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Einmal als Kandidat in der beliebtesten deutschen Quizshow "Wer wird Millionär?" auf dem heißen Stuhl sitzen und mit Günther Jauch um die Million zocken … Einmal gegrillte Heuschrecken knabbern, Zebras oder Giraffen essen, nachts auf den Straßen Shanghais Tanzformationen in Pyjamas beobachten, von kambodschanischen Polizisten die Dienstmarken zum Kauf angeboten bekommen, sich mit Ratten um ein einsames Haus auf Korsika prügeln, mit dem Jeep Gnus von der Landepiste verjagen oder beim Samos-Quickie das lustige Treiben der skandinavischen Seekühe beobachten … Alles Dinge, die man einmal im Leben machen sollte. Ob Köln, Hongkong, Angkor, Nairobi, Bejing oder New Delhi: Schonungslos offen, politisch absolut unkorrekt und haarstäubend komisch erzählt Martin Arz in seinen Geschichten von unterwegs vom ganz alltäglichen Wahnsinn - alles ist wahr, alles ist selbst erlebt.
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Seitenzahl: 436
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Martin Arz
Fettie macht ’ne Arschbombe
April 2021
Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design/Coriander P.
© auf alle Texte und alle Fotos: Martin Arz
© Hirschkäfer Verlag, München 2021
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.
E-Book-ISBN 978-3-940839-78-7
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www.hirschkaefer-verlag.de
Inhalt
Heißa Safari!
Heu-schrecken im Knuspermantel
Kaffeefahrt ins Reich der Mitte
Dit is Balin, wa?
So, hab ich mir gedacht oder Fettie macht ’ne Arschbombe oder Senioren in Glitzerkleidern
Indien auf die Schnelle …
Samos und die skandinavischen Seekühe
Heißa Safari reloaded
Promi-Flug
Eviva Valencia
Die weiße Witwe
Den Haag, Niederlande, 2019
Mein »Wer wird Millionär?«-Tagebuch
Die Max Pfeffer-Reihe von Martin Arz
Nachwort
Die Max Pfeffer-Reihe von Martin Arz
Heißa Safari!
Kenia, 1998
Ein Nilpferd steht mitten in einer üppig grünen Wiese und guckt vor sich hin. So weit das Auge reicht – üppig grüne Savanne und mittendrin ein einsames Nilpferd. Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches mitten in einem afrikanischen Nationalpark. Doch dieses Nilpferd ist augenscheinlich mutterseelenallein. Kein anderes Tier weit und breit. Zugegeben, die Savanne links vom Nilpferd ist üppiger grün als der Rest. Joe, unser Guide, bringt den großen Jeep zum Stehen und wir dürfen aussteigen. Keine gefährlichen Raubtiere in Sicht. Wohl wissend, dass die meisten tödlichen Wildunfälle nicht mit Löwen passieren, sondern just eben mit Nilpferden, die erstaunlich schnell rennen können und über gewaltige Hauer verfügen, pirschen wir uns mit staksigen vorsichtigen Schritten etwas näher heran. Carlo bringt die Kamera in Anschlag, und ich werfe mich in Pose, denn das gibt ein sensationelles Foto: Ich vor einem einsamen Nilpferd mit nichts als Landschaft ringsum. Doch schneller als wir den Auslöser drücken können, macht es »platsch«, und es gibt nur noch nichts als Landschaft ringsum. Das üppige Grün links von dem monströsen Tier entpuppt sich als komplett zugewachsener See, in den das Hippo eben eingetaucht ist. Es bleibt verschwunden unter dem dichten Teppich aus Wasserpflanzen. Ein klein wenig enttäuscht steigen wir wieder ein. Nun soll es zum Camp gehen, denn wir sind eben erst angekommen, haben die erste Safarifahrt mit Gepäck auf dem Weg zum Camp absolviert.
Rückblende: Ein paar Wochen vorher fragte mich Carlo: »Hast du nicht mal Lust auf eine Safari? Ich habe nächsten Monat drei Tage Nairobi.«
Ähnliche Fragen war ich damals gewöhnt, denn damals führte ich das verwöhnte Luxusleben eines Lufthansa-Angehörigen. Carlo, Purser bei Lufthansa, also Kabinenchef von Beruf – und nicht »Perser«, wie einmal die Bild-Zeitung in einem Artikel über ihn schrieb –, hatte mich als Lebenspartner eingetragen, und so konnte ich die Vorzüge des spottbillig In-der-Weltgeschichte-Herumfliegens genießen.
Wollen wir mal ein wenig Neid generieren und Einblicke in das Luxusleben des Lufthansa-Angehörigen werfen, denn das lief dann in der Regel so:
Carlo: »Du, nächsten Monat habe ich einen Tag in Rom frei …«
Ich: »Koffer ist schon gepackt.«
Ich war noch nie zuvor in Rom gewesen. Und schon bummelten wir an einem milden Dezembertag durch die Ewige Stadt, Carlo verdiente sogar noch Geld dabei. Natürlich musste man sich aufgrund der meist sehr begrenzten Zeit mit dem Sightseeing beeilen. Doch das haben wir schnell perfektioniert. In Rom benötigten wir für Forum Romanum über die komplette Altstadt bis zu Spanischen Treppe keine zwölf Stunden, wir waren sogar noch im Petersdom sowie in den Vatikanischen Museen und haben im Caffè Greco einen Espresso zu Schockerpreisen getrunken. Im Eiltempo eroberte ich auf diese Weise Barcelona, Stockholm, Amsterdam, Budapest, San Francisco, Tel Aviv, Kapstadt, Jerusalem, New York und Bangkok. Ich gewöhnte mich so sehr an das schnelle Stadt-Checken, dass ich mich heute nach einem Tag Mega-Metropole in der Regel bereits zu langweilen beginne, weil nach acht Stunden schon alles besichtigt ist, auch wenn die Füße wunde, blutende Klumpen sind.
Als Lufthansa-Angehöriger, der gerne mal mitflog, wenn der Lufthansa-Angestellte »on duty« war, also auf Arbeit, gewöhnte ich mich leider auch schnell an Fünfsternehotels und Luxusherbergen mit üppigstem Frühstücksbuffet. Zahlen musste ich ohnehin nur mein Ticket, das mich teilweise nur 10 oder 20 Prozent vom regulären Preis kostete. Natürlich sind auch 300 Mark (damals gab es noch diese Währung, heute wären das rund 150 Euro) viel Geld, doch für einen Flug mit Businessclass-Upgrade nach Bangkok und drei Nächte im Kempinski (damals noch in der Sukhumvit Soi 11 – später abgebrannt und nie wieder aufgebaut) oder im Central Plaza (tolle Poollandschaft!) zahlt man das gerne. Da ich aber auch dieses Geld und noch ein bisschen mehr verdienen musste, konnte ich leider nicht so oft mit, wie ich wollte. Allein diese Einschränkung hätte sicher eine Runde Mitleid verdient. Mehr noch, denn nicht immer war mir das Glück hold. Gut, nach Kapstadt gings sogar First Class, aber mir steckt noch heute der Vierzehn-Stunden-Flug nach San Francisco in den Knochen, den ich in der Küche stehend verbringen musste. Nur für Start und Landung durfte ich in der Schlafkabine der Piloten sitzen. Den Rest der Zeit lümmelte ich in der Galley (so nennen wir Flieger die Küche) für die First herum. Musste Champagner schlürfen, Obstbrände verkosten, Kaviar testen, Krabben schlabbern und Pralinés knabbern. Denn die Stewardessen der First ließen alles, was sie den Gästen servieren sollten, von mir vorkosten. Hartes Schicksal. Vierzehn Stunden später landete ich sturzbesoffen, mit dicker Plauze und in selbige hineingestandenen Beinen in San Fran (sprich: Säänfrään, so nennt man heute San Francisco, nur Gestrige sagen noch Frisco).
Im Laufe der Jahre wurde ich wählerisch und flog z. B. nur noch nach Thailand mit, wenn es einwöchige Umläufe gab, d. h. die Crew eine Woche frei hatte. Dann konnten wir mal für ein paar Tage nach Phuket ins traumhafte Marina Cottage. Oder eben nach Kenia, wenn eine Safari winkte.
Fast die ganze Crew hat Angehörige dabei; Brüder, Schwestern, Väter (aber keine Mütter), Lebensgefährten jeden Geschlechts. Alle wollen Tiere schauen. Der Mann einer Stewardess hatte vorab per E-Mail für die gesamte Mannschaft eine Tour gebucht. Und so werden wir in aller Herrgottsfrühe eines schönen Septembermorgens vom Safari Park Hotel in Nairobi abgeholt und zu einem Hangar auf dem Flughafen gefahren, wo unsere Minimaschine wartet. Der Flieger Marke »Seelenverkäufer« setzt uns nach gut zwei Stunden Flug mitten in der Wildnis aus. Nur ein gelber Windsack, der an einer Stange befestigt munter im Mittagswind weht, kündet von menschlicher Zivilisation. Und die beiden Jeeps, die uns in Empfang nehmen. Eine menschliche Behausung ist weit und breit nicht in Sicht. Unser Fahrer heißt Joe, ein freundlicher kleiner Kerl.
Neben Carlo und mir steigen noch zwei Stewards, der prinzessinnenhafte Stefan und der kerlige Markus, sowie die Stewardess Giovanna mit ihrem italienischen Vater (der kein Wort Deutsch spricht) ein. Wir bleiben für die gesamte Safari eine Mannschaft.
Los gehts, die Geier warten schon. Genüsslich knabbern sie an einem Gnukadaver. Sie sind die ersten Tiere, die wir sehen. Noch vor dem Hippo in der grünen Seewiese. Nach dem Hippo ziehen an uns endlose Gnu- und Zebraherden vorbei. Massenwanderungen mitten durch den Masai Mara Nationalpark im Südwesten Kenias, der unmittelbar an den Serengeti-Park in Tansania grenzt. Wir haben eine günstige Safarizeit gewählt, denn im September wandern die großen Herden von hier nach da und von da nach dort. Endlose Ströme von Zebras und Gnus. Massen, Millionen, bis zum Horizont ein einziger Fluss aus Zebra- und Gnuleibern. Ab und an kommen wir an den Überresten von Raubtiergelagen vorbei. Mein Sammeltrieb juckt mir in den Fingern. Zu gerne würde ich den einen oder anderen Schädel mitnehmen. Leider hängt an den meisten noch zu viel Fleisch, und ich glaube nicht, dass ich im Camp Gelegenheit haben werde, die Schädel auszukochen. Bei einem zerlegten Zebra, durch dessen Überreste pietätlos die Spuren zahlloser Jeeps führen, hält Joe an. Zwischen den Hufen und der halben Karkasse findet er den bestens erhaltenen Schweif. Ein kurzes Stück schwarz-weiß gestreifter Schwanz mit dicker schwarzer Quaste.
»Guter Fliegenwedel«, grinst Joe, fächelt sich mit dem Stück toten Tiers Luft zu und steigt wieder in den Wagen.
Die Sau! Wie ich ihn beneide!
Im Governor’s Camp, unserer Safari-Station, kommen wir dann doch noch zu unserem Foto mit Hippo. Denn vor dem Haupthaus liegt ein mächtiger Nilpferdschädel bleich in der Sonne. Wir hocken uns gleich fotogen daneben.
Unsere Unterkünfte im Governor’s Camp sind komfortable Zelte, die sich in einer Flussschleife aneinanderkuscheln. Der Fluss bildet eine natürliche Barriere zur wilden Savanne, nur von einer Seite kann man das Camp auf dem Landweg betreten. Gleich vor unserem Zelt befindet sich ein hölzernes Absperrgitter, und dahinter geht es mehrere Meter steil bergab. Unten rauscht der Fluss, darin tollen jede Menge Nilpferde. Gut, dass die nicht klettern können. Die Zelte im Camp sind geräumig. Zwei Betten, Schreibtisch und Schrank. Dazu eine gemauerte Open-Air-Dusche im hinteren Teil. Richtig romantisch. Richtig Tania-Blixen-mäßig.
Nach dem Mittagessen geht es los zur ersten richtigen Safari. Und kaum haben wir das Camp verlassen, stolpern wir über die ersten Löwen. Ehrlich gesagt stolpern wir nicht, zahllose andere Jeeps, darunter ein japanisches Fernsehteam, weisen uns den Weg. Die Fahrer der unterschiedlichen Camps verständigen sich per Walkie-Talkie über lohnenswerte Ziele. Das kleine Löwenrudel bietet tourismusgerecht alles, was die Fotoapparate begehren: Ein abgenagtes Gnuskelett, einen prächtigen Pascha, der döst und herzhaft gähnt, ein paar wachsam umherschleichende Löwinnen und zahlreiche putzige Babylöwen, die drollig herumtapsen und Adoptionsgelüste bei uns wecken.
Nach und nach verstreuen sich die Jeeps wieder. Nur das TV-Team bleibt, vermutlich froh, endlich in Ruhe drehen zu können. Wir düsen quer durch die Landschaft. Eigentlich sollten sich die Führer an die ausgefahrenen Pisten halten, doch Joe will uns was bieten und schürt querfeldein. Wir kommen an Dörfern vorbei, Grals, die von hohen Dornenhecken umgeben sind. Wir genießen Landschaft, Landschaft, Landschaft. Traumhafte Weiten, die man nicht vergisst. Gelegentlich sehen wir ein paar Kinder auf einsamer Flur. Sie winken uns zu. Haben wir nicht rund 200 Meter entfernt Löwen beobachtet? Egal, die Einheimischen werden sicher wissen, was sie tun. Erstaunlich oft sind alte Frauen unterwegs. Meist alleine. Ist das Afrikas Antwort auf das Rentenproblem? Mpambo, schick die Alte raus, Löwen sind in der Nähe!
An diesem ersten Tag bleiben die Löwen der Höhepunkt. Gerne hätten wir die Big Five gesehen: Löwen, Elefanten, Nilpferde, Nashörner und Kaffernbüffel. Nun denn, immerhin die Big Two. Die endlosen Paraden an Zebras und Gnus beeindrucken uns längst nicht mehr. Die ersten »Gnus raus!«- oder »Zebrafreie Zone«-Rufe ertönen in unserem Jeep.
Abends wird es zapfig kalt. Wir, die wir aus dem europäischen Sommer kommen und auf den afrikanischen Sommer gesetzt haben, ziehen alles über, was wir finden können. Dick eingemummt geht es zum Abendessen. Wir freuen uns auf Zebraschnitzel, Giraffengulasch oder Gnukeule, dazu Maniok und Yams oder Foufou. Die Enttäuschung folgt auf dem Fuß. Man kredenzt uns Schweinelendchen an Kartoffeln auf Brokkolispiegel. Wie bei Muttern. Also kippen wir an der Semi-Open-Air-Bar, vor der ein riesiges Lagerfeuer lodert, noch ein paar kenianische Biere, bevor wir in die Zelte torkeln und bibbernd vor Kälte Schlaf suchen. Am nächsten Morgen soll die erste Fahrt bereits um 6 Uhr losgehen. Da können wir uns keine durchzechte Nacht leisten.
Die Nacht ist erfüllt von tierischen Geräuschen. Vor allem die Nilpferde im Fluss vor unserem Zelt prusten und grunzen vor sich hin. Es kracht zwischenzeitlich, als würden direkt neben dem Zelt Baumfällarbeiten im Gang sein. Gerade hat man die Augen für fünf Minuten geschlossen, reißt einen schon das fröhliche »Good morning, Sirs!« aus dem Schlaf. Ein grinsender Boy steht im Zelt und serviert uns den Kaffee ans Bett. Es ist schon halb sechs, und wir müssen los.
Kaum verlassen wir das Zelt, prallen wir zurück. Vor uns baut sich ein Mann mit Gewehr auf. Überfall oder Geiselnahme, schießt es uns durch den Kopf. Der Mann verwehrt uns den Weg zur Rezeption. Unmissverständliche Gesten seinerseits fordern uns auf, zu schweigen und die andere Richtung einzuschlagen. Wie benommen folgen wir seinen Anweisungen. Mitten im Camp treffen wir auf die anderen. Verstörte Gesichter, kaum einer wagt zu flüstern. Die Gewehrmänner haben alle zusammengetrieben. Ein Rudel unausgeschlafener Bleichgesichter. Nun denn, immerhin sterben wir auf Safari. Dann erfüllt ein tosendes Krachen die Luft. Wo eben noch ein Baum zwischen den Zelten gestanden hat, stehen nun riesige dunkle Schemen.
Elefanten.
Eine kleine Herde mit vier Kühen und mehreren Kälbern ist in das Camp eingedrungen und futtert sich durch die Zeltreihen. Doch keine Einbildung, dass wir in der Nacht Baumfällarbeiten im Gang wähnten. Daher also die bewaffneten Ranger, daher also unser mit Waffengewalt erzwungenes Schweigen. Eben beginnt die Morgendämmerung, wir dürfen nicht mit Blitz fotografieren, wie sich die Kolosse sanft durch das Camp schieben und die Zelte umtanzen, während sie die Bäume brutal niedermähen. Leise pirschen wir zur Rezeption, wo die Jeeps und die Fahrer warten. Der Tag kann nach diesem Erlebnis eigentlich gar nicht mehr getoppt werden.
Dramatisch steigt eine glutrote Sonne über der endlosen Savanne auf. Tiefe Wolken künden Regen an. Kaum haben wir das Camp verlassen, treffen wir auf Löwen. Ungewöhnlicherweise kein Rudel, sondern nur ein Paar, nur er und sie. Er hat keine sandfarbene Mähne wie die Männchen am Vortag, sondern eine schwarze. Joe, unser Fahrer, verständigt per Walkie-Talkie die anderen Jeeps. Bevor die eintreffen, setzen wir unsere Fahrt fort. Nun geht es Schlag auf Schlag. Wir sind die Avantgarde, Joe muss ständig die anderen von unseren Funden in Kenntnis setzen. Erst stoßen wir auf einen mächtigen Elefanten, der mutterseelenallein in der Weite steht und sich bei bestem Licht geduldig fotografieren lässt, dann entdecken ich Giraffen, die zwischen Akazien äsen und uns fast auf Armeslänge an sich heranlassen. Anschließend weist uns der Kadaver eines gerissenen Gazellenbabys den Weg zu einem Leoparden. Den sehen wir dann allerdings nur durch ein Fernglas in weiter Ferne auf seinem Baum ruhen. Im Nachbarjeep sitzt ein einzelner älterer Herr, der den Leoparden schon länger beobachtet und sichtbar ungehalten darüber ist, dass wir Pöbel die Raubkatze ausfindig gemacht haben. Wir fahren weiter, bevor die anderen Jeeps eintreffen und der alte Mann vollends ausflippt. An einem Fluss dürfen wir aussteigen. Im Wasser unterhalb der Böschung tummelt sich eine Riesenherde Nilpferde. Dann gibt uns Joe ein Zeichen, leise und vorsichtig zu sein. Wir pirschen ein wenig näher an den Rand der Böschung heran und blicken nach unten. Direkt unter uns sonnt sich ein Krokodil von mindestens 2,50 Meter Länge. Wir prallen zurück. Ein falscher Schritt … und es geht uns so wie den Gnus, die ein wenig weiter flussaufwärts die Furt durchqueren wollen. Ein bis drei Tiere laufen den Panzerechsen direkt in die Fänge. Der Fluss wird zu einem blutigen Whirlpool. Völlig unbeeindruckt davon schwimmen und tauchen die Nilpferde, wohl wissend, dass sie die wahren Monster der Savanne sind.
Auf der Weiterfahrt stoßen wir auf Hyänen, die ein Schlammloch für die Schönheitspflege belagern und uns misstrauisch hechelnd fixieren. Wenn man weiß, dass selbst Löwen vor einem Rudel Hyänen Angst haben, dann bleibt man gerne auf Distanz. Doch nur wenige Hundert Meter weiter bleibt eine Hyäne einem Kudukalb nicht genug auf Distanz. Die Kudumutter steht blökend in der Gegend, das Kind folgt einfach nicht. Die einzelne Hyäne zieht langsam ihre Kreise um das Kalb, näher und näher kommt sie. Drei Jeeps haben sich versammelt, die Insassen beratschlagen aufgeregt, wie man denn das putzige Tierbaby vor der bösen hässlichen Hyäne retten könnte. Schon tauchen am Horizont weitere Hyänen auf. Ringsum ziehen völlig unbeeindruckt endlose Gnu- und Zebraherden vorbei. Thomson-Gazellen und Oryx-Antilopen würdigen die prekäre Lage nicht eines Blickes, und auch alle anderen Kudus außer der Mutter zeigen sich absolut desinteressiert. C’est la vie, n’est-ce pas?
Wir Menschen hingegen, die zu viele Disneyfilme mit sprechenden Rehen gesehen haben, beschließen Folgendes: Der kleine Jeep mit dem jungen Paar aus dem Schwäbischen (er ist Selbstfahrer) wird die Hyäne forttreiben, der große Jeep mit den Engländern wird die nahenden Hyänen in Schach halten, und wir haben die Aufgabe, das Baby zur Mutter zu treiben. Mama Kudu wird es uns danken. Alles leichter gesagt, als getan. Die Schwaben spielen mit der einzelnen Hyäne munteres Quersavanneeinrennen und wildes Hakenschlagen, bis die Stoßdämpfer qualmen. Die Engländer haben nicht den Hauch einer Chance, das nahende Rudel aufzuhalten, das sich strategisch günstig aufteilt und mit den Tommys Katz und Maus spielt.
Leider entpuppt sich das Kudukalb als absolut störrisch und weigert sich, zu seiner immer noch rufenden Mutter zu gehen. Da findet es unseren Wagen schon viel interessanter. Es nähert sich schnuppernd und rollt drollig mit den großen, feuchten Bambiaugen. Giovanna schmilzt seufzend dahin. Nach langen Minuten wird es unserem Fahrer Joe zu dumm. Er steigt aus, packt das kleine Tier und hebt es in den Wagen. Giovanna, die vorne neben Joe sitzt und der Joe das Kalb auf den Schoß legen will, weigert sich entschieden. Seufzend schmelzen ja, aber bitte nicht anfassen. Also muss der prinzessinnenhafte Stefan den Babysitter spielen. Mit glasigen Augen balanciert er das Kudubaby auf seinen Oberschenkeln und streichelt es verzückt. Meinen Einwand, dass die Mutter das Kind nie wieder annehmen wird, weil es nun nach Menschen riecht, beachtet niemand. Wozu habe ich schließlich alle Grzimek- und Sielmann-Filme gesehen und wollte einst »Naturforscher« werden?
»Werft es doch gleich der Hyäne vor«, sage ich resigniert und ernte dafür nur böse Blicke. Die andern sind auf einer Rettungsmission, da stören »Naturforscher«-Weisheiten.
Wir fahren auf Mama Kudu zu, um ihr das Kind zu übergeben. Doch anders als bei Disney flüchtet das Tier vor uns. Wir folgen der Guten minutenlang. Vergebens. »Hallo, wir wollen dir doch nur das Baby zurückgeben!«, ruft Stefan überflüssigerweise mit schmeichelnder Kuschelstimme und knuddelt das Kleine mit dem seidenweichen Fell in seinen Armen. Schließlich gibt es ein Einsehen. Wir haben es verbockt. Joe hält an, nimmt Stefan das Kalb aus dem Arm und stellt es in die Landschaft. Wir fahren ein paar Meter zurück. Sehen die immer noch rufende Mutter und das Kalb, das nicht reagiert. Wir fahren weiter weg. Sehen die Mutter rufen und die einzelne Hyäne wieder ihre Kreise ziehen, denn die Schwaben und die Engländer hetzen mittlerweile das Rudel sinnlos durch die Weite Afrikas. Wir fahren weg. Ein letzter Blick zurück: Die Mama sucht Anschluss zu einer kleinen Gruppe Kudus, das Kalb schaut uns mit riesengroßen Bambiaugen nach und achtet nicht auf die Hyäne, die das Kreisen aufgegeben hat und nun die Direttissima wählt. Supper time.
Ein gewaltiger Regenschauer geht nieder. Wir kehren ins Camp zurück. Paviane tummeln sich am Eingang neben einem kleinen Lagerfeuer und spielen mit Müll. Leider haben wir nicht die Big Five gesehen, denn Kaffernbüffel und Rhinozerosse blieben in der Weite Afrikas verborgen. Nach dem Mittagessen bricht die Sonne hervor, wir legen uns neben die Zelte und brutzeln ein wenig. Die Spuren an den Bäumen zeigen, dass die Elefantenherde, die uns nachts besuchte, direkt neben unserem Zelt einen Snack zu sich nahm.
Am späteren Nachmittag ist unsere Abreise. Joe kutschiert uns zu der Piste mitten im Nirgendwo, wo nur der träge flatternde gelbe Windsack von Zivilisation kündet. Erneut brechen die Wolken, es schüttet wie aus Eimern, Blitze und Donner toben – und außerdem ziehen die endlosen Gnu- und Zebraherden just über unser Rollfeld. Wir sollen uns festhalten, sagt Joe, dann brettert er los und scheucht die Tiere von der Landebahn. Eine Sisyphusarbeit, denn für ein Gnu, das weicht, kommen zwei nach. Letztlich ist doch so viel Platz, dass das Miniflugzeug landen kann. Eine farbige Pilotin, die aussieht wie ein amerikanischer Popstar, steigt aus und legt beim Einladen des Gepäcks selbst Hand an (Anm.: Ja, ich weiß, farbig darf man heute nicht mehr sagen oder am Ende gar schwarz, der politisch korrekte Begriff nach Vorgaben der Sprachpolizei wäre PoC; ausgesprochen wird das »Pi oh Si«. PoC steht für Person of Color, das heißt übersetzt Person von Farbe, was schlechtes Deutsch ist, darum ist die bessere Übersetzung farbige Person; mich stört ja dieses »Person« sehr, das klingt mir sehr nach Objekt, nach Herabwürdigung, nach Ausgrenzung. Die beste Übersetzung von PoC ist also Farbige(r). Und schon sind wir plötzlich wieder politisch unkorrekt! Nur durch korrekte Übersetzung. Ich checks nicht.). Ihre schmucke Uniformbluse ist in Sekundenschnelle durchnässt. Damit das Flugzeug starten kann, muss Joe die Bahn wieder gnufrei machen. Mitten in Blitz, Donner und Wolkenbruch hebt schließlich die nasse Pilotin mit uns ab. Als Bordverpflegung wird eine Schale mit Bonbons herumgereicht. Nach zwei weiteren Zwischenlandungen mitten im Nirgendwo, wo jeweils ein paar Touristen zusteigen, landen wir gegen Abend in Nairobi.
Im Hotel können wir endlich nachholen, was uns auf Safari verwehrt blieb: Wir essen alles, was wir gesehen haben. Das Barbecue bietet Giraffe, Zebra, Kudu, Springbock, Gazelle, Strauß und Elenantilope. Auf unseren Wunsch legt man noch eine Portion Krokodil drauf, das allerdings nur wie eine knorpelige Mischung aus Huhn mit Fisch schmeckt. Neben den Gourmetklassikern Strauß und Springbock überrascht vor allem das Zebra durch seinen delikaten Geschmack. Aber schließlich ist das eine Pferdeart, und da ich zu dieser Zeit mit einem Holländer zusammen bin, kenne ich natürlich leckere Pferdewurst oder zartes Pferderoastbeef, was in holländischen Metzgereien und Supermärkten zum normalen Programm gehörten. Seltsamerweise haben offenbar nur die Deutschen ein derart gestörtes Verhältnis zum Pferd als Nahrungsmittel.
Am letzten Tag unseres Afrika-Sprints steht ein Nairobibummel auf dem Programm. Der Hotel-Shuttle bringt uns in die Stadt. Natürlich müssen wir die alte Markthalle (Tubman Road/Muindi Mbingu Street) sehen, doch wie enttäuschend für uns: Drinnen hat sich ein Touristen-Abzock-Zentrum (TAZ) etabliert. Der übliche Ramsch, der auf jedem deutschen Festival angeboten wird. Ethnokitsch, bei dem natürlich alle Stewardessen wie auf Befehl in Kaufrausch verfallen. Carlo und ich seilen uns ab. Neben der Halle ist der Fleischmarkt. Beißender Verwesungsgeruch liegt in der Luft. Die Metzger stehen mit blutverschmierten Kitteln zwischen ihrer Ware. Freundlich winkt uns ein junger Mann heran. Wir verzichten doch lieber. Vielleicht hat der junge Mann auch nicht uns gewunken, sondern versucht, die dichten schwarzen Fliegenschwärme zu verscheuchen.
Die Innenstadt von Nairobi ist schnell abgegrast. Natürlich gibt es Bettler und abgerissene Straßenkinder, die teilweise auf den Bürgersteigen schlafen. Doch auffallend viele Menschen sind perfekt gekleidet. Die Nairobianer tragen elegante Anzüge mit Krawatte, häufig sogar mit Weste. Die Damen sind meist im schicken Kostüm unterwegs. Nur Weiße fallen unangenehm durch Kurzärmligkeit und Jeans auf. Wir fühlen uns underdressed und schämen uns fast, dass wir T-Shirts tragen. Wir stolpern über einen Markt, der von Ferne interessant und original einheimisch wirkt, sich beim Darüberlaufen aber als Freiluft-TAZ entpuppt. Wir müssen regelrecht fliehen, denn einer der jungen Männer, die als Anreißer jeden Weißen sofort mit Beschlag belegen, klebt wie eine Zecke an uns. Unsere Zecke spricht sogar Deutsch. Erst als wir den Markt einige Hundert Meter weit hinter uns gelassen haben, lässt er von uns ab. Ich kaufe in einem regulären Geschäft, das einem Inder gehört, zwei alte Masken. Die Preise sind hoch, doch im offiziellen African Art Shop ein paar Straßen weiter sind sie noch höher. Wir wollen noch einen Kaffee im legendären Dornenbaum Café trinken, das bei Weltenbummlern und Afrikadurchquerern eine Institution ist. Doch der Dornenbaum, der dem Laden den Namen verlieh, ist nicht mehr. Nur ein Stumpf blieb. Mitten an einer verkehrsumtosten Straße ohne Baum wollen wir keinen Kaffee trinken. Also nehmen wir einen Shuttlebus früher als geplant zurück zum Hotel.
An der Haltestelle des Shuttlebusses lungern Straßenkinder herum, die aus dem Stand die komplette deutsche Fußballnationalmannschaft aufsagen können und darauf hoffen, dass man ihnen dafür ein wenig Kleingeld zusteckt. Ein älterer Inder, der sich etwas im Hintergrund hält, fällt uns auf. Der Inder fährt mit uns zum Hotel. Auf der Fahrt zurück macht unser Chauffeur einen kleinen Schlenker und zeigt uns die ausgebrannte Ruine der amerikanischen Botschaft, auf die am 7. August 1998 ein verheerender Bombenanschlag verübt worden war. Nur wenige Wochen vor unserem Safaritrip. Da hatte sich Al Kaida das erste Mal erfolgreich in die Medien gebombt. Tagelang hatten wir in Deutschland um die zwölf US-Bürger getrauert, die Fotos der Ermordeten wurden überall gedruckt, Amerika hatte getobt und Rache geschworen. Zwölf Tote, das ist hart. Doch viel härter, so berichtet uns der Fahrer mit bitterem Unterton, war für die Kenianer, dass die Welt der Weißen von den 241 bei dem Anschlag ums Leben gekommenen Afrikanern keine Notiz genommen hat. Ganz zu schweigen von den mehr als 5 000 teils schwer Verletzten. Wir starren auf die Hochhausruine mit den zerplatzten Fensterscheiben. Mehr als betroffen zustimmen können wir nicht.
Zurück im Hotel planen wir, den restlichen Tag am Pool zu verbringen. Schade nur, dass es zuzieht und die Sonne hinter dichten Wolken verschwindet. What shalls, wir sind ja in Afrika! Da ist bekanntlich immer August. Erst recht im September, doch kaum liegen wir am Pool, ist November. Es ist kalt. Erbärmlich kalt. Viel zu kalt zum Baden. Nairobi liegt immerhin 1 661 Meter über Null. Wir bleiben trotzig am Pool liegen, ziehen uns aber wieder alles an, was wir dabeihaben. Sehr zum Ärger des seltsamen Inders, der mit uns aus der Stadt kam. Der sitzt in Poolnähe auf einer Bank und spielt seit Stunden ungeniert Taschenbillard. Als er merkt, dass wir ihn seit einiger Zeit im Visier haben, zieht er die Hände aus den Hosentaschen und bummelt von dannen.
An diesem Abend geht der Flieger zurück nach Deutschland. Am Flughafen von Nairobi erfahren wir von der Lufthansa-Chefhostess, dass der Flug nach Frankfurt überbucht ist und alle Angehörigen nicht mitgenommen werden können, es gäbe so viele Stand-bys, die bereits seit Längerem warteten. Womit wir wieder bei den Vor- und Nachteilen des Lufthansa-Angehörigen wären. Man ist immer Stand-by. Zwar hatte ich in den allermeisten Fällen immer Glück und blieb nie stehen, doch diesmal hat mich das Glück offenbar verlassen. Wir sind bestimmt zehn Angehörige, die nun einer unbequemen Nacht auf dem Flughafen von Nairobi entgegensehen und nur hoffen können, dass die Flüge am kommenden Tag nicht voll sind.
Carlo, als Purser immerhin nach dem Kapitän der zweite Mann an Bord, findet diese Aussicht allerdings nicht so erfrischend und legt sich mit der Chefhostess an. Wenn die Angehörigen nicht mitkämen, blieben eben alle Stand-bys stehen, droht er. Chefhostess und Chefpurser fetzen sich ein wenig, bis schließlich der Kompromiss gefunden wird. Es dürfen so viele lange wartende Stand-bys mit, wie es noch freie Plätze gibt. Die Jumpseats und Cockpit-Okays erhalten die Angehörigen. Wir kommen also alle mit! Jumpseat und Cockpit-Okay heißt zwar, dass wir nur bei Start und Landung entweder auf den Klappsitzen in den Galleys (Küchen) oder im Cockpit sitzen dürfen und den restlichen Flug stehen müssen, aber immerhin sind es nur acht Stunden bis nach Frankfurt. Und die Crew ist außerdem so entzückend, dass wir abwechselnd auf den Schlafsitzen, die der Crew zum Ausruhen zur Verfügung stehen, sitzen dürfen.
Die Maschine ist voller Flüchtlinge aus Eritrea, die zur Familienzusammenführung nach Deutschland dürfen. Ein paar Greise und zahllose Frauen mit zahllosen Kindern. Die Greise behandeln die Stewardessen so, wie sie es gewohnt sind, Frauen zu behandeln – als letzten Dreck. Herrisch scheuchen sie die Stewardessen herum, blöken in schlechtem Englisch Befehle und bemäkeln die Sandwiches. Sie wollen alle Käse-, keine Schinkenbrote. Schließlich sind sie gläubige Moslems. Die weitestgehend verschleierten Frauen müssen den Greisen jedes Sandwich zeigen und das zustimmende Knurren abwarten, bevor sie es essen dürfen. Dann fordern die Frauen Schokoriegel und legen dabei erstaunliches Aggressionspotenzial an den Tag. Die Kinder wollen Sunkist mit Strohhalm, aber gefälligst nicht nur eine. Leider so geschehen und gesehen.
Da wir nur die Angehörigen und somit überzählige Passagiere sind, bekommen wir gar nichts. Was gäben wir für ein Schinkenbrot. Aber wir hatten ja einen Safari-Quickie. Da können Brote nicht mithalten.
Heuschrecken im Knuspermantel
Thailand & Kambodscha, 2003
Wer kennt sie nicht, die kernigen Individualreisenden, die jeden mit Verachtung strafen, der irgendwas pauschal bucht. Pah, Neckermänner! All-Inclusive-Prolls!
Ganz ehrlich? Ich hatte spätestens 2003 die Schnauze voll vom Individuellen. Die Zeiten, als ich in öffentlichen Linienbussen die Türkei durchquerte (damals noch ein touristisches Abenteuerland), interrailend Marokko bereiste, bei Nevercomeback-Airlines um ein Stand-by bettelte, bereitwillig auf versifften Zugklos (oh ja, ich erinnere mich noch heute an die Strecke Madrid-Lissabon!) oder im Cockroach Inn nächtigte, und mich mit einem Joghurt plus einem halben Baguette pro Tag zufriedengab, sind einfach vorbei. Ich wills bequem! Und nicht umsonst habe ich bei Deutschlands erfolgreichster Quizshow »Wer wird Millionär?« im Herbst 2002 einen gehörigen Batzen Geld gewonnen. Also wird forsch ein Reisebüro geentert und eine Pauschalreise gebucht. Megaspießig, ich weiß, oder in anderen Worten: Einfach ideal, praktisch, billiger und überhaupt.
Wenigstens ist mein Ziel auch bei Zeitgeldnervenverschwendern akzeptiert. Obwohl man mir natürlich eher Bhutan, die hintere Mongolei oder Kuba (»Wer weiß, wie lange es Fidel noch gibt …«) ans Herz legt, finden auch und gerade Individualreisende Thailand ganz okay:
»Klar, voll krasse Full Moon Raves auf Koh Phangan und so …«
»Nö, wir sind auf Koh Samui.«
»Ey, auch cool. Chaweng Beach und so … Voll die Party.«
»Nö, Maenam Beach.«
»Maenam? Nie gehört, da ist doch bestimmt gar nix los.«
»Ja, eben!«
Gut, ursprünglich hatten wir Bali im Auge. Da war ich schon mal und wollte gerne wieder hin. Bis dann im Herbst 2002 gehirnfreie Religionsfaschisten das Paradies mit ihren Bomben in eine Hölle verwandelten1. Wir sind ja flexibel und buchen schnell um: Kenia. Klasse Hotel bei Mombasa. Safari und so wollen wir dann spontan unten organisieren. Eben erwähnte primitive Lebensformen, die einem von den skrupellosen USA zum skrupellosen Terroristen ausgebildeten Milliardär namens Osama bin Laden hörig ergeben sind, handeln wieder gemäß ihrer perversen Logik. Ein Selbstmordkommando mit vielen Toten später fällt auch Kenia flach2. Es ist weniger die Angst vor weiteren Anschlägen – im Gegenteil, ich halte Bali und Kenia nach den Anschlägen für die sichersten Plätze –, es ist mehr das ungute Gefühl, dort einen auf Urlaub zu machen, wo just Urlauber sinnlos abgeschlachtet wurden. Vor allem muss ich nicht in ein Land reisen, in dem mal eben mit Boden-Luft-Raketen auf einen startenden Passagierjet geschossen werden kann, ohne dass es irgendwer merkt.
Also gehts wieder ins Reisebüro. Die Angestellte ist zunächst endgenervt, zickt herum, dass »es« uns ebenso in Berlin, Paris oder Kleinunterstüchtelheim passieren könnte. Gebucht ist gebucht. Umbuchen kostet! Schleichts eich. Gut, wenn sie uns so kommt. Zickig können wir auch. Wir bösen Buben buchen nun kreuz und quer durch den Katalog, was das Zeug hält. Okay, total pauschal ist das nicht gerade, aber so hardcore sind wir doch noch nicht. Geschlagene zwei Stunden später haben wir alles unter Dach und Fach, die Buchungsfachkraft ist ein japsendes Nervenbündel, und wir sind das erste Mal im Leben so etwas wie Pauschalreisende.
Bangkok
So brechen wir Ende Januar 2003 gen Thailand auf. Immerhin haben wir uns für ein neiderregendes Schmankerl entschieden, mit dem wir alle Lästerer mundtot machen: Drei Tage Kambodscha – Angkor checken. Ebenfalls pauschal in Deutschland gebucht. Nein, das bekommt man vor Ort kaum billiger. Bin ja nicht ganz blöd und habe mich im weltweiten Netz erkundigt. Flüge von Bangkok nach Siem Reap kosten ab 300 Dollar, dazu dann Hotel und Eintritt in Angkor (Mehrtagespass ab 40 Dollar) und Transfers und ein Guide und und und. Da ist das Pauschpaket, das mein Veranstalter bietet, preislich konkurrenzlos attraktiv.
Es gibt so ein paar Städte, die man sich mindestens einmal im Jahr geben sollte, um sich lebendig zu fühlen. Jeder hat so seine Handvoll Traumstädte. Meine sind Amsterdam, Paris, New York (tja, sorry Wien und Rom, vielleicht das nächste Mal …) und immer wieder Bangkok. Bangkok, weil es einfach die real gewordene Version des Mega-Molochs aus dem Sci-Fi-Klassiker »Blade Runner« ist, weil es unerträglich laut ist und wie die Pest stinkt, weil man aus dem klimatisierten Hotel tritt und die Luft sich anfühlt, als würde man ein glutheißes, patschnasses Saunahandtuch um die Ohren geschlagen bekommen, weil man nirgendwo so schön »Shop till you drop« spielen kann und weil man sich von früh bis spät den Bauch mit den leckersten Köstlichkeiten für quasi umme vollschlagen kann.
Wenn man mir eine Wette anbieten würde, bei der man internationale Flughäfen am Geruch erkennen soll, würde ich sofort Bangkok herausschnuppern. Ich hatte diesen charakteristischen Mief aus süßlich Vermoderndem, gemixt mit schweren Blüten und Desinfektionsmitteln, schon völlig vergessen. Umso härter drängt Eau de Bangkok nach der Landung in meine Nase. Olfaktorisch noch außer Gefecht gesetzt, gehts schon los mit dem Pauschprogramm: Wir werden abgeholt. Irgendwie kommen wir uns blöd vor, als wir mit lauter Ehepaaren mittleren Alters magnetisch auf die freundlichen Thais zudackeln, die ihre Empfangsschilder hochhalten. Nun gehören wir also dazu. Den verächtlichen Blicken der vorbeiziehenden Backpacker halten wir trotzig und arrogant stand. Denn wer je versucht hat, vom Bangkoker Flughafen per Taxi in die Stadt zu kommen, ohne mehrere Tobsuchtsanfälle wegen impertinenter Chauffeure zu erleiden, weiß den Service des Hoteltransfers sehr wohl zu schätzen. Das nennt man pampern. Wir gewöhnen uns schnell dran.
Nach kurzem Nickerchen im Hotel, dem Crowne Plaza, einstmals Holiday Inn, praktischerweise in der Silom Road gelegen, damit man alle wichtigen Punkte bequem zu Fuß erreichen kann (Oriental Pier für die Bootsfahrten auf dem mächtigen Mae Nam Chao Phraya in die Altstadt, Oriental Terrace für den Sundowner, Silom Village und Patpong zum Powershoppen, Ban Chiang zum Schlemmen), gehts los. Bangkok verzeiht es einem nicht, wenn man irgendwas verschläft. Jetlag hin oder her: Mit dem Linienboot zu Wat Po. Zum x-ten Mal sehen und immer noch fasziniert sein. Und zum x-ten Mal sich über meinen Reiseführer aus den frühen 90ern des letzten Jahrhunderts des vergangenen Jahrtausends amüsieren; putzigerweise beschreibt der die Hauptattraktion der Tempelanlage Wat Po so: »Der Tempel des ruhenden Buddha (50 cm lang, 15 cm hoch) wurde 1987 zum Geburtstag von König Bhumibol neu vergoldet.« (Merian live: Thailand, Gräfe und Unzer Verlag, München, 1994, S. 57). Boah, denkt man sich. Da haben die Thais für ihren König ganz schön was springen lassen. Ganze 50 Zentimeter lang! Dann steht man vor dem in Wirklichkeit natürlich 50 Meter langen Riesenbuddha und wundert sich ein bisschen, dass sich solch entscheidende Details durch zig Korrekturstufen schmuggeln können, die ein Reiseführer aus dem Hause Merian durchlaufen sollte.
Wir haben keine Zeit für eine erholsame Thaimassage in der berühmten Massageschule von Wat Po, sondern hetzen sofort weiter zu den Märkten, die in Reiseführern gerne als verschiedene Märkte (Pahurat Market, Old Siam Plaza, Diebesmarkt, Pak Khlong Talat) beschrieben werden, die aber letztlich ein einziger, gigantischer, unzählige Straßenzüge umspannender Markt sind. Wir haben nur noch wenig Zeit, bis die Sonne untergeht und die Stände schließen. Schnell in das Gewusel einreihen und sich ständig dem Kreislaufkollaps nahe durch die dichten Menschenmassen quetschen oder sich mal willenlos ein paar Straßenzüge lang mitreißen lassen. Und immer darauf hoffen, dass keine Stampede ausbricht. Glücklich, überlebt und eine spottbillige Ray-Ban (garantiert so was von echt) erstanden zu haben, bummelt man dann durch die etwas ruhigeren Gassen von Chinatown, reiht sich an abgesperrten Straßen in fähnchenschwingende Schulkinder ein, die einer hinter dem dunklen Panzerglas einer vorbeirauschenden Luxuslimousine verborgenen königlichen Hoheit zujubeln, und erreicht endlich die Terrasse des Oriental, seines Zeichens regelmäßig zum besten Hotel der Welt gekürt, wo man bei einem Cocktail den Sonnenuntergang am Flussufer genießt. Okay, zugegeben, seit auf der anderen Flussseite das Peninsula an den Wolken kratzt, ist es mit dem Sonnenuntergang im Oriental vorbei, aber trotzdem. Tradition ist Tradition. Und qualmende Füße fordern ihren Tribut.
Auch wenn die zahlreichen Garküchen mit noch so leckeren Düften locken, zum Glück weiß der erfahrene Bangkok-Urlauber, wo er die besten Lukullitäten zu vernünftigen Preisen in schönster Atmosphäre genießen kann. Das Ban Chiang, ein kleines, altes, liebevoll hergerichtetes Holzhaus im Kolonialstil, und das Harmonique, ebenfalls ein altes Häuschen mit romantischem Innenhof, liegen beide nur einen Steinwurf weit vom Hotel entfernt. Wobei ich mich im Zweifelsfall immer wieder fürs Ban Chiang, das in einer sehr dunklen Gasse hinter dem Crowne Plaza liegt, entscheiden würde …
Angkor, Siem Reap
Pauschalreisen haben einen entscheidenden Nachteil: Als Herdentier wird man ständig gehetzt. Wir müssen am nächsten Tag schon um kurz nach Mitternacht aufstehen, weil der Shuttle uns um 5 Uhr abholt, damit wir auch sicher den Flieger um 8 Uhr nach Siem Reap, Kambodscha, erreichen. Dass man dann zweieinhalb Stunden am Flughafen chillt, was solls. Dafür begrüßt einen der winzige Flughafen in Kambodscha, ein für Länder mit diktatorischer Vergangenheit typischer, hingeklatschter Betonklotz, mit einem charmanten Fußbodenmuster aus lauter zerquetschten Kakerlaken.
Eine weitere zweifelhafte Charmeoffensive erwartet uns an der Passkontrolle. Die sich nur alle paar Stunden um einige Millimeter weiterbewegenden drei Warteschlangen und die grimmig blickenden Uniformierten hinter dem Tresen erinnern verdächtig an Zeiten, als es noch ein Abenteuer war, die Sowjetische Besatzungszone (heute: Neue Bundesländer) zu besuchen. Wer ins Land will, muss ein Passfoto vorlegen und 20 Dollar in bar berappen. Wenn man kein Passfoto hat, wie das amerikanische Ehepaar vor uns, tuns zur Not auch 5 Dollar, die man zusätzlich über den Tresen schiebt. Hat man die 20-Dollar-und-im-Notfall-Bestechungsgeld-Schlange überwunden, stellt man sich brav an der Visum-Aushändigungs-Schlange an. Spätestens hier beginnt ein munteres Zeittotschlagen, indem man mit seinen Vorder- oder Hinterleuten Bruderschaft trinkt und lebenslange Freundschaften schließt. Glücklich, wer einen prall gefüllten Picknickkorb, Astronautennahrung oder ein Klappbett dabeihat. Das amerikanische Ehepaar von eben plauscht mit uns. Er erinnert mit seinem markant zerknitterten Gesicht an einen deutschen Schauspieler, der immer in den Winnetou-Filmen oder bei »Lederstrumpf« mitgespielt hat, und dessen Name mir nicht einfällt. Ich glaube, der Schauspieler hieß Hellmut Lange. Lederstrumpf ist natürlich sofort begeistert, als er erfährt, dass wir Deutsche sind. »Meine Großvater war eine Schwabe«, radebrecht er stolz. »Isn’t that gorgeous?!«
Schon ein halbes Menschenleben später haben wir unser Visum und können endlich zur Passkontrolle-Schlange vorrücken. Die Lebensgeschichte von Lederstrumpf und Gattin beherrschen wir bereits auswendig, und ich schaffe es gerade noch, den Amis die detaillierte Biografie meiner Urgroßmutter väterlicherseits reinzudrücken, als es auch schon Abschied nehmen heißt. Wir sind durch! Dass wir das noch erleben durften! Wir treten ins gleißende Sonnenlicht Kambodschas.
Unser Reiseführer strahlt über beide Ohren, als er uns in Empfang nimmt. Man möge ihn bitte Ry nennen, denn seinen kompletten Namen könnten wir uns eh nicht merken. Uns zuliebe spricht er seinen Namen dann doch aus. Wir können ihm nur zustimmen und bleiben bei Ry.
Ry karrt unsere Reisegruppe ins Angkor Hotel. Gepäck abliefern. Einchecken können wir erst später, weil die Zimmer nicht fertig sind. Unsere Gruppe besteht außer uns aus einem ältlichen schweizerischen und einem niederbayrischen Ehepaar, einem jungen Pärchen aus München (Gott sei Dank sind wir nicht die Jüngsten!), einem schwergewichtigen Ehepaar aus Berlin und einem alleinreisenden, putzmunteren Greis aus dem Schwäbischen, der die 80 schon weit hinter sich hat. Im Hotel heißt uns eine freundliche Dame mit der entzückenden Geste des Schalumlegens willkommen. Einer buddhistischen Tradition folgend, bekommt jeder einen dünnen Schal um den Hals gehängt. Vor einigen Jahren gab es einmal eine außenministeriale Notlösung namens Klaus Kinkel, die ganz undiplomatisch für einen Skandal sorgte, als sie dem Dalai Lama just diese Geste verwehrte. Ein Kinkel Klaus ließ sich nichts um den Hals wickeln, lieber beleidigte er das geistliche und weltliche Oberhaupt von zig Millionen Buddhisten tödlich. Doch Seine Heiligkeit, die Diplomatie in Person, lächelte und tat, als ob nichts wäre. Wir hingegen lassen uns gerne Schals umlegen. Alle bedanken sich artig, doch schnell wandern neidische Blicke durch die Runde. Der hat einen blauen, den will ich! Sauerei, die fette Kuh bekommt den orangenen und ich den hässlichen schlammfarbenen. Ein munteres Schaltauschen beginnt. Die Hoteldame lächelt und tut, als ob nichts wäre.
Die Begrüßungsschals, eben noch hart ertauscht, verschwinden lieblos zusammengeknüllt in den Reisetaschen, die erste Besichtigungstour beginnt. Wir bekommen unsere Mehrtagespässe, die wir ständig sichtbar tragen müssen, denn obwohl Angkor sich über etliche Quadratkilometer erstreckt und aus zahllosen, teilweise völlig einsam liegenden Gebäudekomplexen besteht, gibt es überall Kontrollen, damit sich niemand die Schönheiten Kambodschas umsonst erschleichen kann. Was jedoch noch wichtiger ist: Der Pass berechtigt zum kostenlosen Aufsuchen der Angkor-Toiletten, die nicht nur nach den Maßstäben eines Fünfteweltlandes sauberst, modernst und empfehlenswertestens sind. Allein die putzigen Piktogramme, die ungeübte Klobesucher darauf hinweisen, dass man auf der Klobrille sitzt und nicht steht oder hockt, sind den Besuch wert.
Die Besichtigung der ersten Attraktionen wird durch einen kleinen Makel erschwert: Unser Reiseleiter Ry ist eine Seele von Mensch, lieb und bemüht – aber er redet auch wie ein Wasserfall und versucht uns die Unmengen an Wissen zur faszinierenden Khmer-Geschichte, über die er zweifellos verfügt, geballt reinzudrücken. Leider kann sich der Mitteleuropäer als solcher komplizierte asiatische Herrschernamen und den reichhaltigen Kosmos hinduistischer Gottheiten sowie die Terminologie buddhistischer Erleuchtungsstadien nur schwer auf Anhieb merken. Bedauerlicherweise bedient sich Ry, der angeblich zu DDR-Zeiten in Rostock Medizin studiert hat, einer Sprache, die man beim konzentrierten Hinhören nur mit viel Wohlwollen als Deutsch identifizieren kann. Und er pflegt seine Ausführungen pädagogisch wertvoll aufzubereiten, indem er stets ein rhetorisches »Und warum?« einfügt, um noch detaillierter das eben Gesagte zu wiederholen.
So erfahren wir beispielsweise angesichts der erschlagend beeindruckenden Ruine des Bayon Tempels: »Dann sinn Hinduis unn Shivais geweseh weg unn König Jayavarman die Siebeh, die iss König von elfehundeheinunnachezih bis zwolefehundehneunezeh, wolleh deh Mach von König neu stutzeh auf die Mahayana-Buddhis, sag man doch, stutzeh, eh? Unn warum? Weil die Buddhis is von Jayavarman die Religion, die haben.« Und schon begehen wir einen Frevel, den Pauschalisten scheuen wie der Teufel das Weihwasser: Wir setzen uns einfach ganz individuell ab, erkunden die umwerfende, letztlich nicht beschreibbare Anlage mit den 37 milde lächelnden, meterhohen Buddhaköpfen auf eigene Faust. Einzig das Berliner Ehepaar, sie kugelrund und ständig die Videokamera im Anschlag, er geschmackssicher in schreienden Hawaiihemden, traut sich, ebenfalls aus der Herde auszubrechen. Hier, wie in allen anderen Tempelruinen, wurden einige der heiligen Stätten reaktiviert. In verfallenden Türmen sind Buddhastatuen mit orangenen Schärpen postiert, meist halten kahlgeschorene, greise Nonnen Wache und bitten um Almosen.
Allein der Bayon Tempel und die Straße der Riesen mit den gigantischen Dämonenstatuen auf der rechten und den monumentalen Buddhastatuen auf der linken Seite haben uns völlig betäubt. Man muss sich ständig ins Bewusstsein rufen, dass das alles keine Kulissen für einen »Indiana Jones«-Film sind, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Der Ta Prohm Tempel wird sogar fälschlicherweise »Indiana Jones Tempel« genannt. Nein, Indiana Jones war nie hier. Dafür Angenlina Jolie in »Lara Croft: Tomb Raider«. Alles ist echt, wir erleben die spektakulären Ruinen einer einstigen Millionenstadt, die zur selben Zeit aufblühte wie das Reich Karls des Großen, ihren Höhepunkt unter den Gottkönigen im 12. Jahrhundert erlebte und sich durch ihre eigene, unstillbare Prunksucht dann selbst das Grab schaufelte. Nach zahlreichen Kriegen, Eroberungen und Plünderungen durch die Siamesen wurde Angkor verlassen und ab dem 15. Jahrhundert vom Urwald zurückerobert. Seit knapp eineinhalb Jahrhunderten wird die Stätte der Superlative wieder peu à peu dem Dschungel entrissen. Angkor darf man sich nicht als wilde Ansammlung von Ruinen vorstellen. Schon von der Straße der Riesen zum Bayon Tempel fährt man mehrere Kilometer. Teilweise ist man je nach Fortbewegungsmittel (und unsere Individual-Freunde wählen hierzu Mopeds oder Fahrräder, zwei bis drei völlig Durchgeknallte sind mit hochroten Köpfen sogar per pedes unterwegs und sehen so aus, als würden sie nicht mehr lebend nach Siem Reap zurückkehren) mehrere Stunden von Tempel zu Tempel unterwegs, durchquert Dörfer, Felder und wilden Urwald.
Bevor wir uns Angkor Thom und Angkor Wat widmen dürfen, heißt es erst: zurück ins Hotel, Zimmer beziehen. In der Sekunde, in der wir unsere Zimmertüre aufschließen, ertönt innen ein kurzes Quieken und die Badezimmertür wird zugeschlagen. Im Bruchteil einer Sekunde erhaschen wir noch einen Blick auf die Ursache: Ein Zimmermädchen hockt mit runtergelassenem Höschen auf unserem Klo und kackt sich aus. Es dauert, bis sie endlich fertig ist. Sie kommt heraus, lächelt verlegen und sagt »Sorry«, während sie sich mit der rechten Hand vielsagend den Bauch hält.
Die meisten aus unserer Gruppe nutzen die freie Stunde zum Schlafen, ich erkunde lieber den Hotelpool. Außer mir kommt noch die junge Münchnerin an den Pool. Sie heißt Clara und fühlt sich vom stundenlang durch die Tempel tigern noch nicht richtig ausgelastet. Ein paar Kilometer schwimmen soll Abhilfe verschaffen. Der Pool ist ansonsten fest in japanischer Hand – wie übrigens fast alles in Kambodscha. Vielleicht finden die reichen Zeitgenossen aus dem Land des Lächelns ja auch die Attraktion toll, die hinter dem Pool zur Gästebelustigung bereitgehalten wird: Zwei völlig verstörte Schwarzbären kauern in einem winzigen Käfig, der so gut wie keinen Sonnenschutz bietet.
Nur bleibt kaum Zeit, Bärenschicksale zu bedauern, denn wir müssen an diesem Nachmittag noch einiges abarbeiten. Angkor Thom mit dem Königspalast, der gigantischen Elefantenterrasse und der Terrasse des Lepra-Königs sind vergleichsweise schnell abgehakt, wobei die drängende Frage, ob denn der König nun wirklich Lepra hatte oder nicht, von unserem Reiseleiter Ry nicht erschöpfend beantwortet werden kann. Das heißt, uns erschöpft die Antwort sehr wohl, denn Ry holt erst einmal zu einer kompletten Genealogie der Khmer-Könige aus, um dann die Frage nach der Lepra wortreich in einer uns größtenteils unbekannten Sprache zu umschiffen: »Die Leute denken die Lepra mit die König. Unn warum? Weil die König habe die Fingah unn die Leute nich habe gewusst – man sag doch gewusst? –, dass die Lepra nich die Ursach, wenn die König habe das. Aber die König so habe immer unn denke die Leute mit die Lepra. Aber habe die Fingah! Sie verstehe? Also, ich wiederhole noch mah …«
Immer noch rätselnd, was denn nun an der Leprageschichte dran war, turnen wir bald darauf auf den Steiltreppen des Phimeanakas, einer Tempelpyramide aus dem 10./11. Jahrhundert, herum. Wie sich im Nachhinein zeigen sollte, noch die harmloseste. Buddhistische Tempelpyramiden in Angkor neigen dazu, nur über halsbrecherische, beinahe senkrechte Steintreppen mit ausgelatschten, extrem schmalen Tritten erklimmbar zu sein. Nichtsdestotrotz klaxelt Clara, die den dringenden Hinweis des Reiseveranstalters auf festes Schuhwerk einfach ignoriert hat, mit hochhackigen, offenen Sandaletten hinauf und erstaunlicherweise auch lebend wieder hinunter. Gute Übung für die Kletterherausforderung, die nun auf uns wartet: Angkor Wat. Die pompöse, trotz der Jahrhunderte Dornröschenschlaf im dichten Dschungel sehr gut erhaltene Tempelanlage ist der erste und einzige Ort hier, den man tatsächlich als touristisch überlaufen bezeichnen könnte: Man sieht nämlich ab und an mal ein paar andere Menschen. Natürlich haben wir zwei schwarze Schafe uns wieder von Rys Erklärungsmarathon zum größten sakralen Bauwerk der Welt befreit, überqueren die Brücke über dem Wassergraben, der Angkor Wat umgibt, und lustwandeln auf der Prachtallee gen Zentraltempel. Ab und an rollt die dicke Berlinerin, die ebenfalls endgültig zu den Dissidenten gehört, in Sichtweite herum und filmt, was die Videokamerabatterien hergeben. Bei jeder Begegnung zwinkern wir uns verschwörerisch zu. »Det isn Ding hier, wa?«, ruft sie uns fröhlich zu. »Aba det is noch jar nüscht jejen Burma! Det müssta ma machen!« Machma. Näxtes Jahr, wa.
»Hey, howya doin?«, plärrt es da von der Seite, und schon treffen wir unsere Bekannten aus dem Einreise-Schlangen-Abenteuer, Lederstrumpf und Gattin.
»What a small world, hm?«
»It is!«
»Isn’t that ter-ri-fic?!«
»Sen-sa-tio-nal!«
»A-ma-zing!«
»It’s just like, you know, so impressing!«
»Yeah, see ya!«
»See ya!«
(Amnerkung von 2020: Damals war noch nicht alles »awesome«.)
Im Herzen Angkor Wats befindet sich die ultimative Traniningsanlage für Freeclimbing-Freaks. Die »Treppe« der Tempelpyramide ist nichts weiter als eine endlos hohe Wand mit einem winzigen Stüfchen alle fünf Meter. Carsten, fitnessgestählt, macht die Vorgabe und turnt leichtfüßig, einer Bergziege gleich, die Senkrechte hoch. Ich, schokoladengeschwächt, erklimme zitternd auf allen vieren und mit dem Adrenalinausstoß eines Bungeespringers die Wand. Bloß nicht nach unten schauen, bloß nicht hinterfragen, was ich da eigentlich mache. Und da ich oben auch tatterige Greisinnen herumspazieren sehe, bin ich leidlich zuversichtlich, dass es irgendwo einen einfachen Weg geben muss. Einen einfachen Weg hinunter. Den gibt es tatsächlich, doch die Warteschlange downstairs ist schier endlos. Schon senkt sich die Sonne im Westen ihrem Untergang zu. Von hier oben aus hat man einen Traumblick auf die dämmernde Landschaft. Bekanntermaßen geht in den Tropen die Sonne meist ziemlich ploppartig unter, das bedeutet im Zweifelsfall: Abstieg vom Tempel im Dunkeln. Es gelingt mir, mich gnadenlos durch geschicktes Vortäuschen akuter Darmprobleme in der Warteschlange vorzudrängen. Nun ist eine junge Frau mit Kleinkind auf dem Arm vor mir. Wie die es mit dem Balg hier hochgeschafft hat, wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Jedenfalls sollte man ihr sofort das Sorgerecht entziehen. Der einfache Abstieg entpuppt sich als ebenso senkrechte Wand mit alle fünf Metern einem schmalen Stüfchen, nur wird er von einem hauchdünnen Metalldrähtchen, an das sich alle verzweifelt krallen, »abgesichert«. Tattergreisinnen, Mütter mit Säuglingen und nicht völlig schwindelfreie Autoren benötigen natürlich eine gewisse Zeit, um sich diesen Weg hinabzuhangeln. Froh, noch unter den Lebenden zu weilen, bummeln wir zurück zum Eingangstor von Angkor Wat, in der Hoffnung, dort unsere Gruppe wiederzufinden.
»Hey, my god, did anybody ever tell ya, that you are tall?!«, quäkt es da plötzlich von links hinten in jenem breiten Gerülpse, das in weiten Teilen der USA als Sprache anerkannt ist. Wir drehen uns um, eine kleine, dicke Amerikanerin asiatischer Herkunft grinst breit.
»Tall? Me? You’re sure?!«, antworte ich geistesgegenwärtig. Nun bin ich nicht gerade der Kleinste und falle besonders in asiatischen Ländern auf, weil ich mit meinen 2,03 Metern mühelos jeden überrage. Doch so plump hat es bisher noch niemand gebracht. Die pummelige Amerikanerin tut fortan so, als hätte sie mit uns die Wartezeit an den drei Einreiseschlangen am Flughafen verbracht, textet uns gnadenlos mit Blabla à l’americaine zu (»So fascinating, isn’t it? Überfascinating.«). Wir spielen mit, wohl wissend, dass der trendige Ami momentan die deutsche Vorsilbe »über« favorisiert (»It’s just like, you know, so unique. Überunique.«), bis die Frau dann abrupt stehen bleibt und sich mit einem: »Allright, I’ll just catch a photo right here. See you, boys.« verabschiedet. Weg ist sie.
Es ist zwar schon schwärzeste Nacht, doch noch früh am Abend, als wir endlich wieder unsere Pauschalfreunde treffen. Ry grollt nicht, weil wir den Nachmittag ohne seine Erläuterungen verbracht haben. Er bleibt die radebrechende Freundlichkeit in Person. Doch er ist verzweifelt, weil er den Programmpunkt »Sonnenuntergang von Phnom Bakheng« nicht mehr untergebracht hat. Dafür will er uns am nächsten Morgen mit einem Sonnenaufgang locken. Irgendwie sind wir alle nicht begeistert von der Vorstellung, schon wieder um 5 Uhr früh aufstehen zu müssen, und lehnen das Angebot ab. Nun schmollt Ry doch ein wenig und scheucht uns zur Strafe in einen der zahlreichen supermarktgroßen Souvenirshops, wo man nach allen Regeln der Kunst ausgenommen werden soll. Hostessen mit der Penetranz von Filzläusen und Preise jenseits der Schamgrenze verhindern jegliche Kaufgelüste. Zumal man die identischen industriegeschnitzten Buddhas, den billigen Silberschmuck und die Stoffe in Bangkok erheblich preiswerter kaufen kann. Da wir den Konsum verweigern, kann Ry vom Ladenbesitzer auch keine Provision einstreichen. Er wird uns daher am nächsten Tag noch zwei- bis dreimal hartnäckig an Souvenirsupermärkten ausladen und beschwört uns, am Abend zumindest in die Lokale zu gehen, die er uns empfiehlt.
Hier haben die anderen Gruppenmitglieder ein Herz, doch wir zwei seilen uns gewohnheitsmäßig ab und entdecken prompt, angelockt von blinkenden Leuchtketten, in einer düsteren Seitenstraße einen spottbilligen Gourmettempel. Das Geblinke ist nur von kurzer Dauer, denn kaum haben wir bestellt, gehen die Lichter aus. Totaler Stromausfall. Nun hocken wir bei Kerzenlicht. Richtig romantisch. Das finden auch die vier sehr praktisch gekleideten, kräftig gebauten Damen mit Kurzhaarfrisuren und markant maskuliner Appearance am Nebentisch, die sich nun noch verliebter gegenseitig in die Augen schauen. Sie rufen uns im derbsten Boarisch ein freundliches »Grad griabig da herin, gell. Pfiads eich, Buam!« nach, als wir, vollgewamst bis zum Anschlag, höchst zufrieden das Lokal verlassen. Auf unser »Pfiads eich aa, Madln, äh, Buam!« strahlen sie wie Honigkuchenpferdinnen.
Wir wollen ein wenig Siem Reap erkunden, doch wir finden nicht viel Erkundenswertes. Zwei kleine Schmuddelläden mit einigen interessanten asiatischen Pseudoantiquitäten ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, doch kambodschanische Ladenbesitzer haben im Gegensatz zu ihren thailändischen Kollegen sehr viel fixere und vor allem viel überzogenere Preisvorstellungen. Sie knallen uns einen obszönen Dollarpreis hin und lassen sich nicht mal annähernd in die für uns interessante Preiszone handeln. Pech gehabt, dann eben nicht.
Apropos Dollar: Kambodscha gilt als eines der ärmsten Länder der Welt, was man nirgends nachlesen muss, weil man es sofort am Straßenleben sieht. Alle Hoffnungen ruhen auf dem Tourismus, weshalb an der Straße nach Angkor ein Hotel neben dem anderen hingeklotzt wird. Von den rund 600 000 Besuchern im Jahre 2002 will sich Kambodscha auf 2,8 Millionen bis 2006 steigern. Da der kambodschanische Riel völlig unter Schwindsucht leidet, sind US-Dollar und Thai-Baht die offiziellen Zahlungsmittel. Und auf einen Dollar oder mindestens 20 Baht (ca. 50 Euro-Cent) hoffen alle Kinder und Bettler. Klar soll man nichts geben, weil man sonst die Kinder zum Betteln erzieht. Dies haben aber schon zahllose Touristen vor uns gemacht, und so hat man an jedem Tempel in Angkor und an jeder Straßenecke in Siem Reap eine Horde »One dollah«-kreischender Bälger um sich. Manche versuchen, dir für den Dollar (oder zwei oder drei) zumindest ein T-Shirt, Filme, Postkarten oder ihre Schwester anzudrehen, doch die dreisteren bieten nichts außer Hartnäckigkeit. Kaum hat man zum Beispiel die herrliche Aussicht vom Gipfel des Ta Keo genossen und küsst noch ganz trunken vor Freude den Boden, dass man wieder eine halsbrecherische Steiltreppe überlebt hat, schon klebt Miss Impertinent an dir und schreit: »Give me one dollah!«
Du ignorierst es zunächst.