Westend 17 - Martin Arz - E-Book

Westend 17 E-Book

Martin Arz

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Beschreibung

Ein Toter hängt an der Hackerbrücke. Was zunächst nach einem Selbstmord aussieht, entpuppt sich als regelrechte Hinrichtung. Doch warum wurde der türkische Obsthändler aus Berlin so spektakulär mitten in München erhängt? Die Spuren führen den Münchner Bullen Max Pfeffer zum "Chinesen", einem ebenso aalglatten wie skrupellosen Geschäftspartner des Ermordeten. Doch auch ein Wohnheim für obdachlose Jugendliche im Westend rückt bald ins Zentrum der Ermittlungen. Es scheint, als wären einige der Zöglinge dort auf der Flucht - zum Beispiel vor ihren Familien … Gehen die jungen Männer für ihre Freiheit auch über Leichen? "Westend 17" ist der 5. Fall des schwulen Münchner Kriminalrats Max Pfeffer, in dem das brisante Thema Zwangsehe von einer ganz anderen Seite aufgerollt wird.

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Martin Arz

Max Pfeffers 5. Fall

Martin Arz, geboren 1963 in Würzburg, studierte Theaterwissenschaft, Völkerkunde und Kunsterziehung. Er schrieb als freier Autor für zahlreiche Magazine und arbeitete als PR-Berater, bevor er sich ganz der Malerei und dem Schreiben widmete. Seine Gemälde waren bereits auf vielen Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen. »Westend 17« ist der fünfte Kriminalroman mit Max Pfeffer aus der Feder von Martin Arz. Im Januar 2004 erschien »Das geschenkte Mädchen«, der erste Pfeffer-Krimi, es folgten »Reine Nervensache«, »Die Knochennäherin« und »Pechwinkel«. Kriminalrat Pfeffer ermittelte außerdem im Frühjahr 2010 in Deutschlands erstem Twitter-Krimi »Der Tote vom Glockenbach«, der über Twitter publiziert wurde. Martin Arz veröffentlichte zudem mehrere Sachbücher über die Stadt, in der er lebt und arbeitet: München.

Pfeffer-Krimis im Hirschkäfer-Verlag:

• Das geschenkte Mädchen · Max Pfeffers 1. Fall

• Reine Nervensache · Max Pfeffers 2. Fall

• Pechwinkel · Max Pfeffers 4. Fall

• Westend 17 · Max Pfeffers 5. Fall

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Veröffentlichung: März 2014

Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design/Coriander P

© Hirschkäfer Verlag, München 2014

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.

eBook-ISBN 978-3-940839-34-3

Besuchen Sie uns im Internet:

www.hirschkaefer-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de

Mit Liebe gemacht.

01 ›Schisser‹, dachte Janko, zog die Kapuze tiefer in die Stirn und drehte sich noch einmal nach dem Mann um. Der hielt Abstand, sah sich demonstrativ die grell erleuchteten Schaufenster der Import-Export-Geschäfte an. An den noch greller erleuchteten Vitrinen der Strip- und Animierschuppen flatterte sein Blick hastig vorbei.

Janko zitterte leicht. Und er schwitzte. »Sweat runs down the centre of my back, crawling like an insect, it makes a track …« Woher er die Textzeile kannte, wusste er nicht mehr. Er wusste nicht einmal, aus welchem Lied sie stammte. Und doch hatte er sie sich auf den Rücken, quer über die Schulterblätter, tätowieren lassen. In wundervoll verschnörkelter Kalligrafie, die an krabbelnde Insekten erinnerte.

›Passt ja‹, dachte Janko. Schweißtropfen krabbelten wie kleine Insekten entlang seiner Wirbelsäule hinab. In Englisch war er immer gut gewesen. Sprachen lagen ihm. Eine seiner Stärken. Sprachen. Sein Deutsch zum Beispiel war zwar hart und verriet seine Herkunft, doch Wortschatz und Grammatik gehorchten ihm. Sie verrieten nicht, dass er erst vor zwei Jahren in München gestrandet war und die Sprache hauptsächlich rings um den Hauptbahnhof, bei »Kollegen« und vor allem Freiern gelernt hatte.

Lange würde es nicht mehr dauern, bis Janko auf Turkey war. Er schielte schnell zurück, ob ihm der Mann noch folgte. Er folgte und verhielt sich weiterhin dermaßen peinlich unauffällig, dass jeder es mitbekommen musste. War aber auch gut so, denn dann würde Janko noch genug Zeit im Zimmer haben, etwas von dem Ice zu sniffen, das er sich vorhin gekauft hatte.

Im Schiller-Café tobte noch das Leben, als Janko daran vorbeiging. Wirtin Andrea sah zufällig genau in diesem Moment vom Zapfen auf. Ihr und Jankos Blick trafen sich, sofort huschte ein Lächeln über das Gesicht der Wirtin. Er konnte nicht sagen, dass er im Bahnhofsviertel unbeliebt war. Vielleicht lag es auch daran, dass er durch seine zierliche Figur und sein knabenhaftes Aussehen bei vielen Mutter- oder Beschützerinstinkte weckte – oder eben gut bezahlte Geilheit.

Raucher lungerten vor den Kneipen auf der Straße herum. Selbst in den abgehonktesten Kneipen achtete man strikt auf die Einhaltung des strengen Rauchverbots, denn so eine Lizenz war schnell weg. Drüben auf der anderen Straßenseite stand Ludmilla, die zuckersüße Ludmilla, und rauchte zwischen zwei Auftritten. Sie kniff die Augen zusammen, als sie Janko sah. Janko warf ihr eine Kusshand zu. Ludmilla stieß Rauch aus ihren Nasenlöchern, wies mit dem Kopf ruckartig nach rechts und wedelte mit der Hand, er solle verschwinden. Das würde sich schon wieder einrenken, war sich Janko sicher. Weil er diesen frechen Lausbubencharme hatte und im Wesentlichen ein ganz Lieber war – selbst wenn er auf Droge war. Ludmilla konnte ihm jedenfalls nie lange böse sein. Spätestens, wenn er ihr mit seinem Dackelblick die teuren Kosmetika präsentierte, die er für sie klaute, brachte er sie wieder zum Schmelzen. Und er bemühte sich ja immer, ihr das Geld, das es sich bei ihr ohne ihr Wissen »auslieh«, auch wieder zurückzuzahlen.

Janko bog nach dem Spielcasino von der bunten Schillerstraße ab in die kleine Seitenstraße. Nur noch wenige Schritte bis zur Pension Polo. Das »l« in der Neonreklame funktionierte nicht. »Po o«. Zwei große Reisebusse aus Italien parkten neben dem Eingang der Pension. Janko hätte sich schwer gewundert, wenn die italienischen Reisegruppen ausgerechnet im Polo abgestiegen wären.

Hinter den Reisebussen, die Straße ein Stückchen weiter runter, torkelten drei Männer herum. Links ein großer, kräftiger, rechts ein magerer. Die beiden schienen den untersetzten Mann in der Mitte zu stützen. Der Magere kicherte ununterbrochen wie ein Schulmädchen ein albernes »Hihihi«, stolperte und fiel beinahe der Länge nach hin. Der Kräftige fluchte, weil er nun das Gewicht des Mittleren alleine stützen musste.

»Zefix, Valentin«, schimpfte der Kräftige. »So witzig ist das auch wieder nicht. Reiß di zamm! Und nimm Rücksicht auf unseren armen Freund, du Oasch.« Er sagte Oasch, nicht Arsch.

Gackernd rappelte sich der magere Valentin wieder auf, packte den Arm des Mittleren und legte ihn sich über die Schulter. Der Mittlere trug eine Schiebermütze, die nun schief auf dem Kopf saß. Janko zögerte einen Moment, bevor er die Pension betrat. Den Mageren kannte er irgendwoher, da war er sich fast sicher. Valentin? Es gab da den dürren Valentin, den man meist nur Voitl nannte (das V wurde, wie in Oberbayern üblich, als F ausgesprochen, das hatte Janko schon gelernt) und der für den Chinesen arbeitete. Dass Voitl die bayerische Koseform von Valentin war, wusste Janko nicht, und Janko hatte Voitl bisher zwar nur von Weitem gesehen, aber er kannte die Geschichten, die über ihn kursierten. Es war in jedem Fall besser, wenn man Voitl nur von Weitem sah, wenn man ihn schon überhaupt sehen musste. Wenn der Magere also Voitl war, dann könnte der Kräftige eventuell Boromir sein, den alle nur Boro nannten. Österreicher mit bosnischen Wurzeln. Voitl und Boro. Das Horrorgespann. Da hörte man Geschichten! Aber eben nur Geschichten. Janko kannte die beiden nicht wirklich und stoppte sein Kopfkino. Das waren nur drei Besoffene, von denen der eine zufällig Valentin hieß. Völlig wurscht.

Das Trio steuerte auf einen alten Ford Transit zu, der vor den Reisebussen parkte. Der Magere gackerte blöde sein »Hihihi«.

Janko betrat die Pension und schaute noch einmal kurz über die Schulter zurück. Sein Kunde bog eben bei dem Spielcasino um die Ecke. Janko musste grinsen. Es war nicht das erste Mal, dass der Kerl ihn nachts am Bahnhof angesprochen hatte. Fast könnte man schon von einem Stammfreier sprechen. Na gut, dreimal machten noch keinen Stammfreier. Dreimal waren sie in der Pension Polo gewesen. Immer spät nachts. Immer hatte der Typ ein Geschiss darum gemacht, dass sie nicht zusammen gesehen wurden und war Janko mit sehr großem Sicherheitsabstand gefolgt. Der Typ schien mächtig Angst davor zu haben, Bekannten oder Arbeitskollegen oder vielleicht gar der Ehefrau zu begegnen. Und eine Ehefrau musste er haben, wie achtzig Prozent von Jankos Freiern, zumindest trugen sie Eheringe. Immerhin war der Typ nicht pervers und zahlte korrekt für alle Extras; eigentlich nur ein Extra, er stand auf Küssen.

»Servus, Polo«, grüßte Janko. Das gelbe Neonlicht ließ seinen Teint noch ungesünder wirken, wie er zwangsläufig feststellen musste, denn direkt gegenüber dem Eingang hing ein großer Spiegel.

»Servus, Janko.« Polo unterbrach sein Computerspiel und nickte dem Jungen zu. Polo hieß eigentlich Hans-Günther, aber mit der Pension hatte er auch den Namen übernommen. »Wie immer?«

Janko nickte. Polo wuchtete sich von seinem Drehstuhl auf, fischte einen Schlüssel vom Schlüsselbrett, das einst mit dunkelgrünem Samt bezogen gewesen sein musste.

»World of Warcraft?«, fragte Janko, nur um etwas zu sagen. Computerspiele interessierten ihn nicht sonderlich. Aber er wusste, dass Polo süchtig danach war.

Polo nickte. »Nebel von Pandaria. Level 90 ruft!«

Janko lächelte unbestimmt. »Er zahlt.« Janko deutete mit dem Kopf Richtung Straße.

»Nix.« Polo sah zwar aus wie eine fette Unke, konnte aber für seine Leibesfülle erstaunlich schnell sein. Er schlängelte seine Massen in Windeseile um den kleinen Tresen herum und packte Jankos linken Arm. »Wennst dir ein kostenloses Bett schnorren willst, schleich dich. Gezahlt wird im Voraus.«

»Versuchen kann mans ja mal.« Janko grinste schief und schob die Kapuze nach hinten. Polos fettige Haare, die sich über den Hemdkragen wellten, müffelten unangenehm. Es war nicht das Einzige an Polo, das müffelte. Janko drehte sich weg. »Aber im Ernst, da kommt noch jemand.« Er wühlte zwanzig Euro hervor und gab sie Polo.

»Siehste, geht doch.« Polo brummte zufrieden, watschelte zurück und wuchtete sich auf seinen alten Bürostuhl, der ein ungutes Ächzen von sich gab. »Eine Stunde. Wenn jemand nach dir fragt, schick ich ihn rauf.«

»Kennst ihn eh schon. Der spießige Beamtentyp.«

»Sind sie das nicht alle?«, fragte Polo und widmete sich wieder seinem Computer.

»Hey, wart mal, Kleiner«, rief Polo den Burschen zurück, der sich anschickte, die Treppen hinaufzusteigen. »Du kennst doch Tayfun …«

»Nö«, antwortete Janko wie aus der Pistole geschossen. Zu schnell. Natürlich kannte er Tayfun, aber das wollte er gegenüber Polo nicht zugeben. Janko stieg wortlos die Treppen hinauf. Vorgestern hatte ihn ein älterer Türke angesprochen. Einfach so. War zu ihm hingekommen, direkt und offen. Dass das kein Freier sein konnte, war Janko sofort klar gewesen. Der Türke, ein untersetzter Mann mit Schnauzbart und Halbglatze, hatte ihm das Foto eines aufgeweckt in die Kamera strahlenden Burschen um die achtzehn gezeigt und Janko gefragt, ob er den kenne oder schon mal gesehen habe. Janko hatte verneint. Der Türke hatte sich höflich bedankt, war weitergegangen und hatte zielsicher den nächsten Stricher angesteuert, um ihm das Foto zu zeigen. Janko hatte sein Smartphone gezückt und Tayfun sofort eine Nachricht geschickt, dass jemand unterwegs sei, der nach Arslan suchen würde.

»Hihihi«, gackerte Voitl immer noch, als die Schiebetür des alten Ford-Transporters ins Schloss krachte.

»Jetzt krieg dich wieder ein, Valentin!«, knurrte Boro. Immer, wenn er wirklich sauer war, nannte er Valentin beim vollen Namen. »Noch unauffälliger gehts wohl nicht? Oasch!«

»Der … der hat geschaut wie ein Fräckl«, prustete Voitl. Er sprach »Fraggle« wie »Fräckl« aus. »Das hättest du nicht sagen dürfen, hihihihi. Ein Fräckl!«

Boromir zuckte mit den Schultern. »Du bist so ein Oasch, Voitl. Der hat ja auch geschaut wie ein Fraggle, als du ihm gesagt hast, wer uns schickt.«

Mit erneutem »Hihihi« versuchte Voitl den dümmlichen, stets überrascht wirkenden Gesichtsausdruck eines Fraggles zu imitieren, jenen kunterbunten Puppen mit riesengroßen Kulleraugen, die als Ableger der Muppets in den 1980er Jahren das Kinderfernsehen erobert hatten. Dann fiel Voitls Blick auf den Asphalt. Er bückte sich und hob ein ledernes Notizbuch mit Verschlussgummi auf. Er blätterte neugierig darin herum. Die meisten Seiten waren noch leer. »Mei, das ist schön«, sagte Voitl, während er die Beifahrertür öffnete und sich auf den Sitz schwang. »Hat unser Fräckl … hihihi … hat der wohl grad verloren. Na, ich behalts. Schönes Bücherl.«

Boro stieg auf der Fahrerseite ein. Bevor er den Zündschlüssel umdrehte, sah er nach hinten in die Ladefläche. Der Mann, den sie hineingeschubst hatten, stöhnte.

»Der kommt langsam zu sich«, sagte Boro und ließ den Wagen an. »Wir sollten uns beeilen.«

»Ich dachte, er soll alles mitkriegen«, antwortete Voitl.

»Wer sagt denn das?« Boro parkte aus.

»Na, wer wohl?«

»Nein, hat er nicht gesagt.«

»Schade. Hab mich schon drauf gefreut, was der für ein Gesicht macht, wenn wir …« Voitl wurde wieder von einem Kicheranfall geschüttelt, er riss dramatisch die Augen auf und prustete: »Wie ein Fräckl. Da hätte er bestimmt noch fräckeliger geschaut. Und weißt du noch, die Allwissende Müllhalde … Die hat ausgeschaut wie meine Großtante Mitzi …«

»Voitl, wir unterhalten uns jetzt nicht über Puppen im Fernsehen«, sagte Boro bestimmt und bog in die Schillerstraße ein.

»Mit dir macht das in letzter Zeit auch keinen richtigen Spaß mehr«, maulte Voitl. »Ich hab neulich im Fernsehen gesehen …«

»Du hast immer was im Fernsehen gesehen«, sagte Boro. »Du schaust einfach viel zu viel fern, Oasch. Konzentrier dich wenigstens einmal! Wir haben … Scheiße, kannst ned schaun, du Funzn!« Boro trat voll auf die Bremse, als eine ältere Frau sturzbetrunken, ohne auf den Verkehr zu achten, plötzlich auf die Straße wankte.

»Die …«

»Halt einfach mal dein Maul, Valentin.« Boromir bog in die Schwanthalerstraße ein und schaltete das Radio an. Wie sehr ihm doch sein Partner auf die Nerven ging. Gewiss, man musste kein Genie sein, um die Jobs zu erledigen, die sie zu erledigen hatten, aber ein bisschen mehr IQ, ein bisschen weiterer Horizont dürfte es schon sein. Voitl gehörte zu jenen Menschen, die im Fernsehen zwischen echter Dokumentation und Scripted Reality, wenn unbegabte Laiendarsteller holprige Texte improvisierten und so taten, als wäre das das echte Leben, nicht unterscheiden konnten. Er hielt schlecht gemachtes Billigfernsehen wie Berlin – Tag & Nacht und Kommissare im Einsatz oder die Gerichtsshows für Dokus. Regelmäßig berichtete er Boromir, was sich im Fake-TV skandalöses ereignet hatte und regte sich ernsthaft auf oder amüsierte sich darüber. Besonders hatte es Voitl eine Nathalie angetan, die »soooolche Möpse« und offenbar den halben Körper »voll geil« zutätowiert hatte. In welchem Format diese Nathalie mitspielte, hatte Boro nie herausgefunden, es interessierte ihn auch nicht im Ansatz. »Du bist so brunzdumm«, hatte Boro früher immer gesagt, dann hatte er es irgendwann aufgegeben, denn Voitls Einfalt hatte mitunter auch Vorteile. Er hinterfragte selten etwas und wenn, dann eben so brunzdumm, dass Boro es bei ebenso dummen Antworten belassen konnte.

Sie hatten inzwischen die Landsberger Straße erreicht und bogen rechts ab Richtung Hackerbrücke. Außer einem einzelnen Radfahrer ohne Licht, der auf dem Gehsteig fuhr, war niemand unterwegs. Boro hielt am Beginn der Hackerbrücke. Die gusseisernen Bögen hoben sich schwarz gegen den Nachthimmel ab und warfen dank der gelben Straßenlaternen ein Muster auf den Gehweg.

»Du steigst hier mit unserem Freund aus und wartest auf mich.«

»Vielen Dank auch«, knurrte Voitl, während er sich damit abmühte, den stöhnenden Mann von der Ladefläche in eine halbwegs aufrechte Position am Bordstein zu wuchten. Wankend standen die beiden schließlich da. Boro wendete auf der Straße und parkte den Transporter ein paar Meter weiter auf dem Vorplatz direkt vor der Fußgängerrampe, die hinunter zu den Bahngleisen führte.

»Packmas«, sagte Boro und half Voitl, den schwer atmenden Mann zu stützen. Er zog dem Mann die verrutschte Schiebermütze zurecht. Das Trio wankte ein paar Schritte Richtung Brückenmitte. Ein Auto näherte sich. Boro und Voitl drehten sich mit ihrer Last so, dass sie über die Brüstung Richtung Hauptbahnhof schauten und der Autofahrer nur ihre dunklen Silhouetten von hinten sehen konnte. Boro hob den linken Arm zu einer ausladenden Geste, als würden sie die nächtliche Skyline der Stadt hinter dem Bahnhofsgebäude bewundern. Dass er – wie auch Voitl – mitten im Sommer Handschuhe trug, würde der Autofahrer sicher nicht bemerken. Und wenn schon … Das Auto fuhr vorbei.

»Schön, unser München«, sagte Voitl und starrte auf die Lichter in der Ferne.

»Drehst du jetzt völlig durch?«

»Ist doch schön. Man sieht selten die Frauenkirche bei Nacht so schön.« Noch bevor Boro etwas erwidern konnte, hatte Voitl nahtlos das Thema gewechselt. »Erinnert mich immer an den Eiffelturm, die Brücke hier.«

»Als ob du jemals den Eiffelturm gesehen hättest«, ätzte Boro.

»Was weißt du denn schon.«

»Dass du nie aus München rausgekommen bist, weiß ich zum Beispiel«, antwortete Boro. »Jetzt sag, wo du das Seil befestigt hast.«

»Gleich da.« Die drei Männer wankten zu der ein paar Meter weiter entfernten Stelle.

»Bist du deppert?«, fragte Boro. »Hier? Wie sollen wir ihn dann über die Absperrung bringen?« Er deutete auf die Brüstung. Das ungefähr brusthohe Geländer aus Gusseisen verfügte über eine schräg nach oben führende Erweiterung aus massiven Stahlpfosten mit Drahtgitter, die verhindern sollten, dass jemand über das Geländer stieg und sich auf die Bahngleise stürzte.

»Werfen«, antwortete Voitl trocken.

»Werfen«, echote Boro verdutzt. »Dann landet er doch in den Hochspannungsleitungen.«

»Nicht hier. Schau. Freier Fall.«

Die beiden ließen den Mann in ihrer Mitte los und lehnten ihn gegen das Geländer. Der Mann stöhnte und fasste sich an den Kopf.

»Na, jetzt ist er doch wieder unter uns«, sagte Voitl, während er sich bückte und das Seil, dessen eines Ende an einem Pfosten fest verknotet war, hochhob. Er selbst hatte das Seil vor nicht einmal einer Stunde dort angebracht. Mit geübten Handgriffen knüpfte er das lose Ende zu einem Henkersknoten mit neun Rundtörns.

»Wie die neun Todsünden«, murmelte er dabei.

»Das sind nur sieben«, raunte Boro verärgert.

»Was?«

»Die Todsünden. Es sind sieben, nicht neun. Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit. Das weiß ich gewiss! Ich war in einem katholischen Internat. Das und noch vieles mehr haben sie mir da in voller Barmherzigkeit eingeprügelt.«

»Du bist doch Moslem!«

»Ja, und?«

»Ganz früher waren es mal neun! Das hat meine Großmutter selig noch gewusst. Ruhmsucht und Trübsinn gehörten noch dazu«, antwortete Voitl. »Und ein gescheiter Henkersknoten gehört sich mit neun Rundtörns.«

»Was … was ist denn los?«, stammelte der dritte Mann und strich sich fahrig über die Halbglatze. Er konnte kaum die Augen öffnen und sich immer noch nicht wirklich aufrecht halten. »Wo bin ich?«

»Am Ende«, antwortete Boro.

»Hihihi«, gackerte Voitl los und legte dem Mann die Schlaufe von hinten um den Hals. Verwirrt sah der Mann an sich hinunter. »Am Ende. Der war gut.«

Boro und Voitl sahen sich um. Niemand unterwegs auf der Hackerbrücke. Dann packten Boro und Voitl den untersetzten Mann – einer an den Schultern, einer an den Füßen. Der Mann war etwas korpulent, aber klein und daher nicht allzu schwer. Und er war vor allem noch zu benommen, um sich wehren zu können. »Ich … ich werde alles tun …«, stotterte der Mann.

»Zu spät«, sagte Voitl.

»Eins und zwei und drei«, zählte Boro. Sie holten Schwung und warfen den Mann in einem nicht sehr hohen Bogen über das Geländer, dessen Erweiterung und die augenfälligen gelben Schilder, auf denen schwarze Blitze um »Vorsicht, Lebensgefahr!« zuckten.

Als sich das Seil straffte und sich der halbglatzige Mann das Genick brach, waren Boro und Voitl bereits auf dem Weg zum Wagen.

In Zimmer 365 in der Pension Polo hatte sich Janko etwas Crystal Meth, das er, wie so viele, nur »Ice« nannte, reingezogen. Er hatte diesmal viel gekauft und verstaute den Rest in der kleinen Innentasche, die er sich in den Bund seiner Jeans selbst eingenäht hatte. Sein Scherzkeks von Dealer hatte den Stoff mit Lebensmittelfarbe blau gefärbt, was die meisten seiner Kunden witzig fanden, denn das war eine Reminiszenz an die TV-Serie »Breaking Bad«, in der der Protagonist ein besonders reines Crystal Meth herstellte, das tiefblau war. Nur kannte Janko die Serie nicht und die Farbe seines Stoffs war ihm egal. Hauptsache, er war breit. Er legte sein dünnes Goldkettchen mit dem Kruzifix ab. Janko hatte im Leben nie viel Gutes erlebt und sein Gebete waren bisher unerhört geblieben, dennoch küsste er den Gekreuzigten jedes Mal, wenn er die Kette an- oder ablegte, so wie es ihm seine Großmutter gezeigt hatte. Er zog sich bis auf die Unterhose aus und ging ins winzige Bad, das eindeutig schon länger nicht mehr gründlich geputzt worden war. Sich ein wenig frisch machen. Der Typ, auf den er wartete, war zwar sein vierter Kunde heute, aber der erste, der ein Zimmer zahlte. Und zuletzt hatte Janko am Vortag in der WG geduscht.

Als Janko aus dem Bad kam, saß sein Freier schon verkrampft auf der Bettkante.

»Hallo, alles gut?«, fragte Janko und wollte dem Mann einen Kuss auf die Wange geben, doch der zog den Kopf weg.

»Lass uns erst den finanziellen Teil erledigen«, sagte der Mann und zog seine Brieftasche hervor. Seine Stimme wurde plötzlich laut: »Fünfzig Euro. Mit allen Extras und ohne Gummi.«

»Stimmt.« Janko streckte die Hand aus, um den Geldschein entgegenzunehmen. Er bemerkte nicht, dass sein Kunde die Zimmertür nur angelehnt hatte und zwei weitere Männer leise den Raum betraten.

02 Die eben noch wärmende Nähe wurde jäh unterbrochen, als Max Pfeffer hochschnellte und nach seinem Handy tastete, das Geräusche wie ein Stahlwerk, in dem Kesseldampf abgelassen wird, von sich gab. Dann sagte eine Männerstimme »Okay, ready, let’s do it« und der industrielle Maschinensound des »Being Boiled«-Intros von Human League stampfte rhythmisch durch das Schlafzimmer, bis Pfeffer ranging.

»Ja«, bellte er ins Telefon, während Tim sich stöhnend umdrehte und seine langen Arme um Pfeffers Hüften schlang.

»Deshalb müsst ihr mich wecken?«, sagte Pfeffer ärgerlich. Tim biss Pfeffer spielerisch in die Hüfte.

»Gut, verstehe … Ja … Ist okay. Ich komme gleich.« Pfeffer legte auf.

»Du solltest dir endlich mal einen dezenteren Klingelton zulegen«, grummelte Tim, das Gesicht halb im Kissen. »Oder warte wenigstens, bis der Gesang mit ›Listen to the voice of Buddha‹ kommt, dann wacht man omtechnisch besser auf.«

»Ich brauch nen Klingelton für die Arbeit, den ich überall raushöre und von dem ich schnell aufwache«, antwortete Pfeffer knurrig und kuschelte sich noch kurz zu Tim.

»Haben wir wieder eine Leiche, Maxl?«

»Wir haben.«

»Und die brauchen dich bei der Leiche, weil ja sonst keiner Mörder finden kann?«

»Erraten.«

»Wie spät isses denn?«

»Gleich halb fünf.«

»Scheiße. Na gut, dann kann ich ja auch gleich aufstehen.«

»Spinnst du? Du musst nicht wegen mir …«

»Geh duschen, Herr Oberkriminaldirektor. Ich mach Kaffee und hab auch einen vollen Tag vor mir. Schadet gar nix, wenn ich mal früh aufstehe.«

»Wie du meinst, mein Schokocrossie.«

»Wow, der ist neu. Und so gar nicht rassistisch.« Mandelaugen funkelten, weiße Zähne blitzten und Sommersprossen tanzten auf Tims Kupferteint – und Max Pfeffer wusste wieder, ohne es wirklich jemals vergessen zu haben, warum er sich damals in diesen exotischen Hünen von der niederländischen Karibikinsel Curaçao verliebt hatte. Tim de Fries, der sich selbst immer als »holländische Kolonialware« bezeichnete, weil in seinen Adern das Blut fast aller Völker des einst gigantischen niederländischen Weltreichs floss; vom friesischen Bauern zur indonesischen Wäscherin bis hin zum ghanaischen Kaufmann reichten seine Vorfahren. Für Max Pfeffer war sein Lebensgefährte der Beweis, dass ein Mix aus allen Völkern und Hautfarben der Welt die schönsten Menschen hervorbringt.

»Eben. Ich gebe mir Mühe, Brownie.«

Max Pfeffer sprang schnell aus dem Bett und Tims spielerischer Schlag ging ins Leere.

»Schokocrossie ist mir lieber«, rief ihm Tim hinterher. »Klingt knackiger als Brownie. Und eigentlich bin ich ja eher ein Karamellbonbon …«

»Werds mir merken«, antwortete Pfeffer vom Flur aus, bevor ihm einfiel, dass er leiser sein musste, wollte er nicht seinen Sohn Florian aufwecken.

Ein zartes Morgenrot beleuchtete die Szenerie, als Max Pfeffer die Betontreppe neben den Gleisen hinunterstieg. Er ärgerte sich ein wenig, dass der Tag so begann, statt mit seinem üblichen Sportprogramm. Obwohl er erst Anfang vierzig war, hatte Max Pfeffer schon seit Jahren graue Haare. Daran hatte er sich nie gestört, und er hatte alle Versuche seines Friseurs, die Haare zu »renaturieren«, abgelehnt. Außerdem kontrastierten die Haare bestens mit seinen tiefbraunen, sanftkuscheligen Augen, die ihm nicht ausschließlich, aber doch zumeist bei Frauen gewisse Sympathiepunkte einbrachten. Ein Kollege hatte mal gesagt: »Du redest dir leicht mit deinen Schenkelöffneraugen …« Pfeffer fand sich selbst nicht besonders hübsch, aber er achtete sehr auf sich – seit er sich einen kurzen Bart hatte stehen lassen, brauchte er im Bad etwas kürzer. Er kleidete sich immer mit Stil und Geschmack. Was Pfeffer jedenfalls massiv störte, waren Fettpölsterchen und Bierbäuche. So etwas würde es bei ihm nicht geben. Also zog Max Pfeffer konsequent und diszipliniert seit ewigen Zeiten sein Sportprogramm durch. Idealerweise in der Früh. Außer an Tagen wie diesem.

Pfeffer schwang sich über das Absperrgitter und lief die paar Schritte durch ein bisschen Böschung mit Grünzeug, bis er am Schotterbett der Bahngleise stand. Vor ihm lag die Hackerbrücke im Licht des beginnenden Tages. Hinter mehreren Reihen Gleisen und Weichen, zwischen denen ein Wald von Signalmasten stand, erhob sich düster wie eine Trutzburg das Stellwerk. Auf den Gleisen dahinter rauschten schon die ersten S-Bahnen mit Pendlern in Richtung Hauptbahnhof, von der Ferne wehten die Lautsprecherdurchsagen her. Züge rangierten auf den seitlichen Gleisen. Ein weißer ICE glitt im Schleichtempo gespenstisch leise vorbei.

Die grellen Scheinwerfer der Spurensicherung wiesen Pfeffer den Weg. Er sah es schon von Weitem: Ungefähr in halber Höhe zwischen Brückengeländer und Bahngleisen hing ein menschlicher Körper an einem Seil. Dahinter sah er die Silhouette der Stadt, die Türme der Frauenkirche und die aufgehende Sonne. Im Halbdunkel den Weg halbwegs stolperfrei zwischen Bohlen, Schienen, Schotter und erstaunlich wenig Abfall zurückzulegen, war nicht so einfach. Pfeffer sah, dass wenige Meter vor ihm eine Frau mit kurzen blonden Haaren, die denselben Weg zu haben schien, stolperte und hinfiel. Seine Kollegin. Er beeilte sich und half ihr auf. »Gehts, Bella?«

»Chef, mein starker Held.« Hauptkommissarin Annabella Scholz richtete sich stöhnend auf, stemmte den linken Arm in die Seite und wischte sich über den mächtigen Bauch. Sie roch angenehm nach Kaffee. Seit sie Kontaktlinsen statt einer Brille trug, hatte sie etwas Lieblicheres an sich.

»Schwangerschaftsgymnastik, Bella?«, fragte Pfeffer schmunzelnd. Alle nannten Annabella nur Bella.

»Klar, Chef. Ist eine Yogaübung. Nennt sich Verbrühung mit heißem Kaffee am Morgen.« Sie wischte mit der flachen Hand weiter über ihre Kleidung, in der anderen hielt sie noch den Pappbecher, dessen Inhalt sie über sich geschüttet hatte.

»War er arg heiß?«

»Nein, geht schon. Nur ärgerlich, dass ich gleich die neue Hose eingesaut habe.«

Die beiden gingen vorsichtig weiter.

»Gehts wirklich, Bella?«, fragte Pfeffer und deutete auf den Bauch der schwangeren Kollegin.

»Klar. Er tritt nur ein wenig. Kein Thema.« Bella Scholz hielt sich sacht an Pfeffers Arm fest. »Warum haben sie dich rausgeholt, Chef?«, fragte sie dann. »Muss schon was verdammt Wichtiges sein.«

»Keine Ahnung«, antwortete Max Pfeffer. »Sie haben nur gesagt, dass das vermutlich ein höchst sensibler Fall sei, und dass auch The Big Boss informiert wurde und anwesend sein wird. Ebenso der Oberstaatsanwalt. Da muss ich also auch kommen.«

»Elefantenrunde«, sagte Bella Scholz trocken und deutete auf eine kleine Gruppe Menschen, die außerhalb des Flutlichts stand und sich unterhielt: Oberstaatsanwalt Norbert Bauer, Kriminaldirektorin Jutta Staubwasser und Rechtsmedizinerin Doktor Gerda Pettenkofer. Die Rechtsmedizinerin trug als Einzige der drei einen weißen Overall, ebenso wie die Kollegen der Spurensicherung innerhalb des gleißenden Flutlichtkreises. Bella Scholz sah beim Gehen konzentriert auf den Boden, um nicht noch einmal zu fallen. Deshalb fuhr sie überrascht zusammen, als Pfeffer plötzlich seinen Arm befreite, davonsprintete und dabei »Seid ihr völlig übergeschnappt! Stopp!« brüllte. Das Quietschen eines rangierenden Zugs verschluckte sein Geschrei.

Hauptkommissarin Bella Scholz stolperte ein zweites Mal an diesem Morgen und schlug sich diesmal das rechte Knie an einer Schiene auf. Das Baby in ihrem Bauch trat und boxte.

»Stopp!«, brüllte Pfeffer noch einmal. Die Kollegen von der Spurensicherung drehten sich zu ihm um, auch Kriminaldirektorin Staubwasser, die Rechtsmedizinerin Doktor Gerda Pettenkofer und Oberstaatsanwalt Bauer richteten ihre Aufmerksamkeit auf Pfeffer. Nun endlich nahmen ihn die Uniformierten oben auf der Brücke wahr und hielten inne. Sie waren auf die Absperrung auf der Brüstung geklettert, hatten mehrere Decken auf den Stacheldraht gelegt und waren dabei, den Erhängten am Seil, das ihm das Genick gebrochen und dann tief in seinen Hals eingeschnitten hatte, nach oben zu ziehen.

»Seid ihr wahnsinnig?!«, rief Pfeffer den Kollegen oben auf der Brücke zu. »Runterlassen, nicht raufziehen!«

»Aber wir haben doch Handschuhe an«, rief einer der Uniformierten.

»Runterlassen!«, brüllte Pfeffer.

Sofort ließen die beiden Uniformierten das Seil los, die Leiche rauschte nach unten und landete mit einem unangenehmen Knacksen wieder in ihrer Auffindposition.

»Das … also wirklich …«, stammelte Kriminaldirektorin Jutta Staubwasser, als sie zu Pfeffer trat. Weder sie noch die Rechtsmedizinerin oder der Staatsanwalt hatten zuvor bemerkt, was vor sich gegangen war. »Wie pietätlos …«

»Wobei … sie hatten ihn doch schon fast oben«, sagte Oberstaatsanwalt Bauer. »Gut, warten wir eben, bis der Laster mit Hebebühne hier ist und ihn runterholt.«

Doktor Gerda Pettenkofer verdrehte die Augen und zündete sich eine Zigarette an. »Sie wissen schon, dass die beiden Kasper da oben mit ihrer Aktion meine Arbeit unnötig erschweren«, knurrte sie.

»Mein Gott«, entgegnete der Staatsanwalt, »Sie werden ja wohl noch feststellen können, welche Verletzungen zum Tode führten und welche danach …« Er brach ab und zuckte mit den Schultern.

»Ich glaube, falls hier irgendwer mit dem Handy fotografiert oder filmt, macht das keinen guten Eindruck von der Arbeit der Münchner Polizei, wenn sie einen Erhängten am Galgen hochziehen, oder?«, sagte Max Pfeffer. Er hatte ein, gelinde gesagt, schwieriges Verhältnis zu Oberstaatsanwalt Norbert Bauer.

»Da hat Kollege Pfeffer recht«, sagte Kriminaldirektorin Staubwasser. Inzwischen hatte auch Hauptkommissarin Scholz die Gruppe erreicht. »Sie fragen sich sicher, warum wir heute zu dieser unchristlichen Uhrzeit in großer Runde hier sind«, fuhr die Kriminaldirektorin fort. »Auch wenn unser Opfer noch nicht genau untersucht werden konnte, so ist doch selbst von hier unten eindeutig feststellbar, dass es sich um einen Menschen mit Migrationshintergrund handelt. Dazu diese exponierte Lage! Mitten in der Innenstadt in Sichtweite zum Hauptbahnhof. Und die Art und Weise lässt sofort an eine Hinrichtung denken.«

»Warum sind wir sicher, dass es kein Selbstmörder ist, der sich spektakulär verabschieden wollte?«, fragte Pfeffer.

»Weil …«, der Staatsanwalt zögerte. »Weil wir das noch nicht wissen. Es sieht allerdings nicht nach Selbstmord aus.« Er ließ offen, warum. Er hatte keine Ahnung, warum.

Die Rechtsmedizinerin sprang ein: »Weil ein Selbstmörder hier wohl die leichtere Variante gewählt hätte, Maxl. Wenn er schon mühsam die Absperrung da oben überwunden hätte, die verhindern soll, dass Leute sich hier herunterstürzen, dann wäre er einfach über den Stacheldraht hinweg auf die Gleise vor einen einfahrenden Zug gesprungen. Sich da mit einem Seil zu erhängen, dürfte sich äußerst schwierig gestalten. Aber ich möchte hier auch betonen, dass auch ich einen Selbstmord nicht ausschließen kann, solange ich nicht die Leiche untersucht habe.«

»Wichtig ist momentan, dass die Öffentlichkeit aufs Äußerste sensibilisiert ist. Nur wenige hundert Meter Luftlinie von hier wurde im Westend Theodoros Boulgarides von diesen Neonazis ermordet und wenige hundert Meter Luftlinie in die andere Richtung findet momentan der Prozess gegen die letzte überlebende Täterin der rechtsextremen Terrorzelle NSU statt! Da schaut die ganze Welt drauf! Wir haben uns schon einmal bis auf die Knochen blamiert, weil wir die Dönermor… die Morde an ausländischen Mitbürgern falsch eingeordnet hatten. Das darf nicht wieder vorkommen, haben wir uns verstanden?«

»Ich habe das verstanden«, sagte Pfeffer lakonisch mit dem Anflug eines Lächelns. Er wusste, wie alle der Anwesenden, dass nur einer aus ihrer Gruppe bei den blamablen Ermittlungspannen zu den NSU-Morden beteiligt gewesen war: Oberstaatsanwalt Norbert Bauer.

Doktor Gerda Pettenkofer trat ihre Zigarette aus. »Da kommt der Kranwagen endlich! Ich fahr am besten gleich mit den Jungs rauf zu unserem Kunden, damit die nicht wieder irgendwelche Dummheiten mit ihm anstellen, bevor sie ihn runterbringen.« Die Medizinerin setzte ihren umfangreichen Leib in Bewegung und ging mit energischem Schritt zu den Kollegen, die den Transporter mit ausfahrbarer Arbeitsbühne von der Deutschen Bahn unter dem Erhängten in Position brachten. Oranges Licht zuckte von den Warnleuchten auf dem Fahrerkabinendach durch den Morgenhimmel.

Kriminaldirektorin Staubwasser sah der Pettenkoferin mit gespitzten Lippen und missbilligend gerunzelten Augenbrauen hinterher. Dann drehte sie sich zur Gruppe zurück. »Wie der Herr Oberstaatsanwalt bereits gesagt hat, scheint es so, als sei hier absolutes Fingerspitzengefühl gefragt.«

»Und warum hat sie dann ausgerechnet uns herbestellt?«, sagte Bella Scholz leise. Der Kommentar wurde vom »Rattattrattattrattatt« eines vorbeifahrendes Zuges geschluckt. Doch Max Pfeffer, der neben ihr stand, hatte es gehört und schmunzelte.

»Finden Sie meine Ausführungen so witzig, Kollege Pfeffer?«, fragte die Kriminaldirektorin spitz.

»Nicht doch«, antwortete Pfeffer, »ich habe nur an etwas gedacht, was mich zum Schmunzeln brachte.« Er verstand sich in der Regel gut mit seiner Chefin.

»Ach«, Oberstaatsanwalt Bauer mischte sich ein. »Vielleicht wollen Sie uns dann alle daran teilhaben lassen?«

»Nein«, antwortete Pfeffer gelassen.

»Zurück zum Thema, meine Herren.« Jutta Staubwasser versuchte, an ihrer blondierten, festbetonierten Frisur herumzutuffen. »Die Öffentlichkeit wird uns haargenau auf die Finger schauen, wenn wir es hier tatsächlich mit einer Art Hinrichtung eines Aus… eines … eines Mitmenschen mit Migrationshintergrund zu tun haben. Wir stehen zwar erst ganz am Anfang der Ermittlungen, aber Oberstaatsanwalt Bauer und ich sind uns einig, dass wir auf alles vorbereitet sein müssen. Darum wird es, sobald wir die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin haben, eine Besondere Aufbauorganisation geben, von der wir schnellstmögliche Ergebnisse erwarten. Wie bereits gesagt, dürfen Fehler wie bei den NSU-Ermittlungen nicht mehr vorkommen. Dazu kommt dann noch die Pikanterie, dass einer der beiden Jungs, die die Leiche gefunden haben, Benno Althaus ist.«

»Ja, und?«, fragte Pfeffer.

»Benno Althaus!«, schnaubte der Oberstaatsanwalt ungehalten. »Mensch, denken Sie doch mal mit, Pfeffer. Der Sohn vom Zweiten Bürgermeister! Doktor Guido Althaus von den Grünen!«

»Ich bleibe dabei: Ja, und?«

Der Oberstaatsanwalt warf entnervt die Hände in die Höhe.

»Sie möchten, dass ich diese Sonderermittlungskommission leite?«, fragte Pfeffer ungerührt.

Jutta Staubwasser schmunzelte und sagte süffisant: »Wie nicht anders zu erwarten, denken Sie mit, Kollege Pfeffer. Ja. Ich habe Oberstaatsanwalt Bauer davon überzeugen können, dass Sie der richtige Mann dazu sind. Stellen Sie sich bitte schnell ein Team für eine Sonderkommission zusammen, damit Sie loslegen können, wenn die Rechtsmediziner fertig sind.«

»Wenn oder falls es sich um Mord und nicht um Selbstmord handelt«, sagte Hauptkommissarin Scholz.

»Richtig.« Die Kriminaldirektorin lächelte verbindlich. »Falls. So, und nun entschuldigen Sie mich bitte. Meine Anwesenheit dürfte sich hier erübrigt haben. Wir sehen uns im Büro.« Jutta Staubwasser verabschiedete sich und bemühte sich so damenhaft wie möglich über die Gleise und den Schotter zu stöckeln. Es fiel ihr nicht ganz leicht, denn das taubenblaue Kostüm, das sie heute gewählt hatte, hatte einen recht engen Rock, der ihre Schrittgröße drastisch einschränkte.

»Mich brauchen Sie ja auch nicht mehr.« Der Oberstaatsanwalt kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kriminalbeamten jovial die Hände und ging.

»Ich habs doch gesagt. Elefantenrunde.« Bella Scholz legte die Hände um ihren Bauch. »Denen geht der Arsch auf Grundeis. Nach den NSU-Morden. Und dann beginnt auch noch bald die Wiesn.« Sie sah hinüber zu dem orange blinkenden Transporter mit Arbeitsbühne. Der Teleskoparm war weit herausgefahren. Oben im Arbeitskorb konnte man zwei Männer in weißen Overalls erkennen, die den Toten aus der Schlinge befreiten. Bei ihnen stand Doktor Gerda Pettenkofer und notierte sich etwas.

»Eigentlich kannst du hier alleine weitermachen, oder?«, sagte Max Pfeffer. »Elefantenrunde ist zu Ende.«

»Schon klar, Chef.«

»Vergiss bitte nicht das Stellwerk, vielleicht haben die oben im Turm was gesehen. Ach, und natürlich den Busbahnhof. Haben die die ganze Nacht auf?«

»Ja, Chef.« Bella Scholz klang ungehalten. Er hatte gesagt, sie solle sich darum kümmern, also würde sie sich darum kümmern. Kontrollfreak.

»Okay. Kaffee? Ich hol uns drüben im ZOB noch einen Kaffee, dann sehen wir weiter.« Er deutete auf den Zentralen Omnibusbahnhof, der hinter der dunklen Silhouette des Stellwerkturms wie ein gestrandetes Ufo mit abgehacktem Hinterteil lag und bereits um diese frühe Uhrzeit hell erleuchtet war. »Du kannst ja in der Zwischenzeit … Wer hat eigentlich die Leiche gefunden? Wo ist dieser wahnsinnig wichtige Sohn?« Er sah sich um und machte zwei Jungs mit dicken Kapuzensweatern aus, die sich jenseits der Gleise an einer Betonmauer herumdrückten und eifrig mit ihren Smartphones herumhantierten.

»Weiß ich doch nicht«, antwortete Bella Scholz erstaunt, »bin auch erst mit dir gekommen.«

»Hab sie schon.« Pfeffer deutete zu den Jungs. Ein paar Meter neben ihnen stand ein uniformierter Beamter und rauchte. Die Betonmauer schien zu einem flachen, langen Schuppen mit bemoostem Dach zu gehören, der an die Böschung gebaut war. In der ganzen langen Mauer gab es nur eine einzige Tür. »Shit, was habe ich gesagt zum Thema gefilmte Aktionen, die dem Ansehen der Polizei schaden könnten?« Er lief zu den Jungs hinüber.

»Servus.«

»Servus.« Aufgeweckte, ziemlich spitzbübisch dreinblickende Augenpaare blitzten unter den tief in die Stirn gezogenen Kapuzen hervor. Die Burschen konnten höchstens sechzehn oder siebzehn sein und hatten etwas von überneugierigen Welpen. Pfeffer mochte sie sofort.

»Max Pfeffer, Kripo München. Und ihr seids?«

»Der Benno Althaus«, sagte der Größere und hielt Pfeffer wohlerzogen die Hand hin.

»Und der Louis Poletti.« Auch der Kleinere schüttelte Pfeffer die Hand.

»Passts auf, Buam«, sagte der Kriminalrat. »Ich brauch keine wilden Geschichten, warum ihr euch hier vor dem ersten Hahnenschrei auf dem Bahngelände herumtreibt, okay?« Er deutete auf die Rucksäcke am Boden. »Ihr wolltet hier taggen oder was auch immer sprühen.« Die beiden Burschen tauschten einen verschwörerischen Blick und bliesen synchron die Wangen auf. Pfeffer sah hinüber zum nächsten Brückenpfeiler und deutete auf das halbfertige Writing. »Gut, ich sehe, ihr hattet schon angefangen.«

»Wir?«, sagte Louis betont unschuldig.

»Das waren wir nicht!«, rief Benno empört.

»Wollen wir jetzt gemeinsam eure Rucksäcke öffnen? Und wollt ihr mir dann die Sketchbooks und Sprühdosen als Unterrichtsmaterial verkaufen? Wisst ihr, mir ist völlig wurscht, was ihr wo hinmalt. Ich halte euch keine Standpauken, dass das Sachbeschädigung und illegal ist und hier vor allem saugefährlich mit den ganzen Zügen. Im Gegenteil. Ich bin echt positiv überrascht, dass ihr die Polizei gerufen habt, statt abzuhauen. Danke. Ganz im Ernst.« Die beiden Jungs grinsten stolz.

»Das war für euch bestimmt ganz schön hart. So eine Leiche da hängen zu sehen …«

Louis, der Kleinere, zuckte mit den Schultern. »Nö. So hab ich schon meinen Opa gesehen. Der hat sich nämlich aufgehängt. Da war ich zehn.«

Pfeffer zog erstaunt die Augenbrauen hoch und gab ein »Oh« von sich.

»Nix oh. Ich mochte ihn nicht besonders, den Alten. Hat mich nicht groß geschockt.«

»Dann ist gut.« Pfeffers Stimme glitt eine Tonlage tiefer und wurde schneidend sachlich. »Ich muss euch allerdings dringend darauf hinweisen, dass es strafbar ist, ohne Genehmigung einen Polizeieinsatz zu filmen oder zu fotografieren. Und dann das Ganze noch irgendwo online zu stellen.« Er sah den beiden Jungs abwechselnd fest in die Augen. Benno senkte den Blick.

»Ich werde euch nur dieses eine Mal auffordern, eure Fotos und Videos von dieser Aktion sofort zu löschen. Alle. Ausnahmslos alle. Und falls ihr es schon irgendwo auf Facebook oder YouTube oder Flickr oder wo auch immer gepostet habt, löscht es auch dort. Sofort. Sonst wirds teuer für euch oder eure Eltern. Richtig teuer.«

»Ja, schon klar«, sagte der Größere gedehnt. Beide wischten und drückten auf ihren Smartphones herum.

»Auch auf …«, murmelte Louis.

»Klar, Mann, hast doch den Kriminalkommissar gehört«, sagte Benno mit hektisch geröteten Wangen. »Die haben doch unsere Adressen …«

»Kriminalrat«, sagte Pfeffer.

»So, zufrieden?«, fragte Benno schließlich und hielt Pfeffer das iPhone hin.

»Danke euch.« Pfeffer drehte sich zum Gehen. »Wann geht die Schule los? Um acht? Da habt ihr noch ein bisschen Zeit. Meine Kollegin kümmert sich gleich um euch und wird eure Aussagen protokollieren.«

»Aber die ist doch schwanger«, sagte Benno erstaunt.

»Ja und? Ach, ich bin gerade auf dem Weg zum ZOB. Soll ich euch einen Kaffee oder so von drüben mitbringen? «

»Voll porno«, sagte der Kleinere und strahlte. »Wenn der Kollege …«, er deutete mit dem Kopf auf den rauchenden Uniformierten, »uns dann noch eine Fluppe spendiert, ist das Frühstück perfekt. Wäre klasse. Doppelter Espresso mit Zucker bitte. Danke.«

»Und ich nen Caramel Light Frappuccino …«, meinte Benno ernsthaft.

»Also einen Kaffee mit Milch und Zucker«, antwortete Pfeffer trocken.

»Vollspast«, flüsterte Louis.

»Aber ich mag den Caramel …«

»Ach, halt die Klappe.«

»Selber Klappe, selber Vollspast.« Benno äffte Louis nach: »Wenn der Kollege uns dann noch ne Fluppe spendiert, ist das Frühstück perfekt …«

03 Arslan hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan. Wieder einmal. Nicht nur, dass ständig Züge vorbeirumpelten, es waren vor allem die Ratten, die ihn nicht schlafen ließen. Er hatte sie gesehen. So groß und fett, wie er sich Ratten immer vorgestellt hatte, waren sie zwar nicht, aber dennoch. Und so viele waren es auch nicht. Aber es reichten schon die zwei, drei, die er gesehen hatte. Vielleicht war es auch nur eine einzige gewesen, die mehrfach vorbeigekommen war. Aber Arslan verdrängte den Gedanken. Wo zwei, drei waren, waren bestimmt auch zwanzig, dreißig. Arslan fürchtete sich davor, einzuschlafen und dann von den Tieren angeknabbert zu werden. Zwar hatte ihm Tayfun versichert, das sei nur Geschwätz, denn Ratten würden vor Menschen Angst haben, doch was wusste Tayfun schon. Der musste ja nicht in einem selbst gebastelten Zelt an einem Bahndamm übernachten. Nein, Tayfun hatte weiterhin sein warmes, weiches Bett und ein Dach über dem Kopf.

Und dann die ständige Angst, entdeckt zu werden. Was, wenn jemand kommen würde mitten in der Nacht? Was, wenn ein Obdachloser ihm diesen Platz streitig machen würde? Neben seinem Zelt stand ein leeres, backsteinernes Bahnwärterhäuschen, oder was das auch immer früher gewesen sein sollte. Eingeschlagene Fensterscheiben, bröckelnder Putz und Graffiti. Arslan hatte sich zuerst darin sein Nest einrichten wollen, doch dann die Spuren von mehr als einem anderen Bewohner gefunden. Faulige Matratzen, Müll und kaputte Schlafsäcke. Zwar war in den beiden letzten Nächten niemand aufgetaucht, dennoch wollte Arslan mögliche Scherereien um den Schlafplatz vermeiden und hatte sein Zelt aus alten blauen Planen hinter dem Häuschen aufgestellt. Zuvor hatte er die Umgebung genau abgesucht, um nicht zufällig in die Exkremente seiner Vorgänger zu treten oder sich sich darin zu betten.

Arslan hasste das Gedankenkarussell, das ihn wach hielt.

Und dann auch noch dieses Geschrei. Es kam immer wieder vor, dass die Betrunkenen unten an der Straße herumgrölten oder sich lautstark verabschiedeten, wenn sie aus der »Zur Gruam« getorkelt kamen. Arslan kannte die Kneipe gut. Er war hier auch schon mehr als einmal abgestürzt. Doch nun machten ihm die Stimmen Angst. Vor allem, da es sich offenkundig um eine Frauenstimme handelte, die nun laut um Hilfe rief. Und die Stimme kam näher! Das bedeutete, dass diese Frau (und womöglich Männer, die sie bedrohten) die kleine Mauer unten an der Thalkirchner Straße hochgeklettert war und nun den Trampelpfad hinauf zu den Gleisen folgte.

»Verpiss dich!«, schrie die Frauenstimme. »Lass mich los! Nein!«

»Stell dich nicht so an!«, brüllte eine Männerstimme.

»Nein! Du tust mir weh! … Du Scheißarsch! Nein!«

»Halt endlich deine blöde … Aaaarghhh … Scheißdrecksschlampe! Das wirst du büßen!«

»Nein!«

Arslan hörte das Getrappel der Schritte, hörte zurückschnalzende Zweige, hörte die Schläge und das Reißen von Stoff. Und die Frau schrie immer nur »Nein!«. Schließlich hielt es Arslan nicht mehr aus. Er befreite sich aus seinem Schlafsack, schlüpfte in seine Schuhe und krabbelte aus dem Zelt. Er spähte um die Ecke des Bahnwärterhäuschens und sah im fahlen Morgenlicht einen Mann und eine Frau zwischen den Büschen im Clinch. Sie waren beide jung, höchstens Anfang zwanzig. Er zerrte an ihrer dünnen Sommerjacke, die nur noch in Fetzen an ihr hing. Sie schlug und trat nach ihm, verfehlte ihn aber meist. Beide hatten erhebliche Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, weil sie betrunken oder auf Droge oder beides waren. Schließlich warf er sich auf sie und zerriss endgültig ihre Jacke. Er drückte ihr seinen Ellbogen auf die Kehle und keuchte: »So, du Dreckstück, jetzt kriegst dus!« Er kniete breitbeinig über ihr.

Arslan sprintete von hinten heran und trat dem Kerl mit Schwung zwischen die Beine. Vor Schmerz jaulend wälzte sich der Mann zur Seite und presste die Hände in den Schritt. Arslan trat ihm in den Magen.

»Ey, was soll der Scheiß!«, quiekte der Kerl, Sabber lief ihm aus dem Mund.

»Lass die Frau in Ruhe«, sagte Arslan laut und bestimmt.

»Ey, das geht dich doch gar nix an«, wimmerte der Kerl. »Scheiße, tut das weh.« Mühsam robbte er herum und versuchte, auf die Beine zu kommen.

»Verpiss dich«, sagte Arslan und gab dem Kerl, der schwankend zum Stehen gekommen war, einen Schubs, dass der vornüber in den nächsten Busch kippte und schließlich den kleinen Abhang hinunter zur Thalkirchner Straße kullerte.

»Bist du okay?«, fragte Arslan besorgt die junge Frau, die sich aufgesetzt hatte und zitternd ihre Knie mit den Armen umschlang.

»Hab dich nicht gebeten, mir zu helfen, oder?«, giftete sie am ganzen Leib schlotternd.

Arslan runzelte die Stirn. »Äh, ’tschuldigung? Hab ich da was missverstanden?«

»Allerdings«, raunzte sie und strich sich die rosa gefärbten Haare aus dem Gesicht. Sie hatte ein Lippenpiercing, an dem sie hektisch herumkaute.

»Der Scheißkerl wollte dich vergewaltigen«, sagte Arslan, fassungslos über ihre Reaktion.

»Ach der!« Sie winkte ab und versuchte ihr Zittern unter Kontrolle zu kriegen. »Mein Ex. Mit dem wäre ich schon fertig geworden.«

»Sah nicht danach aus.«

»Was geht dich das denn an?« Das Mädchen sprang auf.

»Entschuldige bitte, dass ich dich gerettet habe!«

»Du mich gerettet?« Sie lachte bitter. »Klar. Danke. Du mich gerettet!«

»Wenn das so ein krankes Spielchen von euch ist, wenn ihr diese Gewaltnummer als Kick braucht, dann kannst du mir echt leidtun.« Arslan wandte sich ab und stapfte zu seinem Zelt zurück. »Schönes Leben noch.«

»Ey, jetzt sei doch nicht gleich sauer«, rief das Mädchen mit den rosa Haaren und lief ihm nach. »Warte doch mal.« Sie holte ihn ein. »Mein Ex ist ein Arsch, und danke, dass du mir geholfen hast. Aber der hätte mir nichts getan. Ehrlich. Wir sind nur besoffen.«

»Okay«, sagte Arslan.

»Wie heißt du?«

»Nnnääh … Arslan.«

»Da musst du nachdenken? Oder weißt du das nicht so genau?«

»Arslan.«

»Krass. So heißt doch der Löwe in den ›Chroniken von Narnia‹.«

»Der heißt Aslan ohne r.«

»Ach?«

»Ja, klingt ganz ähnlich. Ist wohl Absicht, denn Arslan heißt Löwe!«

»Echt? Ich bin Kiki. Eigentlich Kirsten, aber das ist ein Scheißname.« Sie deutete auf das improvisierte Zelt aus blauen Plastikplanen hinter dem Bahnwärterhäuschen. Ihre Arme waren übersät mit blauen Flecken – und Arslan war sich sicher, dass er auch Einstiche sah. »Wohnst du hier? Krass!« Sie bückte sich und schielte in das Zelt hinein. Dann lief sie zum Backsteinhaus und sah durch die zerschlagenen Fenster hinein. »Krass!«, rief sie wieder. »Da wohnen bestimmt Illegale, oder?«

»Kann sein«, sagte Arslan.

»Bist du auch illegal?«

»Nein!« Arslan zögerte. »Und ich bin eigentlich auch nicht obdachlos.«