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Es gibt Momente im Leben, in denen sich schlagartig alles ändert. Philipp Hanf erlebte diesen Moment vor fünf Jahren, mit 47: Er erhielt die Diagnose, an Amyotropher Lateralsklerose erkrankt zu sein. Ein Schock. Für ihn, für seine Frau, für seine Familie. Die Diagnose setzte vieles auf einmal in Bewegung. Philipp Hanf hörte auf zu arbeiten, und sein Leben verlief plötzlich wie im Zeitraffer. Da ihm die Schulmedizin wenig zu bieten hatte, betrat er unvoreingenommen neue Pfade: Er traf Geistheiler und Schamanen, ging den Fähigkeiten von Shaolin-Mönchen auf den Grund, stand seinem inneren Kind gegenüber oder praktizierte uralte vergessene Yoga-Techniken. Er lernte, ungeahnte Kräfte freizusetzen, auf sein Herz zu hören und mit Konventionen zu brechen. Er suchte nach Alternativen, der Krankheit zu begegnen – und fand darüber zu sich selbst. Dieses Buch ist weder eine schwermütige Krankheitsgeschichte noch ein dogmatisches spirituelles Regelwerk. Substanz gewinnt es, weil Philipp Hanf persönliche Biografie und Prägungen mit vielfältigen Therapie- und Denkansätzen in Beziehung setzt. Als versierter Schulmediziner wendet er sich alternativen medizinischen Konzepten zu – ohne Gefahr zu laufen, blind diffusen Heilslehren zu verfallen. Im Gegenteil: Er entdeckt viele Schnittstellen zur traditionellen westlichen Medizin. Philipp Hanf ist durchaus dankbar für das, was ihm widerfahren ist, auch wenn ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Heute weiß er: Heilung und Tod schließen einander nicht aus. »Wer stirbt denn nicht« erklärt die Genese dieses für manch einen sicherlich überraschenden Fazits. Philipp Hanf lädt seine Leser und Leserinnen ein, den Weg dieser Erkenntnis mit ihm gemeinsam zu beschreiten. Anstatt eines Abgesangs erwartet sie ein leidenschaftliches Plädoyer fürs Leben – offen, einleuchtend und keineswegs humorlos.
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Meinen Eltern Erhard und Kristin gewidmet
Denkt daran, in die Sterne zu sehen und nicht auf eure Füße. So schwer das Leben manchmal auch erscheinen mag, es gibt immer etwas zu tun und gut darin zu sein. Es ist wichtig, dass ihr einfach nie aufgebt.
Stephen Hawking
Unter keinen Umständen hätte ich mir je vorstellen können, ein Buch zu schreiben. Schon gar keines, das irgendjemanden interessieren könnte. Mitunter aber ändert sich ein Leben radikal. So war es bei mir. Heute bin ich überzeugt, eine Aufgabe auf dieser Welt zu haben – vielleicht die, dieses Buch zu schreiben. Ein Buch, das andere Menschen berühren und zu Veränderungen in ihrem Leben inspirieren kann.
Mein eigenes Leben wurde vor einigen Jahren gründlich umgekrempelt. Ich wurde 2017 mit einer schwerwiegenden Diagnose konfrontiert: Amyotrophe Lateralsklerose, eine schwere Erkrankung des motorischen Nervensystems, besser bekannt als ALS. Die Ärzte gaben mir nur noch wenige Jahre.
Das ist fast fünf Jahre her, und um es vorwegzusagen: Es waren nicht die schlechtesten meines Lebens. Mit der Diagnose begann ein ganz neuer Lebensabschnitt. Sehr viel änderte sich. Ich hörte auf zu arbeiten. Ich nutzte die neu gewonnene, geschenkte Zeit intensiv. Ich las viel. Ich setzte mich mit lebensphilosophischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Themen auseinander. Ich machte unvergessliche und einige der erstaunlichsten Erfahrungen meines Lebens, kam zu Einsichten und Blickwinkeln, die mir vorher völlig ferngelegen hatten. Ich erlebte Dinge, die sonst nie passiert wären. Dafür bin ich dankbar.
Die Schulmedizin kennt im Grunde keine Behandlungsmöglichkeiten für ALS. Das einzige zugelassene Medikament ist bereits lange auf dem Markt und erhöht die Lebenserwartung statistisch gesehen um lediglich zweieinhalb Monate. Was bleibt, sind symptombezogene Therapien, ohne die Ursachen der Krankheit bekämpfen zu können. Alles in allem keine ermutigende Aussicht.
Ich bin Zahnarzt von Beruf, also selbst Schulmediziner. Als solcher ist mir durchaus bewusst, dass es eine Welt jenseits der Schulmedizin gibt. Eher zufällig begann ich, in sie einzutauchen, nach Alternativen zu suchen, der diagnostizierten Krankheit zu begegnen. Dabei erlebte ich Unglaubliches. Ich ging an meine körperlichen Grenzen, kam mit Geistheilern, Schamanen und Transformationstherapeuten in Kontakt. Ich begann einerseits, schulmedizinische Dogmen zu hinterfragen, und entdeckte andererseits aufschlussreiche Überschneidungen von Alternativmedizin und Naturwissenschaft. Ganz unterschiedliche therapeutische Ansätze halfen mir, bewusst eine neue Einstellung zum Leben zu entwickeln. Anstatt in ein Loch zu stürzen, schwang ich mich zu unbekannten Höhen auf.
Innerhalb kurzer Zeit machte ich viele neue Erfahrungen, und ich entwickelte mehr und mehr das Bedürfnis, all meine Erlebnisse und Gedanken festzuhalten. Zunächst und in erster Linie für mich selbst. Zunehmend aber erwog ich, andere daran teilhaben zu lassen. Mich motiviert die Überzeugung, Menschen durch mein Buch Anstöße zu geben, ihr Leben zum Positiven zu verändern.
Ich weiß, das ist ein ambitioniertes Ziel. Es zu erreichen, würde mich freuen, es zu verfehlen, wäre aber auch kein Drama. Tatsächlich stelle ich mir immer wieder die Frage, ob ich überhaupt etwas zu sagen habe oder mich nur unverhältnismäßig aufblase. Ist es vielleicht doch versteckte Eitelkeit, die mich antreibt? Will ich beweisen, was ich kann, während viele sagen mögen, den kannst du abhaken, der hat seine beste Zeit hinter sich?
Vielleicht ist es von allem ein bisschen. Das eine muss das andere gar nicht ausschließen. Wer freut sich nicht über positive Resonanz, über Bestätigung? Dazu darf man ruhig stehen, ohne dass die Qualität eines Gedankens dadurch geschmälert würde.
Das erste Mal äußerten die Ärzte ihren Verdacht auf ALS im Februar 2017, im April bekam ich eine Bestätigung der Diagnose. Ich wollte sie nicht verheimlichen, sondern kommunizierte das Ergebnis sowohl in meinem privaten als auch in meinem beruflichen Umfeld, und hörte umgehend auf zu arbeiten. Unerwarteterweise begann mein Leben unmittelbar darauf, höchst interessant zu werden.
Ich erhielt viele freundliche, liebevolle, gut gemeinte Briefe, Anrufe und Gesprächsangebote aus meinem persönlichen Umkreis. Eines Tages kam eine Bäuerin aus unserer Gegend auf mich zu, die meine Geschichte berührt hatte. Das Anliegen war ihr peinlich, denn sie war sich nicht sicher, ob ich sie nicht auslachen würde. Sie hatte gehadert, einem Schulmediziner wie mir etwas zu unterbreiten, das ich in ihren Augen allzu leicht als Nonsens abtun könnte. Schließlich jedoch gab sie ihrem Bedürfnis nach, mir etwas über sogenannte Geistheilung nach Horst Krohne zu erzählen. Sie praktiziere diese seit Längerem selbst und vielleicht, so meinte sie, wäre das ja etwas, was ich auch einmal probieren wollte.
Von jeher war ich ziemlich offen, wenn es darum ging, sich unvoreingenommen und vorbehaltlos auf Neues einzulassen. Obendrein war ich nun jemand, dem die Schulmedizin eine unheilbare Krankheit diagnostiziert hatte. Besonders schwer fiel es mir daher nicht, Alternativen zumindest in Erwägung zu ziehen und auszuprobieren.
Bis dahin hatte ich mich ausgesprochen wenig mit Dingen wie Geistheilung beschäftigt. Der Tipp der älteren Dame aber brachte mich zum Nachforschen, und wenig später flog ich zu einem Heilerkongress nach der Horst-Krohne-Schule. Ich ahnte nicht ansatzweise, was mich erwartete. Es wurden drei beeindruckende Tage.
Der Heilerkongress war mein erster Ausflug in eine andere Welt. In eine Welt, in der man an Themen wie Krankheit, Diagnose und Heilung vollkommen anders herangeht. In der man nicht nur organische Veränderungen beobachtet und mit Tabletten oder invasiven Maßnahmen behandelt, sondern der Ansicht ist, dass jede Erkrankung eine Ursache auf ganz anderer Ebene hat. Man mag von Geist, Seele, dem Inneren oder dem Unterbewusstsein sprechen. Dort sind es jedenfalls Erfahrungen, die dazu führen, dass ein Körper bestimmte Veränderungen oder Defizite – wenn man sie denn so nennen möchte – offenbart. Ein körperlicher Schmerz, eine Krankheit hat danach irgendwo eine Ursache im Geistigen, im Inneren, im Erlebten, im Vergangenen.
Je weiter man diesen Ansatz verfolgt, desto vielschichtiger wird das Terrain. Nach meiner Diagnose begann ich, es zu erkunden, begann, eine komplexe Welt alternativer Herangehensweisen und Heilmethoden kennenzulernen.
Zweifelsohne war meine Diagnose letztlich der Auslöser dafür, dieses Buch zu schreiben. Doch sie ist nicht dessen dramatischer Mittelpunkt. Hier stehen eher außergewöhnliche Erfahrungen, die ich ausgehend von ihr habe machen dürfen, ermutigende Erkenntnisse, die ich gewonnen, spannende Menschen, die ich getroffen habe, nicht zuletzt die Gedanken, die ich mir im Zuge all dessen gemacht habe. Herausgekommen ist kein trübsinniges Buch, sondern eines voller Freude, Leichtigkeit und Dankbarkeit. Es soll Mut machen in Lebenskrisen, welcher Art sie auch sein mögen. Es ist kein Buch der Trauer, kein Abschiedsbuch, selbst wenn ich sterben sollte. Ich schildere keinen Leidensweg, sondern einen inneren Aufbruch.
Dieser Aufbruch fiel mir nicht durchweg leicht. Ich bin kein Superman, dem alles mühelos von der Hand geht, der immer alles positiv sieht. Ich kenne die Momente der Verzweiflung und hadere immer wieder mit meiner Situation. Doch es gab und gibt sehr viele sehr schöne Momente, die ich nicht durchlebt hätte, wenn alles anders gekommen wäre. Mitunter denke ich tatsächlich, dass die letzten fünf Jahre die glücklichste Zeit meines Lebens waren.
Für Außenstehende mag das schwer verständlich sein, vielleicht sogar hochtrabend klingen. Es grenzt selbst für mich an ein Wunder, dass ich mich bei solchen Sätzen nicht verstellen, mich nicht anstrengen muss. Ich empfinde tatsächlich so und bin froh darüber. Ich halte mich nicht für außergewöhnlich, nicht für jemanden, der ganz besonders zuversichtlich und reflektiert eine schwierige Situation bewältigt. Es ist schlicht und einfach meine Art, damit umzugehen. Zwingend allerdings war sie nicht, sondern das Ergebnis eines Prozesses, über den ich in diesem Buch Auskunft gebe.
Am Anfang dieses Prozesses stand die vermeintlich vernichtende Diagnose.
Oder begann alles doch weit früher?
Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.
Albert Einstein
Ungefähr mit vierzig Jahren begann ich, zu überlegen, was der höhere Sinn des Lebens sein könnte, ob ich alles richtig mache, zufrieden bin oder vielleicht etwas ändern will. Obwohl es mir gut ging, stellte sich das Gefühl ein, dass noch irgendetwas in meinem Leben kommen müsste. Dass es sich nicht darin erschöpfen sollte, bis zur Rente Zähne zu sanieren und anschließend ein Rentnerdasein zu führen.
Ich war noch völlig gesund. In dieser Phase belegte ich Führungskräfte-Seminare bei Gerhard Conzelmann, auf denen ich zum ersten Mal mit Schlagworten wie Energie oder Schwingungen in Kontakt kam, jedenfalls in ihrer Verbindung mit Mentalitätstraining und Persönlichkeitsentwicklung. Conzelmann ist Physiker, kommt also nicht aus der esoterischen Ecke. Wenn er von Energiefeldern spricht, geht es eher um Quantenphysik.
Da ich selbst naturwissenschaftlich sozialisiert bin, sprach mich das an. Zum ersten Mal mit einer im Wortsinn anderen Weltanschauung konfrontiert zu sein, fand ich spannend. »Kraft des Denkens« hieß jenes Seminar, und es ging eben um Quantenphysik, Energie und Schwingungen. Darum, was Materie ist, und ob es sie überhaupt gibt. Was Informationen sind, was die Welt im Innersten zusammenhält oder auseinanderdriften lässt.
Die Quantenphysik fing damals gerade an, populär zu werden und sich wissenschaftlich zu etablieren. Einer ihrer Knackpunkte ist die Tatsache, dass alles, auch jeder Gedanke, letztlich Energie ist und Schwingungen auslöst. In Form seiner eigenen energetischen Haltung kann man also Einfluss sowohl auf seine Umwelt als auch auf sich selbst nehmen.
Das hat jeder wahrscheinlich schon erlebt: Wenn man sich wohlfühlt, zufrieden ist und mit diesem Gefühl ausgeht, lernt man leicht Leute kennen, führt anregende Gespräche und hat einen tollen Abend. Wenn man das Haus hingegen mit der inneren Haltung verlässt, die ganze Welt sei Mist, dann strahlt man genau das aus, und die Resonanz bleibt aus: Man steht allein in der Ecke, findet keinen Anschluss, keine Gespräche und keine Freude. Inzwischen wird energetische Ausstrahlung von Lebewesen wissenschaftlich untersucht und physikalisch gemessen. Energiefelder lassen sich bildlich darstellen. Albert Einstein und andere Wissenschaftler haben dafür die Vorarbeit geleistet. Viele Details aber versteht man heute deutlich besser.
Conzelmann nutzt diese Erkenntnisse und hat unter anderem mit Leistungssportlern zusammengearbeitet. Das weckte bei mir als engagiertem Freizeitsportler und Sportfan Interesse. Allein mit ihrer fokussierten Vorstellungskraft erzielen Sportler unglaubliche Effekte. Schaut man sich zum Beispiel den Tennissport an, können alle Profis super Tennis spielen. Aber es sind stets die gleichen vier, fünf Spieler, die den Sport lange Zeit dominieren und prägen, die ein bisschen besser sind als die anderen. Das liegt nicht unbedingt an körperlichen Qualitäten, sondern an der psychischen Komponente, die sich auswirkt. Sie macht im Leistungssport den entscheidenden Unterschied, ist ausschlaggebend dafür, wer am Ende gewinnt.
In seinen Vorträgen erzählte Conzelmann viele spannende Geschichten. Von einem Kurzstreckenläufer aus den USA zum Beispiel, der keinen einzigen Lauf seiner Karriere verlor, weil er wusste, dass er nicht verlieren wird, denn er hatte seine Siege vorher visualisiert und die Option einer Niederlage war darin nicht vorgesehen. Natürlich könnte das jeder praktizieren. Und trotzdem wird es nur einen Sieger geben, denn die Intensität der Vorstellungskraft ist entscheidend.
Ich erfuhr von Studien, in denen man untersucht hatte, wie sich Muskeln ohne körperliche Bewegung aufbauen lassen. Für so etwas ist mentales Training notwendig. Es kann ein Moment kommen, in dem die reine Vorstellung, man würde joggen, dieselben körperlichen Prozesse auslöst, als ginge man tatsächlich joggen. Stoffwechselprozesse, die bei Joggern ablaufen, werden auf einmal durch reine Geisteskraft in Gang gesetzt. Ähnliches passiert beim Erlernen von Fertigkeiten, beispielsweise beim Klavierspielen. Die Synapsen im Gehirn verbinden sich bei der bloßen Vorstellung, man spiele Klavier.
Das ist kein Hokuspokus. Wir haben solche Fähigkeiten nur verlernt. Sie wiederzuerlangen, sie uns wieder anzueignen, ist sicherlich nicht einfach. Es reicht gewiss nicht, sich einmal ordentlich zu konzentrieren, und schon wird jeder zu einem großen Pianisten oder sieht aus wie Arnold Schwarzenegger. Was aber möglich ist, beweisen die Shaolin-Mönche, mit denen Conzelmann ebenfalls zusammenarbeitet. Ihre Lebensweise beeindruckte mich.
Die im Herzen Chinas beheimateten Shaolin-Mönche erlernen die angesprochenen von uns quasi vergessenen Fähigkeiten von klein auf. Grundlage ihrer Lebensphilosophie ist der Zen-Buddhismus. Mit fünf oder sechs Jahren kommen sie in ein Kloster, meditieren täglich und machen ritualisierte Übungen. Konzentrationstraining und unglaubliche körperliche Disziplin sind für sie Alltag – mit dem Ergebnis, dass sie zu Dingen fähig sind, die wir uns kaum vorstellen können. Der Kampfsport Kung Fu, den sie entwickelt haben, brachte ihnen den Ruf ein, unbesiegbar zu sein.
Auf den Seminaren von Conzelmann blieb das nicht theoretisch. Es gab kleine Vorführungen der Shaolin-Künste. Ich habe live gesehen, wie ein Mönch eine Stahlstange auf seinem Kopf zerschmetterte und wie einer eine Nadel durch eine dicke Glasscheibe warf. Er schaffte es tatsächlich, aus anderthalb Metern Entfernung ein Loch in die Scheibe zu stechen, sodass die Nadel auf der anderen Seite wieder herauskam. Wie ist so etwas möglich?, fragte ich mich immer wieder.
Was da passierte, ist physikalisch schwer nachvollziehbar. Wäre ich nicht dabei gewesen, hätte ich es nicht geglaubt. Offensichtlich können die Shaolin-Mönche physiologische Energie so auf einen Punkt, auf einen Moment fokussieren, dass Dinge passieren, die uns wie Magie erscheinen. Und genau hier findet der Brückenschlag zur Quantenphysik statt, zu der Tatsache, dass alles Energie und Schwingung ist. In der Konsequenz müssen wir einige liebgewonnene Vorstellungen revidieren. Der menschliche Körper funktioniert weitaus komplexer, als wir zu wissen glauben. Es gibt Dimensionen, die wir gar nicht mehr wahrnehmen, die anzusprechen wir aber lernen können.
Es war eine ungemein wichtige Erkenntnis für mich, dass es für unseren Körper viel weniger Grenzen gibt als angenommen.
Das alles trug sich vor meiner ALS-Diagnose zu. Wenn ich also ehrlich bin, hatte ich lange vor dieser Nachricht begonnen, neue Pfade zu betreten, ausgehend von dem Gefühl, dass es so, wie es war, nicht ewig bleiben würde.
Wenn trotzdem alles größtenteils beim Alten blieb, lag das an nicht zu unterschätzenden Verharrungskräften, die es einem schwer machen, den gewohnten Trott zu verändern. Ich bewegte mich in einer großen Komfortzone: Ich hatte viel erreicht, mir vieles ermöglicht. Nicht wenige beneideten mich wahrscheinlich um mein Leben. Da liegt die Frage auf der Hand, wieso man aus diesem Leben hätte aussteigen sollen, was genau es hätte zu verändern geben können. Ich fragte mich: Was werden die Leute sagen, meine Familie, wie soll ich das rechtfertigen?
Ich machte mir damals viele Gedanken, was andere von meinen Entscheidungen halten könnten. Dagegen gestand ich mir kaum zu, auf mein Herz zu hören, auf das, was ich mir im Innersten wünschte. Dabei hätte ich mir einiges erlauben können, es gibt Leute mit weit weniger greifbaren Möglichkeiten. Meiner Frau Kerstin und mir geht es finanziell gut, wir haben keine Kinder, ich bin niemandem Rechenschaft schuldig. Ich glaube auch nicht, dass sie gegen Veränderungen gewesen wäre. Bestimmt hatte Kerstin ähnliche Gedanken, war ebenso wenig festgelegt, ihr Leben lang dasselbe zu tun.
Also entstand der tiefe innere Wunsch, etwas zu verändern im Leben, als ALS noch gar kein Thema für mich war. Was fehlte, war eine konkrete Perspektive, eine klare Vorstellung davon, was genau ich machen will und wie. Sollte ich, sollten wir wirklich den Sprung wagen, unsere Zahnarztpraxis zu verkaufen, und den Laden dichtmachen? Oder ein Sabbatjahr einlegen?
Es gab Tausende Möglichkeiten, doch letztlich entschied ich mich für keine. Wenn ich angesichts dieser Situation den Gedanken aufnehme, dass einem der eigene Körper sagt, was gut für einen ist, stelle ich mir heute weitreichende Fragen: Sah mein Körper eine Krankheit als einzige Chance, mich zu unterstützen? Offenbarte er mir eine Diagnose, um mir den Lebenswandel zu ermöglichen, den ich von allein nicht umzusetzen vermochte? Gab er mir den Anlass zum Ausstieg, den ich brauchte? Ich bin überzeugt, dass unser Unterbewusstsein vieles vorhersieht oder gar provoziert, was wir bewusst nicht wahrnehmen oder realisieren können.
Zugegeben, als ich von meiner Diagnose erfuhr, dachte ich noch nicht so. Solche Einsichten brauchen Zeit – bis heute. Dass es mich auf so extreme Weise traf, war außerordentlich gewöhnungsbedürftig und bleibt es. Ich kann meiner Krankheit beileibe nicht nur Gutes abgewinnen, würde mir manches anders wünschen. Deswegen versuche ich, vorsichtig mit meinen Formulierungen zu sein. Trotzdem kommt mir mitunter die Metapher eines Geschenks in den Sinn. Eine Krankheit, die mein Körper mir geschenkt hat, um zu sagen: Philipp, du hast es schon richtig erkannt. Es gibt noch mehr in deinem Leben als ein äußerlich perfektes, präsentables und erfolgreiches Dasein. Mehr als beruflichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung. Es geht um tiefere, um innere Werte. Weil du es dir nicht eingestehst, helfe ich dir. Ich, dein Körper, schenke dir diese Erkrankung. Diese Diagnose. Wenn aber der Körper solche Zeichen senden kann, ist er vielleicht zu noch ganz anderem fähig.
Hindernisse und Schwierigkeiten sind Stufen, auf denen wir in die Höhe steigen.
Friedrich Nietzsche
Natürlich ließ die ALS-Diagnose alles in meinem Kopf rotieren. Sie wirkte wie ein Katalysator. Es war eine ganz eigenartige Art von Diagnose. Schicksalsschläge wie Schlaganfälle, Herzinfarkte oder Verkehrsunfälle verändern das Leben plötzlich, und es dauert lange, um sich davon zu erholen. Bei ALS hingegen ist es andersherum: Man spürt zunächst fast nichts, dafür sind die langfristigen Aussichten verheerend. Es wird einem prophezeit, dass sich der eigene Körper Stück für Stück auflösen wird bis zu dem Punkt, an dem man nicht mehr schlucken kann, an dem selbst das Atmen unmöglich wird und man erstickt. Zwar gibt es lebensverlängernde Maßnahmen wie künstliche Beatmung oder künstliche Ernährung. Letztlich jedoch wird einem mitgeteilt, dass die Lebensuhr abläuft.
Da sich meine Muskeln kontinuierlich abbauen würden, schien alles, was mir ein Leben lang für meine Außendarstellung am wichtigsten gewesen war – körperliche Fitness, manuelle Geschicklichkeit –, als Erstes zu leiden. Mit den Händen ging es los, an ihnen spürte ich zuerst, dass etwas nicht stimmt. Regelmäßig bekam ich kurzzeitige Krämpfe in den Fingern, machte mir deshalb aber keine großen Gedanken. Ich reagierte mit kurzen Dehnübungen während der Arbeit und fummelte dann unbeirrt weiter. Doch es wurde schlimmer. Beim Unterschreiben eines Vertrages konnte ich eines Tages den Stift nicht mehr halten. Deshalb holte ich mir Rat bei einem befreundeten Arzt. Er vermutete die üblichen Dinge: ein Karpaltunnelsyndrom, einen Bandscheibenvorfall, schlimmstenfalls einen verkappten Schlaganfall.
Der genaue Grund musste abgeklärt werden. Ich unterzog mich verschiedenen Diagnoseverfahren. Zuerst stellte ich mich beim Neurologen vor, der unterschiedliche Tests machte. Er wusste nicht so recht, was er von meinem Fall halten sollte, und überwies mich an eine größere neurologische Abteilung einer Braunschweiger Klinik. Dort wurden mehrere MRTs gemacht. Ich merkte, dass niemand einordnen konnte, was mit mir los war. Aber alle schienen im Hinterkopf zu haben, dass es eine unschöne Ursache haben könnte.
Irgendwann kam der konkrete Verdacht ins Spiel, es könnte sich um eine degenerative motoneuronische Erkrankung handeln. Das sagte mir im Grunde gar nichts, nie hatte ich mich mit einem solchen Krankheitsbild auseinandergesetzt. Ich googelte, um zu sehen, was das sein könnte. Als ich die Buchstaben »ALS« las, erschien mir das absurd. Nicht im Geringsten hatte ich mich je mit dem Gedanken beschäftigt, dass mir so etwas passieren könnte. Ich hatte mich bisher unverwundbar gefühlt. Ich war ein Glückskind, dem immer alles leicht und in den Schoß gefallen war. Schicksalsschläge dieser Art hatte es in der Familie nie gegeben. Ich werde doch kein zweiter Stephen Hawking!, ging es mir durch den Kopf.
Dem Verdacht musste nichtsdestotrotz nachgegangen werden. Weitere Checks standen an. Entscheidend für die ALS-Diagnose war, ob wirklich beide Motoneuronen betroffen waren. Um das herauszufinden, musste ich mich ziemlich ekelhaften Untersuchungen unterziehen. Mir war schon vorab angekündigt worden, wie unangenehm das sei, aber es gab wohl keine andere Möglichkeit, um der Sache auf den Grund zu gehen.
So wurden in etliche meiner Muskeln Nadeln gesteckt, sogar in die Zunge und von außen in die Wange. Dicke Nadeln, die hin und her bewegt wurden. Nicht allein das Einstechen, sondern besonders das kontinuierliche Bewegen war überaus unangenehm. Dabei knatterte der Apparat wie ein Geigerzähler. Ob das gut oder schlecht war, wusste ich nicht. Danach wurden sogenannte Ableitungen gemacht, für die die Ärzte Stromschläge durch meinen Körper schickten. Sie setzten mir etwas auf den Kopf und maßen an meinen Füßen und Armen, wie viel Strom in welcher Form am Ende ankommt. Ständig wurde Strom durch meinen Körper geschossen, um das Leitverhalten der Nervenbahnen zu messen. Zudem wurden viele weitere Tests und Laboruntersuchungen durchgeführt. Eine Rückenmarkspunktion war ziemlich unangenehm. Vielleicht hätte ich nicht zustimmen sollen, dass eine angehende Ärztin ihre erste Punktion an mir durchführt? Sie benötigte mehrere Versuche, um an den Liquor zu kommen. Am Ende kamen die Ärzte in Braunschweig zu dem Schluss, dass ich höchstwahrscheinlich Amyotrophe Lateralsklerose habe.
ALS lässt sich nicht direkt nachweisen. Es sind noch keine eindeutigen Biomarker bekannt, die zweifelsfreie Aussagen ermöglichen. Deswegen wird ALS über ein Ausschlussverfahren diagnostiziert. Man macht spezifische Tests. Liefern diese bestimmte Ergebnisse, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es sich um ALS handelt. Für die Krankheit gibt es sieben sogenannte Leitsymptome. Treten mindestens vier davon auf, operiert die Medizin mit dem Überbegriff Amyotrophe Lateralsklerose. Vollständig abgesichert ist eine solche Diagnose aber nie. Erst der Verlauf der Krankheit bestätigt die Richtigkeit der Diagnose – oder eben nicht. Dabei sind die möglichen Verlaufsformen sehr unterschiedlich.
Zeitgleich mit meiner Diagnose in Braunschweig bekam ich den Rat, sicherheitshalber eine zweite Meinung einzuholen. Möglichst von einem spezialisierten Institut, da die Tragweite einer solchen Erkrankung erheblich sei. Ich ließ mich in der Uniklinik Tübingen checken, da ich den Chef der dortigen neurologischen Abteilung persönlich kannte und er mir spontan seine Hilfe angeboten hatte. Meine Frau hatte ihn beim Wandern in Nepal kennengelernt, und wir hatten uns danach einige Male in Deutschland getroffen.
Am Abend vor den neuerlichen Untersuchungen reisten meine Freunde Jutta und Andy aus Schwäbisch Gmünd an. Liebenswerterweise wollten sie mich in diesem Moment nicht alleinlassen, sondern mich unterstützen und mir Kraft geben. Wir verbrachten einen ausgelassenen, feuchtfröhlichen Abend. Als ich am nächsten Morgen stationär einquartiert wurde, schämte ich mich ein wenig wegen meiner nicht zu leugnenden Alkoholfahne. All die unangenehmen Tests wurden noch einmal durchgeführt. Es war furchtbar, nicht nur, weil ich nun allein war. In der Klinik gab es hauptsächlich Schwerstkranke. Ich sah, wie sie herumgefahren wurden, sah all die Konsequenzen, die ALS haben kann. Eingeschränkte Bewegungsfähigkeit. Rollstuhl.
Ich war noch völlig gesund und fühlte mich, abgesehen von einer vorübergehenden Schwäche im Daumen, wie immer. Trotzdem bekam ich nach vier Tagen voller Untersuchungen und Warterei eine Bestätigung der ALS-Diagnose. Dieser Moment war prägend. Mir gegenüber saß ein Freund, der versuchte, mir die schlechte Nachricht möglichst sachlich zu überbringen. Ich merkte sofort, wie unangenehm ihm die Situation war und dass er nach den richtigen Worten suchte. Besonders geschickt stellte er sich allerdings nicht an.
Nachdem er mir das Ergebnis der Untersuchungen mitgeteilt hatte, fragte er unmittelbar, ob ich künstlich beatmet und künstlich ernährt werden wolle. Ich fiel aus allen Wolken. Deplatzierter hätte eine Frage in diesem Moment nicht sein können. »Das steht so auf dem Formular«, versuchte er, sich zu rechtfertigen. Leider fehlt vielen Schulmedizinern offensichtlich nicht nur die psychologische Schulung, sondern auch das Gespür dafür, dass in einem solchen Moment niemand derartige Bilder vor Augen geführt bekommen möchte. Er dachte nicht darüber nach, was er damit in mir auslösen könnte und wie weitreichend seine Aussage ist. Wer will sich denn mit dem möglichen Ende beschäftigen, wenn er sich noch topfit fühlt?
Erst nach dem Aufenthalt in Tübingen realisierte ich langsam meine Situation. Ich ging zum Bahnhof, wo ich noch ein paar Minuten auf meinen Zug warten musste. Die Sonne schien, und meine Gedanken kreisten. Also ich habe jetzt ALS, ging es mir durch den Kopf. Das kann doch nicht sein, das glaube ich nicht! Doch was, wenn es stimmt? Was, wenn es nun Tag für Tag schlimmer wird?
Es war deprimierend, dort allein am Bahnhof zu sitzen und sieben Stunden Zugfahrt vor sich zu haben. Kerstin und meine Eltern hatten im Vorhinein angeboten, mich zu begleiten, doch ich hatte abgelehnt. Ich hatte stark sein wollen und mir weder den unmittelbaren Effekt noch die letzte Konsequenz einer solchen Diagnose vorstellen können.
Wenn Ärzte mit mir redeten, hatte ich bis dahin immer das Gefühl gehabt, sie meinten jemand anderen. Als der Verdacht auf ALS im Raum stand und die Professoren mich mit trauriger Stimme in Kenntnis setzten, antwortete ich Dinge wie »Ist nicht so schlimm, machen Sie sich keine Sorgen«. Ich hatte immer das Gefühl, ich müsse sie trösten, denn sie konnten doch unmöglich mich meinen. Ab und zu drehte ich mich um, um zu sehen, ob hinter mir jemand steht, der wie ein echter Patient aussieht. Jemand, dem statt mir ihre ärztliche Sorge gilt.
Dieses Gefühl begleitet mich bis heute. Oft kann ich schlicht nicht glauben, dass ich ALS habe. Andererseits lässt sich nicht abstreiten, dass körperlich vieles nicht mehr so gut funktioniert wie früher. Doch ich schließe nach wie vor nicht aus, dass meine Krankengeschichte einen anderen Verlauf als den allgemein prognostizierten nimmt. Der Glaube daran wurde bestärkt durch die Erfahrungen und Entdeckungen, die ich inzwischen gemacht habe und die 2017 noch vor mir lagen.
Jutta, Andy (r.) und ich am Abend vor den neuerlichen Tests in Tübingen
Ein Mensch fühlt oft sich wie verwandelt, sobald man menschlich ihn behandelt.
Eugen Roth
Oft geht die deutsche Schulmedizin sehr unsensibel oder unvorsichtig mit Diagnosen wie meiner um. Es wird überhaupt nicht reflektiert, was ein in Aussicht gestelltes Schicksal, eine furchteinflößende Zukunftsprognose mit einem Menschen anrichtet. Ich war einige Zeit in der ALS-Ambulanz der Berliner Charité in Betreuung. Vieles dort war erschreckend negativ behaftet. Mir ging es zu diesem Zeitpunkt noch relativ gut, doch ich hatte wirklich das Gefühl, ich müsste mich dafür rechtfertigen und entschuldigen. Ich hatte Fragen zu möglichen Therapieansätzen oder weiteren Tests, aber es hieß immer nur: »Nein, wir haben alle Ergebnisse, Sie haben ALS! Vielleicht geht es Ihnen momentan noch ganz gut, aber warten Sie mal ab, das wird schon noch schlechter werden.«
So zumindest kam es mir vor. Diese Gespräche mit den Ärzten nahmen mir jedwede Hoffnung. Im anfangs vierteljährlichen, dann halbjährlichen Rhythmus stellte ich mich in der Charité vor. Die Auskünfte, die ich bekam, waren immer nach dem gleichen Muster gestrickt: »Na ja, das können Sie vielleicht noch, Herr Hanf, aber lange wird das nicht mehr gut gehen.«
In mir machte sich das Gefühl breit, dass es den Ärzten mehr um ihre statistischen Erhebungen ging als um meine persönliche Krankengeschichte und mögliche Optionen. Erst nachdem ich mehrfach nachgefragt hatte, rückte man notgedrungen damit heraus, dass es durchaus immer wieder mal Fehldiagnosen gibt. Selbst wenn es nicht oft vorkommt: Hat der Patient nicht ein Recht darauf, zu wissen, dass er vielleicht etwas ganz anderes hat, als ursprünglich diagnostiziert worden ist? Das ist doch kein Eingeständnis der eigenen ärztlichen Unzulänglichkeit. Ein kleiner Hoffnungsschimmer kann beim Patienten unheimlich viel bewirken. Mehr, als mir bis dato je bewusst gewesen ist.
Ich würde ganz anders vorgehen. Ich würde meinem Patienten als Allererstes sagen, dass eine Diagnose nicht unfehlbar ist, selbst wenn vieles für eine bestimmte Krankheit spricht. Gerade bei ALS, die nicht direkt nachgewiesen werden kann und bei der es stets um Wahrscheinlichkeiten geht. Ich bin selbst Arzt und habe jahrzehntelang vielen Patienten dies und jenes eröffnen müssen. Ich hoffe, dass ich dabei sensibler war als der Durchschnitt meiner Kollegen. Beim Zahnarzt geht es zwar nicht um Leben und Tod, trotzdem dominiert ein akutes Problem häufig den Alltag des Patienten. Auch ihre Zähne können Menschen verzweifeln lassen oder ihnen zumindest großen Kummer und Sorgen bereiten.
Der Anstoß, die ALS-Diagnose bei einem sachverständigen Neurologen noch einmal differenzialdiagnostisch abklären zu lassen, ging jedenfalls von mir aus, nicht von den Ärzten. Ich stellte mich Doktor Böhm in Berlin vor, der häufig Fehldiagnosen im Zusammenhang mit ALS beobachtet hat und darauf spezialisiert ist, sie mittels Ultraschall nachzuweisen. Auch in meinem Fall war er zuversichtlich, dass die auffällige Schwäche in meiner rechten Hand eine ganz andere Ursache als ALS haben könnte. Im Blick hatte Doktor Böhm das Thoracic-outlet-Syndrom, kurz: TOS, eine Verengung oder Quetschung eines Gefäßnervenbündels, die die Durchblutung und die Nervenfunktionen beeinträchtigen kann.
Für mich war das TOS ein Hoffnungsträger, und eine weitere radiologische Untersuchung beim Gefäßchirurgen Doktor Dollinger im DRK Klinikum Berlin Mitte bestätigte den Verdacht. Er nahm sich viel Zeit für meine Krankengeschichte und die Beratung. Er war endlich einmal ein positives Beispiel für Empathie und Feinfühligkeit im Umgang mit Patienten. Doktor Dollinger riet mir zu einem schwierigen operativen Eingriff, der allerdings die Gefahr barg, lebenswichtige Gefäße zu beschädigen. Da ich körperlich noch ziemlich fit und großer Hoffnung war und der Eingriff inklusive Reha mehrere Monate meiner begrenzten Lebenszeit in Anspruch nehmen würde, entschied ich mich nach langem Hin und Her und etlichen Rückfragen bei Fachleuten in meinem privaten Umfeld dennoch gegen diesen Eingriff. Später sollte sich herausstellen, dass es wohl die richtige Entscheidung gewesen ist.
Ich bin privat versichert und bekomme deswegen meine Arztrechnungen zur Einsicht. Eines Tages las ich in einer Abrechnung der Charité Begriffe wie »erhöhter Steigerungsfaktor«, da die Kommunikation mit dem Patienten, also mit mir, nur über Sprachcomputer möglich sei. Diese ärztliche Begründung mochte allgemein betrachtet einen erhöhten Steigerungsfaktor rechtfertigen, im Zusammenhang mit mir aber stimmte sie offensichtlich nicht. Vielleicht handelte es sich um ein buchhalterisches Versehen, vielleicht sogar um justiziablen Abrechnungsbetrug, psychologisch aber war es viel schlimmer: Was macht das mit mir als Patienten, wenn ich so etwas über meine vermeintlichen körperlichen Fähigkeiten lese? Und welche ärztliche Einstellung teilt sich über eine solche Auflistung mit?
Die Botschaft ist klar: Der ist abgeschrieben, ob jetzt oder in einem halben Jahr – es wird irgendwann so enden, irgendwann wird die Beschreibung schon passen. Man wird in eine Schublade gesteckt, die symptomatischen Bilder automatisch vor Augen. Es ist unglaublich, wie unsensibel einige Ärzte vorgehen. Inzwischen ist die abgerechnete Behandlung über vier Jahre her, und ich kann immer noch sehr gut und selbstständig reden.
Da mir eine solche Abrechnung trotz Intervention bereits zum zweiten Mal zugestellt wurde, wehrte ich mich und schrieb einen bösen Brief. An der Charité fühlte man sich ertappt. Mir ging es dabei nicht so sehr um einen bürokratischen Streit, eher teilte ich unter Kollegen mit, dass das Vorgehen nicht besonders geschickt gewesen sei und wohl ein Fehler passiert sein müsse. Man solle doch mal nachschauen, wer da die Rechnungen schreibt. Der Chef der ALS-Ambulanz aber fühlte sich angegriffen. Ich bekam zur Antwort, dass ich keine Ahnung hätte, wie viel er zu arbeiten habe. Anstatt einer klaren Entschuldigung, wie ich sie erwartet hätte, einem Dank für meinen Hinweis oder dafür, kein Fass aufgemacht zu haben, kündigte man mir mit einem Verweis auf die »Ressourceneffizienz« an, mich nicht mehr im gleichen Umfang wie bisher zu behandeln.
Auf mein eigentliches Anliegen ging man im Antwortschreiben nicht ein. Hätte man einen erhöhten Zeitaufwand in Rechnung gestellt, weil ich viele Fragen gestellt hatte oder blau-grüne Augen habe, wäre das gar kein Problem für mich gewesen, es stimmte ja. Mir aber Redeunfähigkeit zu attestieren, leichtfertig falsche Rechnungen auszustellen und den Fehler weder zuzugeben noch sich unmissverständlich zu entschuldigen, war völlig inakzeptabel. Umso entsetzter erfuhr ich im Frühjahr 2022, dass sich trotz meiner Hinweise an der Charité offensichtlich nichts geändert hat. Über Facebook suchte eine Frau aus Süddeutschland zu mir Kontakt, die Ende 2020 eine ALS-Diagnose erhalten hatte. Anfang 2021 sei sie zum ersten Mal in der Charité vorstellig geworden, damals ohne ersichtliche Einschränkungen, schrieb sie mir. In ihrer Rechnung habe jedoch dasselbe gestanden wie in meiner.
Natürlich gab es Oberärzte und Mitarbeiterinnen an der Charité, mit denen ich gut zurechtkam und die sehr freundlich zu mir waren. Verallgemeinerungen sind demnach unpassend. Letztlich aber fühlte ich mich in der ALS-Ambulanz nicht mehr gut aufgehoben und brach die Betreuung ab.
Glaube nicht alles, was du denkst. Das, was du denkst, bestimmt nachhaltig dein Leben.
Byron Katie