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Ein neuer Fall für Maria Kallio, die beliebte Ermittlerin der finnischen Bestsellerautorin Leena Lehtolainen: Ein rätselhafter Doppelmord führt die selbstbewusste Kommissarin ins Eishockey-Milieu. Ein gewittriger Augusttag. In den Schären westlich von Helsinki treiben zwei in Plastikplane eingewickel¬te Leichen. Als Kommissarin Maria Kallio eintrifft, sind die technischen Untersuchungen bereits im Gange. Bei den Toten handelt es sich um eine nackte, auffallend schöne Frau um die Fünfzig und einen Mann, dessen Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Ein Lokalpolizist, der die Schärengegend sehr gut kennt, kann die Frau schon bald identifizieren: Sie ist die Schwägerin einer ehemaligen Eishockeylegende mit kompliziertem Familienhintergrund. Was sie allerdings mit dem vorbestraften Arbeitslosen zu tun hatte, mit dem zusammen sie gestorben ist, bereitet Maria lange Kopfzerbrechen ...
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Seitenzahl: 472
Leena Lehtolainen
Wer ohne Schande ist
Maria Kallio ermittelt
Roman
Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara
Ihr Verlagsname
Der finnische Sommer ist kalt.
Ein gewittriger Augusttag. In den Schären westlich von Helsinki treiben zwei in eine Plastikplane eingewickelte Leichen. Als Kommissarin Maria Kallio eintrifft, sind die technischen Untersuchungen bereits im Gange.
Bei den Toten handelt es sich um eine auffallend schöne Frau und einen Mann, dessen Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Ein Lokalpolizist kann schon bald die Identität der Frau beisteuern: Sie ist die Schwägerin eines legendären Eishockeyspielers. Was sie allerdings mit dem vorbestraften Arbeitslosen zu tun hatte, mit dem zusammen sie gestorben ist, bereitet Maria Kallio lange Kopfzerbrechen …
Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der auch international erfolgreichsten finnischen Schriftstellerinnen. 1994 erschien in Deutschland der erste Roman mit der Anwältin und Kommissarin Maria Kallio, deren Abenteuer derzeit fürs deutsche Fernsehen verfilmt werden.
Ein Gewitter kündigte sich an. Es war völlig windstill, kein Luftzug milderte die drückende Schwüle, und in der Ferne, auf dem Festland, waren bereits die ersten Blitze zu sehen. Kalle Laine ließ sein Ruderboot in der schwachen Strömung über das Wasser gleiten. Bald würde er das Ufer seiner Sommerinsel erreichen und das Boot an Land ziehen, bevor der Sturm losbrach. Laine schloss die Augen. Schweiß lief ihm über den nackten Rücken, die Hitze brannte auf seinen Kopf. Er hatte die Sonnencreme vergessen, denn der Frühsommer war bisher kühl und bewölkt gewesen. Eine Weile würde er die außergewöhnliche Hitze noch genießen können, bevor das Getöse losbrach.
Er riss die Augen auf, als sein Boot gegen etwas stieß. Am Ufer konnte er doch noch nicht sein. Ein Fels war es nicht, dafür war der Aufprall zu sanft gewesen, und Laine kannte die Ufer in dieser Gegend. Felsen gab es nur östlich von der Insel.
Halluzinierte er? Nein, in der von Seetang bedeckten Untiefe bei der Südpricke schwamm etwas Seltsames. Das Sonnenlicht gleißte so hell auf dem glänzenden Plastik, dass Laine anfangs nicht einmal Umrisse erkennen konnte. Ein gekentertes Boot? Nein. Es war schlimmer.
Laine hob das Ruder aus der Dolle und stieß damit gegen das Bündel, das zu schaukeln begann. Als sich ein Fuß aus dem Wasser hob, schrie er auf. Er sah lackierte Zehennägel und ein Fußkettchen und geriet mitsamt seinem Boot ins Wanken, obwohl er saß. Langsam trieb das Bündel ganz an die Oberfläche. Es waren zwei Körper. Laine wandte das Gesicht ab, denn er wusste, dass er diesen Menschen nicht mehr helfen konnte.
Ich hörte das Handy bis unter die Dusche. Es klimperte Bon Jovi, der Anruf kam also von Koivu. Ich wusch den letzten Rest Spülung aus den Haaren und trocknete mich ab, bevor ich nachsah, ob er eine Nachricht hinterlassen hatte. Ich war gerade erst von der Arbeit gekommen, und selbst von dem knappen Kilometer Fußweg war ich so verschwitzt gewesen, dass ich unbedingt eine Dusche gebraucht hatte. Zum Glück hatte ich mir noch nichts von dem kalten Weißwein eingegossen, nach dem ich gierte, denn Koivus Anruf konnte nur bedeuten, dass ich wieder zur Arbeit musste. Auf meinem Handy blinkten gleich zwei Nachrichten, den ersten Anruf hatte ich nicht gehört. Er war von Jyrki Taskinen gekommen, dem Leiter der Abteilung Gewaltkriminalität bei der zum Polizeibezirk Uusimaa gehörenden Espooer Polizei.
«Maria, ruf mich so schnell wie möglich an.» Mehr hatte Taskinen nicht auf Band gesprochen, während Koivus Nachricht, wie üblich, wortreicher war.
«Im nördlichen Teil von Upinniemenselkä, am Südufer der Insel Haraholm, wurden zwei Leichen gefunden. Du hast richtig gehört: zwei. Und das ist noch nicht alles. Sie waren in Plastikfolie gewickelt. Also niemand, der aus einem Boot gefallen wäre. Taskinen meint, das ist ein Fall für unsere Einheit. Sag mir, wo du bist, dann hole ich dich ab.»
Da Jyrki Taskinen mein Chef und Pekka Koivu mein Mitarbeiter war, rief ich Jyrki am besten zuerst an. Obwohl ich nichts als ein Handtuch trug, wurde mir unter dem dicken Frotté heiß. Ich schaltete die Klimaanlage ein, bevor ich wieder zum Handy griff.
«Hallo, Jyrki, was gibt’s? Koivu hat auch schon angerufen. Angeblich sind im Meer zwei in Plastikfolie gewickelte Leichen gefunden worden.»
«Genau. Der Finder hat seinen Nachbarn alarmiert, der bei der Polizei in Kirkkonummi arbeitet. Er heißt Jon Berg. Kennst du ihn?»
«Der Name sagt mir nichts. Unsere Einheit hatte noch keinen Fall, bei dem Kirkkonummi beteiligt war. Dort ist in puncto Gewaltverbrechen bisher nichts passiert, was den Club der Seltsamen interessiert hätte.»
Taskinen lachte dröhnend, obwohl der Name, den Puupponen unserer Einheit verpasst hatte, schon ein alter Witz war. Taskinen hatte kämpfen müssen, damit die von mir geleitete Einheit für untypische Gewaltverbrechen bei der neuesten Umstrukturierung der Polizei erhalten blieb.
«Wer hat die Leichen gefunden?»
«Ein Mann namens Kalle Laine, der in der Gegend eine Sommerhütte besitzt. Berg hat sich die Lage in Haraholm angesehen und sich bei der Notrufzentrale gemeldet, die ihrerseits Polizei und Seegrenzwacht informiert hat. Eine Patrouille des Küstenschutzes in Porkkala ist sofort losgefahren, um das Gebiet abzusperren, und ich habe unsere Techniker hingeschickt. Aber ich möchte, dass du und Koivu auch hinfahrt, damit wir gleich die Ermittlungen einleiten können. Der Küstenschutz in Porkkala hat uns Amtshilfe zugesagt, weil neuerdings Mangel an Polizeibooten herrscht. Koivu ist wohl schon losgefahren, um dich abzuholen.»
Die Türklingel bestätigte seine Vermutung. Ich versprach Jyrki zurückzurufen und überprüfte im Spiegel, ob das Handtuch alle wichtigen Körperteile vollständig bedeckte, bevor ich die Tür öffnete. Ich war schon einige Male mit Koivu in der gemischten Sauna gewesen, aber wenn irgendein Nachbar vor dem Haus herumstand, würde er sich Gedanken machen, wieso die derzeit als Strohwitwe lebende Kommissarin Kallio halbnackt fremde Männer empfing.
Koivu grinste bei meinem Anblick, und Jahnukainen, eine unserer beiden Katzen, schlüpfte zwischen seinen Beinen hindurch ins Haus.
«Hier geht es ja heiß zu. Zieh dich an, dann stechen wir in See. Ich habe schon Tabletten gegen Seekrankheit geschluckt.» Das Wasser war nicht Koivus Lieblingselement, normalerweise war er nicht einmal bereit, ein Ruderboot zu besteigen.
«Die Boote der Küstenwacht fahren sehr ruhig», lachte ich und verzog mich ins Schlafzimmer. Obwohl es an Land warm war, nahm ich vorsorglich einen Pullover und eine lange Hose mit, die sich per Reißverschluss in Shorts verwandeln ließ. Ich band die Haare zum Pferdeschwanz und schnitt meinem Spiegelbild eine Grimasse. Der Sommer hatte helle Strähnen in meine rot gefärbten Haare gebleicht und Sommersprossen auf Wangen und Nase sprießen lassen. Ich redete mir ein, die Hauptursache für meine Stirnfalten sei häufiges Lachen und nicht etwa die Tatsache, dass ich die vierzig überschritten hatte. Bei der schwachen Beleuchtung entdeckte ich gelbe Pünktchen in meinen grünen Augen. Ich verzichtete darauf, mich zu schminken, denn bei dieser Hitze würde jede wasserfeste Wimperntusche verlaufen. Im Osten grollte bereits Donner, zum Glück würden wir in Richtung Westen fahren.
«Und Puupponen?», fragte ich, als Koivu den Motor anließ. Im Wagen war es heiß. Die Etatmittel reichten nicht, um alle Polizeifahrzeuge mit Klimaanlagen auszustatten.
«Den sammeln wir an der Auffahrt in Espoonlahti ein. Vielleicht war er bei einer Frau, er sprach so undeutlich, und zu Hause war er jedenfalls nicht. Er sagte, er würde ein Taxi zur Auffahrt nehmen, um Zeit zu sparen.» Koivu winkte, als wir das Polizeigebäude in Kilo passierten. «Setz mal das Blaulicht aufs Dach, es wird kühler hier drin, wenn wir ein bisschen Tempo machen. Ist schon eine Weile her, seit ich zuletzt rasen durfte.» Koivu wischte sich den Schweiß ab und fuhr bei Gelb über die Kreuzung. Ich tat wie geheißen. Zwar war ich Koivus Chefin, aber wir arbeiteten schon so lange zusammen, dass es albern gewesen wäre, in Routinesituationen auf die Befehlshierarchie zu pochen. Wenn es ernst wurde, würde ich die Führung übernehmen und auch die Verantwortung tragen.
«Hast du etwas von deiner Familie und ihrem Segeltörn gehört?», fragte Koivu, als wir auf der Überholspur rasten. Das Blaulicht verschaffte uns Platz, die Sirene brauchten wir nicht heulen zu lassen.
«Sie sind irgendwo auf der Höhe von Amsterdam. Iida wird kurz vor dem Kieler Kanal zu ihnen stoßen. Allerdings hat sie in ihrem letzten Facebook-Eintrag geschimpft, es wäre total verblödet, aus der Provence abzureisen, um auf irgendeinem langweiligen Segelboot mitzufahren, denn in Südfrankreich gehe es erst Anfang August so richtig los. In Avignon gibt es ein interdisziplinäres Kunstfestival, an dem sie teilnehmen möchte. Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sie demnächst fragt, ob sie nicht auch den Rest der Ferien bei Annis Familie verbringen darf, statt sich der Crew der Long Wang anzuschließen. Es ist ja nicht mal eine Luxusjacht, sondern ein Weltumseglungsboot. Jetzt gehört es einer chinesischen Firma, die Nano-Elektronik produziert. Früher hieß es Marlboro of Finland, erinnerst du dich? Es hat bei unserem ersten Mordfall eine Rolle gespielt.»
Koivu lachte. «Das ist lange her, aber ich erinnere mich. Der Bruder des Opfers ist auf der Jacht gesegelt, und der Mann einer Tatverdächtigen.»
«Der Mann der Verdächtigen, Peter Wahlroos, ist inzwischen der Kapitän. Antti konnte der Versuchung nicht widerstehen, als Peter ihm anbot, von Brest nach Helsinki zu segeln.»
Das Klingeln des Handys unterbrach mich. Puupponen teilte mit, er stehe bereits an der Bushaltestelle an der Zufahrt; ich sagte ihm, wir würden noch fünf Minuten brauchen. Dann holte ich den Laptop aus dem Ermittlungskoffer, den Koivu mitgebracht hatte, und bereitete die ersten Ermittlungsformulare vor. Zwei bisher nicht identifizierte Leichen, offenbar ein Mann und eine Frau. Todesursache unbekannt. Verdacht auf Mord, da die Leichen in Plastik gewickelt waren.
Puupponen, der uns an der Bushaltestelle erwartete, war für die Besichtigung eines Tatorts ausgesprochen seltsam gekleidet: Er trug einen Frack mit allem Zubehör außer der Fliege, dazu Gummistiefel mit Lederschaft. Er ließ sich auf die Rückbank fallen und fragte, ob wir einen Reserve-Overall für ihn hätten. Schupoklamotten gehörten nicht zur Standardausrüstung unserer Einheit, aber Koivu war in der Regel auf beinahe alles vorbereitet. In einem Wagen, den er ausgestattet hatte, fanden sich mindestens zwei Overalls und weiße Schutzanzüge für das ganze Team.
«Warum trägst du denn einen Frack? Ist das dein eigener?» Koivu konnte seine Neugier nicht zügeln.
«Gemietet. Deshalb muss ich aufpassen. Wo sind die Overalls?» Statt sich anzuschnallen, schälte Puupponen sich mühsam aus seiner Kluft.
«Im Kofferraum. Mach dich also nicht gleich nackig.»
«Maria ist nicht so leicht zu schockieren. Nicht in ihrem Alter und ihrem Beruf.»
Ich wedelte mit dem Laptop nach Puupponen, und Koivu schimpfte, wenn wir so weitermachten, würden wir noch im Graben landen. Die Baustelle zwischen der Brücke in Espoonlahti und Kirkkonummi war immer noch ein Abenteuerparcours, auf dem man gut aufpassen musste, weil die Umleitungen sich ständig änderten. Die Ausfahrt in Porkkala war gerade erst fertig geworden, die Kieshaufen waren noch nicht begrünt. Die Baustelle mit ihren wechselnden Geschwindigkeitsbegrenzungen war eine verlockende Bußgeldfalle, aber die operative Polizeiführung hatte angeordnet, den Fortschritt der Bauarbeiten nicht allzu sehr zu behindern.
Auf der Porkkalantie musste Koivu das Tempo verringern, die Landstraße war schmal und kurvenreich, und die Fahrt zur Station der Küstenwache schien ewig zu dauern. Aber hatten wir es denn eilig? Die Toten liefen nicht davon, und angesichts des Todes konnten die Lebenden ruhig warten. Dennoch stöhnte Puupponen auf der Rückbank ungeduldig, als Koivu auf der letzten Etappe nicht einmal mehr vierzig fuhr. Ich drückte die Daumen, dass uns nichts entgegenkäme, was größer war als ein Fahrrad, denn auf der schmalen Straße wäre es schwierig gewesen, auch nur an einem normal großen Pkw vorbeizukommen.
«Es wäre schneller gegangen, wenn sie uns zum Beispiel in Matinkylä abgeholt hätten», meckerte Puupponen, als das Tor der Station endlich in Sicht kam und vor uns das Meer schimmerte. Das Tor schob sich langsam auf, und ein junger Mann in der grünen Uniform des Grenzschutzes winkte uns auf den Parkplatz.
Das fünfzehn Meter lange Patrouillenboot PV 178 und seine dreiköpfige Besatzung erwarteten uns am Steg. Puupponen stieg in den Overall, ich streifte den Pullover über, bevor ich die Rettungsweste anlegte, die der Steuermann mir reichte. Koivu musterte das Patrouillenboot misstrauisch, als zweifle er an seiner Seetüchtigkeit, und zurrte seine Schwimmweste fest. Ein Windstoß wehte mir die Haare in die Augen. Das Gewitter tobte bereits über dem Zentrum von Kirkkonummi, aber die Blitze waren noch blass. Koivu lief noch einmal zum Wagen und holte zwei Regenmäntel. Dann gingen wir an Bord.
«Unsere Höchstgeschwindigkeit beträgt mehr als vierzig Knoten. Wir sind in einer knappen Viertelstunde am Ziel», erklärte der Steuermann. Koivu nahm erleichtert zur Kenntnis, dass die Qual nicht länger dauern würde. Sobald wir den schützenden Hafen verließen und nordwestlichen Kurs einschlugen, nahm uns der böige Nordwind aufs Korn, und Koivu verzog sich wortlos in die Kajüte. Puupponen und ich blieben an Deck; ich wusste aus Erfahrung, dass man in der Kajüte wesentlich leichter seekrank wurde als an der frischen Luft mit Blick auf den Horizont.
«Der Sommer war ruhig», begann der Steuermann ein Gespräch. «Wenig Blaualgen und wenig Rettungsfahrten. Schlechtes Wetter hält sowohl die Algenblüte als auch trottelige Freizeitkapitäne im Zaum.»
«Aha, das schlechte Wetter, der beste Freund der Polizei, sagt also auch der Küstenwache zu», gab Puupponen zurück. «Aber bestimmt hat es keine Auswirkungen auf eure Arbeit, wenn Finnland in der Formel 1 oder bei der Eishockey-WM verliert. Für uns bedeutet das eine Rekordzahl an häuslichen Einsätzen.»
Ich überließ die beiden ihrem Wortwechsel und konzentrierte mich auf das Meer. Die Böen schoben Wellen mit spitzen, schäumenden Kämmen auf, die auf der Steuerbordseite in einem Winkel von dreißig Grad gegen den Bug schlugen. Ein Segelboot wäre von den Windstößen gepackt worden, doch das Patrouillenboot zog beharrlich seine Bahn und hüpfte nur wenig. Im Osten tauchte die Landspitze Upinniemi auf, die wir im Nu hinter uns ließen. Die Gewitterfront war noch nicht bis an die Küste vorgedrungen, als wir das Gewässer vor Haraholm erreichten. Dort befanden sich bereits ein offenes Boot der Seewacht, ein Polizeiboot sowie ein großes ziviles Motorboot, und die technischen Untersuchungen waren im Gange. Unser Fahrzeug hatte nur achtzig Zentimeter Tiefgang, und nach kurzem Manövrieren glitt es geschmeidig neben den Uferfelsen. Ich rief den Leuten von der Technik einen Gruß zu, hielt mich aber vorläufig von dem etwa zwei Meter langen Bündel fern, das auf dem Geröll lag. Gefolgt von meinen Kollegen sprang ich an Land und wäre beinahe mit einem Mann zusammengeprallt, der auf dem Felsen saß.
«Aha, die Spezialtruppen sind da!» Der Mann stand auf und sah uns an. Ich registrierte seinen überraschten Blick, als ich vortrat und uns vorstellte.
«Kommissarin Maria Kallio von der Einheit für untypische Gewaltdelikte bei der Polizei von West-Uusimaa, Standort Espoo. Das hier sind die Kriminalhauptmeister Ville Puupponen und Pekka Koivu.»
Der Mann lächelte. «Kommissarin Kallio also. Beinahe die finnische Variante meines Namens, Berg. Jon Berg. Ihr seid ja fix.» Der Mann war etwa vierzig und kaum größer als das Mindestmaß von eins siebenundsiebzig, das noch vor einigen Jahren von männlichen Polizisten verlangt wurde. Sein enges ärmelloses T-Shirt brachte die flächendeckend tätowierten, durchtrainierten Arme zur Geltung. Die rückenlangen rotbraunen Haare waren zum Pferdeschwanz gebunden, an beiden Ohren hingen dicke Ringe. Die Tarnhose und die schweren Stiefel schienen eher zu jemandem aus einer Motorradgang zu passen als zu einem Polizisten. Bergs Händedruck war gewollt fest, doch seine braunen Augen lächelten.
«Die Marschordnung ist ein bisschen durcheinandergeraten, weil Kalle zuerst mich angerufen hat. Wir sind Nachbarn in Friggeby, und er war so verwirrt, dass er sich nicht allein zu helfen wusste.» Als Berg weiterredete, hörte ich einen leichten finnlandschwedischen Akzent heraus. «Der Anblick hat allerdings auch mich aus der Fassung gebracht. Kommt mit.»
Koivu reichte uns weiße Schutzanzüge und Atemschutzmasken. Ich zog die Sachen an, und Puupponen tat es mir gleich.
«Ich habe frei, deshalb hatte ich meine Ausrüstung nicht dabei», entschuldigte sich Berg. «Falls ich an dem Leichenbündel Spuren hinterlassen habe, kann man sie bei der technischen Untersuchung sicher eliminieren.» Dennoch blieb er etwa zwei Meter vor dem Bündel stehen, dem Koivu und ich uns näherten.
Die Leichen waren halb an Land gezogen worden, damit die Wellen sie nicht forttrugen. Das eingedrungene Wasser hatte die durchsichtige Plastikfolie trübe gefärbt. Der linke Fuß der Frau lag frei, die Zehennägel waren rot lackiert und mit goldenen Schmetterlingen verziert. Fuß und Knöchel waren gebräunt, den Knöchel schmückte eine dünne goldene Kette. Die Leiche der Frau wirkte schlank und überdurchschnittlich groß, so groß wie der Mann, der beleibt zu sein schien. Von ihm ragten nur eine Hand und ein schwarz behaarter Unterarm aus der Plastikhülle. Obwohl das Gewebe im Wasser bereits aufgedunsen war, fiel mir auf, dass seine Fingerspitzen seltsam aussahen, wie verbrannt. Ich bückte mich, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. In dem Moment krachte es links hinter mir. Dann setzte Sturzregen ein.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als in die Kajüte des Patrouillenboots zu stürzen und das Ende des Gewitters abzuwarten. Dessen Zentrum war östlich an uns vorbeigezogen, die Blitze zuckten nun im Südosten der Insel, doch die Gewitterfront schien sich rasch in Richtung Upinniemi voranzuschieben. Die Sturmböen stießen die festgezurrten Boote gegeneinander, und der Steuermann ging hinaus, um weitere Fender zwischen sie zu hängen. Koivu war so weiß wie sein Schutzanzug, das Schaukeln eines vertäuten Bootes macht auch geübte Seefahrer schnell seekrank. Einige der Kriminaltechniker holten Regenkleidung aus ihrem Boot und setzten ihre Arbeit fort.
«Dein Nachbar hat dich also angerufen, nachdem er die Leichen gefunden hatte», wandte ich mich an Jon Berg. Der nickte. «Und du bist selbst hergekommen, um sie dir anzusehen, bevor du die Notrufzentrale alarmiert hast. Warum?»
«Na ja, Kalle … Der hat die dumme Angewohnheit, manchmal seine Netze auszuwerfen, nachdem er ein paar Bierchen gezischt hat. Ich habe ihm nicht so recht geglaubt, dass es wirklich Leichen waren, die er im Wasser gesehen hat. Es ist ja auch niemand vermisst gemeldet. Ich dachte, ich vergewissere mich, bevor ich unsere gemeinsamen Steuergelder vergeude. Außerdem war ich mit meinem Boot sowieso in der Nähe unterwegs, ich habe heute frei. Ich selbst habe mal eine Babypuppe in meinem Netz gefunden, die irgendwer ins Wasser geworfen hatte. Ich dachte, Kalle ist vielleicht dasselbe passiert.»
«Wo ist dieser Kalle jetzt?»
«Ich habe ihn in seine Sommerhütte geschickt. Er war tatsächlich ein bisschen angesäuselt, und ich hielt es für besser, ihn an Land zu bringen, bevor das Gewitter losbricht. Dort hinten ist er, auf der Insel Vårdö. Wir können ihn befragen, wenn wir hier fertig sind.»
«Waren die Leichen noch an der Fundstelle, als du ankamst? Wer hat sie ans Ufer gezogen?»
«Das habe ich natürlich der Technik überlassen.» Bergs Stimme klang leicht verärgert, doch plötzlich lächelte er breit und sah mir direkt in die Augen. «Die Frau Kommissarin aus Espoo hält uns Landgendarmen wohl für beschränkt? Wir haben dieselbe Schule besucht wie ihr Städter.»
«Es geht hier nicht um Stadt oder Land, sondern darum, wie die Ermittlungen eingeleitet wurden. Und mein Zivilstand spielt im Beruf keine Rolle, Herr Schutzmann aus Kirkkonummi.»
Meine Augen wanderten unwillkürlich zu Jon Bergs linkem Ringfinger. Dort trug er keinen Ring, dafür aber am kleinen und am Mittelfinger. Das Tribal-Tattoo begann auf dem Handrücken und wand sich bis zur Schulter hoch. Auf den rechten Arm waren neben den Windungen rote Rosen eintätowiert. An seinen Nasenflügeln sah man noch schwache Spuren eines ehemaligen Piercings.
«Es stimmt, seit einer Woche ist keine einzige Vermisstenmeldung eingegangen», sagte Puupponen, der den Computer konsultiert hatte. «Ich kann auch die älteren durchsehen, Zeit haben wir ja genug. Aber die Finger der Männerleiche deuten darauf hin, dass seine Abdrücke registriert sein könnten … Und auf einiges mehr.»
Koivu erhob sich von der Bank und ging hinaus. Es tröpfelte noch, aber schon bald hörte der Regen ganz auf, und die Blitze waren nur noch am Horizont zu sehen. Auch der Wind legte sich allmählich.
«Auf ein Neues», sagte ich und ging zu Koivu an Deck. Berg folgte mir. Wir mussten ihn nach Hause schicken, er hatte uns alles gezeigt, was zu zeigen war. Hakkarainen, der Einsatzleiter der Kriminaltechniker, stieg aus dem anderen Boot und achtete darauf, mich nicht zu berühren. Er wütete gegen jeden, der an einem mutmaßlichen Tatort ein Streichholz oder Kaugummi fallen ließ. Das Problem war in diesem Fall natürlich, dass wir den Tatort nicht kannten. Er konnte sich hier am Ufer befinden, genauso gut aber auch ganz woanders. Bei der Obduktion musste geklärt werden, wie lange das Paar im Wasser gelegen hatte und ob die Todesursache Ertrinken war. Ich wollte sehen, was sich in der Plastikhülle befand, und Hakkarainens Team würde die Leichen sorgfältig freilegen, ohne Spuren oder Indizien zu zerstören.
«Noch ein paar Aufnahmen, dann können wir uns das Ganze genauer ansehen.» Hakkarainen winkte dem Fotografen zu, der bereits instruiert war und seine Arbeit wieder aufnahm.
«Danke für deine Hilfe, Berg. Ich rufe dich an, falls ich Fragen habe», sagte ich zu Jon Berg, der uns ans Ufer gefolgt war.
«Das heißt wohl, du kannst dich jetzt verziehen?»
«Genau.»
«Moment mal, Kallio. Ich kenne die Schären und ihre Bewohner. Du siehst doch schon an den Zehen der Frau, dass die beiden hier noch nicht lange herumgeschwommen sind. Die Gesichter sind vielleicht noch zu erkennen. Womöglich kann ich die Tote identifizieren. Und schon ist wieder Steuergeld gespart.»
Links hinter mir atmete Koivu geräuschvoll, Puupponen seufzte. Kallio und ihre Leibwächter, pflegten manche unserer Kollegen zu witzeln. Meine Mitarbeiter wussten, dass es meine Aufgabe war, Berg wegzuschicken, aber sie standen hinter mir, moralisch und ganz konkret.
«Gib ruhig zu, dass du neugierig bist.» Ich lächelte Berg an. Es lag nicht in meiner Absicht, unnötigen Konfliktstoff zu schaffen. Außerdem hatte er womöglich recht. Berg lächelte zurück, und ich merkte, dass mir sein Lächeln gefiel.
«Klar bin ich das! Man trifft nicht jeden Tag auf zwei Kadaver in Frischhaltefolie.»
Ich spürte, wie Koivu sich entspannte. Puupponen machte «ts, ts» wie ein verärgertes Eichhörnchen.
«Okay, bleiben wir also alle noch hier. Vielleicht sehen vier Augenpaare mehr als drei.»
«Die Klippe da drüben heißt übrigens Asgrundet, Aasklippe», erklärte Berg. «Das hätte noch gefehlt, dass die Leichen dort gestrandet wären.»
Puupponen schnaubte, als ob es ihn fuchste, dass ihm jemand die Rolle des Witzboldes streitig machte. Wir warteten auf Hakkarainens Zeichen, Puupponen summte ein Lied, in dem der Wassergott einem Fischer reiche Beute beschert. Koivus Gesicht hatte schon wieder Farbe bekommen, als die Techniker langsam und sorgfältig die Plastikfolie entfernten.
Die Frauenleiche kam als Erstes zum Vorschein. Bis auf das Kettchen am Knöchel und einen Ring am linken Mittelfinger war sie völlig nackt. Der Körper war bereits ein wenig aufgedunsen, aber nicht so sehr, dass er unkenntlich geworden wäre. Obwohl die Frau offensichtlich nicht lange im Wasser gelegen hatte, bewegten die Techniker sie mit äußerster Vorsicht. Wasserleichen gingen manchmal überraschend in Stücke.
Der Mann war bekleidet. Sein blaues T-Shirt war mit dem Bild eines Motorbootes geschmückt, unter dem SUMMER stand, die Hose mit dem grauen Tarnmuster reichte bis knapp unter die Knie. Er trug keine Socken und nur am linken Fuß eine Sandale. Keine Uhr und keine Ringe an den Händen, aber dunkle Flecken an den Fingerspitzen, als wäre die Haut dort verbrannt. Das Schlimmste war sein Gesicht: Es war so böse zugerichtet, dass man keine Gesichtszüge erkennen konnte. Das Blut war größtenteils weggespült, zwischen den Hautfetzen waren Nasenknorpel und ein gebrochener Wangenknochen zu sehen. Ein Teil des Kinns fehlte. Der Mann hatte dunkelbraune Haare und eine beginnende Glatze. Er war stark behaart, Tätowierungen waren auf den Bereichen seines Körpers, die das Hemd frei ließ, nicht zu sehen.
«Heiliger Strohsack», murmelte Puupponen neben mir, als Hakkarainen den Kopf des Mannes vorsichtig anhob. Am Hinterkopf befand sich eine deutlich zu erkennende Schusswunde, die Verletzung am Kinn war also vermutlich durch die austretende Kugel verursacht worden.
«So. Definitiv keine Ertrunkenen. Zur Obduktion, Dringlichkeitsstufe eins. Von der Frau Fingerabdrücke, von beiden Zahnschema und DNA.» Mechanisch gab ich meine Anweisungen. «Koivu, du kannst gleich mal beim Meteorologischen Institut nachfragen, wo man die Leichen ins Wasser werfen müsste, damit sie bei den derzeitigen Windverhältnissen ans Ufer von Haraholm getrieben werden. Fotos von der Frau umgehend an alle Polizeidienststellen. Abgleich mit den Vermisstenmeldungen.»
Die Frau war schätzungsweise knapp fünfzig. Ihre blonden Haare waren offenbar getönt, denn die zu einem schmalen Streifen getrimmten Schamhaare waren bereits ergraut. Achselhöhlen und Beine waren erst vor kurzem enthaart worden. Im Gesicht waren Reste von verlaufener Wimperntusche zu sehen, an den Zähnen haftete ein wenig Lippenstift. Die Frau war schlank und relativ groß. Anzeichen für äußerliche Gewalt waren nicht zu entdecken.
«Kommt sie dir bekannt vor?», fragte ich Berg, der die Leichen anstarrte, als wisse er nicht, was er sagen sollte. Er beugte sich über die Frauenleiche, was Hakkarainen zu einem warnenden Räuspern veranlasste.
Da Berg nicht darauf reagierte, befahl er: «Nicht so nah ran! Deine Haare kann ich auf der Leiche nicht gebrauchen.»
«Irgendwas kommt mir bekannt vor … Warte mal. Gleich fällt es mir ein.» Trotz Hakkarainens Warnung machte Berg einen weiteren Schritt auf sie zu, sodass Puupponen ihn am Arm zurückriss. Berg drehte sich wütend um, in letzter Sekunde stoppte sein Verstand die bereits zum Schlag ausholende Faust.
«Reißt euch zusammen, wir sind hier nicht im Kindergarten! Berg, noch einmal: Danke für deine Hilfe. Ich erwarte deinen Bericht so bald wie möglich.»
Berg lächelte mich an.
«Okay, Kommissarin. Du bekommst ihn gleich morgen. Und melde dich, wenn du Hilfe brauchst. Ich war schon als Kind in diesen Gewässern unterwegs und kenne die Schären.» Er hielt mir die Hand hin, und mir blieb nichts anderes übrig, als sie zu ergreifen. Ich wich seinem Blick, der sich in meine Augen bohrte, nicht aus. Den anderen gab Berg nicht die Hand, Puupponen bedachte er allerdings mit einem wütenden Blick. Als Berg den Motor seines fast fünfzig Fuß langen, zweistöckigen Bootes anließ, zog Koivu eine Grimasse.
«Bekommen die Kollegen in Kirkkonummi eine Sonderzulage, oder warum kann er sich so einen Kahn leisten?», fragte er.
«Als Finnlandschwede ist er natürlich ein reicher Erbe. Die bessere Gesellschaft», murmelte Puupponen und schien es ausnahmsweise ernst zu meinen.
«Versucht doch mal, den Mann zu verstehen. Er ist über den Fall seines Lebens gestolpert. Sicher hat er nicht oft Gelegenheit, Morde aufzuklären, noch dazu an zwei nicht identifizierten Leichen. Dann kommt die übergeordnete Kripo eingeflogen und klaut der Katze die Maus. Und er darf sich wieder mit Kneipenschlägereien befassen.»
Ich erinnerte mich, wie ich vor vielen Jahren als Vertreterin des Ortspolizeidirektors in meine Heimatstadt Arpikylä gegangen war, in der Erwartung, mich hauptsächlich mit Fällen von Trunkenheit am Steuer befassen zu müssen. Wie sehr hatte ich mich doch damals geirrt. Die Welt hatte sich seitdem verändert: Die Position eines Ortspolizeidirektors war gestrichen worden, und nächstes Jahr sollte Arpikylä in den Großraum Joensuu eingemeindet werden.
«Seht ihr bei der Frau irgendwelche Hinweise auf die Todesursache oder -umstände?», fragte ich die Techniker.
«Gut möglich, dass sie ertrunken ist», antwortete Kettunen. «Die Spuren im Nacken und seitlich am Hals deuten möglicherweise darauf hin, dass man sie unter Wasser festgehalten hat. Wenn man genug Kraft einsetzt, kann man einen Menschen sogar in einer Waschschüssel ertränken.»
«Warum ist der Mann voll bekleidet und die Frau nackt? Warum wurde nur der Mann unkenntlich gemacht?», fragte Puupponen. Im Allgemeinen war ich diejenige, die die auf der Hand liegenden Fragen stellte, die Startfragen. Puupponen erfand darauf dann die irrwitzigsten Antworten, die sich gelegentlich sogar als zutreffend erwiesen hatten.
«Wie genau sollen wir diese Klippe untersuchen?», erkundigte sich Hakkarainen. «Sie ist ja nicht einmal der Fundort, und vom Tatort haben wir erst recht keine Ahnung. Womöglich wurden die Leichen aus irgendeinem Boot ins Meer geworfen, verdammt noch mal, und nicht unbedingt aus einem finnischen. Wir können ja nicht mal sagen, welcher Nationalität die Toten angehören. Das Einzige, was ich aufgrund der äußerlichen Untersuchung zu behaupten wage, ist, dass sie nicht länger als vierundzwanzig Stunden im Wasser gelegen haben.»
In Gedanken setzte ich die Liste der zu klärenden Dinge fort. Die Berichte der Küstenwacht für die beiden letzten Tage. Bei der Obduktion musste geprüft werden, welche Art von Wasser das weibliche Opfer eingeatmet hatte. Bei dem männlichen Opfer würde sich anhand der Schusswunde das Kaliber der Waffe feststellen lassen.
«Die beiden passen also auf keine der vermisst gemeldeten Personen?», vergewisserte sich Koivu noch einmal bei Puupponen.
«Nein, aber es ist Urlaubszeit. Und nicht jeder hat einen Job, in dem er vermisst wird. Ich würde nicht unbedingt darauf tippen, dass der Mann Geschäftsführer eines internationalen Exportunternehmens war, der auch im Urlaub Mails beantwortet. Er ist bestimmt polizeilich registriert, wenn nicht bei uns, dann in einem anderen Land oder bei Europol.» Koivu blickte zum Festland hinüber, von wo sich eine neue Gewitterfront zu nähern schien. «Sollten wir nicht noch mit dem Mann sprechen, der die Leichen gefunden hat? Jetzt ist seine Erinnerung noch frisch.»
Ich wollte einen letzten Moment in der Nähe der Leichen verbringen. Was konnten sie mir erzählen? Vom Gewitter aufgescheuchte Rinder- und Goldaugenbremsen kämpften mit den Fliegen um einen Platz auf den blutigen Partien der Männerleiche. Ich wedelte sie instinktiv fort, obwohl sie die Toten nicht mehr störten. Auf der frei liegenden Haut des Mannes waren keinerlei Tätowierungen zu sehen. Vorsichtig schob ich einen Ärmel hoch – auch am Oberarm nichts. Allerdings verrieten Tätowierungen ja nicht mehr so viel über den Hintergrund eines Menschen wie noch vor einem Vierteljahrhundert. Andererseits war ein Ex-Häftling ohne Tattoos wohl immer noch die Ausnahme.
Der nackte Körper der Frau hatte nichts Erotisches mehr. Die Fingernägel waren im gleichen leuchtenden Pink lackiert wie die Zehennägel, die Brüste hatten eine seltsame Form. Ich berührte sie vorsichtig mit dem Finger: Silikon. Die Frau hatte großen Wert auf ihr Äußeres gelegt oder einen Job gehabt, in dem das Aussehen wichtig war. Wenn die Leiche nicht anders identifiziert werden konnte, würden die Seriennummern der Silikonbrüste eine Spur liefern. Für eine Sexarbeiterin war die Frau schon recht alt, doch die Geschmäcker waren verschieden. Donnergrollen ließ mich auffahren, ein Windstoß riss mir die Schutzhaube vom Kopf und blies mir die Haare ins Gesicht.
«Da ist wieder eine Gewitterfront im Anmarsch», sagte der Steuermann. «Diesmal wird es länger dauern als vorhin, vielleicht eine gute Stunde.»
«Wie schnell ist das Gewitter hier?»
«In einer Viertelstunde, maximal in einer halben.»
«Wie weit ist es von hier nach Vårdö, der Insel von Kalle Laine?»
«Die ist gleich da drüben.» Der Mann zeigte auf eine schroff aufragende Insel im Norden. «Willst du hin?»
«Die Leichen sollten vor Regen geschützt und möglichst bald zur Obduktion aufs Festland gebracht werden», erklärte ich, und Hakkarainen und Kettunen nickten zustimmend.
«Sie dürfen also abtransportiert werden?», vergewisserte sich Letzterer. «In unserem Boot ist Platz, die Küstenwache braucht nicht zu helfen.»
«In Ordnung. Wir treffen uns morgen früh um neun im Präsidium und fassen zusammen, was wir bis dahin wissen. Vielleicht sollten wir noch die Stelle überprüfen, wo Laine die Leichen gefunden hat. Morgen früh sehen wir uns dann auch an, ob Bergs Bericht mit Laines Aussage und mit den Spuren an den Leichen und der Plastikfolie übereinstimmt.»
Ich warf einen letzten Blick auf die Toten. Zwar würde ich ihre erloschenen Augen von nun an nur noch auf den Fotos der Kriminaltechnik sehen, doch sie würden mich noch lange beschäftigen. Die Gesichtszüge des Mannes würden rekonstruiert, die Farbe seiner Augen und die Form seiner Nase festgestellt werden, vielleicht fanden sich auch Fotos, auf denen er lächelte. Wer immer die Toten sein mochten, ich war es ihnen schuldig herauszufinden, warum sie in Folie gewickelt im Meer gelandet waren.
Koivu betrachtete abwechselnd die näher rückenden Regenwolken und das Patrouillenboot, als müsse er zwischen zwei Übeln wählen. Schließlich sprang er doch ins Boot. Diesmal fuhren wir vor dem Wind, und auch Koivu blieb an Deck. Puupponen setzte sich und suchte mit dem Bilderkennungsprogramm auf dem Laptop nach dem Gesicht der Frau. Ich musste die Beinmuskeln ein wenig anspannen, um stehen zu bleiben, ohne mich an der Reling festzuhalten.
Das Anlegen war leichter als bei der Klippe, denn es gab einen sieben Meter langen Steg, an dem ein Buster und ein kleines Glasfiber-Ruderboot vertäut lagen. In Ufernähe stand eine etwa zwanzig Quadratmeter große Sauna, dahinter befanden sich ein Holzstoß und ein Gestell zum Netzetrocknen. Die Insel war mit Kiefern bewaldet, auf dem Boden wuchsen hauptsächlich Wachtelweizen und Blaubeeren. Ins Innere der Insel führte ein fast ein Meter breiter, sauber geharkter und mit kleinen Steinen abgegrenzter Pfad. Nachdem wir einige Meter gegangen waren, kam das Sommerhaus in Sicht, das rundherum von Bäumen geschützt war. Die Stürme im letzten Winter hatten allerdings Schaden angerichtet: An der Südwestseite des Hauses standen mehrere frisch aussehende Baumstümpfe.
Die Küstenwächter waren auf dem Boot geblieben, es gab keinen Grund anzunehmen, dass Laine gefährlich sein könnte. Koivu und Puupponen begleiteten mich zum Haus. Die rote Bretterverschalung und die weißen Fensterrahmen hatten kürzlich einen frischen Anstrich bekommen, zwischen den weißen Lobelien, die in Ampeln an der Veranda hingen, waren keine vertrockneten Blüten zu entdecken. Ich klopfte an die Tür, einmal, ein zweites Mal. Keine Antwort.
«Laine? Kalle Laine? Polizei», rief ich, und da sich nichts rührte, drückte ich die Klinke herunter. Hinter der Tür befand sich eine kleine, saubere Diele. Die Tür zur Stube war angelehnt. Ich trat ein.
Der Mann lag mit dem Gesicht zur Wand auf dem Sofa. Der Flickenteppich davor war faltig verrutscht, was in dem ansonsten ordentlichen und sauberen Zimmer ins Auge stach. Der Mann trug einen Pullover und eine baumwollene Cargohose, er war barfuß. Am Hinterkopf hatte er eine kleine Glatze, von der sich Haut schuppte. Er schnaufte, und seine Alkoholfahne war zwei Meter weit zu riechen.
«Kalle Laine? Aufwachen!» Ich ging zum Sofa und rüttelte den Mann an der Schulter. Er schreckte auf.
«Wer zum Teu…?»
«Kommissarin Maria Kallio von der Polizei von West-Uusimaa in Espoo. Ich hätte ein paar Fragen.»
«Was für eine Kommissarin, verdammt noch mal? Wo ist Berg?» Der Mann setzte sich langsam und schwankend auf. Er musste schnell gehandelt haben, wenn er erst nach dem Leichenfund damit begonnen hatte, sich einen derartigen Rausch anzusaufen.
«Wir untersuchen den Fall der nicht identifizierten Leichen und möchten deshalb mit Ihnen sprechen – vorausgesetzt, Sie sind Kalle Laine.»
«Wer soll ich denn sonst sein?» Der Mann stand auf und ging zum Kühlschrank. Er holte eine Flasche Bier heraus, öffnete sie an der Tischkante und kippte sich ein Drittel des Inhalts in die Kehle, bevor er weitersprach. «Ich habe Jon Berg schon alles erzählt. Das muss ich doch wohl nicht wiederholen! Ich habe zwei Leichen gefunden und die Polizei angerufen. Mehr weiß ich nicht. Berg hat mir gesagt, ich solle nichts anrühren, bevor er kommt, und das hab ich auch nicht getan.»
Mit dem nächsten Schluck leerte Laine die Flasche. Er rülpste ein paarmal und wischte sich über den Mund. Der Mann war um die fünfzig, mittelgroß und einigermaßen schlank, nur Gesicht und Bauchmitte sahen ein wenig aufgedunsen aus. Seine braunen Bartstoppeln waren grau durchsetzt.
«Sie müssen auf jeden Fall ins Polizeipräsidium von Espoo kommen und eine offizielle Aussage machen, hier und jetzt können wir das nicht erledigen, weil Sie betrunken sind. Sehen Sie zu, dass Sie morgen Nachmittag einen klaren Kopf haben – passt es Ihnen um drei Uhr? Haben Sie gerade Urlaub?»
Laine lachte auf. «Urlaub, klar doch, und der endet auch nicht so bald. Die Baufirma, für die ich zweiunddreißig Jahre malocht habe, hat kurz vor Weihnachten Konkurs gemacht. Hier wird die ganze Zeit gebaut, das ganze beschissene Espoo ist eine einzige verdammte Baustelle, aber wer arbeitet da? Letten, Polen und irgendwelche Provinzinder mit Turban.» Laine holte sich die nächste Flasche. «Warum zum Teufel soll ich bis nach Kilo fahren, ist Kirkkonummi nicht gut genug?»
«Das ist nur noch eine Zweigstelle», seufzte Koivu und sah mich an, als flehe er darum, den Rückweg antreten zu dürfen. Der Donner rumorte ganz in der Nähe.
«Demnächst werdet ihr auch nach Indien outgesourct. Dann bleiben nur noch die Radarkameras an der Landstraße. Hört mal, das ist ein verdammt großer Aufwand für mich, bis nach Espoo zu fahren. Kriege ich als Arbeitsloser wenigstens die Fahrtkosten erstattet?»
«Ja», antwortete ich und gab ihm meine Visitenkarte. «Fragen Sie am Empfang nach mir. Morgen um drei. Nüchtern.»
Laine murmelte etwas, das wie ein Fluch klang, doch ich hielt mich nicht länger mit ihm auf. Die Männer der Küstenwache trieben uns zur Eile an: schnell an Bord, bevor uns das Gewitter erwischt. Während der Fahrt suchte Puupponen nach Informationen über Laine. Er hatte seinen eigentlichen Wohnsitz in der Nähe des Dorfes Friggesby an der Straße nach Porkkala, seine Ehe war vor einigen Jahren geschieden worden, drei erwachsene Kinder, drei Bußgelder wegen überhöhter Geschwindigkeit, zwei wegen Trunkenheit am Steuer. Hoffentlich kam er in seinem Suff nicht auf die Idee, heute noch mit dem Boot in See zu stechen.
Die letzten fünf Minuten verbrachten wir eng zusammengepfercht in der Kajüte, denn es goss in Strömen. Obwohl wir zum Wagen nur einige hundert Meter laufen mussten, wurden wir klatschnass. Koivu fuhr noch langsamer als auf dem Hinweg, denn in dem Schauer betrug die Sicht kaum fünf Meter. Mehrere Wagen hatten am Straßenrand angehalten.
«Zum Präsidium?», fragte Koivu, als wir endlich die Landstraße 51 erreichten und das Gewitter nach Westen abzog.
«Yep. Wir richten den Case Room ein. Irgendwo müssen wir ja anfangen.»
«Fahr bei der Pizzeria in Suvela vorbei. Ich habe noch nicht mal gefrühstückt. Möchtet ihr auch was?», fragte Puupponen. Ich wartete im Auto, während die Männer die Pizza holten. Da klingelte mein Handy. Obwohl mir die Nummer unbekannt war, meldete ich mich.
«Jon hier, Jon Berg. Wie geht es der schönsten Kommissarin von Espoo?»
Vor Verblüffung verschlug es mir die Sprache. «Hör mal, ich hatte recht, das Gesicht der Frau kam mir bekannt vor. Eben ist mir endlich ihr Name eingefallen. Saila Lind. Sie wohnte wohl in Helsinki, war im Sommer aber oft bei ihrem Schwager in der Nähe von Vormö. Ich habe dir ja gesagt, ich kann dir nützlich sein, Maria. Und was Frauen betrifft, liege ich meistens richtig …»
«Saila Lind also. Danke.» Ich legte einfach auf, weil ich Bergs aufdringliches Flirten unerträglich fand. Puupponen öffnete die Tür, ein Stück Pizza in der Hand, Koivu trug eine große Pizzaschachtel.
«Ich musste schon mal ein Stück nehmen», grinste Puupponen.
«Dein Hunger muss warten. Unsere Frauenleiche hat jetzt einen Namen. Guck mal nach, was unsere Datenbanken über eine gewisse Saila Lind ausspucken und wem wir die Trauerbotschaft überbringen müssen.»
Ein interessanter Fall, diese Saila Lind. Finnischsprachig, setzt sich aber für den obligatorischen Schwedischunterricht ein. Sie hat massenhaft Feinde in den Chats», berichtete Puupponen mit vollem Mund. Wir waren durch den Regen zum Präsidium gefahren und verspeisten nun im Konferenzraum unserer Einheit die Pizza. «Sie war mal mit einem Schweden verheiratet, mit einem Bo-Anders Lind, die Ehe wurde aber schon sechsundneunzig geschieden. Wohnhaft in Helsinki, Loviisankatu 3 B.»
«Unmittelbare Angehörige?», fragte ich und stand auf, um mir Kaffee nachzugießen. Es stand in den Sternen, wie lang die Nacht werden würde. Es war ein seltsames Gefühl, dass mich zu Hause niemand vermisste, ich würde nicht erklären müssen, warum ich so spät kam, ich brauchte die Sorgenfalten um Anttis Augen nicht zu sehen, wenn er hörte, dass ich es mit einem zweifachen Mord zu tun hatte.
«Nada. Keine Kinder, keine Enkel. Die hätte sie theoretisch auch schon haben können, sie wäre nämlich im November einundfünfzig geworden. Die Fotos, die ich bei Google gefunden habe, sind entweder alt oder retuschiert. Oder die Dame hat sich ungewöhnlich gut gehalten.» Puupponen rieb sich die Augen und gähnte. Der Reserve-Overall schlotterte immer noch an ihm herunter, in seinen Mundwinkeln hing Tomatensoße. «Ihre Eltern sind tot, und dieser Bo-Anders Lind befindet sich wohnhaft in Göteborg. Es sei denn, er ist mit seiner Ex vor Upinniemi schwimmen gegangen.»
«Du hast gesagt, Lind war Finnisch-Muttersprachlerin und trotzdem eine Verfechterin des Schwedischen. Wie meinst du das?» Ich schaltete meinen Computer an und loggte mich ein.
«Gib als Suchbegriffe Zwangsschwedisch und Lind ein, dann kriegst du jede Menge Treffer. Die Dame hat vor ein paar Jahren an einer Fernsehdebatte zum obligatorischen Schwedischunterricht an finnischen Schulen teilgenommen und danach sogar Morddrohungen bekommen. Ich werde wahrscheinlich die ganze Nacht brauchen, um zu checken, von welchen Servern die kamen.»
«Hat sie damals Anzeige erstattet?», fragte Koivu und tippte auf seinem Laptop herum. Sein Handy vibrierte auf dem Tisch, er nahm das Gespräch an.
«Hallo, Juuso. Noch bei der Arbeit. Weiß ich nicht. Mama kann das auch kochen.» Koivu lachte verlegen. «Wahrscheinlich sogar besser als ich. Ja, ich komme bald. Wenn Maria mich gehen lässt.» Er grinste mich an. «Ja, ich richte ihr Grüße aus. Puupponen auch?»
Koivus ältester Sohn Juuso war mein Patenkind. Koivus Frau Anu Wang-Koivu hatte früher im selben Gewaltdezernat der Espooer Polizei gearbeitet wie wir anderen, aber als die Familie wuchs, hatte sie sich auf eine Fünfunddreißig-Stunden-Stelle bei der Jugendpolizei versetzen lassen. Anders wäre der Alltag mit drei Kindern nicht zu bewältigen gewesen.
«Geh ruhig nach Hause», sagte ich. «Puupponen und ich suchen die wichtigsten Infos über Lind zusammen und klären, wie wir morgen in ihre Wohnung kommen. Treffen wir uns um halb neun, die Technik kommt um neun. Guck dir deine Kids besser jetzt an, wo es noch geht. Wer weiß, wie viele Nächte Arbeit uns dieser Fall noch beschert.»
Koivu nickte. Er wusste, dass es von Vorteil war, wenn wenigstens einer von uns morgen ausgeschlafen zur Arbeit kam. Auch Puupponen gähnte immer häufiger. Tapfer widerstand ich der Versuchung, ihn zu fragen, warum er einen Frack und Gummistiefel angehabt hatte. Wir arbeiteten seit mehr als zehn Jahren zusammen, aber über sein Privatleben wusste ich fast nichts. Er gefiel sich in der Rolle des Sprücheklopfers, doch der wahre Ville Puupponen blieb hinter dieser Rolle verborgen.
«Guck dir den Chat vom Hufvudstadsbladet aus dem Juni an. Da haben sich sogar die Finnlandschweden aufgeregt, weil sie fanden, Linds Sprachhysterie würde ihrer Sache nur schaden. Die Lady war echt furchtlos.» Aus Puupponens Stimme klang beinahe so etwas wie Bewunderung. «Glaubst du, das Gericht erlaubt uns, die Identität der Chatter offenlegen zu lassen?»
«Du meinst, es handelt sich um einen sprachpolitischen Mord?» Ich bemühte mich um einen ironischen Tonfall. Die Bedeutung der schwedischen Sprache im offiziell zweisprachigen Finnland hatte in den letzten Jahren erstaunlich heftige Debatten ausgelöst, und bei dem hasserfüllten politischen Klima heutzutage konnte man nicht ausschließen, dass eine Stellungnahme Gewalttaten provozierte.
«Wenn man diese Wortmeldungen liest, kann man nur hoffen, dass diese Typen ihre Aggressionen in den Chats abladen. Meine Fresse, wenn diese Wut in Straßenkrawallen eskaliert, wird es eng für uns.»
Ich hinterließ bei der Verwaltung des Hauses, in dem Saila Lind gewohnt hatte, eine Rückrufbitte, denn ich wollte die Wohnung gleich am nächsten Tag durchsuchen. Es war fast Mitternacht, als ich Puupponen in den Feierabend schickte.
«Wie wäre es mit einem Bier in Grankulla? Pizza macht durstig», meinte er.
«Ich gehe lieber nach Hause.»
«Als Strohwitwe hast du es doch nicht eilig. Wenigstens eins auf die Schnelle im Gran», bettelte Puupponen.
«Willst du im Polizeioverall in die Kneipe oder in deinem Frack?», fragte ich.
«Ach Scheiße, das hatte ich ganz vergessen. Na, in Tapiola gibt’s auch Bier.» Puupponen war kürzlich umgezogen und wohnte nun im Stadtteil Tapiola. «Dann also bis morgen um halb neun. Ich guck noch ein paar Sachen nach.» Es klang, als wolle er allein am Computer sitzen bleiben. Auch ich mochte die späten Stunden auf dem Revier: Die Flure waren leer, nur gelegentlich lieferte ein Streifenwagen einen Betrunkenen ab. Die Sommerwochenenden waren in Espoo ruhig, die Leute tobten sich auf ihren Sommerhütten oder im Zentrum von Helsinki aus. Vor ein paar Wochen hatten Gerüchte vor dem Festival in Silkiniitty gewarnt, das gewaltbereite Jugendliche anlocken würde, doch die Veranstaltung war wegen schlechten Wetters abgesagt worden. Meine Tochter Iida, die einige der Veranstalter kannte, hatte mich wütend gefragt, ob Punker und Indie-Rocker neuerdings zu meinen Feinden zählten. Es fiel ihr mitunter schwer, meinen Beruf zu akzeptieren. Bisher beschränkte sich ihre Rebellion jedoch darauf, dass sie ohne Helm Fahrrad fuhr, und deswegen wurde sie von Antti deutlich häufiger angemotzt als von mir.
Erst am Wochenende vor Schulbeginn würde es wieder hoch hergehen. Die Schupo mobilisierte an diesen Tagen alle verfügbaren Kräfte. Das Ferienende schlug sich auch in der Statistik der häuslichen Gewalt nieder; manchen fiel es schwer, aus dem feuchtfröhlichen Urlaub friedlich in den grauen Alltag zurückzukehren.
Es zog schon wieder ein neues Gewitter auf, ich musste mich beeilen, um nach Hause zu kommen, bevor es losbrach. Kaum war ich eingeschlafen, weckte mich gleißendes Licht: Hundert Blitze pro Minute zuckten über den Himmel, es war so hell, dass man hätte lesen können. Unsere Katzen Jahnukainen und Venjamin rasten durch das Wohnzimmer, das Wetter machte sie unruhig. Erst als es nur noch alle fünf Minuten blitzte, fand ich wieder in den Schlaf.
«Dürfte ich Ihre Dienstausweise sehen?», fragte die Geschäftsführerin Lisa Heino ungeduldig. Sie besaß mehrere Wohnungen in dem Haus Loviisankatu 3 und hatte darauf bestanden, anwesend zu sein, wenn die Polizei in die Wohnung ihrer verstorbenen Mieterin eindrang. Heinos Alter war schwer zu schätzen, es lag irgendwo zwischen Mitte dreißig und Mitte fünfzig. Das Seidenkostüm und die Zehn-Zentimeter-Absätze unterstrichen ihre Autorität, und ihr Make-up war trotz der drückenden Hitze kein bisschen verlaufen.
«Einer dürfte genügen.» Ich hielt der Frau meinen Ausweis hin.
Sie betrachtete ihn eingehend, bevor sie sagte: «In Ordnung. Werfen Sie den Schlüssel anschließend beim Immobilien-Service in den Briefkasten, ich hole ihn dann. Das Schloss muss ohnehin ausgewechselt werden, der Schlüssel von Frau Lind ist ja offenbar … verschwunden.»
«Wir melden uns, falls er gefunden wird», versicherte ich. Frau Heino trippelte davon. Es schien sie nicht im Geringsten zu interessieren, wie es bei Saila Lind aussah. Vielleicht hatte sie die Angewohnheit, auf eigene Faust Stippvisiten in den Wohnungen ihrer Mieter zu machen. Jetzt hatte sie es jedenfalls eilig, zu ihrem nächsten Termin zu kommen.
Es gab keinen Aufzug im Haus, wir stiegen also zu Fuß in den fünften Stock. Koivu kam bereits im dritten ins Schnaufen, während Puupponen mühelos mithielt. Das breite Treppenhaus war spiralförmig geschwungen, an vielen Türen war die Farbe abgeblättert, und die Schlösser wiesen Spuren von Einbruchsversuchen auf. An Saila Linds Tür befanden sich noch mehr Kratzer als an den anderen, und der untere Teil sah aus, als hätte jemand dagegengetreten. Ich schloss auf. Unter dem Briefschlitz häuften sich Gratiszeitungen und Wurfsendungen. Briefe oder reguläre Tageszeitungen waren auf den ersten Blick nicht zu erkennen.
Die Diele war eng, höchstens einen Meter breit und ebenso lang, und das daran angrenzende Zimmer hatte nicht einmal zwanzig Quadratmeter. Es bot gerade einmal Raum für einen kleinen Schreibtisch, ein schmales Bett und einen Esstisch mit zwei Stühlen. Einen Herd gab es nicht, nur eine Kochplatte und eine Espressomaschine. Der Kühlschrank war nur halb so groß wie die Standardmodelle.
«Verdammt noch mal, müssen wir wirklich heute zu deiner Mutter?!» Ich zuckte zusammen, als ich die Männerstimme hörte, so laut, als stünde der Sprecher direkt neben mir. Allerdings kam sie aus der Nachbarwohnung. Die Antwort hörte ich nicht, und nach einer kurzen Pause setzte die nasale Männerstimme ihre Tirade fort.
«Mit der Schallisolierung gewinnt man hier keinen Blumentopf», stellte Koivu fest und zog die Wohnungstür zu. «Und mit dem Platz auch nicht. Selbst eine Gefängniszelle ist größer als diese Bude.»
An der Aussicht war dagegen nichts auszusetzen. Das einzige Fenster ging auf einen felsigen Park hinaus, in dem ein paar optimistische Urlauber auf Decken lagen, obwohl sich die Sonne hinter den Wolken verbarg. Der Blick reichte bis zum Stadtteil Pasila hinüber. Als ich das Fenster öffnete, drangen fröhliches Kreischen und das Geratter der Fahrgeräte vom Vergnügungspark Linnanmäki herein. Es war nicht leicht gewesen, einen Parkplatz zu finden, obwohl man ein Polizeifahrzeug, selbst wenn es unmarkiert war, überall abstellen durfte.
Laut Auskunft der Vermieterin hatte Saila Lind seit Anfang März in der Loviisankatu gewohnt, also weniger als ein halbes Jahr lang. Das Zimmer wirkte wie eine provisorische Bleibe. Die Wände waren leer, hellere Quadrate zeigten an, wo die Vormieter Bilder aufgehängt hatten. Auf der gefütterten blauen Tagesdecke lagen zwei Zierkissen, in den Schränken stand nur das notwendigste Geschirr: vier Kaffeetassen, zwei Teller, ein Topf und eine Bratpfanne, einige Gläser und zwei Plastikschüsseln. Der Kühlschrank enthielt eine ungeöffnete Halbliterpackung H-Milch und zwei Eier, im Tiefkühlfach lag außerdem eine Packung Espresso. Im Speiseschrank entdeckte ich drei verschiedene Tüten Fertigsuppe und eine Dose Tomatenmark.
Von der Diele gingen zwei weitere Türen ab, die in schrankgroße Verschläge führten. Der erste, unmittelbar neben der Wohnungstür, bot gerade genug Platz für die Toilette. Koivu setzte sich zu Demonstrationszwecken darauf und behauptete, die Tür gehe nicht mehr zu.
Der zweite Verschlag beherbergte eine Duschzelle mit Waschbecken. Auf der Glasplatte vor dem Spiegel lagen eine Zahnbürste, ein Epilator und einige Tuben mit Hautpflegeprodukten. Es handelte sich um eine teure Marke, die nur in Spezialgeschäften verkauft wurde, ein seltsamer Kontrast zu der ansonsten ärmlichen Ausstattung.
Neben dem Fenster stand ein Schrank, der ursprünglich offenbar als eine Art Speisekammer gedacht gewesen war. Er enthielt Kleidungsstücke: zwei Sommerkleider, eine Baumwolljacke, Unterwäsche, hochhackige Sandalen und Tennisschuhe. Kaufhausware, wie ich sie auch kaufte, wenn ich es mir nicht leisten konnte, Zeit oder Geld auf Klamotten zu verschwenden. Ganz hinten im Schrank lag ein dickes rotes Fotoalbum. Ich schlug es auf.
Die Frau auf den Fotos war diejenige, deren Leiche ich am Tag zuvor gesehen hatte. Der Kontrast zu der aufgedunsenen, blassen Toten war immens. Von den Kleidern, der Frisur und dem Make-up zu schließen stammten die ersten Aufnahmen vom Ende der siebziger Jahre. Auf die letzten Fotos war ein Datum aus dem vorigen Sommer gedruckt. Saila Lind war nicht mehr jung gewesen, doch die Jahre waren gnädig mit ihr umgegangen. Ihre Haare leuchteten immer noch goldblond, sicher künstlich aufgehellt, der Körper war schlank und durchtrainiert. Um den Mund und am gebräunten Dekolleté hatten sich allerdings Fältchen gebildet. Auf allen Aufnahmen hatte sich Saila Lind in Pose geworfen, auf einigen stand auch der Name des Fotografen. Auf dem allerletzten Bild trug sie ein eng tailliertes, hellblaues Kleid mit weißen Punkten, darunter einen steifen Petticoat. Auch die Haare waren im Stil der fünfziger Jahre frisiert, der rote Lippenstift und der dicke schwarze Lidstrich erinnerten an Marilyn Monroe.
Schmuck, Make-up und anderer weiblicher Krimskrams fehlten im Zimmer. Berg hatte erwähnt, dass Saila Lind den Sommer oft bei ihren Verwandten in Vormö verbracht hatte. Soweit ich mich erinnerte, lag Vormö im Schärengebiet von Inkoo, nicht weit von dem Ort entfernt, wo Anttis Eltern früher ein Sommerhaus gehabt hatten.
Bei der Besprechung am Morgen hatten die Techniker gemutmaßt, die Morde seien wahrscheinlich an Land geschehen und die Leichen anschließend aufs Meer gebracht und dort ins Wasser geworfen worden. Es war merkwürdig, dass sie nicht mit Gewichten beschwert worden waren, die sie in die Tiefe gezogen und unauffindbar gemacht hätten. Vielleicht waren die Gewichte nicht ordentlich befestigt gewesen und hatten sich gelöst. Die technischen Ermittlungen nahmen Zeit in Anspruch, und die Obduktionen konnten frühestens am Dienstag stattfinden, weil sich in der Pathologie wegen der Urlaubszeit die Fälle stauten. Es gab nicht mehr Sommerhausunfälle und im Suff Ertrunkene als sonst, aber auch diese an sich eindeutigen Fälle konnte man nicht allzu lange in den Kühlfächern der Leichenkammer liegen lassen. Sie mussten obduziert und zur Beerdigung freigegeben werden, damit die Angehörigen beginnen konnten, ihre Trauer zu verarbeiten.
Ein Experte für Meeresströmung des Meteorologischen Instituts klärte die mutmaßliche Treibrichtung ab, und ein auf Meeresorganismen spezialisierter Biologe würde das an den Leichen gefundene Plankton untersuchen. Auch das würde darüber Aufschluss geben, wo die Toten im Meer getrieben waren. Die Wissenschaftler wetteiferten dem Vernehmen nach um Polizeiaufträge, die eine willkommene Abwechslung von der Schreibtischarbeit boten, denn kaum ein Meeresforscher unternahm heute noch abenteuerliche Forschungsreisen in ferne Gewässer. Der technische Modellierer der Zentralkripo rekonstruierte anhand der Gesichtsknochen der männlichen Leiche ein Antlitz als Grundlage für unsere Suche. Die Ergebnisse der DNA-Analyse würden gegen Ende der Woche vorliegen. Ich hatte den Medien nur eine kurze Mitteilung zukommen lassen, die besagte, in den Gewässern von Upinniemenselkä seien zwei Leichen gefunden worden. Dennoch hatten wir bereits einige Hinweise erhalten, welche die Assistentin unserer Abteilung, Jenna Ström, gerade abklärte. Saila Linds Name konnte veröffentlicht werden, sobald wir ihre nächsten Angehörigen benachrichtigt hatten. Vielleicht würde diese Freigabe auch zur Identifizierung der männlichen Leiche beitragen.
Saila Linds Schreibtisch hatte zwei Schubladen. Koivu öffnete die obere. Sie enthielt Briefumschläge, einen Handy-Vertrag und einen Kalender vom Vorjahr. Koivu blätterte darin. Plötzlich straffte er sich, und seine Lippen verzogen sich zu einem leisen Lächeln.
«Eine sorgsame Frau. Hat alle Namen und Adressen notiert. Als nächster Angehöriger ist ein Harri Tanner vermerkt», sagte er.
«Harri Killer Tanner? Der legendäre Rechtsaußen des eisernen Dreiecks? Der Halter des Allzeitrekords an Torvorlagen in der finnischen Eishockeyliga, erzielt in der Saison 76/77? Der beste Bankstrafenüberwinder in der Nationalmannschaft, der sogar der Fünf-zu-drei-Übermacht der Russen standgehalten hat? Der bei KalPa angefangen und später bei Tappara und beim HIFK gespielt hat?» Puupponens Stimme hatte sich um mindestens eine Quarte höhergeschraubt. Eishockey war seine Leidenschaft. «Aber was verbindet Tanner mit Saila Lind?»
«Moment mal … Berg hat irgendwas erwähnt. Sie war wohl Tanners Schwägerin.»
«Na klar! Sie muss die Schwester von Tanners verstorbener Frau gewesen sein! Tanners Sohn Patrik hat auch Eishockey gespielt, aber seine Karriere endete vor ungefähr fünf Jahren durch eine Kopfverletzung. Damals wurde viel über das tragische Schicksal der Familie gesprochen, Tanners Frau war nämlich ein paar Jahre zuvor an Krebs gestorben!» Puupponen glänzte nun mit seinem Wissen, von seiner gestrigen Erschöpfung war nichts mehr zu spüren.
«Wie kannst du dich an all das erinnern?», wunderte sich Koivu.
«Tanner hat unsere Nachwuchsmannschaft in Kuopio besucht, als ich neun war. Ich habe von ihm ein Autogramm auf mein Schlägerblatt bekommen, den Schläger habe ich immer noch. Zum Spielen habe ich ihn natürlich nie mehr benutzt, dafür war er mir zu schade. Aber ich habe Tanners Laufbahn ziemlich genau verfolgt. Irgendwann ist er in die Politik gegangen, er war auch mal eine Legislaturperiode lang im Parlament. Vermutlich habe ich ihm damals sogar meine Stimme gegeben.»
«Hervorragend, Ville. Und wo finden wir den Mann?»
Puupponen hatte die Adressen bereits auf seinem Laptop herausgesucht. «Er ist in Espoo gemeldet, im Westend. Aber er hat auch eine Villa in Vormö, in der Nähe des Upinniemenselkä. Gar nicht so weit von der Stelle, wo Kalle Laine die Leichen entdeckt hat.»
«Tatsächlich. Steht da für Tanner auch eine Handynummer?»
«Sogar zwei.»
«Okay, dann gib mir die erste. Pekka, stell dich schon mal auf die nächste Seefahrt ein. Gut möglich, dass Saila Lind ihre letzte Nacht in Vormö verbracht hat.»
Koivu seufzte übertrieben dramatisch. «Zum Glück ist für die nächsten Tage weniger stürmisches Wetter angesagt. Ich muss wohl mitkommen, denn Puupponen kann Killer-Tanner sicher nicht objektiv vernehmen. Bewundert habe ich den Mann allerdings auch, er hat sogar Erich Kühnhackl gestoppt.»
Ich gab Puupponen mein Handy. Er tippte Harri Tanners Nummer ein und reichte es mir mit großer Geste wieder. Ich hatte mich von Kind an mehr für Fußball begeistert als für Eishockey, aber da mein Vater alle Sportsendungen fanatisch verfolgte, hatte ich mit ihm zusammen auch zahllose Eishockeyspiele gesehen. Vage erinnerte ich mich an das kantige Gesicht von Killer-Tanner. Seine Stimme hätte ich allerdings nicht erkannt.
«Tanner», sagte er.
«Harri Tanner?», vergewisserte ich mich.
«Ja.» Die tiefe Stimme klang reserviert, aber gelassen.
«Kriminalkommissarin Maria Kallio von der Espooer Polizei. Es geht um Saila Lind. Sie sind in ihren Papieren als nächster Angehöriger vermerkt.»
«In welchen Papieren? Ist Saila etwas zugestoßen? Sie brauchen nicht um den heißen Brei herumzureden. Ich bin an schlechte Nachrichten gewöhnt.»
In der Regel zog ich es vor, Todesnachrichten persönlich zu überbringen, doch diesmal musste ich anders vorgehen.
«Wir haben eine Leiche gefunden, von der wir annehmen, dass es sich um Ihre Schwägerin Saila Lind handelt. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?»
«Am Freitag. Was heißt ‹gefunden› und ‹annehmen›? Wo ist Saila?»
«Wo sind Sie?», fragte ich zurück. Wir brauchten jemanden, der sie eindeutig identifizierte, Jon Bergs Vermutung genügte nicht.
«Ich bin gerade zu Hause im Westend, hatte aber vor, am Abend nach Enholm zurückzufahren. Jetzt sieht die Sache natürlich anders aus.» Tanner blieb unverändert ruhig, obschon in seinen sorgfältig abgewogenen Worten Besorgnis mitschwang.
«Sie können also ins rechtsmedizinische Institut in der Kytösuontie kommen, um die Tote zu identifizieren? Wann könnten Sie dort sein?»
«Wann immer es Ihnen passt.»
Wir vereinbarten ein Treffen um halb zwei. Das ließ uns Zeit, vorher zu Mittag zu essen. Als junge Polizistin hätte ich es noch für geschmacklos gehalten, vor einem Besuch im Leichenschauhaus zu essen. Im Lauf der Jahre hatte ich jedoch gelernt, dass Hunger bei mir zu Unaufmerksamkeit und Übelkeit führte. Nachdem wir Saila Linds wenige Unterlagen eingesammelt hatten, fuhren wir zum Nepalesen in der Nordenskiöldinkatu. Ich stärkte mich mit Palak Paneer, während Koivu und Puupponen scharfes Lammcurry wählten.