oder in ein maßgeschneidertes schwarzes Kaschmirsakko geschlüpft war, um an einem verschneiten Winterabend um die Häuser zu ziehen – ich war unverwechselbar, denn ich brannte lichterloh.

Nach Tausenden von Stunden im teuersten Fitnessstudio der Welt, gecoacht von den erfahrensten Personal Trainern der Welt, befand sich mein Körper in einem derart vollendeten Zustand, dass den Frauen, die sich in meinem Schlafzimmer die Kleider vom Leibe rissen, der Atem stockte, so glücklich schätzten sie sich, dass mein Blick ausgerechnet auf sie gefallen war und sie damit, sollte es auch nur für eine Nacht sein, zu den schönsten Geschöpfen auf dieser Erde machte, mit ihren geschmeidig durchtrainierten Armen, ihrer Haut, die wie weichstes Leder war, und ihrem Duft, o Gott, ihrem Duft! Und mit diesen goldenen Mähnen, die ihnen über die Schultern fielen und meinen Brustkorb streiften. Ein Blick von mir genügte. Sie konnten sie spüren, die Hitze, ihre Lust auf mich wuchs, noch bevor sie meinen Namen kannten, und es war ihnen gleichgültig, ob ich der Mörder mit der Axt war oder der keusche Bischof von Lyon.

BSD. Das war eine Bezeichnung, die jemand für uns und nur für uns geprägt hatte. Big Swinging Dick – ein Ausdruck, bei dem es um viel mehr ging als nur um unsere Schwänze und unser ausschweifendes Sexualleben. Und wir trugen ihn so stolz wie einen Verdienstorden. Wir verkauften unsere Schrottanleihen und unsere Ramschaktien und machten in jeder Nanosekunde hunderttausend Dollar Gewinn, und dann loderte die Flamme noch galaktischer als vorher, sie beleuchtete unsere Gesichter, unsere geröteten Wangen und funkelnden Augen, unsere Megawatt an Habsucht und Ehrgeiz und Raffgier.

Ich stand mit beiden Füßen auf dem Boden, in sündhaft teuren Schuhen von John Lobb aus London, auf Beinen wie denen eines Mammuts, ich konnte dreihundert Pfund stemmen, kam ohne eine einzige Verschnaufpause die höchsten Gebäude hoch. Und so ging es weiter: mit einem muskelbepackten Becken und sehnigen Lenden, einem Sixpack-Bauch, flach und hart wie ein gefrorener See, der trotzdem glühte, wenn man ihn berührte. Und es war diesen Frauen egal, ob sie sich nur die Pfoten verbrannten oder für den Rest ihres Lebens gezeichnet waren, so wie Junkies, die einfach nicht aufhören können, bis der letzte Stoff verbraucht ist, obwohl sie doch wissen, dass es dann nichts mehr geben wird und der Entzug ganz schrecklich sein muss. Aber das war ihnen egal, so sehr gierten sie nach dem scharfen Nadelstich meines weißglühenden Ichs.

Ich sage das ohne Stolz oder Reue. Es ist die Feststellung einer Tatsache, an der es nichts zu rütteln gibt. Mit meinem Charme hätte ich ein schlüpfendes Küken schneller aus seinem Ei gelockt. Oder Eskimos Eiscreme verkauft. Toten Eskimos.

Und wir arbeiteten. Wir arbeiteten uns den Arsch ab. Bevor wir auf die Welt kamen, bis an die Zähne bewaffnet wie Pallas Athene, war die Arbeit irgendwie aus der Mode gekommen, die Männer und Frauen waren faul und träge geworden, ihre Erwartungen beschränkt, und der Horizont, an dem sie früher einmal die wabernden Trugbilder von Villen und anderen herrlichen Objekten ihrer Begierde gesehen hatten, war nichts anderes mehr als eine dünne Linie in der immer schneller auf sie zukommenden Ferne, der Ort, an dem sie bald landen würden, weder reicher noch schlauer, sondern nur angefüllt mit Bedauern und zweitklassigem Schnaps und mit den armseligen Überresten der Träume, an die sie sich nicht einmal mehr erinnern konnten, wenn sie eines Tages aufwachten und zu ihrer Überraschung feststellen mussten, dass man sie mit einem feuchten Händedruck und der Aussicht auf Frührente und ein Alter entließ, in dem es nur noch die gerahmten Fotos von Kindern und Enkeln gab und alle drei Jahre Urlaub an einem Ort, an den sonst keiner mehr fahren wollte, weil Nachsaison war, und die Vorstellung, an die sie es irgendwie fertigbrachten zu glauben, dass dies das angenehme Leben sei und damit der ganz und gar herrliche Lohn, den sie für vierzig Jahre unablässiges Malochen und Duckmäusertum bekamen.

Und auf all das sagten wir einfach: Leckt mich doch am Arsch, wir wollen alles, we want it all and we want it now, und wenn ihr uns dafür das Blut aus den Adern saugen müsst, ist es uns auch egal, aber wir wollen die unmöglichsten Dinge, nur das Allerfeinste und das Allerbeste. Wir wollen ein Jahresgehalt, so hoch wie unser Alter mal hunderttausend. Wir wollen ein Leben in Saus und Braus, ein Leben in Licht und Reichtum, wir wollen in unserer Nachbarschaft plündern und brandschatzen, wir wollen unsere besten und engsten Freunde ausrauben und schänden! Und bei alldem waren wir uns einer Sache sicher: Wenn wir alle dasselbe wollten, dann würde jeder auf gleiche Weise zu Ruhm und Ehren kommen und müsste seine Beute mit immer weniger anderen Leuten teilen. In unserer Großzügigkeit waren wir großartig, und außerdem waren wir geizig, was unser verborgenes Inneres anging. Wir sangen das Lied des Henkers, wenn wir vor Morgengrauen auf dem Weg zur Arbeit waren, und spielten Streetball mit dem Geld anderer Leute in abgedunkelten Räumen, in denen es keine Uhren gab – und damit auch keinen Kompass. Und bis auf das Knistern des Geldes, wenn es gezählt wird, gab es kein Geräusch. Wir waren mit lauter anderen jungen Männern wie uns zusammen, deren Innenleben von den Schatten ihrer Unersättlichkeit verdunkelt wurde, und wir ließen unsere zunehmend fragwürdigen Tugenden verkommen, bis sie unter vielen, vielen Schichten von Dingen dicht zugewachsen waren. Immer waren es Dinge – Anzüge, die teurer waren als die ersten Häuser, die unsere Väter gekauft hatten, Autos vom Allerfeinsten, und dann diese Berge von Strafzetteln wegen Geschwindigkeitsüberschreitung, die wir bekamen, wenn wir an das östliche Ende von Long Island fuhren, wo wir Pools hatten, die dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr beheizt wurden.

Nachts schliefen wir wie Babys.

Und ich ging durch diese Mengen von Männern hindurch, von denen alle genau das wollten, was ich auch wollte, und ich besiegte sie, bis ich ein Koloss geworden war und unbesiegbar, und statt sich vor mir zu fürchten oder mich zu hassen, beteten sie mich an, sie wünschten und suchten meine Gesellschaft, obwohl sie wussten, dass ich sie jedes einzelne Mal vom Platz fegen würde, und wenn ich sie besiegt hatte, überhäufte ich sie wie ein Rabenvater mit Geschenken, mit goldenen Uhren, mit Kaschmirpullovern und mit meinem Lächeln, diesem makellosen Gebiss, das Dr. Gregg Lituchy in seiner Praxis am Central Park South fabriziert hatte.

Irgendwann würde es vorbei sein. Anders war es gar nicht möglich. Und der Wurm würde tatsächlich sein eigenes Ende verschlingen, er würde sein eigenes Herz fressen, doch das war nicht von Belang. Damals nicht. Nicht in jener Zeit. Und nicht für mich.

Wollt ihr wissen, wie ich meinen Job bekommen habe? Wie alles begonnen hat? Heutzutage würde das so nicht mehr passieren. Heute würde man aufgrund irgendeines streng geheimen Algorithmus aus der Vorstandsebene angestellt werden, der deine Bestnoten in Wharton, deine Körpergröße und deine Flügelspanne ebenso einbezieht wie dein freiwilliges soziales Jahr in Guatemala, als du sechzehn warst, und ebenso deine ethnische Herkunft. Vielleicht wirst du heutzutage aber auch angestellt, weil du bislang noch kein Kapitalverbrechen auf dem Kerbholz hast.

In jenen Jahren aber, in denen ich lichterloh brannte, spielte man Poker, um an einen der begehrten Jobs an der Wall Street zu kommen. The Winner Takes It All. Ob du einen Job hattest oder nicht, hing allein von deiner Fähigkeit ab, einen Vorstandstypen am Pokertisch zu schlagen. So macht man das heutzutage nicht mehr. Wenigstens in den meisten Fällen nicht. Aber damals hing alles davon ab, ob man buchstäblich gute Karten hatte.

Es beginnt schon während des Studiums. Du wirst aus der Ferne beobachtet, hofiert. Du spürst, wie sie dich umkreisen, und dann kommen sie näher, du spürst ihren Atem in deinem Nacken. Du fühlst dich begabt, gesegnet, auserwählt. Dann, im zweiten Studienjahr, schlagen sie zu. Du bekommst den Anruf, auf den alle in deinem Semester gewartet haben. Und am anderen Ende der Leitung ist die FIRMA, die Legende, da sind Ruhm und Geld, und sie sprechen höflich mit dir, reserviert. So vieles bleibt unausgesprochen, ungesagt, aber man weiß es doch. Man lädt dich nach New York ein, damit du dir dort einen Sommer lang den Arsch aufreißt und die Drecksarbeit machst, achtzehn Stunden am Tag über irgendwelchen Zahlen brütest. Es versteht sich von selbst, dass du dafür nicht bezahlt wirst. Gesagt wird das nie. Du packst deine Siebensachen.

Am Bahnhof wirst du von einer jungen Frau empfangen, die wie hineingegossen in ein strenges, aber schickes Kostüm erscheint und die weiß, dass sie in einer Welt, die damals fast ausschließlich männlich war, nicht weit kommen wird. Sie hat die Darden School mit der Bestnote abgeschlossen. Sie war immer, in jeder einzelnen Minute ihres Lebens, die klügste Person im Raum, doch jetzt, mit dreiundzwanzig, ist sie bereits in einer Sackgasse gelandet, weil sie weiß, ganz gleich, wie gut sie ihren Job auch macht, in Zukunft wird doch nie mehr für sie herausspringen als eine einzige fettgedruckte Zeile in ihrem Lebenslauf. Sie wird niemals die Kohle bekommen, die die Jungs bekommen, und doch ist das am Ende auch okay für sie. Mit fünfundzwanzig wird sie zur Chase Bank gehen, wo man alles, was sie tut, beklatscht und wo jede Tür mit geflüsterter Nachsicht geölt ist, nur weil sie diese eine fettgedruckte Zeile in ihrem Lebenslauf hat, die belegt, dass sie einmal bei der FIRMA gearbeitet hat – wenn auch nur kurz. Sie wird jede Menge Geld gescheffelt haben, wenn sie in den Ruhestand geht, und eine gut gefüllte Schmuckschatulle, einen Ehemann, drei Kinder sowie ein Haus in Greenwich ihr Eigen nennen.

In diesem Augenblick jedoch holt sie die Praktikanten am Bahnhof ab, unbedarfte Ignoranten, glatt und sauber wie eine frisch gedruckte Dollarnote. Sie ruft einen Gepäckträger, obwohl du darauf bestehst, dass du keinen brauchst. So wird das eben gemacht in dieser Welt, und das heißt, du kannst ein noch so mikroskopisch kleines Würstchen sein – dein Gepäck musst du trotzdem nicht selber tragen. Sie führt dich zu einer schwarzen Limousine, der ersten von Hunderten, ja Tausenden solcher Fahrzeuge, die du besteigen wirst, einfach weil es dir zusteht. Denn das versteht man bei der FIRMA unter öffentlichem Nahverkehr.

Man fährt dich zu einem Apartment in Murray Hill, von dem du noch nicht weißt, dass es das trostloseste Viertel von ganz New York ist – das düstere, dröge Murray Hill –, und dann betrittst du sie zum ersten Mal, diese geräumige, geradezu jungfräuliche Wohnung, die du dir den Sommer über mit drei anderen jungen Kerlen teilen wirst, die sich erst gestern noch im Umkleideraum der besten Schule der Welt mit nassen Handtüchern duelliert haben. Jetzt aber tragen sie Schnürschuhe aus bis zur Bewusstlosigkeit gewienertem Korduanleder und Nadelstreifenanzüge, die Gesichter wirken eifrig vor Habgier und Angst. Viele werden gerufen, doch nur wenige berufen, das wisst ihr alle, doch ihr wisst auch, dass die meisten es nie schaffen, sondern sich nur einen Sommer lang für lau den Arsch abarbeiten und dann wieder zu ihren Büchern zurückkehren werden, um auf einen Anruf zu warten, der nie kommen wird. Genau so beginnt alles, dieses Abtasten, dieser Blick, dem nichts entgeht.

Dann fängt das eigentliche Umwerben an. Niemand hat dich jemals gebauchpinselt. Und jetzt passiert dir genau das. Man beobachtet dich, und die Beobachter schwärmen. Sie lieben dich, sie beten dich an, und die Art und Weise, wie sie es tun, ist ebenso greifbar, wie sie einen bestimmten Zweck erfüllt. In ihren Augen bist du nur potenzieller ROI, ein Return of Investment, eine Investition also, die sich möglicherweise lohnt, doch du spürst ihre Liebe, ihre Lust auf das, was du für sie tun kannst. Du wirst größer, siehst besser aus. Du wienerst deine Schuhe jeden Tag auf Hochglanz. Jeden Morgen, wenn du ins Büro kommst, ist dein Hemd so perfekt gestärkt und gebügelt, dass man sich mit deinem Hemdkragen rasieren könnte. Doch schon um elf Uhr hast du dich in ein zerknittertes Wrack verwandelt, denn wenn man dir deine unermüdliche Arbeit richtig ansieht, lieben sie dich nur noch mehr.

Man macht eine Hafenrundfahrt auf Malcolm Forbes’ Schiff mit dir, auf der Highlander, Stewards in blütenweißer Livree bringen dir eisgekühltes Heineken in schwitzenden Flaschen, während die Freiheitsstatue lächelnd die diesjährige Ausbeute an Zugereisten begutachtet, und am liebsten würdest du dich betrinken, tust es aber nicht, und ebenso gern würdest du mit all diesen smarten, durchtrainierten Frauen schlafen, tust es aber nicht, weil die Gefahr besteht, dass ihr unvermeidliches Scheitern und ihr Abgang Narben bei dir hinterlassen könnten, denn Scheitern ist so ansteckend wie eine infektiöse Krankheit. Einer von hundert wird es in die FIRMA schaffen, einer von tausend in die obere Etage, und nur einer von einer Million hat wirklich das Zeug zum BSD. Unfair. Vielleicht. Aber du hast die Regeln nicht gemacht.

Man geht mit dir ins Theater, Parkett Mitte, am Gang, wo du dir irgendwelche aberwitzigen Aufführungen anschaust, für die in den nächsten zwei Jahren kein einziges Ticket zu bekommen ist. Sie gehen mit dir ins Stadion, das Shea, wo die Helden deiner Kindheit so nahe sind, dass du ihre Bartstoppeln am Kinn erkennen kannst. Du siehst Madonna im Madison Square Garden, dieses Girl, das den Zeitgeist erwischt und die Welt in die unergründlichen Tiefen seiner Muschi gesogen hat, was der Beweis dafür ist, dass auch ein weibliches Wesen ein BSD sein kann, ein großer schwingender Schwanz, eine Powerfrau, die einzig und allein in deine Augen schaut und dich mit ihrer Power unter Strom setzt, als könnte sie nie im Leben verblassen, so wie Kleopatra, und als würde das Streichholz nur für sie brennen, immer und ewig.

Es gibt zwanzig Vorstellungsgespräche, alle formell und alle gleich, bis auf die Tatsache, dass das Büro, in das du geladen wirst, damit du dich ausführlich über deinen erstklassigen Lebenslauf auslässt, immer größer wird. Du redest über nichts anderes als über deinen Ehrgeiz. Sie sprechen über die Kultur des Erfolges, eine Kultur, in der du nicht nur aufgehen sollst wie eine Blüte, sondern die du dir so sehr zu eigen machen sollst, dass du Geschichte schreibst.

Mit jedem Bewerbungsgespräch werden die Fragen pointierter, persönlicher. Nehmen Sie Drogen? Haben Sie jemals bei einer Prüfung geschummelt? Beim Finanzamt gelogen? Sind Sie homosexuell? Was träumen Sie nachts? Haben Sie jemals mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt? Schon damals sind das Fragen gewesen, die faktisch nicht erlaubt waren, doch du beantwortest sie trotzdem, und du sagst die Wahrheit, weil du weißt, dass sie die bereits kennen und eine Lüge meilenweit riechen würden.

Es ist so, als würde man auf Tollwut getestet, nur dass in diesem Fall ein positives Resultat erwünscht ist. Allein die tollwütigen Hunde – diejenigen, die man ausgehungert, mit Ketten geschlagen und deren Zähne man spitz zugefeilt hat, Kampfhunde also, die man im Ring gegen andere Hunde antreten lässt – kommen bei den Vorstellungsgesprächen eine Runde weiter und werden in den nächsten, größeren Raum gebeten.

Hassen Sie Ihre Eltern?

Haben Sie jemals ein Mädchen geschwängert? Und was haben Sie daraufhin getan?

Wie oft masturbieren Sie? Würden Sie das als übertrieben betrachten?

Du fühlst dich wie einer der Häftlinge im KZ, die nackt vor uniformierten Gestapoleuten stehen und selektiert werden. Und jeder lächelt, die ganze Zeit. Alle sprechen mit freundlicher, fast liebevoller Stimme, während sie in jede deiner Körperöffnungen eindringen und mit der Gehirnwäsche beginnen, damit in deinem Kopf am Ende nur noch das herrscht, was sie wieder und wieder »die Kultur« der FIRMA genannt haben.

Vierzig oder vierzig, sagen sie mit einem Lächeln. Vierzig oder vierzig. Wie bitte?

Das ist das Alter, in dem Sie in Ruhestand gehen werden, antworten sie mit diesem ausdruckslosen Lächeln. Wenn Sie vierzig Jahre alt sind, oder wenn Ihr Portfolio die vierzig Millionen erreicht hat. Dann haben Sie Ihre Schäfchen im Trockenen und bekommen Ihr Leben zurück. Oder das, was davon übrig ist.

Bullen machen Geld, sagen sie. Bären machen Geld. Und Schweine werden geschlachtet. Solche Sachen sagen sie zu dir, und tief in deinem Herzen weißt du sofort, was sie damit meinen. Dein Herz und deinen Bauch spricht das auf eine Weise an, wie es eine Stimme niemals könnte.

Sie sagen dir all diese Dinge, und du glaubst sie ihnen. Du kannst in deine Tasche greifen und das Gewicht von vierzig Millionen spüren, obwohl du an den Schläfen noch kein bisschen grau bist, und dein Leben liegt noch vor dir, die goldene Tür, die Straße der Juwelen, das Ithaka, wie Kavafis schrieb, der Ort, zu dem du all die Jahre unterwegs warst.

Der Sommer geht zu Ende. Man schüttelt dir die Hand und sagt Auf Wiedersehen, obwohl jeder weiß, dass das nur teilweise richtig ist.

Im November kommt der Anruf. Fahrkarten werden geschickt, Erster Klasse, dann wieder der Bahnhof, die Gepäckträger, das durchtrainierte Mädchen ohne Zukunft, die schwarze Limousine, die dich den ganzen Weg durch die Stadt bis zu dem schwarzen Tower aus Glas fährt, wo sich dieser schwarze Wagen in eine ganze Reihe genau gleicher schwarzer Fahrzeuge einreiht, die hier drei Blocks tief geparkt sind.

Das ist deine Zukunft. Oder auch nicht.

Du gehst selbstbewussten Schritts in das Büro des CEO. Euer Händedruck ist warm, eure Hände sind trocken, euer Handschlag ist so kräftig, dass ein Beben durch die Muskeln deines Unterarmes geht, während du dir alles genau anschaust: den schnittigen Schreibtisch mit nichts darauf, das Modell der Yacht, die dieser Mann zweifellos besitzt, hundertzwanzig Fuß lang, seine Uhr kostet zwanzigtausend Dollar, der Maßanzug, dann dieser Blick in deine Augen, der sagt, dass er dich mag, dich aber trotzdem ohne das geringste Zögern töten würde.

Eine seiner acht Sekretärinnen nimmt dir den Mantel ab, eine junge Frau, die wie die Prinzessin eines nicht unbedeutenden europäischen Landes aussieht. Und der Mantel wird mit einer Sorgfalt an die Garderobe gehängt, als handele es sich um das kostbare Exponat eines Museums, das in Sicherheit gebracht werden muss. Das Büro wurde von Mark Hampton gestaltet und sieht wie das Wohnzimmer eines englischen Landhauses aus. Du weißt auf der Stelle, dass hier keinerlei Geschäfte gemacht werden, weil all das woanders stattfindet, damit es nur ja nicht dazu kommt, dass so etwas wie eine erhobene Stimme den Frieden dieser Welt aus Chintz und Mahagoni stört.

Auf dem Tisch, der einmal Napoleon gehört hat, liegt nur ein Gegenstand: ein eingeschweißtes Kartenspiel, dessen Siegel noch nicht erbrochen ist.

»Die Möbel sind echt«, sagt er. »Bitte kleben Sie kein Kaugummi dran.«

»Mein Lebenslauf«, sagst du und greifst in deine Dokumentenmappe von T. Anthony.

»Ach, scheiß drauf«, sagt er. Deinen Lebenslauf hat man öfters gesehen als Vom Winde verweht. »Sie sind nicht der Schlauste und auch nicht der Dümmste. Ich weiß alles über Sie. Ich weiß, dass Sie mit Suzanne Martin geschlafen haben, die wesentlich schlauer war als Sie und nicht mehr hier arbeitet. Nein, Lebensläufe schauen sich andere Leute an. Ich sag Ihnen jetzt, was gleich passiert«, fährt er fort. »Wir spielen Poker. Eine Runde. Wenn Sie gewinnen, kriegen Sie den Job. Wenn Sie verlieren – sayonara.«

»Ja, Sir.«

»Am Ende des Spiels gibt man Ihnen Ihren Mantel, und Sie werden gehen. Auf dem Weg nach draußen wird man Ihnen eine Schachtel aushändigen. Darin befindet sich ein Füllfederhalter von Montblanc. Außerdem wird man Ihnen ein Notizbuch reichen. Wenn Sie gehen, werden Sie in dieses Buch Ihre Unterschrift setzen. Die Tinte wird entweder blau oder schwarz sein. Verträge werden nur in Blau unterzeichnet.

Wir werden eine ungewöhnliche Version von Showdown spielen. Sie mag zwar selten sein, aber gänzlich unbekannt ist sie nicht. Ich lege alle zweiundfünfzig Karten aufgedeckt auf den Tisch. Vollkommene Transparenz. Auch das gehört zu der Kultur, von der Sie ein Teil sein werden – oder eben nicht. Sie ziehen zuerst. Sie können fünf Karten ziehen, ganz nach Belieben. Nachdem wir beide gezogen haben, kann jeder von uns Karten ablegen und sie durch beliebig viele andere Karten ersetzen, sobald wir beide gesehen haben, was für eine Hand der andere hat. Doch ich muss Ihnen sagen, es gibt eine Hand, nur eine einzige Hand, mit der Sie gewinnen können, ganz gleich, was ich gezogen habe. Sind Sie bereit?«

»Ja, Sir.«

Wir starren beide auf die Karten, die so säuberlich ausgebreitet auf Napoleons Tisch liegen, vier Reihen à dreizehn Karten. Plötzlich weiß ich es. Ich warte mit gerunzelter Stirn, strecke dann zögernd die Hand aus, nehme sie wieder zurück und treffe nun endlich meine Wahl. Ich möchte Unsicherheit zeigen, obwohl ich bereits weiß, dass ich das Ding gewonnen habe. In weniger als einer Minute werde ich einer von ihnen sein. Möchte ich das denn überhaupt? Ich weiß es nicht. In diesem Augenblick kommen mir all die Musikstunden, der Unterricht im Modellzeichnen und die Theateraufführungen in der Schule in den Sinn. Die Person, die ich eigentlich hätte sein sollen. Ich hatte Künstler werden wollen, hatte etwas zum Ausdruck bringen wollen, was in mir steckte und gesagt werden musste. Die Tatsache, dass ich nicht den blassesten Schimmer hatte, was das denn nun war, hatte mich am Anfang nicht im Geringsten abgehalten. Ich bemühte mich und war in allen künstlerischen Bereichen eine Niete. Ich schrieb einen schlechten Roman, malte miese Bilder, stolperte wie ein Tölpel über die Bühne, in Rollen hinein, die ich immer nur sprechen, aber nie verkörpern konnte, bis ich dann endlich genug hatte und beschloss: Wenn ich schon nichts zu sagen hatte, dann wollte ich wenigstens reich sein. Schönheit war zu vergänglich und flüchtig. Geld hingegen war in jenem Jahr der Avatar des Zeitgeists, der am greifbarsten war. Und nicht danach zu greifen bedeutete, dass man das gemeinsame Erleben meiner Generation verpasste. Ich dachte, es würde mich vor der Enttäuschung über all die vielen verschiedenen Niederlagen, die ich erlitten hatte, beschützen. Ich konnte nicht das sein, was ich wollte – der Schöpfer von Schönheit –, und so folgte ich dem Rat meines Vaters und ging auf die Business School, um Wirtschaftswissenschaft zu studieren. Er erfasste mich wie ein Fieber – dieser Puls des Geldes, das in meinem Land gemacht wurde, und genau dort wollte ich hin, weil ich woanders nicht erwünscht war. Ich könnte, dachte ich, einfach dort arbeiten, ohne einer der ihren zu werden. Ich war einfühlsam, eine lyrische Seele, und empfindsam für des Lebens Schönheit, und nun saß ich am anderen Ende eines Schreibtisches, der einmal Napoleon gehört hatte, einen Kartenzug vom Teufel entfernt. Ich fand es grässlich, die Träume meiner Jugend zu verleugnen, doch in dieser Sekunde will ich nur eins: gewinnen. Ich ziehe vier Zehnen und die Herz Drei. Wenn ich später mal alt und mit all dem fertig wäre, würde ich Cello lernen. Ich würde Aquarelle malen – Seestücke, die nicht der Jahreszeit entsprachen. Ich würde in einer Laiengruppe Theater spielen, lauter kleine Rollen, den Butler, den Nachbarn, mit Theaterschminke und Verbeugungen im Rampenlicht.

Der MANN sieht mich über den Tisch hinweg an. Er lächelt und zieht einen Straight Flush mit Neunen, lauter Pik, was meine vier Zehnen schlägt. Doch ich weiß – und er weiß es ebenso –, dass er einen höheren Straight Flush als die Neun nicht bekommen kann, weil ich alle Zehnen habe. Ich habe ihn blockiert, indem ich alle gezogen habe. Höher als neun kommt er nicht mehr. Das weiß er auch, obwohl er sich nichts, rein gar nichts anmerken lässt. Dieses Spielchen hat er schon Hunderte von Malen gespielt.

Ich lege alle Karten außer der Herz Zehn ab und ziehe den Buben, die Königin, den König und das Herz Ass, die ich für einen Royal Flush brauche.

Lange blicken wir uns an. Das Spiel ist vorbei. Ohne dass einer von uns ein Wort sagt, werden die Karten auf den Tisch gelegt.

»Damit ist das Gespräch beendet. Danke, dass Sie gekommen sind.«

Wir stehen auf, geben uns die Hand. Entweder ist er mein neuer Boss oder einfach nur jemand, den ich in jungen Jahren mal in einem protzigen Büro getroffen habe.

Die Sekretärin reicht mir eine Schachtel, die in weißes Papier mit einer Schleife aus weißem Satin eingewickelt ist. Außerdem reicht sie mir ein Notizbuch mit weißen Seiten, das in Leder gebunden ist, oben mit dem geprägten Namen der FIRMA und, in kleineren Lettern, meinem Namen in der rechten unteren Ecke, ebenfalls geprägt. Mein Name ist richtig geschrieben.

»Viel Glück«, sagt sie, so wie sie es sicher schon tausend Mal gesagt hat.

Ich warte, bis ich im Zug sitze, bevor ich die Schachtel öffne. Ich nehme den schwarzgoldenen Füller mit dem bekannten Logo auf der Verschlusskappe heraus, schlage das Notizbuch auf und unterzeichne in königsblauer Tinte.

Und jetzt passt auf. Ihr könnt hören, wie das Streichholz angezündet wird. Ihr könnt den Schwefel riechen, und ich gestatte mir ein winziges Lächeln, während der Zug aus dem Bahnhof fährt, durch mehrere dunkle Tunnels, und meiner strahlenden Zukunft entgegenbraust.

2. KAPITELNachträglich

Verzeiht mir.

Ich versuche, nicht allzu viel über die Vergangenheit nachzudenken. Darüber, wie es war und jetzt nicht mehr ist. Wisst ihr, ich versuche, mich treiben zu lassen und mein Leben so zu leben, wie es sich ergibt. Doch manchmal wache ich aus einem Traum auf und kann nicht anders. Wie Ebbe und Flut schwappt die Vergangenheit über mich hinweg, und zusammen mit den Gezeiten kommt ein so tiefes Gefühl der Zerknirschung, dass ich es bis in meinen Hodensack spüren kann, so wie wenn man im Wartezimmer des Zahnarztes darüber nachdenkt, wie es sich gleich anfühlen wird, wenn einem ein Loch in den Zahn gebohrt wird.

Verzeiht mir, dass ich gedacht habe, ich sei besser, als ihr es jemals werden könnt. Verzeiht mir, dass ich dachte, Geld sei gleichbedeutend mit einer Art moralischer Überlegenheit. Verzeiht mir, dass ich nicht genügend an die Mühsal der Armen gedacht habe, an die schreckliche Mattigkeit, die sie in dem Moment überkommt, wenn ihre Füße den Boden berühren. Die Armen setzen nur auf die Pferde, die verlieren. Sie geben nur Dinge auf und bekommen nie welche dazu, bis es nichts mehr gibt, von dem man sich trennen muss, nichts, das irgendeinen Wert hat, außer einem verblichenen Foto von der Hochzeit ihrer Eltern oder einem kleinen Nippesfigürchen, das ihnen mal jemand an einer Strandpromenade geschenkt hat, an einem einzelnen glücklichen Tag inmitten eines Lebens von unendlicher Eintönigkeit.

Sie sehen sich nie die Zusammensetzung eines Stoffes an, wenn sie sich Klamotten bei Walmart kaufen. Sie haben Angst, dass ihnen etwas ausgeht – Butter, Zucker, Waschpulver. Und sie erleiden eine Demütigung nach der anderen und kaufen sich vom letzten Cent ihrer Sozialhilfe Rubbellose an der Tankstelle, ohne auch nur ein einziges Mal irgendetwas zu gewinnen.

Für arme Leute ist es immer Heiligabend. Aber ein Heiligabend, an dem das Christkind nicht kommt.

Und dann ist da Aids, oder da sind die Obdachlosen, die darauf warten, dass irgendein Ehrenamtlicher ihnen ein dröges Weihnachtsessen auf den Tisch stellt oder Essensmarken verteilt. Da sind schlechte Zähne, Leute, die hässlich sind. Verzeiht mir, dass ich gedacht habe, das alles seien Dinge, die nur anderen Leuten auf einem anderen Planeten passieren.

Verzeih mir, blondes Mädchen, dass ich zwischen Hauptgang und Dessert auf die Herrentoilette gegangen bin und unauffällig beim Maître stehen blieb, um die Rechnung zu zahlen, dass ich meinen Mantel genommen und einfach das Restaurant verlassen habe, um mir an einem verschneiten Februarabend ein Taxi zu rufen und mich zu einem lauten, heißen Lokal bringen zu lassen, wo die Leute attraktiver waren.

Wie lange hast du dort gesessen? Wie lange hast du sie ertragen, die mitleidige Herablassung der Kellner? Wie fühlte es sich an, das Restaurant zu verlassen und draußen vor der Tür zu stehen, während der Schnee fiel und du nicht wusstest, wohin mit deinem sorgfältigen Make-up, dem Paillettenkleid für nichts und wieder nichts außer dieser Kränkung, und mit gerade mal genug Geld in der Tasche, um nach Hause zu kommen, in diese Wohnung, die du dir mit Mädchen teiltest, denen es auch nicht anders ging als dir?

Du hattest vollkommene Beine. Die Kurven deines Busens unter dem hauchdünnen Kleid waren eine Augenweide. Du hattest dreihundert Dollar ausgegeben, um dir die Haare färben zu lassen. Und wozu? Um mitten im Restaurant der Woche buchstäblich sitzengelassen zu werden, und das von einem Mann, der sich nicht einmal an deinen Namen erinnern kann? Von einem Mann, der nie mehr auch nur einen Gedanken daran verschwendete, ehe die einsamen Nächte über ihn hereinbrachen und nichts mehr wiedergutzumachen war?

Der diese Geschichte hinterher wieder und wieder erzählte, als wäre es ein Witz, und du wärst die Pointe.

Verzeiht mir, dass ich dachte, es sei eine sinnvolle Art, sein Geld auszugeben, wenn man drei Plätze von Spike Lee entfernt am Spielfeldrand eines Matches der Knicks saß und vierhundert Dollar für eine Limo bezahlte. Verzeiht mir, dass ich dachte, einem Filmstar zu begegnen sei das Gleiche wie einen Filmstar zu kennen, obwohl das doch vielleicht diejenigen Leute auf unserem Planeten sind, die man am allerwenigsten kennt.

Die Wahrheit ist, ich hatte weder tiefen Respekt vor dem, was ich tat, noch war ich stolz darauf. Ich machte es einfach aus Spaß und weil es geil war, immer und immer geil, während mir das Geld, das ich damit verdiente, überhaupt nichts bedeutete. Es gab keine Zeit, keine Zukunft. Da war nur haufenweise Knete. Es bereitete mir kein besonders schlechtes Gewissen, mit den Hoffnungen der Leute zu spielen, die weniger Glück hatten als ich, mit Leuten, die niemals die Zügel eines Derby-Gewinners in der Hand halten würden, so wie ich das jeden Tag tat, und zwar den ganzen Tag lang.

Es ist drei Uhr morgens, doch Schlaf will sich nicht einstellen. Wie gesagt beschäftige ich mich nicht viel mit der Vergangenheit, doch heute Nacht bin ich wieder genau dort, und alles ist wieder da, dieser geile Sog und die ganze schamlose Niedertracht und dieser zügellose Narzissmus. Und ich versinke in Schuldgefühlen und Gewissensbissen. In der Wut darüber, dass die Vergangenheit unwiderruflich vorbei ist, dass ich meine Klamotten im Waschsalon wasche und genau weiß, was ein halber Liter fettreduzierte Milch für meinen Kaffee kostet, und dass die Männer und Frauen, die ich mal gekannt habe, auf immer verloren sind … für mich. All diejenigen, die mir in meiner Jugend etwas bedeutet haben. Sie sprechen eine andere Sprache, deren Vokabular ich vergessen und deren Aussprache ich verlernt habe. Es macht mich traurig, dass die Lokale, in denen ich früher getrunken und getanzt und gegessen und gevögelt habe, heute nur noch die Nummern im Filofax eines anderen sind.

Ich sehe die Vergangenheit und spüre alles, was süchtig machte, doch die Gesichter sind verschwommen, die Stimmen verstummt. Die Vergangenheit ist wie eine Wohnung, bei der man eines Abends nach Hause kommt und feststellt, dass jemand die Schlösser ausgewechselt hat, dass die Möbel weg sind und damit jedes Objekt verschwunden ist, aus dem du solche lächerlichen Mengen an Selbstachtung gezogen hast.

Ob sie jemals an mich denken? Das bezweifle ich. Schließlich gibt es wesentlich interessantere Themen. Erfolg hat eine Million musikalischer Nuancen. Das Scheitern hingegen ist nur das monotone Schlagen eines Messinggongs.

Verzeih mir, französisches Mädchen, das ich gerade zu dem Zeitpunkt kennenlernte, als es oben ohne am Strand des Delano Hotels ein Bad nahm. Frank wettete hundert Dollar mit mir, ich würde es nicht schaffen, bis zehn Uhr mit ihr zu vögeln, also bis zu der Zeit, zu der wir zum Essen verabredet waren, und um zehn tauchte ich mit dem Mädchen am Arm auf und sagte: »Wette verloren«, und Frank gab mir die hundert Dollar gleich dort, in ihrer Anwesenheit.

Sie wohnte in einem schäbigen Motel und kam nur ins Delano, um nette reiche Männer kennenzulernen. Männer wie mich. Als ich sie ins Flugzeug setzte, sah sie mich ängstlich an.

Verzeiht mir, dass ich mich für großherzig gehalten habe. Das war ich nicht. Und dafür, dass ich bis heute glaube, Gott habe für mich einen besonderen Platz in seinem Herzen, und dass es einen Grund für all dieses Leiden geben muss.

Verzeiht mir, dass ich schwarze Limousinen für ein öffentliches Verkehrsmittel gehalten habe.

Diese Nacht wird ewig dauern. Ich werde bis ans Ende der Zeit in diese Dunkelheit eingeschlossen sein. Ich habe das Alter des Bedauerns erreicht, und verzeiht mir meine Stunde des Jammerns und des Selbstmitleids.

Oft gingen wir in diese Sports Bar, wo wir schlechten Fraß aßen, einen Cocktail nach dem anderen schlürften, die Enden unserer Zigarren zum Löschen in Cognacgläser mit Remy tauchten und Sportsendungen ansahen. Wir spielten ein Spiel, und eine Weile taten wir es Abend für Abend.

Das Spiel hieß: Getan-Haben oder Nicht-Getan-Haben. Es ging so: Man dachte an etwas, von dem man glaubte, niemand am Tisch habe es jemals getan, oder an etwas, das man nie getan hatte, jeder andere aber schon. Und man musste die Wahrheit sagen. Das verstand sich von selbst.

Wenn du tatsächlich etwas benennen konntest, das dich einzigartig machte, prosteten die anderen dir zu, wenngleich wir damals ständig so viel tranken, dass das Zuprosten eigentlich nur eine Formsache war.

Ganz zu Beginn hatten die meisten Spieleinsätze mit Sex zu tun.

»Ich habe auf dem Wurfmal des Baseballfelds der University of Denver gevögelt.« Was nicht besonders aufregend war, weil ausgerechnet der Verlobte des Mädchens, der am Tisch errötend gestehen musste, dass er das auch schon getan hatte.

»Ich hab mal einen flotten Dreier gemacht.« Das hatte praktisch jeder am Tisch.

»Ich hab zu einem Film masturbiert.«

»Im Kino oder zu Hause zu einem Porno?«

»Im Kino.«

Es stellte sich heraus, dass sich schon viele Leute im Kino einen runtergeholt haben, hauptsächlich als Teenager. Es ist etwas, das einfach passiert – da ist diese riesige, leuchtende Leinwand, die sinnlichen Münder, die geflüsterten Dialoge. Irgendwie ist das alles sexy, wenn man da im Dunkeln sitzt.

Doch als wir irgendwann mit unseren erotischen Eskapaden durch waren, wurden die Spieleinsätze allgemeiner und zugleich faszinierender. Es dauerte Wochen, bis die Besonderheiten der Leute aufs Tapet kamen, die wirklich einen Unterschied machten. Doch als das endlich der Fall war, wurde es ziemlich spannend.

Wir saßen den ganzen Tag da und versuchten an ein kleineres Detail aus unserem Leben zu denken, das uns so einzigartig machte, damit man uns später zuprosten würde.

Dan sagte: »Ich war noch nie schwimmen. Noch nie im Wasser.« Alle tranken.

Und eines Abends sagte June: »Ich weiß nicht, wie Bier schmeckt.« Und das kam von einer Frau, die ein mexikanisches Restaurant führte und so manchen unter den Tisch getrunken hatte.

Teddy sagte: »Ich hab noch nie ein Foto gemacht.« Wir konnten es nicht glauben.

Dann, an einem anderen Abend, als wir schon eine ganze Weile auf dem Trockenen saßen, rückte ich mit etwas heraus, das ich für einen hundertprozentigen Volltreffer hielt. »Ich hatte Sex mit einem Tier.«

Mittlerweile hatten wir den Punkt, an dem man über die Launen menschlichen Verhaltens schockiert ist, deutlich überschritten, doch bei dem einen oder anderen rief meine Aussage immerhin das leichte Anheben einer Augenbraue hervor, und wir wollten gerade die Gläser heben, als der immer geschniegelte und ordentliche Teddy plötzlich sagte: »Ich auch.«

Gläser wieder runter, es kamen die generellen Fragen nach dem Wo und Warum und wie es funktionierte, doch damals lautete eine der Regeln, dass man nicht allzu lange über etwas diskutieren sollte. Man musste sich nicht selbst erklären, man sollte einfach nur aus der Herde herausstechen.

Dann war ich wieder dran, und ich sagte: »Ich hab ein Mädchen sitzenlassen, das sich deshalb umgebracht hat.« Teddy wieder: »Ich auch«, und dann war es mit der Diskutiererei vorbei, und wir spielten das Spiel fast gar nicht mehr. Man hatte viel zu viele Katzen aus viel zu vielen Säcken herausgelassen, und ich hatte die Latte für die meisten Leute so hoch gelegt, dass plötzlich niemand mehr gewillt war, mitten in einer schäbigen Sports Bar seine Geheimnisse preiszugeben.

Man stelle sich nur vor, dass zwei Menschen genau die gleichen Erfahrungen machen; es überschreitet einfach die Grenzen der Vorstellungskraft und des Möglichen.

Verzeiht mir meine Abgebrühtheit, wenn es um Details meines Lebens und um intime Einzelheiten aus dem anderer Menschen geht.

Das Mädchen, das sich umbrachte, war groß. Sie war vierundzwanzig. Ich auch. Am College waren wir ein Pärchen gewesen und hatten uns getrennt, als ich auf die Business School ging, doch dann waren wir beide in New York und kamen wieder zusammen.

Sie wurde schwanger, und ich bezahlte eine Abtreibung, und dann gab ich ihr den Laufpass. Ich hatte gerade mit der Arbeit angefangen, war ganz begeistert von der Tatsache, dass jemand einen dafür bezahlte, dass er den ganzen Tag lang mit dem Geld anderer Leute Streetball spielte, und ich wollte sie einfach nicht mehr um mich herum haben. Ich wollte die Welt. Aber sie wollte ich nicht. Sie war zu klein. Sie war zu unbeleckt.

Sie schrieb mir einen Brief, den ich immer noch habe, und dann schnitt sie sich in der Badewanne die Pulsadern auf. Ihre Eltern waren am Boden zerstört und fanden nie heraus, warum sie es getan hatte. Aber vermutlich ist das immer so.

Ich habe ihnen nie von dem Brief, der Schwangerschaft und von meinen Wünschen erzählt, sie endlich loszuwerden.

Ich kann nicht einmal ihren Namen sagen. Ich erinnere mich an alles, was sie betraf – an ihre Weichheit, ihre fröhliche Art und wie sie mich liebte. Ich schließe sie in meine Gebete ein, und es gibt keinen Grad der Verzeihung, der das, was ich ihr angetan habe, rückgängig machen könnte.

Sie war meine letzte weiche Freundin. Und ich habe sie als Showstopper in einem Spiel eingesetzt, das man in einer Bar spielt.

Das Kind wäre mittlerweile fast dreißig, ein anständiger junger Mensch, stelle ich mir vor, mit einem ganzen sauberen Leben, wie unberührter Schnee.

Ich wäre ein besserer Mensch. Ich wäre nicht allein. An meinem Geburtstag würde ich eine Karte oder einen Anruf bekommen. Mitten in der Nacht würde ich seine Stimme hören – es ist immer ein Er, nie eine Sie, weil ich mit einem Mädchen nichts hätte anfangen können – und er sagt: »Hi, Dad«, er hat eine Art, seinen Vater anzureden, die meine Mutter für stillos gehalten hätte, und ich spüre die Wärme, die sich in meinem Herzen ausbreitet.

Wie gesagt, dieses Mädchen war groß, sie, deren Namen ich nicht nennen kann, nicht einmal für mich ganz allein, um drei Uhr früh, im Dunkeln, in meiner Wohnung, in der alles von Verlust spricht und wo alles, was ich besitze, mich an das erinnert, was ich mal besessen habe, als läge da immer noch eine goldene Rolex auf dem Nachttisch, als wartete der Schlüssel zu einem Mercedes CLK mitsamt einem silbernen Tiffany-Schlüsselanhänger auf der Kommode, und ein Gemälde von Schnabel hinge an der Wand, während in Wirklichkeit all diese Dinge nicht mehr existieren, oder sie existieren an Orten, zu denen ich keinen Zugang mehr habe, wie die Auslage des Uhrengeschäfts mit teuren gebrauchten Uhren oder die Aufbewahrungsfächer bei Christie’s, wo man darauf wartet, dass Schnabel wieder in Mode kommt.

»Hi, Dad.« Wie viel würde mir das jetzt bedeuten! Mittlerweile denkt niemand mehr an meinen Geburtstag. Ich kaufe mir selbst einen Kuchen, lasse ihn sogar mit meinem Namen verzieren und esse ein Stück davon, nachdem ich mein Take-Away-Sushi am Küchentisch verzehrt habe. All diese kleinen Dinge tust du noch für dich selbst, denn würdest du das nicht machen, dann hättest du einfach aufgehört zu existieren. Du musst den Schein wahren, wenn du mit den Damen in der Konditorei sprichst, du musst sagen, dass der Kuchen für einen Freund ist, dass man eine große Party schmeißt und deshalb einen Kuchen braucht, von dem zwanzig Leute essen können, und dann sitzt du am Küchentisch mit diesem riesigen, aufwendig verzierten Kuchen für zwanzig Personen, mit deinem Namen in Fondant obendrauf, und du fühlst dich schlimmer als in deinem ganzen Leben, aber wenn die Sushi-Box weggeschmissen, die Sojasaucentropfen vom Resopaltisch gewischt und das Geschirr, von dem nur noch wenig da ist, gespült und weggeräumt ist, weil man doch irgendeine Ordnung halten muss, sonst ist man gleich ganz verloren, dann setzt du dich hin, steckst eine einzelne Kerze auf den Kuchen, den du dir selbst gekauft hast, zündest sie an und wünschst dir was, bevor du sie auspustest, und dann schneidest du dir ein großes Stück von diesem gewaltigen Kuchen ab und isst es, und du schluchzt, wenn du den ersten Bissen dieses viel zu süßen Desserts im Mund hast. Ich kaufe mir zum Geburtstag eine Krawatte, lasse sie mir einpacken, und wenn ich das Päckchen dann öffne, tue ich überrascht, und die ganze Zeit über warte ich darauf, dass das Telefon klingelt und am anderen Ende der Leitung jemand sagt: »Hi, Dad.«

Es tut mir so leid. Mein Kummer ist gewaltig, noch gewaltiger als dieser Kuchen, und er hat mehr Farben als das Papier, in das die langweilige Krawatte eingepackt war.

Ich wasche den Teller und die Gabel ab und stelle beides weg, und dann packe ich den Rest des Kuchens in die Schachtel zurück und werfe sie in den Müllschacht, damit auch die Ratten eine Freude haben. Alles Gute zum Geburtstag, ihr Ratten.