Münchner Gsindl - Martin Arz - E-Book

Münchner Gsindl E-Book

Martin Arz

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Beschreibung

Endlich! Münchens Kult-Kriminaler ermittelt wieder: Max Pfeffers 7. Fall Polina ist Kindermädchen. Polina ist verträumt, Polina vergisst die Welt bei Bollywood-Schmachtfetzen, Polina ist heimlich verliebt - Polina ist tot. Missbraucht, erwürgt, brutal entstellt. Die heile Welt im vornehmen Münchner Vorort Harlaching gerät ins Wanken, denn Polinas Chefin ist die erfolgsverwöhnte, berühmte Krimiautorin Susa Förster. Die Medien stürzen sich auf die Geschichte. Der Gatte der Autorin scheint mehr als verdächtig, ihre Literaturagentin ebenso. Der Nachbarsjunge entpuppt sich als durchtriebenes Früchtchen. Polinas Mitbewohnerin ist ausgebuffter, als ihr Engelsgesicht vermuten lässt. Dann ist da noch Susa Försters greise Schwiegermutter, die ihr ganz eigenes Süppchen kocht. Und schließlich stellt sich die Frage, ob Polina überhaupt Polina ist … Max Pfeffer, der ebenso taffe wie melancholische Münchner Kriminaler, hat selbst an einem gewaltigen Schicksalsschlag zu knabbern und fühlt sich verwundbar. Ausgerechnet in diesem Zustand muss er sich in ein verzwicktes Beziehungsgeflecht voller Abhängigkeiten, Lügen, Missbrauch und Ängsten einarbeiten. Krimileser schätzen den kultigen Münchner Kriminalrat Max Pfeffer. Bisher hatte Pfeffer sechs Fälle zu lösen. "Münchner Gsindl" ist sein 7. Fall, von Autor Martin Arz wieder mit heftigem Münchner Lokalkolorit, schwarzem Humor und rasanter Spannung komponiert.

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Martin Arz

Münchner Gsindl

Pfeffers 7. Fall

Hirschkäfer Verlag

Martin Arz schrieb zunächst als freier Autor für zahlreiche Magazine. Dann arbeitete er mehrere Jahre lang als PR-Berater, bevor er sich ganz den Künsten widmete: der Malerei und dem Schreiben. Seine Gemälde waren bereits auf vielen Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Arz ist Autor von zahlreichen Sachbüchern, Krimis und historischen Romanen.

Max-Pfeffer-Krimis im Hirschkäfer Verlag:

· Das geschenkte Mädchen – Pfeffers 1. Fall

· Reine Nervensache – Pfeffers 2. Fall

· Die Knochennäherin – Pfeffers 3. Fall

· Pechwinkel – Pfeffers 4. Fall

· Westend 17 – Pfeffers 5. Fall

· Geldsack – Pfeffers 6. Fall

· Münchner Gsindl – Pfeffers 7. Fall

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

ein E-Book aus dem Hirschkäfer Verlag, 2020

Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design/Coriander P.

© Hirschkäfer Verlag, München 2020

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags ­unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-ISBN 978-3-940839-72-5

Besuchen Sie uns im Internet:

www.hirschkaefer-verlag.de

Mit Liebe gemacht.

1

Pulsbereich zwei. 164 Schläge in der Minute.

Zu viel. Er hatte es gespürt. Er musste Tempo reduzieren. Ein bisschen. Zurück in Pulsbereich eins. Das war die Strecke für einen wirklich langen Lauf. Ein paar Minuten, und er war wieder unter 150. Das spürte er einfach. Zur Sicherheit schielte Max Pfeffer nach zwei Minuten auf die Uhr mit dem Pulsmesser: 148. Ein Weihnachtsgeschenk seines älteren Sohns. »Voll uncool, Dad«, hatte Cosmo seinen Vater kritisiert, nachdem der sich geoutet hatte, dass er nach Gefühl lief und nicht streng geräteüberwacht. »Gerade in deinem Alter solltest du nicht mehr einfach nach Gefühl laufen.«

»In meinem Alter?«

»Du weißt, was ich meine.«

Pfeffer wusste es nicht. Natürlich hatte er sich zunächst geweigert, die Uhr zu tragen, dann aber doch einem Testmonat zugestimmt, damit er seine Ruhe hatte. Cosmo konnte echt anstrengend sein – und verdammt hartnäckig, ganz der Vater. Also lief Max Pfeffer seine morgendliche Joggingrunde in diesem Mai mit Pulsmesser und Uhr. Heute hatte er die lange Route bis hinter den Tierpark Hellabrunn gewählt. Auslaufen, den Kopf freibekommen. Aufhören zu denken. Einfach laufen. Utz-Utz-Musik in seinem Kopfhörer gab den Takt vor. Utz-Utz-Musik – Cosmo würde ihm was husten, wenn er das zu ihm sagen würde. Immerhin hatte dj Cosmo seinem Vater mehrere Tracks zusammengestellt, je nach Pulsbereich, für langsam bis Sprint. Und weil Cosmo wusste, dass sein Vater coolen Jazz, exotische Weltmusik und Electronic Beats liebte, hatte er jeweils ein paar Elemente hineingemixt. Es funktionierte. Der Beat war jedes Mal eine Nuance anders, sodass Pfeffer danach im jeweiligen Pulsbereich laufen konnte. Viel nützlicher als dieser blöde Pulsmesser.

Die Sonne ging gerade auf. Kurz vor sechs. Es war frühlingshaft warm. Pfeffer war bisher nur zwei oder drei frühen Läufern begegnet. Er war schon eine halbe Stunde unterwegs. Rechts gurgelte die Isar, der Flaucher lag hinter ihm, bald kam rechts der Zoo in Sicht. Man konnte ihn riechen, bevor man ihn sah. Animalisches lag in der Luft. Pfeffer gab einer Eingebung nach und machte spontan zwanzig Liegestütze auf dem Weg, bevor er weitertrabte. Erste Hundegassiführer tauchten auf den Wegen auf, die aus dem dichten Grün der Isarauen zum Fluss führten. Die meisten ließen ihre Hunde ohne Leine laufen.

Bis zur Marienklause, beschloss Pfeffer, dann den steilen Weg hi­nauf nach Harlaching und oben am Hang den Weg zurück nach Giesing. Dann würde er insgesamt zwar mehr als eine Stunde brauchen, aber ihm war danach. Er hatte Energie.

Das Tierparkgelände endete. Pfeffer überquerte den Auer Mühlbach, der hier von der Isar abgeleitet wurde, und bog nach links zum Fußweg, der den Steilhang hinaufführte. Daneben lag die Marienklause. Man konnte die kleine Holzkapelle kaum erkennen, so dicht waren die Bäume bereits begrünt. Zwischen den steinernen Kreuzwegstelen führte ein ins Grün getrampelter Weg zur Kapelle und der in Stein gefassten kleinen Quelle. Ein Jogger kam auf dem Weg von der Kapelle her und lief dicht an Pfeffer vorbei. Eine ältere Frau mit einem überfetteten Kleinhund, dessen Rasse man bei dem Volumen nicht mehr erkennen konnte, trippelte vom Steilhang kommend Pfeffer entgegen.

Da sah er den Pfau. Direkt auf dem kleinen Kreuzweg, der zwischen den Büschen zur Marienklause führte, wo eben noch der Jogger langgelaufen war. Pfeffer blieb lächelnd stehen. Der Pfau starrte zurück. Dann schlug er ein Rad und fächerte seine Prunkfedern auf. Pfeffer hatte den Eindruck, dass der Vogel das ganz nonchalant, so nebenbei machte. »Ich bin der Prachtbursche! Noch Fragen?«, lag in dieser Bewegung.

Pfeffer nahm seine Ohrstöpsel heraus. »Na, du«, sagte er so sanft keuchend es ging, denn er war doch einigermaßen außer Puste und musste schnaufen. »Bist du aus dem Zoo ausgebrochen?« Der Pfau klappte sein Rad ein und stolzierte davon. Auch die Frau mit dem fetten Hund war stehen geblieben. Einer Laune heraus folgte Max Pfeffer dem Vogel auf dem Trampelpfad vorsichtig, um das Tier nicht zu verscheuchen. Der Pfau drehte sich noch einmal um und schlug erneut ein Rad.

»Ja, du bist schön, protzerter Stenz«, schmunzelte Pfeffer. »Balzt du mich jetzt an?« Der Pfau schritt elegant weiter zwischen den Kreuzwegstelen, schließlich scharrte er an einer Stelle.

»Mei, Putzi«, quiekte die alte Frau, zu ihrem Hund gebeugt, »hast du des gsehn? Ha? So a schöns Vogerl! So ein schönes Vogerl! Des is a Fasan, Putzi. A Fa-san. Gell, des kennst no gar ned.«

Der Hund kläffte verunsichert.

»Magst mal a bisserl spieln? Gell, du magst spieln, ha?« Sie löste die Leine vom Halsband. »Ja, wer mag da spieln?«

»Lassen Sie das«, sagte Pfeffer. »Der jagt den Pfau.«

»Ach, was. Der spielt nur. Und so schnell ist mein Putzi ja eh nimmer, gell, Putzi?«

»Nehmen Sie Ihren Hund wieder an die Leine.« Pfeffer legte mehr Autorität in die Stimme.

»Was ham denn Sie jetzt für ein Problem?«, fragte die ältere Frau. Nur wenig später sollte Pfeffer wissen, dass sie Sabine Lobmair hieß, siebenundfünfzig Jahre alt war, verwitwet und in der Harthauser Straße in Harlaching wohnte. »Mein Putzi macht niemandem was. Und so a Fasan kann ja wegfliegen, wenns ihm ned passt.«

Putzi war sich inzwischen in die Nähe des Pfaus gewalzt, sein Bauch schleifte beinahe am Boden. Dann blieb er stehen und kläffte. Der Pfau beendete sein Scharren, hob indigniert den Kopf und erhob sich mit eleganten Flügelschlägen kurz in die Luft. Nur wenige Meter weiter ließ er sich auf dem Dach der Marienklause wieder nieder. »Hui!«, machte die Alte. Putzi bellte und watschelte zu der Stelle, an der der Pfau gescharrt hatte.

»Mei«, rief die Alte. »Da hat wieder jemand seinen Müll hingeschmissen. Des seh ich doch von hier. So eine Schande! Des san Zeiten. Des hätts früher ned gem.«

»Früher hats offenbar gar nix gem«, sagte Pfeffer.

»Was? Was erlauben Sie sich. Komm her, Putzi, Geh weg da! Da holst du dir sonst noch was. Da, sengs des? Müll!«

Max Pfeffer ging den Kreuzweg hinauf zum Hund, der hinter einer Stele schnupperte und dann hinschiss. Neben der Stele lag tatsächlich ein blaues Bündel. Eine blaue Strickjacke, Jeans und darunter rote Turnschuhe. Der Hund zerrte knurrend an der Strickjacke und schleifte sie schließlich Richtung Frauchen, die »Pfui, Putzi! Pfui!« keifte.

»Nehmen Sie jetzt Ihren Hund an die Leine«, sagte Pfeffer. Die Frau überhörte ihn geflissentlich. Dann sah Max Pfeffer neben dem Häufchen Hundekot eine Hand. Sie schimmerte weiß aus dem Grün. Er schob das dichte Unkraut zur Seite. An die Rückseite der Stele gelehnt, saß eine junge Frau. Nackt und tot. Pfeffer berührte ihren Hals mit drei Fingern, noch warm. Er prüfte schnell die Vitalfunktionen. Nichts. Definitiv tot, wenn auch erst seit wenigen Minuten …

Der Jogger!

Pfeffer wirbelte herum, stolperte beinahe über Putzi, der nun die Hose in Richtung Frauchen wegzerrte.

Pfeffer sprang über den Hund und rannte zum Hauptweg. Keine Chance! Inzwischen war München erwacht und zahlreiche Jogger waren in Sichtweite, aber keiner schien auf der Flucht oder war so gekleidet, wie Pfeffer sich einbildete, es sich gemerkt zu haben. Der Läufer hätte in jede Richtung davonrennen können. Auch über die Brücke rüber nach Sendling.

»Fuck«, fluchte Pfeffer laut. Dann trabte er zurück, schnappte sich schnell ein Bein der Hose, die Putzi wegschleppte, und zog ruckartig daran. Der Hund ließ nicht los. Pfeffer riss die Hand in die Höhe, der Hund hing nun in die Hose verbissen in der Luft.

»Herrschaftszeiten, was machen Sie mit meinem Putzi, Sie Tierquäler!«, kreischte die Alte. »Polizei! Lassens meinen Putzi in Ruhe, Sie ausgschamter Mistkerl, Sie!«

»Rufen Sie jetzt sofort Ihren Hund zu sich!« Pfeffer trug die Jeans mit dem daran baumelnden Hund zum Hauptweg vor, er schüttelte die Hose, und als das nichts brachte, packte er den Hund im Genick, drückte ein wenig zu, bis das Tier locker ließ, auf den Boden plumpste und zu seinem Frauchen trabte.

»Polizei!«, schrie die Alte wieder. »Tierquäler!«

Max Pfeffer holte sein Smartphone aus der Halterung am Oberarm, stoppte die Playlist und rief seine Kollegen an.

2

»Scheiße!«, fluchte Hauptkommissarin Annabella Hemberger. Sie versuchte den Hundekot, in den sie eben hineingetappt war, im Gras vom Schuh zu wischen. »Beschissene Drecksköter!« Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre blonde Kurzhaarfrisur.

»Und ihre Frauchen«, stimmte die Rechtsmedizinerin Doktor Gerda Pettenkofer zu. Sie wies mit dem Kopf zu der älteren Frau, die hinter dem Absperrband stand – Sabine Lobmair, die ihren übergewichtigen Hund nun auf den Armen hielt und wütend herüberfunkelte, weil weder die Hauptkommissarin noch die Rechtsmedizinerin zu überhören waren.

»Mei«, rief die Alte, »des kann ja keiner ahnen, dass da ein totes Madl liegt! Gell? Woher soll ich des denn wissen?«

»Schon gut«, sagte Bella Hemberger halblaut und stellte sich neben ihren Chef, Kriminalrat Max Pfeffer. Für sie, wie für die meisten anderen Anwesenden von der Kripo, bot er einen eher ungewöhnlichen Anblick. Normalerweise war Pfeffer gut bis sehr gut, zumindest aber tadellos gekleidet. Er liebte italienische Anzüge. Nun stand er durchgeschwitzt in hautenger Funktionssportwäsche da, die jeden Muskel seines durchtrainierten Körpers betonte. Kurze schwarze Shorts, nachtblaues langärmliges Shirt und darüber ein leichtes schwarzes Hoodie, denn Pfeffer zog meist die Kapuze auf, wenn er lief, um nicht zu viel Körperwärme über den Kopf zu verlieren – außer im Hochsommer. »Hey, Sexy«, hatte ihn vorhin die Rechtsmedizinerin begrüßt, gemeint nicht als Adjektiv, sondern als Spitznamen und ihm unverhohlen auf seinen wirklich repräsentabel-knackigen Hintern geklopft, so dezent, dass es kein Klatschgeräusch gab und nur die Kollegen es mitbekamen, die zufällig hingeschaut hatten. Die Pettenkoferin durfte das. Das war bekannt. Sie durfte auch Pfeffer zuflüstern: »Du wirst mir bald zu mager, Maxl. Iss mal ein bisserl mehr, sonst ists Schluss mit dem Knackhintern.« Danach kicherte sie kleinmädchenhaft, wobei ihre enorme Leibesfülle wackelte und wogte. Vom Tierpark nebenan klangen Geräusche, die anzeigten, dass die meisten Tiere inzwischen wach waren. Vor allem die Ziegen im Streichelzoo machten sich bemerkbar.

»Das hatten wir auch noch nie«, sagte Bella Hemberger und nahm ihre Brille ab, um sie zu putzen. Sie trug eine dieser großen auffälligen Gestelle mit dickem schwarzem Rahmen, die zwar modern waren, aber die meisten Träger minderbemittelt aussehen ließen. Bella jedoch stand das Modell ausgesprochen gut.

»Was? Ein totes Mädchen?«, fragte Gerda Pettenkofer.

»Nein, dass einer von uns zufällig eine Leiche findet.«

»Stimmt. Klingt nach Fernsehkrimi.«

»Ist aber leider Realität«, sagte Pfeffer. Er hatte den Kollegen bereits zu Protokoll gegeben, was er angefasst hatte, wo er langgegangen war und was der Hund an Spuren möglicherweise zerstört hatte.

»Mein Putzi hat sie gefunden«, rief die ältere Frau herüber.

»Hat er nicht«, rief Pfeffer zurück. »Und ich habe Ihnen schon mehrfach gesagt, dass Sie nun bitte nach Hause gehen können. Wir haben Ihre Daten. Danke. Wiedersehen.« Er beugte sich hinunter und sah noch einmal dem toten Mädchen ins Gesicht. Durchschnittlich hübsch, zart. Die Augen halb geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Fast wie wenn sie etwas genießen würde. Der Schmerz der brutalen Misshandlung, die es gegeben haben musste, denn davon sprach das violettrot getrocknete Blut an ihrem Unterleib, der Schrecken zu sterben – nichts davon spiegelte sich in ihrer Miene wider. Man hatte keine Hinweise auf die Identität der Toten gefunden. Bisher. Pfeffer richtete sich auf. Wenn er keine Liegestütze auf dem Weg gemacht hätte, ein paar Minuten früher hier vorbeigekommen wäre – wer weiß, dann könnte das Mädchen vielleicht noch leben!

»Bin ich auf Droge, oder sitzt da ernsthaft ein Pfau auf dem Dach von der Hütte?« Hauptkommissarin Hemberger kratzte sich am Kopf und deutete zu dem Tier hinauf, das schon eine Weile sein prächtiges Federrad zur Schau stellte.

»Pfau? Wo?« Die Pettenkoferin sah sich suchend um. »Also, ich seh nichts. Du, Maxl?«

»Ich auch nicht«, spielte Pfeffer mit.

»Ihr … also sagt mal …« Bella Hemberger stotterte verunsichert. »Da ist doch ein Pfau, Kollege?« Sie schnappte sich einen von der Spurensicherung, der ihr umgehend bestätigte, dass ein exotischer Vogel auf dem Dach der Marienklause saß.

»Sehr witzig«, zischte sie zur Rechtsmedizinerin und ihrem Chef, die beide wie Lausbuben kicherten. Bella Hemberger verdrehte die Augen. »Ich habe schon zwei Kinder und einen Künstler als Gatten, da brauch ich euch nicht auch noch …«

»Ich habe schon beim Zoo angerufen, während ich auf euch gewartet habe«, sagte Pfeffer. »Es war aber noch niemand da.«

Die drei bummelten langsam zum Absperrband und kletterten aus dem gesicherten Bereich. Doktor Pettenkofer holte Zigaretten hervor. »Maxl?«

»Ja, danke.« Seit Weihnachten rauchte er wieder. Er fand es selbst nicht gut.

»Ich habe absolut null auf den Jogger geachtet«, sagte Pfeffer zum wiederholten Male. »Er hatte ein Hoodie an …«

»Ein was?«, unterbrach die Rechtsmedizinerin.

»Ein Hoodie. Einen Kapuzenpulli oder eine Kapuzenjacke für euch jenseits der Fünfzig!«, sagte Pfeffer zur Pettenkoferin. »Ich glaube, der war grau. So ganz normaler hellgrauer Sweatstoff. Und eine schwarze lange Laufhose und die Schuhe mit weißen Sohlen. Keine Ahnung, welche Marke. Ich hab ihn mir nicht richtig angeschaut!«

»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Bella Hemberger. »Konntest es ja nicht ahnen. Die Alte mit dem Hund hat gar nichts gesehen, nicht mal, dass da ein Jogger war.«

Die schwergewichtige Medizinerin gab ihm Feuer, zog dann tief an ihrer Zigarette und sagte: »Also, wirklich noch nicht lange tot, unser armes Mädchen. Sie ist um die achtzehn, zwanzig, würde ich sagen. Woran sie genau gestorben ist, kann ich noch nicht schätzen. Es sieht so aus, als wäre sie wohl erdrosselt worden. Ich glaube, ich kann mich jetzt schon festlegen, dass sie nicht hier getötet wurde. Sie wurde nur abgelegt, beziehungsweise so hingesetzt. Quasi in Szene gesetzt.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Pfeffer.

»Du hast gesehen, was der oder die Täter mit ihrem Unterleib angestellt haben? Übel. Sie wurde regelrecht verstümmelt. Ich vermute, man hat sie mit einem Eisenstab, vielleicht auch Holz, da müssen wir die Ergebnisse abwarten, vaginal penetriert. Wahrscheinlich auch anal. Sieht zumindest so aus. Wenn das hier der Tatort wäre, müsste es hier deutlich mehr Blut geben.«

»Der Köter hat leider einiges durcheinandergebracht«, sagte Pfeffer.

»Polina Komarowa«, platzte Froggy dazwischen, der sich beinahe lautlos der kleinen Gruppe genähert hatte. Gerda Pettenkofer zuckte leicht zusammen. Froggy hieß eigentlich Erdal Zafer, aber weil ein älterer Kollege Erdal Yusufoglu hieß und sich fast alle duzten, nannte man den neuen Erdal nur Froggy. Froggy war schon in der Schule so genannt worden. Froggy, manchmal auch Fröschlein. Wegen Erdal, dem bekannten Schuhpflegemittel, dessen Logo ein Frosch ist. Anfangs hatte sich Erdal Zafer über den Spitznamen geärgert, dann hatte er aber herausgefunden, dass der Frosch im Erdal-Logo eine Krone trug. Damit konnte Froggy dann leben.

»Wie bitte?«, fragte Bella Hemberger spitz. Sie mochte Froggy nicht besonders und machte keinen Hehl daraus.

»Polina Komarowa«, wiederholte Froggy und hob einen Ausweis des Münchner Verkehrsverbunds hoch, der in einer Klarsichthülle der Spurensicherung steckte. »Wir haben doch noch einen Hinweis auf ihre Identität gefunden. Sofern es ihre IsarCard ist. Lag da bei den Sträuchern. Ist wohl aus der Hosentasche gefallen, als der Hund die Jeans weggezogen hat.«

Pfeffer nahm die Hülle mit dem Ausweis, Kommissar Erdal Zafer senkte den Blick. Er hatte noch nie Pfeffers Blick standhalten können. Pfeffer hätte gerne gewusst, warum. Er bekam meist Komplimente für seine Augen, er wusste, dass das rehbraune samtige Kuscheln für ihn arbeitete. Meistens jedenfalls. Frauen schmolzen für gewöhnlich dahin, wenn er es richtig einsetzte. Manche Männer auch. Aber manchmal machte es offenbar auch Angst wie bei Froggy. Wobei – wenn Pfeffer ehrlich zu sich selbst war, wusste er, warum Froggy so distanziert blieb.

»Neunzehn«, sagte Max Pfeffer. »Neunzehn Jahre alt. Polina ­Komarowa.« Er reichte Froggy den Ausweis zurück. »Dann finde mal heraus, ob unsere Kundin tatsächlich Polina Komarowa ist und wo sie gewohnt hat, Kollege. Ob es Angehörige gibt. Arbeitsstelle. Ausbildungsplatz et cetera. Danke.« Froggy nickte und trabte mit gesenktem Kopf davon. Pfeffer inhalierte den letzten Zug von seiner Zigarette, warf sie auf den Boden und trat sie aus.

»Max Pfeffer«, sagte die Rechtsmedizinerin streng. »Ich habe hier meinen kleinen mobilen Aschenbecher. Wie immer. Du alte Wutz musst nicht …«

»Jaja, schon gut.« Pfeffer bückte sich, hob den Stummel auf und legte ihn in den kleinen Aschenbecher, den ihm die Medizinerin hinhielt. »Ich gehe jetzt heim, duschen, und dann sehen wir uns im Büro.«

»Ach, Chef«, sagte Bella Hemberger, »du willst nach Giesing zurückjoggen? Ich fahr dich schnell heim. Und sag mal, was ist das denn hier überhaupt für eine verrückte Location?«

»Was? Die Marienklause? Kennst du die nicht? Warst du noch nie hier?«

»Nein, wir kommen selten weiter als bis zum Flaucher, wenn wir an der Isar sind, oder mal nach Großhesselohe. Halt immer auf der anderen Isarseite.«

»Die Marienklause hat mal ein Schleusenmeister selbst gebaut, soweit ich weiß«, erklärte Pfeffer. »Aus Dankbarkeit, dass ihn die Muttergottes zigmal vor dem Ertrinken gerettet hat, hat er die Kapelle und den Kreuzweg mit vierzehn Stationen errichtet. Das hier ist eine Stelle an der Isar, die saugefährlich ist wegen der Strömungen. Und früher sind hier wohl viele Flößer ertrunken. Die Legende sagt, besser gesagt, meine Oma hat uns das erzählt, dass hier die Isarnixe hockte und die Floßknechte betörte. Wer ihren Gesang hörte, musste bei der nächsten Floßfahrt sterben. Und bei Hochwasser hat sich die Isar­nixe dann zusätzlich einen Spaß daraus gemacht, nächtliche Wanderer mit Irrlichtern zu foppen und in die reißenden Fluten zu locken. Da, siehst du, unter der kleinen Holzkapelle entspringt eine Quelle, die soll angeblich Heilkräfte haben.«

»Was du alles so weißt«, sagte Bella ganz unironisch.

»Solche Geschichten weiß ich jede Menge von meiner Oma. Die war die einzig erträgliche Person in meiner Familie und die Einzige, der man zuhören konnte.«

3

Becky öffnete die Balkontür. Sofort fluteten Lärm und Feinstaub die Küche. Die einzige Möglichkeit, in München eine bezahlbare Wohnung zu bekommen, bestand darin, Mängel zu ignorieren. Dass zum Beispiel der Mittlere Ring direkt vor der Tür lag, zwar mit Schalldämmung versehen, aber das brachte kaum etwas, außer hässliche Lamellen als Aussicht. Hinter dem Ring lag dann auch noch die Großbaustelle des ehemaligen Osram-Geländes. Wo früher Glühbirnen gefertigt wurden, dann einige Jahre eine Asylunterkunft existierte, wurden nun neue Wohnungen hochgezogen. »Living Isar« nannte sich das Projekt. Klang toll, klang teuer. Luxuswohnungen statt Fabrikhallen. So wie man das eben in München machte.

Becky konnte den Lärm inzwischen gut ausblenden, ebenso die nicht besonders frische Luft. Sie reckte ihr Gesicht zu den Sonnenstrahlen, die den Balkon bereits erreichten. Ihren Kaffeebecher hielt sie mit beiden Händen fest umklammert, um die Finger zu wärmen. Nur um an der Zigarette zu ziehen, ließ sie ab und an mit der linken Hand los. Sie überlegte, ob sie zum Bäcker am Candidplatz vorgehen sollte. Croissants wären jetzt lecker.

Becky hörte trotz des Lärmpegels, wie Lucky in die Küche schlurfte und sich schniefend Kaffee einschenkte. Sie ging in die Küche zurück und schloss die Balkontür.

»Moinsen«, brummte Lucky und schniefte erneut.

»Ach, Bussimausi.« Becky umarmte ihren Mitbewohner. »Immer noch unglücklich? Ich dachte, das hätten wir hinter uns. Das ist jetzt auch schon über eine Woche her …«

»Ich weiß«, antwortete Lucky weinerlich. »Hatte einen Flashback. Scheiß Kerle. Scheiß-fuck alte Säcke.«

»So ists recht«, bekräftigte Becky. »Und ich wiederhole mich ja gerne: Such dir endlich mal einen Kerl in deinem Alter, und nicht immer einen scheintoten Sugardaddy. Die wollen nur Frischfleisch. Die wollen nur ficken.«

»Das will ich doch auch«, schniefte Lucky.

»Nein, du willst die große Liebe mit Engelschören und Glitter und dem ganzen Trallala. Und dann auch noch ein bisschen Ficken. Wie viele alte Säcke habe ich jetzt schon mit dir mitgemacht? Zehn? Zwanzig?«

»Nie im Leben!«, rief Lucky scheinempört. »Viel mehr!« Er kicherte unter Tränen. »Ich dachte halt, dass Rudi anders ist. Dass er, ausgerechnet er, dann mit einem dahergelaufenen Stricher … Bin ich nicht genug? Bin ich so mies im Bett, dass man mich durch einen Stricher ersetzen muss?«

»Ach, Lucky-Bussimausi.« Becky drückte ihren Mitbewohner an ihre Brust. Lucky hieß eigentlich Luciano. Er hieß nicht nur wie ein echter Italiener, er sah auch so rassig aus. Auf Fotos wirkte er wie ein Italo-Popstar. Doch Lucky war klein. Sehr klein. Sein Gesicht verschwand zwischen Beckys Brüsten, weil er nur eins siebenundfünfzig groß war. So groß wie Salma Hayek oder Eva Longoria und nur einen Zentimeter kleiner als Madonna oder Prince. Und wie Prince hatte Lucky die zarte Figur eines Knaben. Um maskuliner zu wirken, und vor allem, um nicht in jeder Kneipe nach seinem Ausweis gefragt zu werden, trug er einen gepflegten kurzen Bart und häufig Hemden, die er so weit aufknöpfte, dass man seine Brustbehaarung sehen konnte. »Du bist halt ein süßer Bub, der leider auf diese Pädos anziehend wirkt.«

Luckys Smartphone machte »pling«.

»Echt jetzt?« Becky schob ihren Mitbewohner von sich weg und schüttelte den roten Lockenkopf. Ihr zartes porzellanenes Gesicht, das für gewöhnlich etwas geradezu Madonnenhaftes hatte, verdüsterte sich. Sie wusste, was das Pling bedeutete. Es war das Push-Benachrichtigungs-Pling von Luckys favorisierter Dating-App. »Dein Ernst? Du heulst mir hier die Ohren voll wegen diesem ollen Rudi, und dabei hast du schon längst wieder neue alte Säcke am Start?«

»Ja, mei.« Lucky griff sein Handy und wischte darauf herum. »Ich bin ja wieder auf dem Markt. Ach, der sieht eigentlich ganz nett aus …«

»Wie alt?«

»Laut Profil fünfundvierzig. Wahrscheinlich also fünfundfünfzig.«

»Könnte dein Vater sein«, stöhnte Becky.

»Mein Vater ist zweiundvierzig!«

»Und? Hat er Schwanzpics dabei?«

»Wer nicht.« Lucky schüttete sich Milch in ein Glas, häufte dann drei Löffel Kaba-Erdbeermilchpulver hinein und rührte um, bis die Milch gleichmäßig rosa gefärbt war. Mit einem Strohhalm nahm er den ersten großen Schluck. Er stand auf Erdbeermilch und schwor darauf, dass sie durch einen Strohhalm noch viel besser schmeckte. Lucky lümmelte sich auf die Eckbank in der Küche, während er durch die Bilder scrollte – abwechselnd Kaffee schlürfend oder Erdbeermilch saugend. »Nicht schlecht.«

»Zeig.« Becky nahm ihm das Handy weg. »Boah, warum seid ihr Kerle immer so schwanzfixiert?«

»Da sieht man gleich, was einen erwartet.«

»Das ist ja widerlich … Wobei … Der sieht ganz gut aus …«

»Was ist eigentlich mit Polly?«, fragte Lucky und pulte zwischen seinen Zehen. »Ich hab schon ein bisschen ein schlechtes Gewissen.«

»Ach was«, winkte Becky ab. »Die wird sich schon wieder ein­kriegen.«

»Wir hätten sie nicht einfach zurücklassen sollen.«

»Polly ist ein erwachsenes Mädchen. Die wird sich schon noch amüsiert haben. Außerdem hat sie ja so geheimnisvoll getan …« Es klingelte. Becky gab Lucky sein Telefon zurück und schielte zur ­Küchenuhr. Kurz nach zehn. »Um die Zeit?«

»Mach halt nicht auf«, brummelte Lucky, während er auf dem Display herumtippte.

»Wahrscheinlich der Paketbote.«

Als sie aufmachte, stürmte ein Mann an ihr vorbei in die Wohnung. Er war etwas zu jugendlich für sein Alter gekleidet, Sneaker, Designerjeans mit Löchern, knallgelbes Polohemd, Sommersakko; alles schrie »Marke«, »Maximilianstraße« und »teuer«. Seine schulterlangen Haare waren nach hinten gegelt.

»Wo ist Polina?« rief er. »Wo ist ihr Zimmer?«

»Das geht Sie wohl gar nichts an«, antwortete Becky und stellte sich ihm breitbeinig, mit in die Hüften gestemmten Händen in den Weg.

»Hören Sie«, der Mann schloss die Augen und atmete tief ein. Als er sprach, öffnete er die Augen und sah Becky durchdringend an: »Ich bin Herbert Förster. Polina arbeitet für uns als Kindermädchen.«

»Ach, Sie sind das!« Becky war wirklich erfreut, ihr zartes Madonnengesicht leuchtete. »Schön. Lernen wir Sie auch mal …«

»Ich bin hier nicht, um jemanden kennenzulernen.« Er blickte in die Küche. Lucky hob lässig die Hand und sagte »Servus«. Herbert Förster zuckte irritiert mit dem Kopf. »Hören Sie. Heute ist Ihre, äh, Mitbewohnerin nicht aufgetaucht. Ich habe jetzt einen wichtigen Termin, eigentlich bin ich schon zu spät, alles wegen Ihrer Mitbewohnerin – und meine Frau hat in einer halben Stunde ein Interview. Die Kinder sind unbeaufsichtigt. Da kann Polina nicht einfach unentschuldigt fehlen. Also, wo ist sie?« Er sah sich gereizt im kleinen Flur um. »Ist das die Tür zu ihrem Zimmer?«

»Sie ist nicht da«, antwortete Becky. »Ist heute noch nicht aufgetaucht.«

»Ach«, machte Herbert Förster. Er riss die Tür auf. Es handelte sich tatsächlich um Polinas Zimmer. Das bemerkte selbst Förster, denn wenn es eins gab, was er über sein Kindermädchen wusste, dann dass sie Bolly­woodfilme liebte. Ihr Zimmer war mit Original-Filmpostern und allerlei Tand aus Indien geschmückt. Über dem Bett hingen die Poster von ›Om Shanti Om‹ und ›Kuch Kuch Hota Hai‹. Dass die Bewohnerin des Zimmers ein besonderes Faible für die beiden Stars Salman Khan und Hrithik Roshan hatte – vor allem für den smarten, durchtrainierten Hrithik Roshan mit seinen magisch hellgrünen Augen –, ließ sich nicht übersehen. Försters Aggression verpuffte angesichts des bunten Kitschs.

»Gut, sie scheint nicht da zu sein«, sagte er missmutig. »Können Sie sie erreichen? Ich habe ein paar Mal versucht, sie auf dem Handy anzurufen, aber da kommt gleich ›The person you’ve called is temporarily not available‹.«

»Ich ruf sie mal an«, rief Lucky von der Küche aus und nach kurzer Zeit: »Nee, Mailbox.«

»Großartig«, schnaubte Förster. Dann musterte er Becky. »Was machen Sie eigentlich?«

»Wie? Was ich mache?«

»Ja, es ist nach zehn Uhr morgens, und Sie sind zu Hause …«

»Ich studiere und hab noch ein bisschen Zeit«, antwortete Becky gedehnt. »Lucky studiert auch.« Sie deutete auf ihren Mitbewohner, der bei den Worten leicht grinste. »Polly ist die Einzige, die einen festen Job hat, falls Sie …«

»Weniger Text! Haben Sie Zeit? Ach was, natürlich haben Sie Zeit.« Förster packte Becky am Oberarm. »Sie bekommen hundert Euro cash auf die Hand, wenn Sie sofort aufbrechen und heute die Kinder hüten.«

Überrumpelt gab Becky nur ein »Äh« von sich.

»Auf. Los!«, rief Förster.

»Darf ich mir vielleicht noch etwas Vernünftiges anziehen«, sagte Becky, die in bequemer Jogginghose und ausgeleiertem Schlafshirt dastand. »Und außerdem bitte Vorkasse! Weils pressiert: hundertfünfzig.«

Förster zückte wortlos seinen Geldbeutel und drückte Becky drei Fünfziger in die Hand. Dann nannte er die Adresse in Harlaching. »Zack. Los! Ich benachrichtige meine Frau, dass Sie kommen. Wenn Sie in einer halben Stunde nicht dort sind, dann ist unser Deal geplatzt. Verstanden?« Er stürmte aus der Wohnung.

»Schönen Tag noch«, rief Lucky hinterher.

»Wie geil ist das denn?« Becky stand mit den Geldscheinen in der Hand noch im Flur. »Ein paar Stunden mit den Schrazen spielen und dafür fett Kohle absahnen!«

»Werden schon rechte Horrorblagen sein«, sagte Lucky. »Wenn sie nach dem Vater kommen … Hat Polly nicht gesagt, dass der gelackte Gelkopf ein Busengrabscher ist?«

»Stimmt. Tittenförster. Aber die Polly findet die Kleinen doch recht erträglich.«

»Arschlochkinder, hat sie gesagt.« Lucky sog genüsslich Erdbeermilch durch den Strohhalm. »Und wo Arschlochkinder sind, sind meist auch Arschlocheltern. Quod erat demonstrandum.«

»Brauchst ned so gschert daherzureden.«

»Wieso, ich studiere doch!« Lucky machte Anführungszeichen in die Luft.

Keine zehn Minuten später flitzte Becky frisch geduscht und mit etwas Vernünftigem bekleidet aus dem Haus und rannte vor zur U-Bahn-Station am Candidplatz.

Lucky zündete sich eine neue Zigarette an und setzte eine neue Erdbeermilch an, als es klingelte.

»Lass mich raten, du hast deinen Schlüssel vergessen«, sagte er beim Türöffnen.

»Wohl kaum«, antwortete Max Pfeffer und hielt seine Kripomarke hoch. Er stellte sich und seine Kollegin Annabella Hemberger vor. »Dürfen wir kurz reinkommen, Herr …«

»Russo, Luciano Russo.« Lucky starrte wie paralysiert in Pfeffers braune Teddyaugen. »Ja, klar, kommen Sie rein.« Er riss sich zusammen und bat die Polizisten in die Küche.

»Worum gehts?«, fragte er und kaute auf der Unterlippe. Das waren keine Drogenbullen, das war ihm klar. ›Entspann dich‹, sagte er sich und nahm hektisch einen großen Zug Erdbeermilch durch den Strohhalm.

»Wohnt hier eine Polina Komarowa?«, fragte Bella Hemberger.

»Ja.« Lucky atmete hörbar aus. Es ging um Polina, nicht um ihn. »Die wohnt hier. Polina Komarowa. Wir haben ’ne WG. Polly und Becky und Lucky. Also Lucky, das bin ich.«

Pfeffer nickte. Frisch geduscht, mit Blenheim Bouquet eingeduftet und zwei schnelle Espressi mit Zigaretten später, fühlte er sich wieder wohl und fit für den Tag. »Steht auch draußen am Klingelschild. Können Sie uns bitte ein Bild von Polina zeigen?«

»Warum? Ja, klar, warum auch nicht.« Lucky ging in die Küche, nahm sein Smartphone vom Tisch und suchte ein Foto, auf dem ­Polina abgebildet war. »Hier. Das war neulich am Flaucher, da haben wir schon mal angegrillt …«

»Das ist sie«, sagte Hauptkommissarin Hemberger nüchtern. »Da hat sie ja ganz lange Haare.«

»Klar. Polly hat Haare bis zum Arsch. Ihr ganzer Stolz.«

Die beiden Kriminaler tauschten einen Blick. Die Leiche hatte kurze Haare.

»Ist etwas mit ihr?« Lucky wurde unruhig.

Er ließ sich langsam auf die Eckbank sinken, als er die Nachricht hörte. »Oh, Scheiße«, flüsterte er schließlich. »Die arme Polly.« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Wie ist es denn, ich meine, wie hat man sie …«

»Das wissen wir noch nicht mit Sicherheit.«

»Und jetzt?« Er sah Pfeffer fast flehentlich an.

»Jetzt sagen Sie uns, was für ein Mensch Polina war. Ob sie Angehörige hatte …«

»Und grad vorhin war der Förster da«, sagte Lucky schwach. »Weil Polly nicht bei ihm aufgetaucht ist.«

»Der Förster?«, hakte Pfeffer nach. »Hat Polina etwas mit Forstwirtschaft zu tun gehabt?«

»Nein.« Lucky lachte trocken. »Der Förster. Der Mann von der Susa Förster. Die heißen so.«

»Susa Förster? DIE Susa Förster? Die Krimiautorin?«, fragte Bella.

»Genau die. Bei denen ist … war die Polly Kindermädchen. Wohnen in Harlaching, Gabriel-Max-Straße, glaube ich. Der Förster war vor … na ja, … einer Viertelstunde, zwanzig Minuten hier und hat einen Aufstand gemacht, weil die Polly nicht aufgetaucht ist und alles bei denen zusammenbricht, wenn nicht sofort jemand die Kinder beaufsichtigt. Voll der Spacko mit seiner gegelten Arschlochfrisur. Dann hat er der Becky Geld in die Hand gedrückt, damit sie es macht. Sie ist eben erst los.«

»Da geben Sie uns bitte gleich die Adresse.« Pfeffer sah sich in der Küche um. Eine kunterbunte Mixtur aus gebrauchten Möbeln, bunt, jung, tendenziell saugemütlich, aber irgendwie auch ein bisschen siffig. Über dem Küchentisch hing an der Wand ein ausgestopfter Rehbockkopf, das Geweih mit bunten Plastikblumen verziert.

Lucky bemerkte den Blick. »Alles vom Sperrmüll«, sagte er. »Beziehungsweise vom Straßenrand. Viele Leute stellen Sachen, die sie nicht mehr brauchen, an den Straßenrand. Sind manchmal Schätzchen dabei. Des einen Müll ist des anderen Schatz.«

»Nachhaltig«, konstatierte Bella Hemberger.

»Nicht wahr?« Lucky lächelte scheu. »Wir containern auch, Polly und ich. Becky findet das voll eklig, die denkt, dass da überall Ratten sind und so. Stimmt gar nicht. Na ja. Nicht regelmäßig, aber immer öfter. Es wird so viel gutes Zeugs weggeschmissen und Geld ist ein scheues Eichhörnchen.«

»Das ist wahr«, nickte Pfeffer. »Und nun zeigen Sie uns Polinas Zimmer.«

Bevor sie sich im Zimmer der Ermordeten umsahen, fotografierte Pfeffer mit dem Smartphone den Raum aus verschiedenen Perspektiven. Lucky lehnte im Türrahmen, schnupperte verträumt in Richtung Max Pfeffer, dann rauchte er Kette und schlürfte hektisch Erdbeermilch. Pfeffer und seine Kollegin streiften sich dünne Einmalhandschuhe über und sahen sich im Zimmer um. Es roch nach Räucherstäbchen. Mindestens fünf Räucherstäbchenhalter unterschiedlichster Gestalt, Pfeffer zählte nur grob auf die Schnelle, waren im Zimmer verstreut.

»Die Polly ist eine Liebe«, plapperte Lucky ungefragt. »Die mag immer jeden, und jeder mag sie. Oh, Shit. Sie mochte jeden! Sie war so ein Sonnenscheintyp. Immer gut gelaunt und so. Auch wenn alles Scheiße war …«

»Was denn zum Beispiel?«, fragte Pfeffer, während er an dem kleinen Schreibtisch die Schubfächer öffnete in der Hoffnung, dass Polly ganz oldschool war – in der Hoffnung, ein Tagebuch oder Briefe zu finden. Er hatte gehört, dass Mädchen das mittlerweile wieder machen würden. Offline Tagebuch schreiben und so etwas. Nichts. Stattdessen überall indischer Kitsch, bunte Tücher und Fähnchen, Ketten und Klimbim, kleine Buddha- und Ganeshafiguren, dvds mit Bollywoodstreifen und Liebesromane extrem kitschiger Natur, wenn man den Covers Glauben schenkte.

»Wie, was denn?«, echote Lucky. »Ach so, was Scheiße war. Na, eigentlich nix bei ihr. Lief bei ihr. Als Kindermädchen hat sie bei den Försters ganz gut verdient. Ging halt alles für Klamotten und so Zeug drauf. Mädels halt. Und Party machen. Und ihr Bollywoodzeugs. Sie hat auch auf einen Indientrip gespart. Keine Ahnung. Wobei, also, wenn ich meine, dass sie eine Liebe war, dann war das eher so, na ja, unverbindlich. Ich glaube, dass sie ganz viel in sich hineingefressen und weggelächelt hat. Sie wollte nie, dass man sich Sorgen um sie machen musste. Ach, und ihre Familie kommt aus Kasachstan. Voll die Russen, ey. Also diese sogenannten Deutschen.« Er machte Anführungszeichen mit der freien Hand. »Sie wissen schon. Die Eltern leben in irgendeinem Kaff im Schwabenland oder so. Voll konservativ und so. Halten Schwule für pervers, verstehen Sie? Vergöttern Putin und glotzen den Lügensender rt-Deutsch, wollen aber nicht in Russland leben. Na, kennt man ja. Und ’nen Kerl hatte die Polly auch nicht, falls Sie das fragen wollten … Jedenfalls keinen, den ich hier mitgekriegt hätte. Und wenn sie einen heimlich gehabt hätte … Nee, weiß nicht. Jedenfalls fragen Sie solche Sachen besser die Becky, die kennt sich da besser aus, die beiden waren ganz gut befreundet …«

»Langsam«, hakte Max Pfeffer ein, während er eine kleine Schmuckschatulle öffnete, die auf einer kleinen bunt bemalten Kommode stand. »Wir setzen uns nachher in die Küche, und Sie machen dann eine Aussage. Alles, was Sie uns jetzt so erzählt haben, werden wir Sie dann strukturiert abfragen, okay?«

»Okay, starker Mann.« Lucky schmollte affektiert und nuckelte an der Erdbeermilch. »Ich will ja nur sagen, dass ich eigentlich nicht viel über die Polly weiß. Ich meine, wir sind WG-Freunde. Kennen uns erst, seit sie vor anderthalb Jahren hier eingezogen ist. Sie suchte halt ein billiges Zimmer in München – ha, wer sucht das nicht! Und ­Becky hat sie auf ’ner Party kennengelernt und dann … na, seit sie hier ist, ist irgendwie die Stimmung immer gut. Sie war ein Sonnenschein …«

»Das sagten Sie bereits«, unterbrach Bella Hemberger. Sie schloss den Kleiderschrank, den sie inspiziert hatte. »Hatte Polly Freunde, die Sie nicht kennen? Menschen, von denen sie vielleicht mal gesprochen hat?«

»Kann sein.« Lucky zuckte mit den Schultern und zündete sich eine neue Zigarette an. »Ach, nee, eher nicht. Polly hatte sonst keine Freunde hier in München. Also keine, von denen wir wüssten. Die war ziemlich viel allein, wenn sie nicht mit uns abgehangen ist. Wir haben ihr gereicht. Ach, manchmal hat sie sich mit einer Alten, die wir beim Containern kennengelernt haben, getroffen. Ne Obdachlose, denke ich, Polly hat der Alten ab und an ’nen Kaffee spendiert oder so.«

»Machen Sie uns bitte, am besten gemeinsam mit Ihrer Mitbewohnerin, eine Liste von allen Freundinnen oder Kontakten, die Polina in München hatte. Namen, Telefonnummern, Adressen, E-Mail-Adressen, Social-Media-Profile et cetera. Alles, was Ihnen einfällt.«

»Okay, können wir mal versuchen. Becky wird vielleicht ein paar Namen wissen.« Lucky blies Rauch aus seinen Lungen. »Mei, die Polly würde ausflippen, wenn sie wüsste, dass ich in ihrem Zimmer rauche! Das mochte sie gar nicht. Also, geraucht hat sie schon ab und zu. Sie verstehen? Wir haben draußen auf dem Balkon ’ne Wasserpfeife.«

»Und auf dem Küchenschrank auch eine Bong«, bemerkte Pfeffer gelassen.

»Hmm, ja.« Lucky kaute auf der Unterlippe. »Macht ja jeder, ist ja nichts dabei. Aber Tabakrauch mochte sie nicht.«

»Und dann noch das hier.« Max Pfeffer hielt ein buntes Tütchen hoch, das im Schmuckkasten lag.

»Was?« Lucky verschluckte sich fast an seiner Milch. »Wie? Keine Ahnung. Was ist das?«

»Schlecht gespielt, Luciano Russo«, sagte Pfeffer. »Sie wissen genau, was das ist. Eine Kräutermischung.«

»Klar«, sagte Lucky schwach, »zum Anzünden, zum Räuchern.«

»Ach, Herr Luciano«, antwortete Pfeffer. »Wir drei hier wissen, was man mit dieser Art von Kräutermischung aus synthetischen Cannabinoiden macht.«

»Keine Ahnung. Echt nicht. Ich wusste nicht, dass Polly so was im Haus hat.«

»Hat Polly außer Cannabis auch andere Drogen genommen?«, fragte Pfeffer und fixierte Lucky, der unsicher mit den Schultern zuckte.

»Keine Ahnung.«

»Und Sie?«

»Nein, echt nicht.«

»Was machen Sie eigentlich, wenn ich fragen darf«, fragte Hauptkommissarin Hemberger.

Lucky verdrehte die Augen, eher amüsiert als genervt. »Ich studiere.« Er kicherte kurz. »Na ja, Sie findens ja eh raus. Also, immatrikuliert bin ich schon. Geschichtsdidaktik. Aber ich komme grad nicht so zum Studieren. Ich orientiere mich. Ich arbeite mit Becky im Gsindl an der Bar. Vier Mal die Woche. Da kommt halbwegs die Kohle rein, um in dieser scheißteuren Stadt zu überleben, aber man hat keine Zeit mehr zum Studieren.«

»Gsindl?«, hakte die Hauptkommissarin nach.

»Ein … ähm … nicht ganz legaler Club«, druckste Lucky herum.

»Ein illegaler Club in einem ehemaligen Autohaus im Industriegebiet zwischen Friedenheimer Brücke und Laim, neben den Puffs«, sagte Pfeffer trocken.

»In München gibts illegale Clubs? Woher kennst du illegale Clubs?«, fragte Bella verwundert.

»Cosmo legt dort ab und an auf. Er hat letztes Jahr sogar eine Gsindl-Compilation herausgebracht. Und so illegal, wie die immer tun, ist er gar nicht. Ist vor allem Marketing.« An Lucky gewandt fuhr Pfeffer fort: »Sie arbeiten im Nachtleben und wollen uns erzählen, dass Sie keine Hilfsmittel nehmen, die Ihnen zum Beispiel helfen, die ganze Nacht wach zu bleiben? Oder mehrere Nächte?«

Lucky grinste. »Echt nicht, Chef, echt nicht. Da können Sie jeden fragen. Ich nehme keine Amphetamine oder so’n Scheiß. Ausprobiert ja, aber für schlecht befunden. Und Becky ist auch nicht so drauf. Bei Polly weiß ich es nicht. Wobei … nein, kann ich mir nicht vorstellen.«

»Waren Sie gestern Nacht auch im Gsindl? Mit Polly und Becky?«, fragte Hauptkommissarin Hemberger.

»Ja, nein, gestern waren wir nur so aus. War ja richtig schön und warm. Ist doch geil, der frühe Sommer dieses Jahr. Ich liebe es! Da sind wir ein bisserl an die Isar. Chillen. Einer der wenigen Vorteile, wenn man hier in dieser Asselbude am Candidplatz leben muss – man hat die Isar vor der Tür! Das ist echt geil, wenn man …«

»Und dann?«, unterbrach Pfeffer.

»Dann waren wir noch ein bisschen im Gsindl. Abtanzen und so.«

»Sie gehen an Ihrem freien Abend zur Arbeit?«

»Ja.« Lucky zuckte mit den Schultern. »Ist doch klar, da kriegen wir Angestelltenpreise. Muss man ausnutzen.«

»Wann sind Sie heimgekommen?«

»Ich so gegen halb zwei. Mit der Becky. Haben noch ein Bierchen in der Küche gezischt und sind dann in die Heia. Also jeder für sich! Ich habs nicht so mit Frauen, wenn Sie verstehen.« Er sah Pfeffer provokant an.

»Ach was«, machte Pfeffer sarkastisch. Er ließ den Burschen für einige Sekunden tief in seinen braunen Augen kuscheln. Lucky seufzte leise.

»Sie haben Polly alleine im Club gelassen?«, riss Bella Hemberger den jungen Mann aus seinen Träumen.

»Nein, ja, also nicht so. Sie ist mit uns rausgegangen und hat sich ein Radl gemietet. So ein E-Bike. Wir auch, wir sind gemeinsam losgeradelt und haben uns an der Theresienwiese getrennt. Sie wollte noch ein wenig an die Feierbanane, also an die Sonnenstraße. Rote Sonne, Harry Klein, Milchbar, keine Ahnung. Irgendwo ins Nachtleben. Und dann hat sie so geheimnisvoll getan, dass sie noch was ganz Tolles vorhätte. Keine Ahnung. Sie war plötzlich so aufgeputscht, aufgeregt, hibbelig. Aber wollte mit der Sprache nicht rausrücken. Ich steh nicht drauf, wenn Leute sich mit Andeutungen interessant machen wollen. Das geht mir sonst wo vorbei … Oh, sorry, Shit, wenn ich mehr nachgefragt hätte, wüssten wir wahrscheinlich, was sie noch vorhatte. Und dann hätten wir verhindern können, dass sie umgebracht wird. Oh, mein Gott! So eine Scheiße. Das war echt …« Er schüttelte traurig den Kopf. »Fuck, Sie denken jetzt eh von mir, was ich für ein Arsch bin, weil ich nur laber, statt zu weinen, aber ich … bin halt so.«

»Hatte Polina teuren Schmuck?«, fragte Pfeffer unvermittelt. Hauptkommissarin Hemberger sah überrascht zu ihm.

»Was? Die Polly«, gluckste Lucky überrascht-amüsiert. »Wirklich nicht. Vielleicht hatte sie irgendwas von ihrer Oma oder so. Aber schauen Sie sich doch nur mal den ganzen Schrott da an.« Er deutete auf die vielen Ketten und Anhänger, die im Zimmer verteilt an Haken und anderen Dingen hingen. »Lauter Plunder, den sie sich auf Festivals gekauft hat. Hauptsache viel, Hauptsache, es schaut nach was aus. Mehr ist mehr. Das ist alles nichts wert. Schätz ich jetzt mal.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Pfeffer.

»Ziemlich. Wobei … ach, da weiß die Becky sicher besser Bescheid. Mädels und Schmuck und so. Eh klar. Doch, jetzt fällts mir wieder ein! Sie hatte eine goldene Kette von ihrer Oma. Die hat sie zu irgend so einem Kirchenfest bekommen. Kommunion oder was die Orthodoxen da so feiern.«

»Orthodoxe bekommen mit der Taufe die Erstkommunion«, sagte Bella Hemberger, und wegen der verwunderten Blicke der anderen fügte sie hinzu: »Weiß ich zufällig.«

»Dann hat sie die Kette eben zur Taufe bekommen. Eh wurscht, das ganze Kirchengedöns. Wer glaubt schon diese Kindermärchen. Die Polly hat mal gesagt, dass das das einzig Wertvolle ist, was sie hat, und dass sie das nie hergeben würde, selbst wenn sie verhungern müsste …«

»Ist das die Kette?« Pfeffer hielt eine Goldkette hoch, die er in der Schmuckschatulle ganz unten gefunden hatte. Sie passte nicht zu dem restlichen Tand.

»Ziemlich sicher«, nickte Lucky. »Die hat sie mal angehabt, als wir alle zusammen in die Oper, also ins Ballett gegangen sind. Da haben wir uns mords in Schale geschmissen, um den ganzen Kulturspießern mal zu zeigen, dass man sich auch schick machen kann, ohne dass es wie Primark aussieht …«

»Gut«, Pfeffer zog seine Gummihandschuhe aus. »Gehen wir dann in die Küche, und wir notieren, was Sie über Polina wissen. Und den Raum hier betreten Sie bitte nicht mehr. Wir versiegeln ihn nun.«

»Muss das sein?«, nölte Lucky.

»Ja. Eigentumssicherung.«

»Aber wenn ich was von Polly brauche …«

»Sie brauchen nichts von Polly.«

»Oder sie sich was von mir geliehen hat und …«

»Dann schauen Sie sich jetzt um. Jetzt bitte. Wir protokollieren das dann.«

»Nein.« Lucky winkte schwach ab. »Schon gut.«

»Was für ein Herzchen«, seufzte Pfeffer, als die beiden Kriminaler später auf dem Weg zum Auto waren.

»Der war dir ja völlig verfallen«, kicherte Bella. »Der hat dich von der ersten bis zur letzten Sekunde inhaliert.«

»Ach, ist dir das auch aufgefallen?«, knurrte Pfeffer sarkastisch. »Ich fühle mich benutzt und beschmutzt. Ich muss noch mal duschen.«

Bella Hemberger lachte.

»Man hat mich ja gewarnt«, sagte Pfeffer, »wenn man erst einmal über vierzig ist, dann stehen die ganzen kleinen Schnullis auf einen. Die Daddynummer.«

»Nicht mit dir!«, rief Bella.

»Definitiv nicht. Ich bin kein Daddy. Okay, ich bin zweifacher Daddy, aber kein Sugardaddy für postpubertierende Krischperl mit Verbaldurchfall.«

»Und winzig war der. Wahnsinn. Wie ein Kind. Der Arme!«

»Ja, eben. Noch ein Grund mehr, warum aus uns kein Traumpaar wird, so sehr du dir das auch wünschst.«

»Schade.« Sie erreichten den Wagen. »Becky, Polly und Lucky.«

»Klingt wie ’ne schlechte Band aus den Siebzigern«, sagte Pfeffer.

»Oder wie eine schlechte Kindersitcom auf Disney Channel«, ergänzte Bella. »Sag mal, was sollte denn die Frage nach der Goldkette?«

»Na, sie hatte eine Schmuckschatulle und nur billigen Plunder. Und ihre einzig wertvolle Kette hatte sie ebenfalls beim Plunder.« ­Pfeffer zog eine kleine durchsichtige Plastiktüte aus seiner Tasche. »Sie hat also das angeblich Wertvollste, das sie besitzt, nicht versteckt. Dann frage ich mich, warum sie das hier versteckt hat.« Er hielt seiner Kollegin den Beutel hin.

»Ein silberner Armreif?«, fragte Bella Hemberger stirnrunzelnd.

»Richtig. Ein silberner Armreif in einer Plastiktüte, fest mit Tesa verklebt und ziemlich gut versteckt in einer dieser zahlreichen Götterstatuen, die bei ihr rumstehen. Lauter Plastikramsch. Als ich vorhin zufällig einen von den Ganeshas zu hart angepackt habe, da ist mir aufgefallen, dass das Ding aus Plastik ist und innen hohl. Dass es sich verformt, wenn man drückt. Die Schweißnaht auf der einen Seite war aufgetrennt und man konnte die Figur ein wenig auseinanderdehnen. Da war der Armreif drin.«

»Komisch. Sieht aus wie Silber. Das ist längst nicht so viel wert wie eine Goldkette.« Die beiden Kriminaler setzten sich in den Wagen.

»Eben. Warum hat sie ihn versteckt? Und wer ist eigentlich diese Frau Förster, die du offenbar kennst?«

»Mann, Chef«, stöhnte Hauptkommissarin Hemberger. »Susa ­Förster, die deutsche Krimiqueen. Ein Bestseller nach dem anderen. Die ›Basti Daxlberger‹-Krimireihe! Echt, Chef, alle verfilmt worden, mit dem Dings … na, weißt schon. Da geht es um den Basti Daxlberger, das ist ein gemütlicher Privatdetektiv, der immer total grantig tut, aber das Herz am rechten Fleck hat. Kennst du nicht?«

»Habe ich jemals einen Krimi gelesen?«

»Solltest du mal. Es gibt echt gute … Und dann gibt es halt die von Susa Förster. Erfolg muss ja nicht unbedingt was mit Qualität zu tun haben.« Sie schnallte sich an. »Sind halt so Wohlfühlkrimis mit Schmunzelfaktor.«

»Wohlfühlkrimis? Was an Morden ist denn zum Wohlfühlen und Schmunzeln?«

»Ach, Chef.« Bella schnaufte genervt. »Jetzt tu nicht so. Und nun fahren wir zur Queen of Wohlfühlcrime! Auf nach Wohlfühlhar­laching.«

4

Marlies platzierte das nagelneue Smartphone so auf dem Cafétisch, dass es wirklich jeder sehen musste, der es sehen sollte. Sie strich stolz mit den Fingerspitzen darüber, schob es ein wenig nach links, dann nach rechts. Das war es also. Die Anzahlung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie hatte eine Anzahlung bekommen von dem, was ihr zustand. Karma ist ja so was von einer Bitch. Endlich würden die Jahre der Entbehrungen, der Demütigungen vorbei sein. Ihr stand etwas zu. Sie tuffte ihre zu stark blondierten, wie immer zu stark im Stil der frühen Siebziger toupierten Haare zurecht und prüfte, ob die rosa Margerite noch richtig in dem Tuch steckte, das sie sich nonchalant um die Stirn gebunden hatte. Die Blüte hatte sie in einem Vorgarten geklaut.

Die maulfaule Kellnerin brachte ihr den Cappuccino. Mit Sahne statt mit Milch. So etwas war in München gar nicht mehr leicht zu finden. Eigentlich gar nicht mehr. Früher war das normal. Aber dann kamen sie mit »original italienisch« und mit der geschäumten Milch. Überall. Auch hier beim Toni, ihrem kleinen Lieblingscafé in der Nordendstraße nahe dem Kurfürstenplatz. Dabei mochte Marlies das nicht. Schon früher nicht, als sie noch reisen konnte, weil sie da noch das Geld dazu hatte, und in Italien war. Da hatte sie nur Espresso getrunken, weil die Italiener keinen guten Cappu mit Sahne machen konnten oder wollten. Nur der Toni machte das noch für sie, und nur für sie.

»Servus, Marlies, mei, schaust du gut aus!«

Marlies blinzelte gegen die Sonne, um die Sprecherin zu erkennen. »Lizzy! Mir gehts auch gut. Komm, sit halt mal down, lass uns ratschen.«

»Keine Zeit.« Lizzy blieb stehen und stützte sich mit der linken Hand auf dem Tisch ab. »Die Hüfte«, keuchte sie. »Wir werden nicht jünger.«

»Nimm halt einen Stock«, sagte Marlies trocken.

»Damit ich wie eine alte Frau aussehe?« Lizzy lachte hustend. »Aber du bist ja fesch heute. Alle Achtung.« Lizzy verbarg die Augen hinter einer riesigen Sonnenbrille. Sie gehörte zu den Frauen, die irgendwann die Kontrolle über ihren Botox- und Hyaluronsäurekonsum verloren hatten und nun mit grotesk aufgedunsenen Wangen und aufgeblähten Lippen herumliefen. Wobei sie sich einbildeten, wie Anfang vierzig auszusehen, statt, wie in Lizzys Fall, wie eine kaputtoperierte Siebenundsiebzigjährige mit rabenschwarz gefärbtem Haar. Nur Hüften und Knie, die konnte sie nicht mal schnell beim Beautydoc verjüngen lassen. »Und das Wischkasterl da, ist das neu?«

Stolz hob Marlies das Smartphone hoch und hielt es affektiert mit beiden Händen neben das Gesicht, als würde sie es in einem Shoppingkanal zum Verkauf anbieten. »Ja, hat mir mein Sohn heute geschenkt.«

»Oh, hast du Geburtstag? Hab ich den vergessen?« Lizzy fuhr sich erschrocken mit der freien Hand über den Mund.

»Nein, nein. Just for fun. Mein Sohn hat mir das einfach so geschenkt. Ich hatte ja bisher dieses uralte mobile phone, dieses ­Nokia, mit dem man nichts machen konnte außer phonen. Jetzt bin ich ganz up to date.« Verschwörerisch leise fügte sie hinzu: »Zwölfhundert Euro. Crazy, oder?«

»Öha. Habt ihr beide euch wieder zusammengerauft? Ich dachte, ihr redet nicht mehr miteinander.«

»Ach, was du immer denkst.«

»Die Fritzi hat das auch gesagt.«

»Die Fritzi … die Fritzi! Was weiß die alte Ratschkathl denn schon. Mei, mein Sohn hat halt endlich verstanden, dass er nur eine Mutter hat und dass man die auch mal verwöhnen kann. Just like that.«

»Genug Geld hat er ja, dein Bub.« Lizzy richtete sich auf. »So, ich muss dann, Marlies. Wir sehen uns ja bestimmt in Zukunft öfter, wenn dein Sohn jetzt so großzügig ist.«

»What? Was meinst denn du?«, fragte Marlies pikiert.

»Weißt schon, Marlies. Musst nicht mehr so auf den Pfennig schauen, gell.« Geheucheltes Mitleid triefte aus den Worten. »Kannst dir dann öfter mal einen Cappuccino beim Toni leisten. Oder mal wieder vorne an der Leopoldstraße.« Die Lizzy winkte noch und humpelte dann so elegant, wie sie konnte, die Straße hinauf zur Tramhaltestelle. Das indisch anmutende Kleid und unzählige Tücher umflatterten ihren mageren Körper.

Die gute Laune war verflogen. Fuck you, Lizzy! »Ja, ich weiß schon«, zischte Marlies leise. Natürlich wusste sie es, sie hatte es ja erlitten. Nur hatte sie gedacht, dass sie es all die Jahre gut hatte verstecken können. Sie hatte es doch immer perfekt überspielt, dachte sie. Die Tatsache, dass sie arm war. Schlicht und einfach richtig arm. Sauarm in der reichen Stadt. Dass sie mit ihren Freundinnen nicht einmal ansatzweise mithalten konnte mit ihrer Mindestrente, aufgestockt mit Hartz IV. Als klassische Schwabinger Bohemienne kleidete sie sich entsprechend. Dass sie also die meisten Sachen vom Flohmarkt oder gar von der Kleiderspende hatte, dürfte nicht weiter auffallen. Das ging als exzentrisch durch. Und sie achtete darauf, immer sauber zu sein. Das Geld für den Waschsalon sparte sie ebenso eisern zusammen wie für den öffentlichen Cappuccino. Die kleine Einzimmerwohnung am Hohenzollernplatz gehörte ihrem Sohn, er ließ sie darin wohnen – gnadenhalber für eine beinahe ortsübliche Miete! So ging man nicht mit seiner Mutter um. Immerhin hatte sie in Schwabing bleiben können und musste nicht in eine städtische Unterkunft für Wohnsitzlose ins Hasenbergl ziehen. In ihrem Schwabing. Ihrem Kosmos. Sie war vor Urzeiten im Alter von neunzehn Jahren mal von einer großen Boulevardzeitung zum »Schwabinchen des Jahres« gekürt worden. Hübsch war sie gewesen mit straffen Brüsten, die sie am Eisbach öffentlich zur Schau stellte wie viele ihrer Freundinnen damals, das war normal. Und umschwärmt war sie. Doch seit sie das viele Geld nach der Scheidung durchgebracht hatte, war sie bis jetzt auf Almosen ihres undankbaren Sohns und seiner unerträglichen Frau angewiesen. Bisher! Nun nicht mehr. Sie würde sich nicht mehr jeden Cent vom Mund absparen müssen, um sich ein Mal die Woche demonstrativ ins Café zu setzen und einen völlig überteuerten Cappuccino mit Sahne zu trinken. Den öffentlichen Cappuccino, bei schönem Wetter bevorzugt draußen auf der Terrasse, damit möglichst viele der alten Bekannten sehen konnten, dass sie immer noch zu Schwabing gehörte, ein flottes Tuch um den Kopf gebunden und immer eine Blüte hinterm Ohr. Schon auf dem Foto damals als ›Schwabinchen des Jahres‹ hatte sie eine Blüte hinterm Ohr getragen. All die Entbehrungen, um zu demonstrieren, dass sie immer noch ein, wenn auch in die Jahre gekommenes Schwabinchen war. Wenn Lizzy das mit dem Cappuccino schon wusste, dann wussten es bestimmt auch viele andere. Egal, dachte sich Marlies, von heute an wird alles anders. Ich kann jeden Tag in jedem Café so viel Kaffee trinken, wie ich will!

Und sie würde sich wieder die guten Haarprodukte leisten können, nicht dieses Billigzeug vom Flohmarkt am Olympiagelände, diese Blondierungen, die irgendwo in Rumänien vom Laster gefallen waren und die ihr Haar strohig machten.

Marlies Förster, sechsundsiebzig Jahre alt, wähnte sich wieder obenauf. Weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war und die richtige Person kennengelernt hatte. Oder, so würde es ihr Sohn sehen, zur falschen Zeit am falschen Ort mit der falschen Person.

5

Die Förster-Villa im vornehmen Stadtteil Harlaching im Münchner Südosten beeindruckte weniger durch ihre Größe als durch ihre Optik. Ein eckiger Architektentraum aus viel Sichtbeton und Glas, eine Mischung aus Bauhaus und Brutalismus stand zwischen den alten Villen aus der Jahrhundertwende, als Harlaching noch eine Gartenstadt war. Immerhin gab es hier noch ein paar wenige alte Villen inmitten großer Parks. Ringsum in den Straßen waren die meisten Einzelhäuser längst abgerissen und durch großzügige moderne Wohnanlagen ersetzt worden. In den letzten Jahren gab man sich da sogar wieder Mühe mit der Architektur, Schandflecke der Sechziger- und Siebzigerjahre gab es zur Genüge. Bei der Förster-Villa flankierten zur Straße hin zwei riesige Betonkuben mit bonsaiartig verkrüppelten Kiefern den natursteingepflasterten Weg zur Haustür. Die Kübel reichten einem durchschnittlich großen Mann bis zur Hüfte. Neben dem Haus befand sich eine Doppelgarage. Vor dem Haus parkten beinahe gleichzeitig zwei große Audis ein.

»Giselle!«, rief Tilda Fittkau, während sie schwungvoll ihre Fahrertür aufstieß. »Das nenne ich Timing. Kommen wir gleichzeitig an.« Tilda Fittkau, Agentin der Krimiqueen Susa Förster, sprang aus dem Wagen und drückte Giselle von Dettmann (geborene Gisela Katschinski) links und rechts ein Bussi auf die Wange. Die Gesellschaftsreporterin der Münchner Nachrichten roch dabei den Mix aus Zigaretten und Alkohol in Tildas Atem und zog die Nase kraus.

»Susa ist schon ganz aufgeregt«, plapperte die Agentin. »Dass ihr endlich mal eine große Homestory macht mit ihr. Nicht nur ein bisserl Namedropping in deiner bezaubernden Rubrik ›Monaco-Giselle‹, die ich jeden Tag verschlinge, Darling. Sondern eine exklusive Home­story. Wann kommt der Fotograf? Ach, egal, wir haben uns den ganzen Tag für dich freigeschaufelt. Du darfst sie alles fragen.« Die beiden Frauen schlenderten zur Eingangstür. Noch bevor sie dort ankamen, wurde die Tür geöffnet und Susa Förster strahlte ihren Gästen ent­gegen.

»Giselle! Wie schön, dass Sie Zeit für mich haben!«

»Nein, Susa, schön, dass Sie Zeit für mich haben!«

Einige Begrüßungsfloskeln und mehrere gezierte Bussis später führte Susa Förster ihre Gäste in den Salon, von dem aus man in den großen Garten blicken konnte. Susa winkte kurz dem Gärtner zu, der gerade zufällig hochsah und zurückwinkte. Der Mann packte eben seine Geräte zusammen.

»Oh, Sie haben einen Gärtner?«, fragte Giselle von Dettmann.

»Sicher. Der Beppo. Eine Seele von einem Menschen.«

»Und fesch ist er auch noch«, sagte Giselle schmunzelnd.

»Ach, finden Sie? Kann sein. Ich liebe meinen Garten und auch die Gartenarbeit, aber ich habe leider viel zu wenig Zeit! Gerade jetzt im Frühjahr ist ja so viel im Garten zu tun. Das muss eben der Beppo machen. Die Zwillinge nehmen mich total in Anspruch. Und dann die Lesereisen und das Schreiben! Schreiben ist harte Arbeit, aber wem sage ich das, gell?« Susa lachte.

»Setzt ihr euch schon mal hin und ratscht gemütlich«, sagte Tilda Fittkau geschäftig. »Ich hol uns was zum Trinken und ein paar Snacks, ich kenne mich hier ja aus.«

»Ich habe in der Küche eine Kleinigkeit bereitgestellt«, rief Susa ihrer Agentin hinterher. »Ach, eine Sekunde noch.« Sie huschte in den benachbarten Wintergarten, wo ihre Zwillinge vom Kindermädchen bespaßt wurden. Sie spielten Fangen zwischen vier großen Betonkuben, ähnlich denen, die vor dem Haus standen. Nur waren in diesen Kübeln Palmen und Olivenbäume gepflanzt.

»Ähm, Claudia … oder …«

»Becky.«

»Becky, ja, danke. Becky, gehen Sie mit den Kindern jetzt nach oben oder von mir aus in den Garten. Wir möchten die nächste Stunde nicht gestört werden.« Im Weggehen fügte sie noch ein hingenuscheltes »Danke« hinzu.

Mit »So, da bin ich wieder« kam sie zurück in den Salon und setzte sich mit elegant übereinandergeschlagenen Beinen auf die Kante des großen Sofas, der Journalistin gegenüber.

»Fangen wir doch ganz prosaisch mit dem Anfang an«, sagte ­Giselle von Dettmann und startete die Aufnahmefunktion ihres Smartphones, das sie auf den Couchtisch vor sich platzierte. »Stimmt diese reizende Geschichte, dass Sie eher ganz en passant und durch puren Zufall Deutschlands größte Krimiautorin geworden sind?«

Susa Förster lachte hell auf. »Na ja, größte Krimiautorin …« Sie schüttelte kokett den Kopf. »Gut, ich bin recht erfolgreich. Und ja, es stimmt, dass es eher zufällig geschah. Wissen Sie, ich habe mir vor einigen Jahren mal eine Auszeit gegönnt. Ich war Assistenz der Geschäftsleitung eines großen Pharmaunternehmens. Und irgendwann war ich ausgebrannt von dem Job. Ich will nicht sagen, dass ich ein Burn-out hatte. Nein. Ich wollte einfach raus und Zeit für mich selbst. Quality time, Sie verstehen. Mich neu orientieren.«

»Zum Glück haben Sie ja einen durchaus vermögenden Gatten, der das …«

»Oh nein, da muss ich Sie enttäuschen. Ja, mein Herbert ist sehr wohlhabend, seit er seine Firma verkauft hat, das ist kein Geheimnis. Doch ich habe immer mein eigenes Geld verdient. Ich bin keines von diesen Frauchen, das ihrem Sugardaddy auf der Tasche liegt.«

»Seinem«, korrigierte Tilda. Sie kam mit einem Tablett voller Häppchen und drei Gläsern Champagner zurück und stellte es auf den Couchtisch. »Seinem. Nicht ihrem, das bezieht sich doch auf das Frauchen, also seinem Sugardaddy. Oder? Ach, egal. Na, Giselle, ich kann dir sagen, die Susa war immer eine Taffe.« Tilda rauschte zurück in die Küche und kehrte schnell mit einer Flasche Champagner im Eiskühler zurück. Sie ließ sich in einen Sessel plumpsen. »Ich meine, von null auf hundert als deutsche Krimiqueen. Das muss man ihr erst mal nachmachen. Taff!«

»Taff, ja, in gewisser Weise schon«, nahm Susa Förster den Faden auf. »Als Krimiautorin darf man nicht zu zart besaitet sein. Damals, also in meiner Auszeit, da habe ich mich in unsere Finca auf Menorca zurückgezogen, und plötzlich war sie da. Die Idee zum ersten ›Basti Daxlberger‹-Krimi. Da habe ich mich mit meinem kleinen Laptop hingesetzt und einfach losgeschrieben. Das flutschte nur so. Na ja, und dann habe ich erst gedacht, das liest eh keiner und habe es einige Monate ruhen lassen.« Ihre Bescheidenheit war so sehr gespielt, dass Giselle von Dettmann verlegen die Sitzposition änderte.

»Bis wir uns dann zufällig auf einer Party kennengelernt haben«, übernahm Tilda Fittkau. »Zuerst dachte ich: Oh je, wieder eine von diesen gelangweilten Hausmuttis, die so wahnsinnig kreativ sind und malen oder eben schreiben. Die Therapie und Kreativität verwechseln. Gell, Giselle, wir kennen das zur Genüge. Aber dann war sie so eine interessante Gesprächspartnerin, und ich habe mich breitschlagen lassen, ihr Manuskript zu lesen. Tja, der Rest ist Geschichte.« Sie leerte ihr Glas in einem Zug und füllte sofort nach.

»Tilda hat mich sofort unter ihre Fittiche genommen«, sagte Susa. »Und ich habe es nicht bereut. Im Gegenteil.«

»Ihr kommt einen Augenblick ohne mich zurecht?« Tilda stand auf und verschwand auf die Terrasse, wo sie sich hektisch eine Zigarette anzündete, eine dieser superschlanken Stängchen für Damen. Sie winkte fröhlich dem Gärtner hinterher, der sich anschickte, mit gepackten Sachen das Grundstück zu verlassen.

Der Gärtner blieb kurz stehen und rief Tilda zu: »Sagen Sie bitte der Frau Förster, dass ich morgen mit der Hubameise komme und die Bäume aus dem Wintergarten raushole.«

»Mach ich!« Tilda winkte erneut fröhlich.

Drinnen sagte Susa leise: »Braves Mädchen, rauch draußen. Oh, wir können gerne auch rausgehen, Giselle, wenn Sie wollen! Das Wetter ist ja ganz schön …«

»Schon okay«, erwiderte die Klatschreporterin. »Beenden wir das Interview hier, und dann genießen wir ein wenig den Garten. Wenn der Fotograf später kommt, können wir ein paar Bilder draußen machen.«

Es klingelte.

»Was? Entschuldigen Sie mich bitte.« Susa Förster sprang ungehalten auf.

»Ich geh schon.« Tilda Fittkau schlängelte sich von der Terrassentür durch die Sitzgruppe, strich ihren engen Rock glatt und schritt gouvernantenhaft zur Tür.

»Polizei?« Susa Förster blinzelte ungläubig. »Das kann … Ist etwas mit meinem Mann?«

»Nein, keine Sorge«, antwortete Hauptkommissarin Hemberger. »Und die Dame hier«, sie deutete auf Giselle von Dettmann, »ist von der Presse, sagten Sie?«