Wer radelt, der findet - Gereon Alter - E-Book

Wer radelt, der findet E-Book

Gereon Alter

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Beschreibung

Mit meinem Gott überspringe ich Mauern

»Eine Radreise ist für mich nicht nur eine sportliche Herausforderung oder eine Jagd nach besonderen Erlebnissen. Sie ist immer auch eine Reise zu mir selbst, zu anderen Menschen und zu Gott.« Gereon Alter

Dass das Radreisen eine gesunde, umweltverträgliche und abwechslungsreiche Urlaubsform ist, hat sich längst herumgesprochen – einmal mehr seit der Pandemie. Was vielleicht noch nicht jeder weiß: Ein Radurlaub kann auch zu einer Reise durch das eigene Leben werden. Denn wer auf dem Fahrradsattel durch die Welt fährt, bekommt es mit seiner Kraft und seinen Grenzen zu tun, mit seiner Lust auf Neues und seiner Angst vor dem Fremden, mit seiner Sehnsucht nach Gemeinschaft und dem Bedürfnis allein zu sein – kurzum: mit allem, was das Leben auch sonst ausmacht. Und in all dem kann man auch Gott begegnen.

Gereon Alter hat reichlich Erfahrung damit. Der aus dem Fernsehen bekannte und beliebte Pfarrer hat schon mehr als 70 Reisen mit dem Rad unternommen, kürzere und längere, in einer Gruppe, zu zweit oder auch allein. Er ist alten Pilgerwegen gefolgt, endlosen Highways und ruppigen Pisten; hat Millionenstädte durchquert, reißende Flüsse und einsame Wüsten; ist in der Sahara unterwegs gewesen, im Himalaya und in Alaska. Begonnen hat das alles mit einer unbändigen Lust aufs Leben; aufs Entdecken und Ausprobieren; auf das, was im Leben wirklich zählt. Und davon erzählt er in diesem Buch.

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Mit meinem Gott überspringe ich Mauern

Gereon Alter liebt das Fahrradfahren. Und er hat reichlich Erfahrung damit. Der aus dem Fernsehen bekannte und beliebte Pfarrer hat schon mehr als 70 Reisen mit dem Rad unternommen, kürzere und längere, in einer Gruppe, zu zweit oder auch allein. Er ist alten Pilgerwegen gefolgt, endlosen Highways und ruppigen Pisten; hat Millionenstädte durchquert, reißende Flüsse und einsame Wüsten; ist im herrlich grünen Irland unterwegs gewesen, in Norwegen bis zum Polarkreis vorgedrungen und in Rumänien derart gastfreundlichen Menschen begegnet, dass es ihm die Sprache verschlagen hat. Begonnen hat das alles mit einer unbändigen Lust aufs Leben; aufs Entdecken und Ausprobieren; auf das, was im Leben wirklich zählt. Und davon erzählt er in diesem Buch.

»Das Buch, das Sie in Händen halten, ist weder ein Reiseführer noch ein Praxisratgeber. Deshalb werden Sie darin auch keine Routenvorschläge, Ausrüstungslisten und Übernachtungstipps finden. Es ist ein Buch, das Sie zuerst und vor allem animieren will, Ihrem eigenen Leben auf die Spur zu kommen. Der Sehnsucht, die in Ihrem Herzen steckt. Dem Abenteuer, das Ihnen entspricht.«

Gereon Alter

WERRADELT,DERFINDET

Aus den Reisetagebüchern desFahrrad-Pfarrers

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit konnte eine gendergerechte Schreibweise nicht durchgängig eingehalten werden. Bei der Verwendung entsprechender geschlechtsspezifischer Begriffe sind im Sinne der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich alle Geschlechter angesprochen.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: zero-media.net

Umschlagmotiv: © Sarah Zunk für FinePic®, München

Innenteilabbildungen: © privat, Bild 1, Bild 2, Bild 3, Bild 4, Bild 5, Bild 6, Bild 7, Bild 8, Bild 9, Bild 10; © Sarah Zunk für FinePic®, München, Bild 1, Bild 2, Bild 3, Bild 4, Bild 5, Bild 6, Bild 7; stock.adobe.com (Fahrrad – Sabavector, siehe hier, U4; Hand – Dzianis Vasilyeu / Kreuz Line Art – RosRak Creative, Bild 1, Bild 2, Bild 3, Bild 4, Bild 5, Bild 6, Bild 7)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-31372-2V002

www.koesel.de

Inhalt

1. Bekenntnis eines Fahrrad-Pfarrers

2. Am Anfang war das Tohuwabohu Sauerland und Mosel

3. Der Weg, die Wahrheit und das Leben

4. Wenn viele gemeinsam träumen ... Irland

5. Sie aber verstanden einander nicht

6. Herr, mein Gott, wie groß bist du! Island

7. Er ist in allem

8. Mit meinem Gott überspringe ich Mauern Norwegen

9. Agere contra – Gegensteuern

10. Nehmt und esst! Ungarn und Rumänien

11. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen

12. Leben in Fülle Griechenland

13. Wer radelt, der findet

Dank

Über den Autor

Irland 1984

Neun müde, aber glückliche Jungs auf dem Heimweg von ihrer ersten großen Tour.

Island 1988

Auf einer Lavapiste den steilen Hang hinauf.

Wieder viel zu viel mitgenommen!

Manchmal muss man sein Rad halt tragen.

Norwegen 1990

Glücksgefühle

Am Polarkreis!

Hochsommer auf der Hardangervidda.

Ungarn/Rumänien 1991

Wie gut, dass es auch auf Deutsch da steht!

Griechenland 1992

Waschtag.

1

Bekenntnis eines Fahrrad-Pfarrers

Meine Hände schmiegen sich um die ergonomisch geformten Lenkergriffe, die Fußballen tasten sich auf die Pedale und finden Halt, ich stoße mich ab und gleite in den noch kühlen Ledersattel. Die erste Umdrehung des Kettenblatts, das sanfte Klicken der Gangschaltung, das Surren der Räder, das sich mit dem Rauschen des Windes vermählt … Es klingt wie die behutsam einsetzende Ouvertüre zu einer großen Symphonie. Von Takt zu Takt fügt sich Neues ein: das Sonnenlicht, das durch die Baumwipfel blinzelt, das Wiegen der Gräser am Straßenrand, das Flattern der Vögel, die mich mal begleiten, mal aufgeregt vor mir herfliegen, das freundliche Grüßen eines Menschen … Mein Atem wird tiefer und gleichmäßiger. Ich spüre meinen Körper, seine wohlige Wärme, die wachsende Kraft. Der Kopf wird frei, der Alltag entflieht. Ich liebe es, mit dem Rad unterwegs zu sein!

Am Anfang glich diese Liebe einem winzigen Senfkorn. Mit der Zeit ist daraus ein riesiger Baum geworden. Eine ausgewachsene Liebesgeschichte. Begonnen hat diese Liebesgeschichte vor mehr als vierzig Jahren, als das Wort »Radreise« für viele noch ein Fremdwort war. Als es noch keine E-Bikes gab, keine Fitness-Tracker und Navigationsgeräte, nicht mal eine ordentliche Fahrradkarte. Meine ersten Touren habe ich auf einem schlichten Jugendrad unternommen, mit dem ich ansonsten zur Schule gefahren bin. Zunächst waren es nur Tagestouren. Dann eine erste Ausfahrt mit Übernachtung. Und schließlich die erste Unternehmung, die man als Radreise bezeichnen könnte.

Mittlerweile habe ich über 50 Länder mit dem Fahrrad bereist, mehr als 70 große Touren unternommen und eine Vielzahl kleinerer. Ich habe mein Rad durch den feinen Sand der Sahara geschoben, mich in die dünne Luft des Himalaya hinauf gewagt und in das von Bären und Moskitos beherrschte Alaska. Ich bin alten Pilgerwegen gefolgt, endlosen Highways und ruppigen Pisten, habe das windumtoste Nordkap erreicht, den majestätischen Kilimandscharo und die sagenumwobenen Pyramiden der Azteken.

Das alles begann mit einer großen Sehnsucht. Der Sehnsucht nach dem, was jenseits des schon Bekannten liegt. Ich hatte, als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war, bereits die Hälfte aller Karl-May-Bände gelesen. Jack Londons Ruf der Wildnis stand in meinem Bücherregal, Knut Hamsuns Segen der Erde und Michael Holzachs Das vergessene Volk. Ich habe die Fernsehserie Daktari geliebt, die in British Columbia gedrehten Lassie-Filme und natürlich Winnetou. All diese Geschichten haben in mir ein tiefes Fernweh geweckt, das sich mindestens ebenso schmerzhaft anfühlen konnte wie das Heimweh am Ende einer Klassenfahrt.

Mein erster Ansatz, dieses Fernweh zu stillen, war es, einer kirchlichen Jugendgruppe beizutreten, aus der dann später ein ausgewachsener Pfadfinderstamm geworden ist. Denn da wurden regelmäßig Fahrten unternommen. Mal ging es in die Berge, mal ins Zeltlager, mal auf eine Fahrradtour. Das waren ungemein spannende Unternehmungen und wunderschöne Gemeinschaftserlebnisse, für die ich bis heute dankbar bin. Aber es zog mich weiter hinaus. In Länder, die für unsere Pfadfinderlager nicht infrage kamen – zu teuer, zu aufwendig, zu weit entfernt. Doch zum Glück gab es meinen Freund Alex. Denn der hatte nicht nur dieselben Bücher gelesen wie ich, er trug auch das gleiche unbändige Fernweh in sich: die Lust, andere Länder kennenzulernen, den Drang, aufzubrechen, die Neugier auf Menschen, die man noch nicht kennt. Mit ihm habe ich eine ganze Reihe von Touren unternommen – und dabei unter anderem gelernt, dass eine Radtour durch ferne Länder überhaupt nicht aufwendig und teuer sein muss. Eine Tour durch Island zum Beispiel, das schon damals exotischste und teuerste Reiseland Europas, hat uns nur unwesentlich mehr gekostet als das vorjährige Pfadfinderlager. Zugegeben: Wir haben äußerst spartanisch gelebt. Aber das gehörte einfach dazu. »Die weite Welt für wenig Geld« – so oder so ähnlich könnte man diese frühe Phase meiner Radreise-Geschichte überschreiben.

Aus der Not ist mittlerweile eine Tugend geworden, aus dem Geldmangel eine ganz eigene Reiseform: mit dem Nötigsten auskommen; einfach und umweltverträglich reisen; nah bei den Menschen und in der Natur sein; mich nicht gegen alles und jedes absichern; auch mit Unvorhergesehenem klarkommen, es sogar als reizvoll empfinden. Die Amerikaner nennen diese Art des Reisens adventure cycling und bringen es damit auf den Punkt. Es geht nicht darum, sportliche Höchstleistungen zu vollbringen, möglichst weite Strecken zu fahren oder in vielen Ländern gewesen zu sein. Es geht darum, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Auf etwas Herausforderndes. Auf etwas so noch nicht Gekanntes. Auf neue Eindrücke und Einsichten.

Ich habe durch meine Radreisen ungemein viel gelernt. Schon, als ich noch ein Schüler war. Da kam meine Mutter eines Tages von einem Elternsprechtag zurück und erzählte mir voller Stolz, dass sowohl mein Englisch- als auch mein Erdkundelehrer sich lobend über mich geäußert hätten, weil meine Noten nach oben geklettert seien und ich mich viel aktiver in den Unterricht einbringen würde. »Das hat wohl mit den Radtouren Ihres Sohnes zu tun«, habe ihr der Erdkundelehrer gesagt. Und tatsächlich: Ich habe auf einmal nicht mehr nur für die Schule gelernt, sondern auch um mich auf meiner nächsten Tour besser verständigen zu können oder um noch mehr über ein bestimmtes Land zu erfahren.

Aus diesem frühen Wissensdurst ist im Laufe der Zeit ein sehr viel breiteres und tieferes Interesse an der Welt und ihren vielen Geheimnissen geworden. Meine Radreisen haben mir Einblick in fremde Kulturen und Religionen gewährt. Ich bin mit den verschiedensten politischen Systemen in Kontakt gekommen und habe Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten kennengelernt. Ich habe begriffen, was Armut bedeutet und was sie mit einem Menschen macht. Mein Verständnis für den Nord-Süd-Konflikt und andere globale Zusammenhänge ist gewachsen. Ich bin sensibler für all die Fragen des Klima- und Umweltschutzes geworden, die uns heute mehr denn je beschäftigen. Es ist etwas anderes, darüber nur in der Zeitung zu lesen oder durch einen dreiminütigen Fernsehbeitrag informiert zu werden, als es mit eigenen Augen zu sehen und am eigenen Leib zu spüren.

Irgendwann musste ich schauen, wie sich meine Sehnsucht nach fernen Ländern und Kulturen mit jener anderen Sehnsucht vereinbaren lässt, die ich ebenfalls in mir trug und die schließlich meinen beruflichen Werdegang bestimmt hat. Im Kern war das eine ganz ähnliche Sehnsucht. Denn auch sie war auf ein »Jenseits« des schon Bekannten gerichtet. Aber sie hat sich doch ganz andere Wege gesucht. Ich habe Theologie studiert, bin Priester geworden und arbeite seitdem in der Gemeindeseelsorge. Während des Studiums war es noch relativ leicht, beide Leidenschaften unter einen Hut zu bekommen. Denn da gab es ja die Semesterferien. Nach der Priesterweihe wurde es dann schon schwieriger. Denn zu bestimmten Zeiten hat ein Priester schlichtweg in seiner Gemeinde zu sein. Das gilt vor allem für den Advent und die Weihnachtszeit, die Fasten- und die Osterzeit, die vielen Feiertage im Mai, die Schulferien, in denen all die verreisen, die Kinder im schulpflichtigen Alter haben, und für den berühmt-berüchtigten »heißen Herbst«, in dem eine Veranstaltung die nächste jagt – also zu fast allen Zeiten im Jahresverlauf, in denen man üblicherweise Urlaub macht. Und dennoch habe ich das Radreisen nicht drangegeben. Ich habe es sogar neu entdeckt: als eine Art Rettungsinsel, die mich davor bewahrt, in den vielen Anforderungen meines Berufes unterzugehen.

Ob denn so eine Radreise wirklich erholsam sei, werde ich immer wieder gefragt. Das sei doch auch sehr anstrengend? Natürlich kostet es auch Kraft, den ganzen Tag an der frischen Luft zu sein, stundenlang in die Pedale zu treten und ständig an anderen Orten zu schlafen. Gerade das aber empfinde ich als erholsam. Weil es genau das Gegenteil dessen ist, was meinen Alltag oft bestimmt: die trockene Büroluft, die vielen Gespräche, die Schreibtischarbeit, der Bewegungsmangel und das immer gleiche Bett, in das ich mich Abend für Abend hineinfallen lasse. Das Unterwegssein mit dem Rad tut nicht nur meinem Körper gut, es erfrischt auch meine Seele und meinen Geist. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, meinen Jahresurlaub in einer All-inclusive-Anlage oder einem Priestererholungsheim zu verbringen, wie es manche meiner Amtsbrüder tun.

Dass meine Radreisen nicht nur der Erholung dienen, sondern sich auch motivierend und inspirierend auf mein berufliches Tun auswirken, ist mir erst nach und nach aufgegangen. Am deutlichsten spüre ich das bei meinen Predigten. In den Gottesdiensten kurz vor einer Radreise, wenn die letzte schon Monate, manchmal ein ganzes Jahr zurückliegt, fällt mir das Predigen oft schwer. Ich fühle mich müde und ideenlos. Mir fehlt es an guten Gedanken und Worten. Kehre ich dagegen von einer Tour zurück, sprudelt es nur so aus mir heraus. Dann ist mein Reden wieder kraftvoll, anschaulich und lebensnah.

Ob ich ohne diese Motivations- und Inspirationsquelle wohl noch Priester wäre? Diese Frage habe ich mir schon einige Male gestellt, und ich stelle sie mir von Jahr zu Jahr ernsthafter. Denn die katholische Kirche in Deutschland steckt bekanntermaßen in einer schweren Krise, die sie zu einem Großteil selbst verschuldet hat. Durch Verbrechen an Kindern und Schutzbefohlenen, durch die damit einhergegangenen Verdrängungs- und Vertuschungsversuche, einen fragwürdigen Korpsgeist, problematische Formen der Machtausübung und Ähnliches mehr. Die Auswirkungen dieser vor allem auf der Leitungsebene angesiedelten Probleme bekomme ich bis in die feinsten Verästelungen meiner Arbeit hinein zu spüren.

Manche meiner Pfarreimitglieder hauen auf den Tisch, fordern grundlegende Veränderungen und setzen sich auch dafür ein. Die Mehrheit aber scheint wie in eine Schockstarre gefallen zu sein. Und das vor allem macht mir zu schaffen. Ich habe es in meiner Arbeit zunehmend mit Menschen zu tun, die sich überhaupt nicht vorstellen können, dass Kirche anders aussehen kann, als sie es in der Vergangenheit erlebt haben – dabei verkennen sie, dass viele der genannten Probleme gerade in dieser Vergangenheit ihren Ursprung haben. Da wird dann auf ermüdend-kleingeistige Weise um traditionelle Besitzstände gerungen, anderen das Katholischsein abgesprochen oder ein nur noch auf das Vertraute gerichteter Rückzug angetreten.

Auf meinen Radreisen erlebe ich hautnah, dass Kirche auch anders sein kann. Vielfältiger, kreativer, lebensrelevanter. Natürlich haben auch christliche Gemeinschaften in anderen Ländern ihre Probleme, und man sollte das, was sie tun, nicht eins zu eins nach Deutschland importieren. Aber anregend ist es allemal. Deshalb suche ich auf meinen Reisen ganz bewusst Kontakt zu Kirchengemeinden und Missionsstationen. Ich schaue mir ihre Einrichtungen an, besuche ihre Gottesdienste und unterhalte mich, so gut es geht. Dadurch ist mir schon so manche gute Idee für meine Arbeit in Deutschland gekommen …

Das Reisen mit dem Rad ist also ein ausgesprochen facettenreiches Unternehmen. Es tut dem Körper, dem Geist und der Seele gut. Es ist eine wunderbare Lebensschule. Und es macht ganz einfach Spaß. Darum geht es in diesem Buch. Und darum, Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auf den Geschmack zu bringen.

Sie müssen dazu nicht gleich aufs Fahrrad steigen. Das Buch, das Sie in Händen halten, ist weder ein Reiseführer noch ein Praxisratgeber. Deshalb werden Sie darin auch keine Routenvorschläge, Ausrüstungslisten und Übernachtungstipps finden. Es ist ein Buch, das Sie zuerst und vor allem animieren will, Ihrem eigenen Leben auf die Spur zu kommen. Der Sehnsucht, die in Ihrem Herzen steckt. Dem Abenteuer, das Ihnen entspricht. Vielleicht ist es für Sie ja eher ein Abenteuer, sich mal Zeit für sich selber zu nehmen, als eine Urlaubsreise zu planen. Oder Sie sehnen sich gar nicht nach fernen Ländern und Kulturen, sondern eher nach einer Veränderung in Ihrem Alltag. Auch dann kann das Buch Sie inspirieren. Denn auch wenn ich im Folgenden über ganz konkrete Reiseerlebnisse berichte, schwingen dabei doch immer auch sehr grundsätzliche Fragen mit. Was macht mein Leben eigentlich aus? Was sollte ich tun und was besser nicht? Was erfüllt mich und was raubt mir die Kraft? Welcher Weg ist der richtige für mich?

Ich habe auf den meisten meiner Radreisen ein Tagebuch geführt. Nicht bloß um die Tageskilometerleistung, das Wetter und den Übernachtungsort festzuhalten, sondern auch um das Gesehene und Erlebte zu reflektieren. Welchen Menschen bin ich begegnet? Welche Worte sind mir hängen geblieben? Wo habe ich mich fremd und wo zu Hause gefühlt? Vielleicht ist ja auch das eine Anregung für Sie. Machen Sie sich ruhig Notizen, wenn Sie in diesem Buch auf etwas stoßen, das mit Ihrem Leben zu tun hat. Auf eine Frage, einen Gedanken oder eine Anregung. Werden Sie neugierig auf Ihre eigene Lebensreise und haben Sie Mut, sich mit Haut und Haar auf sie einzulassen!

Und die konkrete Radtour, was ist mit der? Natürlich möchte ich auch dazu animieren. Sie haben so etwas noch nie gemacht? Keine Sorge: Es braucht nicht viel. Das werden Sie ganz schnell feststellen. Sie haben schon Radreisen unternommen? Dann versuchen Sie sich doch mal an etwas, das Sie noch nicht gemacht haben. Statt wieder einem Flussradweg zu folgen, mal in die Berge. (Ja, das geht. Das kann sogar richtig lustvoll sein!) Statt durch die bestens vertrauten Niederlande mal ins noch nicht so bekannte Norwegen. Statt in der Gruppe mal zu zweit oder auch allein. Oder ändern Sie doch mal etwas an der Art und Weise Ihres Unterwegsseins. Wählen Sie eine kürzere Strecke und genießen Sie diese umso mehr. Nehmen Sie einen Gedanken oder eine Frage mit auf Ihre Tour. Achten Sie einmal ganz bewusst darauf, wer Ihnen unterwegs begegnet und was er oder sie Ihnen zu sagen hat. »Mach einen Unterschied, der einen Unterschied macht«, rät der berühmte Psychologe Paul Watzlawick. Denn schon ein kleiner Unterschied kann eine große Veränderung bewirken. Es gibt so viele Möglichkeiten, eine Radreise zu unternehmen und dabei Neues zu entdecken. Tun Sie es einfach! Es lohnt sich sehr.

Ich erzähle Ihnen auf den folgenden Seiten ganz bewusst von meinen ersten Unternehmungen mit dem Rad. Von Touren, die ich in Deutschland und anderen europäischen Ländern unternommen habe. Denn man muss nicht durch die Sahara, den Himalaya oder Alaska fahren, um ein Abenteuer zu erleben. Wenn Sie Interesse an meinen exotischeren Touren haben, dann werfen Sie einen Blick in meinen Blog: www.radweh-blogspot.com. Dort habe ich fast alle meine Reisen fotografisch und textlich dokumentiert. Von manchen habe ich auch in Radiosendungen erzählt. Die Links zu diesen Sendungen finden Sie ebenfalls in meinem Blog. Und dann gibt es noch die Möglichkeit, eine der Multivisionsshows zu besuchen, die ich gelegentlich anbiete. Die Termine und Veranstaltungsorte finden Sie – Sie ahnen es – in meinem Blog.

Sind Sie bereit? Dann lassen Sie uns starten. Holen wir das Fahrrad aus dem Keller und schwingen wir uns gemeinsam in den Sattel. Fahren wir hinaus in diese wunderbare Welt, in der es noch so viel zu entdecken gibt!

2

Am Anfang war das Tohuwabohu

Sauerland und Mosel

Meine ersten Radreisen waren ziemlich chaotisch. Jene Tour mit meinem Cousin Roman zum Beispiel, von der ich gar nicht mehr sagen kann, in welchem Jahr wir sie unternommen haben, an die ich mich aber selbst nach Jahrzehnten noch sehr genau erinnere – eben weil sie das reinste Tohuwabohu war. Wir hatten Weihnachtsferien und Langeweile. »Lass uns eine Radtour machen.« – »Im Winter?« – »Ja, warum nicht?« – »Und wohin?« – »Wie wär’s, wenn wir ins Sauerland fahren?« Das Sauerland war für uns, die wir im »Kohlenpott« zu Hause waren, das erste größere Stück Natur, das sich mit dem Fahrrad erreichen ließ. Es liegt nicht mal eine Tagesetappe von unserer Heimatstadt Gelsenkirchen entfernt. »Also gut, lass uns ins Sauerland fahren.«

Zwei Tage später saßen wir im Sattel. Es war nasskalt, wir waren untrainiert, trugen dicke steife Jeans und hatten unsere schlichten Jugendräder mit allerlei nützlichem und weniger nützlichem Zeug beladen. Eine Straßenkarte im Maßstab 1:400.000, auf der kein einziger Radweg eingezeichnet war, wies uns den Weg. Am ersten Tag ging es vor allem darum, das Ruhrgebiet hinter uns zu lassen. Auf stark befahrenen Straßen, bei Wind und Regen, von einer roten Ampel zur anderen. Es war nicht wirklich ein Vergnügen. Kurz vor Einbruch der Dämmerung erreichten wir dann die erste Jugendherberge, völlig durchnässt und ausgepowert. Die feuchten Klamotten kamen in den Trockenraum und die Packtaschen unter das Etagenbett. Dann ging es in den Speisesaal. Der Herbergsvater tischte Nudeln mit Tomatensauce auf und jede Menge Apfelsaft. Schon bald danach waren wir derart müde, dass wir in unserem Zimmer verschwanden.

Etwa gegen Mitternacht machte sich dann der reichlich getrunkene Apfelsaft wieder bemerkbar. Die Blase drückte. Also stieg ich die Leiter von meinem oben liegenden Schlafplatz hinunter und tastete mich vorsichtig durch das dunkle Zimmer. Da fiel mir etwas Helles auf der Fensterbank ins Auge. Ein weißes Handtuch? Ein heller Schal? Ich trat näher und traute meinen Augen nicht: Schnee! Auf der Fensterbank lag eine dicke Schneeschicht. Etwa zwanzig Zentimeter Neuschnee waren das. Und die lagen nicht nur auf der Fensterbank, sondern auf dem ganzen Sauerland. Der Weg zur Jugendherberge war schon nicht mehr zu erkennen, die nahe gelegene Straße nur noch zu erahnen, und da, wo wir unsere Fahrräder abgestellt hatten, war nur noch ein großer Schneehaufen zu sehen. Wie um Gottes willen sollten wir da am nächsten Tag weiterkommen? Mit unseren dünnen Reifen, der überhaupt nicht wintertauglichen Kleidung und vor allem ohne jede Erfahrung mit einer Radtour unter solchen Bedingungen?

Wir mussten uns etwas einfallen lassen. Immerhin hatten wir gummierte Regenhosen dabei. Die streiften wir über unsere Jeans. Für unsere eher sommertauglichen Turnschuhe gab uns der Herbergsvater zwei Plastiktüten. Und über die schon beim ersten Schritt ins Freie kalt gewordenen Hände zogen wir jeweils eine dicke Socke. Und wie hält man die Ohren warm, wenn man keine Mütze hat? Nun … wir haben uns eine Unterhose über den Kopf gezogen. Mit etwas Geschick um den Schädel drapiert, war sie kaum noch als solche zu erkennen. Darüber die Kapuze der Regenjacke und schon waren wir startbereit. Nein, nicht ganz: Wir mussten erst noch einen Lachkrampf überstehen. Denn wir sahen aus wie Pat und Patachon. Ein langer Schlacks und ein kurzes Männlein in einer ziemlich schrägen Wintermontur. Wir haben uns kaum mehr eingekriegt.

Dann haben wir die Räder aus dem Schneehaufen befreit, sie beladen und zur Straße geschoben. Was folgte, war Lachkrampf Nummer zwei. Denn es wollte uns einfach nicht gelingen, auf die Räder zu steigen. Mal rutschte einer der Reifen weg, mal konnten wir das Gleichgewicht nicht halten, mal lagen wir mit dem Gesicht im Schnee. Es war ein Trauerspiel. Aber ein äußerst vergnügliches. Irgendwann haben wir es dann doch geschafft, uns auf den Rädern zu halten und uns langsam in Bewegung zu setzen. Doch der nächste Lachkrampf nahte schon. Wir waren auf einer kleinen Landstraße unterwegs, als uns ein Auto überholte und dabei derart ungeschickt durch eine Pfütze fuhr, dass es uns von oben bis unten mit braunem Tauwasser bespritzte. Normalerweise hätte ich einem solchen Autofahrer hinterhergeflucht. Hier aber habe ich nur laut gelacht. Denn skurril war das Ganze ja ohnehin schon. Da machten dann ein paar Wasserspritzer auch nicht mehr viel aus.

»Das ist doch keine Radtour«, werden Sie vielleicht denken. Oder zumindest: »Das hätte man doch ganz anders angehen können.« Natürlich: Wir hätten uns vorher den Wetterbericht anschauen können. Wir hätten unsere Ausrüstung sorgsamer zusammenstellen können, eine Mütze einpacken und ein paar Regengamaschen. Wir hätten uns um ein Vielfaches besser vorbereiten können. Aber dann wären wir vermutlich erst gar nicht aufgebrochen. Zu schlechtes Wetter, zu wenig Kondition, keine passende Ausrüstung: Eine dieser Ausreden hätte in jedem Fall gezogen. Aber wir wollten eine Radtour machen, wollten im Winter ins Sauerland, wollten ein Abenteuer erleben. Und das hat jede Menge Spaß gemacht. Man muss nicht auf alles vorbereitet sein und für jedes Problem eine Lösung haben. Man muss vor allem Lust haben und aufbrechen wollen.

Die meisten Radtouren finden nicht statt, weil es im Vorfeld zu viele Bedenken gibt. Dabei braucht es gar nicht viel. Man sollte einigermaßen wach sein und Risiken einschätzen können, um nicht in eine wirklich gefährliche Situation zu geraten. Das ist es dann aber auch. Jeder andere Mangel lässt sich mit ein wenig Improvisationstalent beheben oder trägt eben zu unvergesslichen Erlebnissen bei. Die Touren, an die ich mich mit Abstand am besten erinnere und von denen ich heute noch gern erzähle, waren nicht die, bei denen alles glatt gelaufen ist. Es waren Touren, bei denen es geruckelt hat. Mal lag es am Wetter, mal an einem fehlenden Ausrüstungsstück, mal an irgendetwas im zwischenmenschlichen Bereich. Auf Touren, bei denen alles glatt läuft, werden keine Geschichten fürs Tagebuch geschrieben, da bleiben die Erinnerungsblätter leer. Solche Touren sind schlichtweg langweilig.

Ein zweites frühes Radabenteuer. Diesmal war ich mit den Brüdern Andreas und Martin unterwegs. Wir kannten uns aus der kirchlichen Jugendgruppe, hatten eine Woche Zeit und wollten an die Mosel fahren. Nicht auf direktem Weg, sondern in einem großen Bogen über Belgien, Frankreich und Luxemburg. An dieser Route gab es lediglich zwei Jugendherbergen. Also nahmen wir Zelte mit. Denn eine Übernachtung im Hotel oder in einer Pension hätten wir uns als Fünfzehnjährige nicht leisten können. Mein Zelt stammte aus einem sogenannten Bundeswehrshop. Solche Geschäfte waren zu Beginn der 1980er-Jahre ziemlich angesagt. Da bekam man nicht nur den legendären Nato-Parka, mit dem damals nahezu jeder zweite Junge rumlief, sondern auch alle möglichen anderen Secondhand-Artikel aus den Beständen der Bundeswehr. Ich hatte mir einen kleinen Esbit-Kocher zugelegt, eine olivfarbene Regenpelerine, einen wasserdichten Packsack und das bereits erwähnte Zelt. Wobei Zelt eigentlich nicht der richtige Ausdruck ist. Es handelte sich um die sogenannte »Dackelgarage«, ein gerade mal ein Meter hohes Biwakzelt. Das bestand aus einer schweren Stoffbahn, zwei Zeltstäben, zwei Abspannleinen und sechs Heringen. Einen Boden hatte es nicht.

Am ersten Tag fuhren wir von Gelsenkirchen nach Aachen. Stramme 130 Kilometer waren das. Am zweiten Tag waren wir bereits in Belgien – ohne auch nur ein Wort Flämisch oder Französisch zu sprechen. Wie verständigt man sich mit Menschen, deren Sprache man nicht beherrscht? Natürlich: mit Händen und Füßen. Bei uns ging das so: die Finger zu einem Dreieck formen, auf eine Wiese zeigen und dann die Arme fragend auseinander ziehen. Das bedeutete: »Dürfen wir wohl auf dieser Wiese unser Zelt aufstellen?« Die Handflächen aufeinanderlegen und wie ein Kissen unter den zur Seite geneigten Kopf schieben, das hieß: »Wir sind müde. Können wir hier schlafen?« Diese Variante wählten wir, wenn wir mal nicht das Zelt aufstellen, sondern in einer Scheune oder Garage übernachten wollten. Waren wir hungrig, so formten wir mit der einen Handfläche einen Teller und taten mit der anderen Hand so, als würden wir Unmengen von Speisen in den Mund schaufeln. Ich habe nie einen Menschen so essen sehen, aber es ist immer gleich verstanden worden: »Wir haben Hunger. Bekommen wir bei Ihnen etwas zu essen?«

Wie aber mit der Rückfrage nach dem konkret Gewünschten umgehen? Wenn es in einer Auslage oder auf einem Bild zu sehen war, genügte es, mit dem Finger darauf zu zeigen. Wenn nicht, dann ließen wir unsere Blicke schweifen und schauten, was andere auf dem Teller hatten. Sagte uns etwas davon zu, kamen wieder die Finger zum Einsatz. Nur einmal haben wir uns bei dieser Art der Nahrungsbeschaffung so richtig verhauen. Es war in einem Imbiss. Ein junger Mann hatte einen Burger, eine Portion Pommes frites und eine große Cola bestellt. Das wollte ich auch. Also bestellte ich »the same, too« – »das Gleiche auch«. Andreas und Martin machten es mir nach. Das Dumme nur: Die Bedienung hatte »the same, two« verstanden, »das Gleiche zweimal«. Und so standen auf einmal sechs Burger, sechs Portionen Pommes frites und sechs große Cola-Becher vor uns. Das war dann doch etwas des Guten zu viel.

Belgien ist ein schönes Land. Das war unser erster Eindruck. Wir folgten dem Lauf der Maas in die dicht bewaldeten Ardennen hinein, ins Vallée romantique de la Meuse. Es ging an alten Burgen und Klöstern vorbei, an pittoresken Dörfern und Städten, an gemächlich auf dem Wasser dahinschippernden Booten. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten … Doch was ist das? Kurz vor Profondeville klaffte eine hässliche Wunde in der Landschaft: ein riesiger, mit allerlei verrottendem Stahl- und Blechwerk zugestellter Steinbruch. Kurz darauf ein Atomkraftwerk. Aufgegebene Industrieanlagen, abgewrackte Lagerhallen, Schrott und Rost, so weit das Auge reicht. Wir wurden von Kippladern überholt, die dicke Staubfahnen hinter sich herzogen. Alles, aber auch alles war von grauem Staub überzogen. Selbst das Grün der Pflanzen war kaum mehr zu erkennen. Dazu die Menschen: Müde und perspektivlos saßen sie da. Viele tranken, andere rauchten, wieder andere stierten einfach nur dumpf vor sich hin. Manche von ihnen wirkten auf mich wie die desillusionierten Arbeiter, die Vincent van Gogh in der nicht weit entfernten Borinage gemalt hat.

Was für ein Kontrast: Erst diese überaus schöne Flusslandschaft und dann etwas derart Hässliches, Bedrückendes. Wir hätten auf die Idee kommen können, das weniger Schöne zu überspringen, wie es kommerzielle Radreiseveranstalter ihren Kunden gerne anbieten. Da heißt es dann: »Dieser eher unattraktive Streckenabschnitt wird mit einem Transfer überbrückt.« Oder: »Für diese Etappe steht Ihnen ein Shuttle-Service zur Verfügung.« Dann aber hätten wir uns nicht anders verhalten als Touristen, die sich in einer Ferienanlage verschanzen, zu der Einheimische keinen Zutritt haben. Oder wie Kreuzfahrtpassagiere, die vor eigens hergerichteten Buchten ankern. Wir hätten uns lediglich in einer heilen Urlaubswelt bewegt. Das aber wollten wir auf keinen Fall. Wir wollten Belgien kennenlernen, wie es ist. Mit allem, was dazu gehört.

Heute bin ich froh, dass wir uns damals fürs Weiterfahren entschieden haben. Denn so habe ich schon früh gelernt, dass beides zu einer Radreise gehört: das Schöne und das weniger Schöne. Das, was sich einem sofort erschließt, und das, worüber man erst einmal nachdenken muss. Und dass dieses Nebeneinander oft viel spannender und lohnender ist als das, was findige Geschäftsleute meinen, ihren Kunden verkaufen zu müssen. Deshalb: Keine Scheu vor vermeintlich »nicht so lohnenden« Abschnitten! Sie warten nicht selten mit Eindrücken auf, für die man im Nachhinein dankbar ist. Und sie bringen die schöneren Abschnitte umso kräftiger zum Leuchten. So war es auch auf dieser Tour. Aus der weniger attraktiven Gegend wurde schon bald wieder eine ausnehmend schöne Flusslandschaft, das Vallée de la Semois. Wir haben es leider nur gequert und nicht der Länge nach befahren (das habe ich erst Jahre später getan). Dafür aber folgten schon bald die nächsten Highlights: die schmucke Kleinstadt Charleville-Mézières, die mittelalterliche Festung von Sedan und die sanften Hügel der südlichen Ardennen.

Dann galt es wieder einen Zeltplatz zu finden. Wir blieben vor einem großen Garten stehen, formten unsere Finger zu einem Dreieck … »Bien sûr. Entrez!« – »Natürlich, kommt rein!« Wir mussten unsere Pantomime gar nicht zu Ende bringen, da war unser Wunsch bereits erfüllt – womit wir beim Thema Gastfreundschaft wären. Auch damit habe ich bereits sehr früh die allerbesten Erfahrungen gemacht. Hier war es eine ältere Frau, die uns ganz spontan ein Rasenstück in ihrem Garten angeboten hat. »Prenez-vous! C’est tout pour vous! Et l’eau, c’est là.« Wir haben ihre Worte nicht wirklich verstanden, ihre Gesten aber waren eindeutig: »Nehmt euch von dem Gemüse, was ihr braucht. Und dort drüben findet ihr Wasser.« Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Wir stellten unsere Zelte auf, duschten mithilfe eines herumliegenden Wasserschlauchs und machten uns an die Gemüseernte: Tomaten, Kohlrabi, Möhren … Es braucht so wenig, um glücklich zu sein!

Am nächsten Morgen stand eine Kanne frisch gemolkener Milch vor unseren Zelten. Und als wir wieder aufbrechen wollten, gab die alte Dame uns noch je eine Handvoll Äpfel mit. Ich habe dergleichen immer wieder erlebt und werde noch häufiger davon berichten. Hier, auf einer meiner ersten Touren, trug es maßgeblich dazu bei, dass ich das Vertrauen gewann: Du wirst immer jemanden finden, der dich aufnimmt und dir hilft. Und magst du auch noch so in der Bredouille sein: Es wird immer Menschen geben, die es gut mit dir meinen und dich unterstützen.

Wir waren längst in Frankreich und näherten uns Luxemburg. Damals gab es noch Grenzkontrollen, die aber stellten für uns kein Hindernis dar. Wir durchquerten das kleine Großherzogtum und stießen bei Remich auf die Mosel. Von da an hatten wir das Gefühl, bald am Ziel unserer Reise zu sein. Doch auf eine ganz eigentümliche Weise blieb es fern. Das lag am gewundenen Lauf der Mosel. Auf der Luftlinie wären es nur noch 110 Kilometer bis zum Rhein gewesen, auf der Straße dagegen waren es 240 Kilometer. Wir strampelten und strampelten und hatten dennoch das Gefühl, nicht so richtig voranzukommen. Deshalb überlegten wir immer wieder, ob sich der Weg zur nächsten Moselschleife nicht auch irgendwie abkürzen ließe. Doch das hätte uns eine Menge zusätzlicher Höhenmeter eingebracht. Also blieben wir brav im Tal und nahmen eine Schleife nach der anderen. Der Vorteil dieser Entscheidung war, dass wir das Moseltal in seiner ganzen Länge kennengelernt haben.

Schnell vorankommen oder sich Zeit nehmen? Eher in die Höhe oder in die Weite gehen? Abkürzen oder durchhalten? Vor solchen Fragen steht man im Grunde bei jeder Tour. Dabei hat beides seinen eigenen Reiz. Es fühlt sich schon gut an, mal so richtig Strecke zu machen und ein ordentliches Stück voranzukommen. 100, 120 oder gar 160 Kilometer an einem Tag zu schaffen, nur mit der eigenen Muskelkraft. Andererseits macht es aber auch Sinn, ganz in Ruhe zu fahren und sich die eine oder andere Pause zu gönnen. Eine Besichtigung, eine kleine Wanderung oder einfach nur eine ausgiebige Rast, bei der man mal seinen Blick schweifen lässt. Je älter ich werde, umso mehr Zeit nehme ich mir für solche Dinge. Nicht nur weil meine Muskeln eine Pause brauchen, sondern auch weil ich sonst das Gefühl hätte, die Strecke nicht wirklich erlebt zu haben.

Die letzten Kilometer brachen an. Wir hatten von unseren Eltern die Erlaubnis bekommen, eine Woche unterwegs zu sein. Trotz unserer stattlichen Fahrleistung – es waren knapp 800 Kilometer – hätten wir es in dieser Zeit nicht wieder zurück nach Hause geschafft. Also hatten wir schon im Vorfeld beschlossen, nur bis Brohl am Rhein zu fahren. Denn der Vater von Andreas und Martin war bei einem Getränkegroßhandel beschäftigt, der regelmäßig Mineralwasser aus Brohl bezog. So konnten wir unsere Räder in einen LKW packen und uns nach Hause mitnehmen lassen. Eigentlich eine komfortable und auch spannende Lösung, denn zumindest ich hatte noch nie zuvor im Führerhaus eines Siebeneinhalbtonners gesessen. Und dennoch fiel mir das Einsteigen nicht leicht. Denn es fühlte sich fast wie ein Verrat an. Wie ein Verstoß gegen das bislang hochgehaltene Ideal, ohne ein anderes Verkehrsmittel auszukommen.

Meine ersten Touren haben stets daheim begonnen und sind auch daheim zu Ende gegangen. Das Fahrrad zwischendurch in ein Auto, einen Bus oder ein Zugabteil zu packen, wäre ganz und gar undenkbar gewesen. Schon bei längeren Fährpassagen beschlich mich ein ungutes Gefühl. Erst mit zunehmendem Alter bin ich auch in dieser Frage gelassener geworden. Ganz aufgegeben habe ich das Ideal aber nicht: Eine Radreise sollte vor allem eine Radreise sein. Touren, bei denen man hier und da mal ein paar Kilometer fährt und zwischendrin andere Verkehrsmittel nutzt, sind bis heute nicht mein Ding.

So also ging es mit meiner Leidenschaft für das Radreisen los. Ich habe es einfach ausprobiert – ohne größere Vorbereitung und ohne schon genau zu wissen, was da auf mich zukommen wird. Ich habe eine Reihe von Fehlern gemacht und aus jedem dieser Fehler gelernt. Vor allem aber habe ich ganz allmählich ein Gespür dafür bekommen, was eine Radreise eigentlich ausmacht. Ich habe mir damals noch nicht die Fragen gestellt, um die es auf den folgenden Seiten gehen wird, aber doch schon intuitiv gespürt, dass sich da noch eine ganze Menge entdecken lässt.

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Der Weg, die Wahrheit und das Leben

Bereits der flüchtige Blick auf meine ersten Unternehmungen zeigt: Auf einer Radreise bekommt man es mit Fragen zu tun, die auch sonst das Leben bestimmen. Wo will ich hin? Welchen Weg nehme ich? Zu welcher Anstrengung bin ich bereit? Wie gehe ich mit Problemen um? Es ist, als ob man in einen Spiegel schaut und darin das eigene Leben sieht. Die Fragen, die einen umtreiben. Die Herausforderungen, vor denen man steht. Und – das macht das Ganze erst so richtig spannend – die Lösungen, die sich anbieten. Eine Reise mit dem Rad kann zu einer intensiven Form der Selbst- und Welterfahrung werden, wenn man denn nur ein wenig sensibel ist für das, was einem unterwegs widerfährt.

Eine der wichtigsten Einsichten, die ich auf meinen Radreisen gewonnen habe, ist die, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was man hat, sondern was man will. Und dass man es tut. Wenn es denn geht. Ich erinnere mich noch an einen älteren Mann, dem ich an einer Tankstelle in Utah begegnet bin. Ich brauchte frisches Wasser und er Benzin. Als er mein bepacktes Rad sah, sagte er mit melancholischem Blick: »You’re doing right. You’re doing right.«