Geldsack - Martin Arz - E-Book

Geldsack E-Book

Martin Arz

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Beschreibung

Der Erbe einer Wirtsdynastie liegt mit eingeschlagenem Schädel im Gebüsch. Ausgerechnet an dem Tag, an dem er die Zusage für eine Gelddruckmaschine, sprich ein Bierzelt auf dem Münchner Oktoberfest, erhalten hätte. Von der Gattin über die Eltern bis zu den Nachbarn reagieren alle eher gleichgültig auf die brutale Tat direkt vor ihrer Haustür. Ihre Sorgen drehen sich vielmehr um den Termin für die nächste Botoxparty oder die Preise für fahrende Statussymbole. Denn Ort des Verbrechens ist die exklusivste Luxuswohnanlage Deutschlands, deren wenige Bewohner offenbar in einer Parallelwelt leben und scheinbar jeden Kontakt zur Normalität verloren haben. Der Ermittler Max Pfeffer stößt auf jede Menge Motive und dürftige Alibis. Stück für Stück wühlt er sich tiefer in die Welt der Operierten und Neureichen und setzt damit eine Kettenreaktion von Katastrophen in Gang. "Geldsack" ist der 6. Fall von Max Pfeffer.

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Seitenzahl: 329

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Martin Arz · Geldsack

Martin Arz

Max Pfeffers 6. Fall

Martin Arz, geboren 1963 in Würzburg, schrieb als freier Autor für zahlreiche Magazine und arbeitete als PR-Berater, bevor er sich ganz der Malerei und dem Schreiben widmete. Seine Gemälde waren bereits auf vielen Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen. »Geldsack« ist der sechste Kriminalroman mit Max Pfeffer aus der Feder von Martin Arz. Im Januar 2004 erschien »Das geschenkte Mädchen«, der erste Pfeffer-Krimi, es folgten »Reine Nervensache«, »Die Knochennäherin«, »Pechwinkel« und »Westend 17«. Kriminalrat Pfeffer ermittelte außerdem im Frühjahr 2010 in Deutschlands erstem Twitter-Krimi »Der Tote vom Glockenbach«, der über Twitter publiziert wurde. Martin Arz veröffentlichte zudem mehrere Sachbücher über die Stadt, in der er lebt und arbeitet: München.

Pfeffer-Krimis im Hirschkäfer-Verlag:

Das geschenkte Mädchen Max Pfeffers 1. Fall

Reine Nervensache Max Pfeffers 2. Fall

Die Knochennäherin Max Pfeffers 3. Fall (ab Herbst 2015!)

Pechwinkel Max Pfeffers 4. Fall

Westend 17 Max Pfeffers 5. Fall

Geldsack Max Pfeffers 6. Fall

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

1. Auflage, Mai 2015

Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design/Coriander P

© Hirschkäfer Verlag, München 2015

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-ISBN 978-3-940839-22-0

eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de

Besuchen Sie uns im Internet:

www.hirschkaefer-verlag.de

Mit Liebe gemacht.

»Zum Reichtum führen viele Wege, und die meisten von ihnen sind schmutzig.«Marcus Tullius Cicero

»Hinter jedem großen Vermögen steht ein Verbrechen.«Honoré de Balzac

Inhalt

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

01 Das linke Auge streikte immer noch. Er hielt sich abwechselnd die Augen zu. Rechts war es ganz okay, links hatte er diese Schlieren vor der Pupille, die die Welt wie durch Milchglas betrachtet wirken ließen. Mit einem leisen Seufzer drehte er sich zu dem kleinen Spiegel, der neben dem Spind hing. Ein billiger Kosmetikspiegel mit hellgrünem Plastikrand, vom Hausmeister an einem Nagel befestigt. Er betastete vorsichtig seine linke Schläfe, wo die Beule kaum zu übersehen war. Etwas getrocknetes Blut klebte an seinen Haaren. Er versuchte es, so gut es eben ging, herauszupulen. Wenn nur das Auge nicht noch weiter zuschwellen würde! Er hatte zu kräftig am Schorf gerieben. Ein feines Blutrinnsal schlich sich durch die Haare. Er fluchte, benetzte den Zeigefinger mit Spucke und drückte ihn vorsichtig auf die blutende Stelle.

»Na, gestern wieder mal über den Durst getrunken?« Wie immer laut und polternd betrat der Hausmeister den Raum, in dem die Werkzeuge gelagert wurden. »Junge, Junge. Das ist ein sauberes Veilchen. Schlägerei? Schon wieder?« Er lachte.

»Nein«, murmelte Lorenz Stockmair und drehte sich weg, sodass der neugierige Hausmeister ihn nicht näher unter die Lupe nehmen konnte. »Bin gestern im Dunkeln gegen einen Türstock gerannt. Ganz undramatisch, Schorsch.«

»Du solltest weniger saufen, Lenz!«, dröhnte der Hausmeister, dessen Nachnamen Lenz nicht wusste, weil auf ihren Namensschildern nur die Vornamen standen. Namensschilder mussten sie alle tragen.

Lenz nickte ergeben, um der Situation zu entkommen. »Ich saufe nicht«, murmelte er dennoch ebenso leise wie trotzig.

»Ha?!«, fragte der Hausmeister und zog die Augenbrauen fragend hoch.

»Nix«, sagte Lenz Stockmair laut. »Gar nix.«

»Habs schon gehört«, grunzte Schorsch, der Hausmeister. »Bist du sicher, dass du nicht säufst? Bei deinem Verletzungsaufkommen …« Schorsch öffnete seinen Spind und schälte sich aus der leichten Sommerjacke. Dann zog er sich Schuhe und Hose aus, holte seinen frisch gewaschenen und gestärkten dunkelblauen Overall heraus, auf dessen Rücken in großen weißen Lettern »Maintenance« prangte und stieg hinein.

»Ich muss jetzt anfangen.« Lenz griff sich den Rasentrimmer, strich sich seine grüne, ebenfalls frisch gewaschene und gestärkte Arbeitsschürze zurecht und überprüfte den perfekten Sitz seines Namensschilds. Sie mussten jeden Tag frische Arbeitskleidung anziehen. Das gehörte dazu. Die Sachen legten sie jeden Feierabend in einen weißen Wäschekorb neben dem Eingang, und am nächsten Morgen hingen sie gewaschen und gestärkt in den jeweiligen Spinden. Aber einen vernünftigen Spiegel hatte man ihnen bisher nicht zukommen lassen. »Die Rasenkanten schneiden sich nicht von allein.«

»So früh?«

»Es ist genau sieben. Also darf ich loslegen. Und das Ding ist eh ganz leise.«

»Nicht, dass du dann noch von dem großkopferten Grobzeug eine auf den Deckel kriegst, weil du sie aus dem Champagnerkoma mähst.« Der Hausmeister lachte wieder dröhnend und klopfte Lenz auf die Schulter. Lenz sah die Hand aus den Augenwinkeln kommen und zuckte unwillkürlich zusammen wie ein handscheuer Hund. Er lächelte sein Zucken verlegen weg.

»Champagnerkoma«, wiederholte Lenz grinsend und wog den Rasentrimmer in der rechten Hand. »Der war gut.« Schorsch sagte immer so lustige Sachen und fand immer treffende Beschreibungen für ihre Kundschaft. Die eine aus dem neunten Stock nannte er immer Botoxzombie. Treffender hätte es Lenz nicht ausdrücken können. »Schönen Tag noch, Schorsch.«

Der Hausmeister brummte etwas, während Lenz den Kellerraum verließ und die Treppen zum Hinterausgang hochstapfte. Unterwegs schob er sich erneut eine Ibuprofen in den Mund und zerkaute sie. Er futterte Schmerztabletten wie Smarties. Der bitter-mehlige Geschmack beruhigte ihn. Als er die Tür zum hinteren Garten öffnete, purzelte ihm fast ein Pärchen in die Arme, das sich knutschend an die Tür gelehnt hatte. Der immer grimmig dreinschauende Bursche aus dem siebten Stock hatte offenbar wieder mal eine erfolgreiche Nachtjagd hinter sich.

»Scheiße, Lenz«, knurrte der grimmige Bursche und hielt seine Eroberung fest, die beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. »Kannste nicht aufpassen?«

»Verzeihung, Herr Dollmann«, sagte Lenz Stockmair unterwürfig und blinzelte ins zarte Licht des frühen Morgens.

»Und nenn mich nicht Herr Dollmann!«, rief der junge Mann verärgert. »Mein Alter ist Herr Dollmann, wie oft soll ich dir das noch sagen, Lenz. Ich bin der Timo. Wir müssen doch gegen die da oben«, er machte eine Kopfbewegung gen Himmel, die seine langen, verfilzten Rastalocken in Wallung brachte, »gegen die da zusammenhalten. Ich bin einer von euch, Lenz. Vergiss das nicht.«

»Sicher, Herr … Timo. Schönen Tag noch.« Lenz ließ das Paar stehen.

»Und sauf nicht so viel, Lenz«, rief Timo Dollmann ihm hinterher. »Schaust übel aus. Wilde Nacht, hä?« Der Bursche und sein kichernder Aufriss gingen durch die offene Kellertür ins Haus.

»Ich saufe nicht, blöder Kiffer«, knurrte Lenz wütend, während er den Rasentrimmer anwarf und begann, die längeren Grashalme entlang der Buchsbaumhecke zu schneiden. »Ich. Saufe. Nicht. Verdammt noch mal.« Er war so aufgewühlt, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Vorsichtig tupfte er mit einem Papiertaschentuch am lädierten linken Auge herum. Den Trimmer führte er einhändig weiter. Das konnte er quasi blind. Ein Mann im dunklen Anzug kam auf dem Gehweg vorbei und grüßte kurz. Lenz nickte. Irgendjemand von der Security, den er nur vom Sehen kannte. Vorne an der Straße rumpelte eine Straßenbahn vorbei. Sein Trimmer ruckelte. Das Gerät setzte den Bruchteil einer Sekunde aus, so als hätte es etwas zu Hartes getroffen, dann schnurrte es wieder weiter, setzte noch einmal kurz aus und stotterte dann. Lenz schaltete das Gerät aus. Er wischte sich ein letztes Mal die tränenden Augen und bückte sich dann, um zu überprüfen, ob Zweige oder Steinchen in die Maschine gekommen waren. Das konnte vorkommen, durfte es aber eigentlich nicht. Er hatte erst am Vortag die niedrige Hecke akkurat gestutzt und war sich sicher, dass er alle Äste und Zweiglein auch restlos beseitigt hatte. Da war er akkurat. Lenz beugte sich zu der Hecke und tastete den Boden ab. Er bekam zwei kurze, dickliche Aststücke zu fassen, legte sie in seine rechte Handfläche und starrte stirnrunzelnd darauf. Seltsame Farbe, so blass und hell und ungewöhnlich dunkel an der Schnittstelle. Er hob eines der Stückchen mit Daumen und Zeigefinger hoch und führte es nah an sein gesundes Auge. Er hielt es gegen das Licht. Mit einem erstickten Schrei ließ er es fallen, als er erkannte, was er aufgehoben hatte. Er warf auch das zweite Stückchen weit weg und wischte sich angeekelt die Hände an der Schürze ab. Lenz schnappte kurz nach Luft und sah sich panisch um. Irgendwo sang ein Vogel. Dann ging Lenz Stockmair auf alle viere, legte den Kopf fast auf die Wiese und stierte angestrengt durch die Büsche. Dem Mann, der dort lag, fehlten nun Mittel- und Zeigefinger der linken Hand. Er würde sie freilich auch nicht vermissen, denn der deformierte Schädel, aus dem etwas Großes, Transparentes ragte, in dem sich die ersten Sonnenstrahlen brachen, ließ keinen Zweifel daran, dass der Mann nie mehr etwas vermissen würde.

02 Max Pfeffer nippte an dem Cappuccino, den er sich beim Bäcker an der Müllerstraße geholt hatte, und kratzte sich am Bart. Der hatte die Länge, in der er zu jucken begann. Zeit, sich wieder mal zu rasieren. Alles runter bis auf ein paar Millimeter. Niemand vom Team sprach ihn an. Man wusste, dass der Chef in der Frühe gerne maulfaul war und erst einmal genug Koffein getankt haben musste.

Die Rechtsmedizinerin richtete sich auf und zwinkerte Kriminalrat Pfeffer zu. »Servus, Maxl«, rief sie einen Tick zu fröhlich angesichts der Leiche, neben der sie kniete.

»Servus, Pettenkoferin«, antwortete Max Pfeffer und prostete ihr mit dem Kaffeebecher zu. Er stand noch hinter dem Absperrband, um die Spurensicherung nicht zu stören. Er hörte vorne an der Müllerstraße die Straßenbahn.

Dr. Gerda Pettenkofer stemmte sich hoch, was ihr angesichts ihrer wogenden Pfunde nicht leicht fiel, wischte sich über die Knie und kam zu Max Pfeffer herüber. »Hast du mal einen Schluck für mich?« Sie wollte ihm den Pappbecher aus der Hand nehmen.

Pfeffer zog seine Hand zurück. »Nein«, sagte er ruppig. »Du weißt, dass ich das hasse. Ich hol dir gleich deinen eigenen, wenn du willst.«

»Super Laune. Du mich auch.« Die Medizinerin zündete sich eine Zigarette an, war aber nicht ernstlich verstimmt. »Auch eine?« Sie hielt Pfeffer die Zigaretten hin.

»Nein. Tim verlässt mich endgültig, wenn ich schon wieder mit dem Rauchen anfange.«

Gerda Pettenkofer lachte trocken. »Verstehe, Pantoffelheld. Sagt er das nicht jedes Mal? Haben wir dich heute früh am Sportprogramm gehindert, oder was?«

»Nein.« Pfeffer schmunzelte. Er hatte sein tägliches Sportprogramm längst hinter sich gebracht, als der Anruf kam, dass mitten im Gärtnerplatzviertel Arbeit auf ihn warten würde. »Nichts gegen dich, werte Gerda, aber ich mag es einfach nicht, wenn jemand von meinem Glas oder Becher trinkt. Das müssen wir jetzt aber nicht weiter vertiefen, Hase.«

»Geht mir ja eigentlich auch so.« Sie zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls beneide ich dich nicht um den Klienten von heute. Die Kundschaft hier wird sicher not amused darüber sein, dass ihr Palast schon wieder in die Negativschlagzeilen kommt.« Sie deutete zum Hochhaus hinauf, in dessen Glasfassade sich die Morgensonne brach.

Max Pfeffer ließ seinen Blick schweifen. Rechts von ihm erhob sich der gläserne Wohnturm, zu dem der Garten gehörte, in dem sie standen. Geradeaus grenzten dreistöckige Neubauten daran und rechts versperrte ein grün gestrichener, hoher Bauzaun die Sicht zu der angrenzenden Baustelle. Hier wurden weitere Eigentumswohnungen hochgezogen. Hinter Pfeffer stand ein klotizges Bürogebäude, dessen Architekten offensichtlich Legofans gewesen sein mussten.

»Kommt unser Klient denn aus dem Palast?«, fragte er.

»Deine Assistenz ist schon im Anmarsch und kann dir das sicher beantworten.« Die Rechtsmedizinerin wies auf Hauptkommissarin Annabella Hemberger, die sich den beiden näherte. Sie trug einen weißen Ganzkörperoverall, wie alle hinter der Absperrung. In der Hand schwenkte sie einen durchsichtigen Plastikbeutel mit einer Geldbörse.

»Morgen, Chef«, sagte Hauptkommissarin Hemberger fröhlich und strahlte über das ganze Gesicht. Ihr blonder Kurzhaarschnitt leuchtete in der Sonne.

»Ich frage mich allerdings ernsthaft«, sagte Gerda Pettenkofer und musterte die Kriminalbeamtin mit zusammengekniffenen Augen, »ob deine Assistenz nicht ein schwerwiegendes Drogenproblem hat.«

Das fröhliche Lächeln von Annabella Hemberger fror ein, während sie leicht verwirrt zwischen den beiden hin- und hersah.

»Irgendwoher muss ja diese penetrante Fröhlichkeit kommen, Frau Scholz«, seufzte die Medizinerin erklärend.

»Die Hormone«, erklärte Max Pfeffer. »Und die Frau Scholz heißt ja längst Hemberger. Wir waren auf der Hochzeit, Gerdahase. Alzheimer?«

»Oh.« Gerda Pettenkofer begriff und begann ebenfalls zu strahlen. »Wieder schwanger? Na, Mensch, gratuliere, Bella. Glückwunsch!«

»Danke«, antwortete die Hauptkommissarin selig grinsend. »Weiß es erst seit gestern. Wir freuen uns schon ganz narrisch …«

»Mädels, bitte«, unterbrach Pfeffer. »Bleiben wir einen Moment noch beim Thema.«

»Klar, Chef.« Bella Hemberger hielt ihm den Plastikbeutel hin. »Er trug sein Portemonnaie mit sich. Es scheint nichts zu fehlen. Zumindest sind ungefähr dreihundert Euro in bar drin, diverse Kreditkarten und sogar sein Personalausweis. Unser Toter ist ein gewisser Guido Zumboldt, einundvierzig Jahre alt. Wohnte hier im Haus. Dann haben wir hier noch einen Autoschlüssel, sein Smartphone und eine Abholbenachrichtigung vom Zoll.«

»Und wie ist er gestorben?«

»Jemand hat ihm mit Gewalt einen riesengroßen Diamanten in den Kopf gerammt«, sagte Gerda Pettenkofer lakonisch und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.

»Einen Diamanten?«, fragte Pfeffer ungläubig.

»Na ja, so was ähnliches. Es ist ein großes geschliffenes Ding, das ihm im Schädel steckt. Richtig in den Hinterkopf hineingedrückt. Könnte ein Kristall sein oder auch einfach Glas. Wenn ich ihn bei mir auf dem Seziertisch habe, hol ich das Ding raus und lass es dir zukommen. So wie er aussieht, ist er noch nicht sehr lange tot. Tatzeit so zwischen fünf Uhr dreißig und sechs Uhr dreißig. Ihm fehlen außerdem zwei Finger der linken Hand.«

»Die hat ihm der Gärtner beim Rasentrimmen abgeschnitten«, ergänzte die Hauptkommissarin. Sie deutete zu dem Kollegen von der Spurensicherung, der eben den Rasentrimmer in eine Plastiktüte packte. »So hat er überhaupt die Leiche gefunden, der Gärtner. Die Hand des Toten hat wohl ein wenig aus der Hecke geragt und der Rasentrimmer … zack … Heißt Lorenz Stockmair. Steht da drüben.« Sie deutete auf den Gärtner, der etwas abseits mit gesenktem Kopf auf einem niedrigen Mäuerchen saß. Neben ihm stand breitbeinig ein bulliger Glatzkopf in schwarzem Anzug und mit Knopf im Ohr, der hektisch an seiner Zigarette zog.

»Morgen, Chef.« Kommissar Erdal Yusufoglu gesellte sich zur Gruppe. »Wird wohl kein allzu schwieriger Fall werden«, sagte er voller Elan.

»Und warum?«, fragte Pfeffer.

Yusufoglu deutete auf den Kellereingang und dann auf die Hausecken. »Kameraüberwacht. Überall Kameras. Kein Wunder bei dem Bau hier, oder? Wir müssen nur die Bilder auswerten. Glück im Unglück.«

»Das Glück ist ein flüchtiges Reh«, sagte Pfeffer.

»Du liest Kalendersprüche, Maxl?«, fragte Gerda Pettenkofer sarkastisch.

»Nein, ich zitiere sie nur.« Alle lachten.

»Okay, Erdal, du kümmerst dich gleich mal um das Sicherheitssystem hier im Haus. Schau, dass du die zuständigen Leute zackig herbekommst. Bella, du hakst mal nach, warum immer noch kein Staatsanwalt hier vor Ort ist, und ich widme mich mal unserem Gärtner.«

»Was ist denn da unten so spannend?«, rief Douglas von Nolting vom Badezimmer aus seiner Frau zu.

»Hmmm, keine Ahnung.« Bibi von Nolting lehnte an der Glasscheibe und verrenkte den Kopf, um besser hinunter in den Garten sehen zu können. »Viel Polizei. Sie scheinen irgendwas im Garten zu suchen.« Sie nippte von ihrem frischen Sellerie-Karotten-Ingwer-Smoothie, den sie sich gemacht hatte. Sie hatte Durst. Trinken war wichtig, hatte ihr ihre Ernährungsberaterin eingebläut. Gerade wenn sie wieder einmal Kreislaufprobleme bekommen sollte. So wie heute Morgen. Bibi betrachtete ihre linke Hand. Wie schön schlank und zart sie war. Sie mochte ihre Hände. Sie schrak mit einem Kiekser zusammen, als ihr Mann sie kurz an der Schulter berührte. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

Douglas von Nolting rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken. Ein weiteres Handtuch hatte er sich um die Hüfte geschlungen. Sein schwabbeliger Männerbusen wackelte mit jeder Rubbelbewegung. Bibi mochte ihren Mann. Irgendwie. Aber sie mochte seinen Schwabbelkörper nicht. Einer der Gründe, warum zwischen ihnen schon seit Langem nichts mehr lief. Douglas presste kurz sein Gesicht gegen die Scheibe und schaute hinunter.

»Nicht, Schatz«, tadelte Bibi ihren Mann. »Danuta kommt erst morgen zum Fensterputzen!«

»Dann putz du halt mal«, knurrte er. Er nahm seiner Frau das Glas aus der Hand und roch daran. Er schleuderte es quer durch den Raum, es zerschellte an der Kücheninsel. Orange-grünliche Spritzer verteilten sich im Umkreis.

»Nicht!«, rief Bibi. »Der Warhol! Wenn du den jetzt versaut hast!«

»Der Warhol! Scheiß auf den Warhol. Glaubst du, ich merke das nicht«, giftete er seine Frau an. Ihr Unterkiefer bebte. »Fang bloß nicht wieder zu heulen an! Es ist noch nicht mal acht Uhr und Madame knallt sich Wodka in die Gemüsebrühe.«

»Du …« Mehr brachte Bibi von Nolting nicht hervor.

»Iss lieber mal was, du Klappergestell!«, brüllte Douglas von Nolting, machte eine wegwerfende Handbewegung und stapfte wütend davon in sein Ankleidezimmer.

»Ich … ich gehe heute mit Sarah zum Lunch«, kiekste Bibi entschuldigend.

»Lunch! Lunch! Dann iss da auch mal was und sauf nicht nur, blöde Kuh. Und wisch die Sauerei hier weg.«

»Das kann Danuta dann morgen …«

»Ich hab mich wohl verhört?« Douglas von Noltings Kopf tauchte im Türrahmen des Ankleidezimmers auf.

»Nein, schon gut, Schatz. Ich ruf gleich unten beim Housekeeping an.« Sie schlenderte zur Wand hinüber. Der Warhol, eines seiner Mao-Porträts im Format 205 x 155 cm, und sie hatte das mehrfach genau nachgemessen, war unversehrt. Bibi liebte das Bild. Sie hatte es von ihrem Vater 1973 geschenkt bekommen. Zur Geburt. Ihr Vater hatte es persönlich in New York bei Andy Warhol gekauft. Davon gab es sogar Fotos. Und dann sah sie genauer hin: Tatsächlich! Einige kleine grüne Spritzer liefen über die Leinwand. Hektisch versuchte sie, sie mit dem Ärmel ihres Morgenmantels wegzuwischen.

»Verdammt! Schatz! Du hast den Warhol versaut!« Sie begann, wie ein kleines Kind zu weinen.

»Heul nicht.« Douglas kam zu ihr und begutachtete den Schaden. »Lass die Finger davon. Das bringe ich heute noch zum Restaurator. Ist bald wieder wie neu.« Er stapfte davon. »Und Pfoten weg!«

»Es muss aber am Mittwoch wieder da sein! Da kommen die Leute von der Elle Decoration für die Fotoreportage! Da muss alles perfekt aussehen. Ich möchte mich nicht blamieren.« Bibi schniefte noch ein paar Mal, dann bummelte sie zurück zum Fenster, lehnte sich wieder gegen die Scheibe und sah gedankenverloren hinaus. Von hier aus konnte man den Gärtnerplatz sehen und das schöne Theater, das leider wegen Renovierungsarbeiten eingerüstet war. Sie genoss die Sonnenstrahlen. Dass unten im Garten die Polizei arbeitete und die Frühstückssauerei, hatte Bibi von Nolting inzwischen völlig ausgeblendet. Sie würde hier stehen und warten, bis ihr Yogalehrer kam.

Eine Etage darunter öffnete Arno Ewers das Fenster und lehnte sich so weit wie möglich hinaus, um zu schauen, was unten im Garten vor sich ging. Chouchou und Froufrou umwieselten blöde hechelnd seine Füße. Er mochte die kleinen Möpse, aber warum ihnen Cliewe diese peinlichen Namen verpasst hatte, würde Arno nie verstehen. Cliewe konnte manchmal so peinlich klischeehaft sein. Arno schlürfte von seinem Kaffee und überlegte, ob er Cliewe wecken sollte. Wobei mit dem vor halb elf nie etwas anzufangen war. Er beschloss nachzuschauen, ob Cliewe nicht vielleicht schon zufällig wach war. Er stellte den Kaffeebecher vorsichtig auf den Filzuntersetzer auf dem Esstisch, nahm die kleinen Hunde hoch und schlich auf Zehenspitzen in dessen Schlafzimmer, das komplett abgedunkelt war. Im Licht, das durch die Tür fiel, erkannte Arno Ewers, dass Cliewe noch seine Schlafmaske trug und tief und fest schlief, zumindest atmete er gleichmäßig und ruhig. Die Hunde auf seinen Armen wurden unruhig und fiepten. »Schsch«, machte Arno leise. »Mama schläft noch, ihr kleinen Racker. Kommt, wir schauen weiter, was da unten passiert«, flüsterte Arno Ewers leise, während er die Tür zuzog und zurück auf seinen Aussichtsposten ging.

Ganz oben auf der Dachterrasse hatte Iwan inzwischen genug gesehen. Er beugte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Vorne, am anderen Ende der langen Terrasse, spielte der kleine Ramses mit Steinchen und kleinen Autos Steinlawine. Gelegentlich warf er auch einen Kiesel und schließlich ein rotes Auto über die Brüstung. »He, Ramses«, zischte Iwan. »Ist gut! Das macht man nicht.« Ramses schaute gelangweilt auf und spielte dann weiter. Iwan rauchte die Zigarette hektisch innerhalb kürzester Zeit bis zum Filter herunter, drückte sie sorgsam im Aschenbecher aus, zupfte zwei kleine Fussel vom Jackett und strich seinen Anzug zurecht. Dann nahm er zwei Minzdrops, denn der Chef hasste es, wenn jemand frisch nach Zigaretten roch. Er sah auf die Uhr. Zu früh. Aber unter diesen Umständen war eine Ausnahme nötig. »Wird Zeit, dass der Chef erfährt, was da los ist«, murmelte er und trat durch die Schiebetür in die Wohnung.

03 »Was ist mit Ihrem Auge?«, fragte Max Pfeffer.

»Nichts.« Lenz Stockmair drehte den Kopf verlegen weg. »Kleiner Unfall mit einem Türrahmen. Ich trinke nicht.«

»Das habe ich auch gar nicht behauptet. Waren Sie beim Arzt?«

Der Gärtner schüttelte unmerklich den Kopf. »Passt schon.«

»Muss ein ganz schöner Schock für Sie gewesen sein, als Sie den Toten gefunden haben.«

Lenz nickte. »Das ist der Zumboldt aus dem zehnten Stock, nicht wahr?«

»Richtig. Erzählen Sie mir ein bisschen von ihm.«

Der Gärtner sah überrascht auf. »Ich? Also, ich kenne die Herrschaften aus dem Haus eigentlich gar nicht. Man hat sich gegrüßt. Mehr nicht. Ich bin ja nur der Gärtner.«

»Sind Sie hier fest angestellt?«, fragte Pfeffer und setzte sich neben Lenz auf das kleine Mäuerchen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Mauer sauber war. Er hatte keine Lust, seinen hellgrauen italienischen Sommeranzug zu ruinieren. Er mochte den Anzug, den er sich in Mailand gekauft hatte. Er betonte seine sportliche Figur und war einfach federleicht.

»Nein«, antwortete der Gärtner. »So viel ist hier dann doch nicht zu tun. Ich komme zweimal die Woche und natürlich bei besonderen Gelegenheiten, wenn saisonale Pflanzungen anstehen und so. Es gibt hier ja die Gartenanlagen vor und hinter dem Haus und dann noch dort drüben«, er deutete zu den benachbarten niedrigen Neubauten, »da gibt es ›Secret Gardens‹, wie die das nennen. Ist schon immer was zu tun.«

»Da bekommt man dann doch ein bisschen was über die Bewohner mit, oder?«

»Sicher, ein bisschen. Meist nur Klatsch und Tratsch. Sie müssten Schorsch fragen. Den Chefhausmeister. Oder einen von den Conciergen. Die wissen alles. Oder denken das zumindest.«

»Na«, sagte Pfeffer aufmunternd und gab sich locker. »Dann erzählen Sie mir doch einfach ein bissl Klatsch und Tratsch aus dem Haus.«

Lenz Stockmair sah unsicher zum Kriminaler hinüber und lächelte schüchtern. »Ich weiß ja nicht. Ich will niemanden reinreiten …«

»Sie reiten niemanden rein«, beruhigte Pfeffer. »Es geht hier immerhin um einen Mord. Der Zumboldt ist ja schließlich kein Unbekannter«, fügte er im Plauderton hinzu.

»Ja«, lachte der Gärtner zustimmend. »Den kennt man aus der Presse, den Zumboldt. Schließlich will der ja ein Wiesnzelt.«

»Den Zumboldts gehört doch das Münchner-Kindl-Zelt, oder?«

»Richtig. Drum können sie sich das hier auch leisten.« Lenz deutete das Hochhaus hinauf. »So ein Wiesnzelt soll ja eine Gelddruckmaschine sein. Was man so hört. Meine Frau hat jedes Jahr als Bedienung auf der Wiesn gearbeitet. Da kommt was bei rum.« Er brach ab.

»Hört man immer wieder«, ermutigte Pfeffer den Mann zum Weiterreden. »Davon leisten Sie sich dann sicher einen schönen Urlaub?«

»Nein.« Lenz Stockmair schüttelte den Kopf. »Haus abzahlen. Wir haben ein kleines Reihenhaus in Sendling am Luise-Kiesselbach-Platz. Meine Frau ist Kellnerin. Hat lange Jahre für die Zumboldts gearbeitet. Jetzt haben sie sie vor einem halben Jahr rausgeschmissen.« Er schüttelte sich und wechselte gleichzeitig das Thema, als wolle er nicht über sein Zuhause sprechen. »Der Zumboldt senior soll angeblich gar nicht mehr gut auf seinen Sohn zu sprechen gewesen sein. Da war was im Busch, heißt es. Hat der Hausmeister, der Schorsch, erzählt. Er muss wohl mal zufällig einen großen Krach mitbekommen haben.«

»Hier im Haus?«, fragte Pfeffer erstaunt nach.

»Freilich. Der Alte wohnt doch auch da. Dem gehört der ganze elfte Stock. Elfter Stock Alois Zumboldt, der Senior, und zehnter Stock Guido Zumboldt, der Junior. Der konnte sich allerdings nur einen halben Stock leisten. Nebenan wohnen diese von Noltings, die haben die andere Hälfte vom zehnten. Mit denen konnte er aber angeblich auch nicht gut. Ach, der junge Zumboldt soll es sich mit fast jedem hier im Haus schon verdorben haben. Sagt man.« Er warf die Hände in die Luft. »Mit seiner Frau läuft auch nichts mehr. Die will die Scheidung. Das sagen nun wirklich alle. Das ist schon kein Gerücht mehr. Na, wenn sie es richtig anstellt, hat sie für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Die lässt ihn bluten und genießt ihr Leben auf Mallorca oder so.« Er lachte. »Das haben uns die Frauen voraus, was? Frauen wissen immer, wie sie an Geld kommen …« Er deutete mit beiden Händen Brüste an und biss sich sofort danach auf die Lippen. »Tschuldigung.«

»Schon okay«, schmunzelte Max Pfeffer. »Sie sagten, der Ermordete hätte es sich mit praktisch allen im Haus schon verdorben?«

»Die Ewers aus dem neunten Stock sprechen nicht mehr mit ihm … äh, sprachen nicht mehr mit ihm.«

»Warum?«

»Das sind …« Lenz Stockmair sah sich vorsichtig um und beugte sich zu Pfeffer rüber. »Das sind zwei Männer, verstehen Sie?«, flüsterte er. »Das sind Homosexuelle. Da hat der Zumboldt wohl mal entsprechende Bemerkungen gemacht, schätze ich.« Er lehnte sich wieder zurück. »Im achten sind dann die Steinkohls. Er ist irgendwas Wichtiges in der Baubranche. Ich glaube, der hat das ganze Projekt hier hochgezogen. Und im siebten wohnt der Architekt Dollmann mit seiner Frau und dem Sohn. Timo heißt der. Der war heute früh mit einem Mädchen unterwegs, als ich angefangen habe, den Rasen zu trimmen. Hat wohl die Nacht durchgemacht. Die Frau vom Dollmann soll mal was mit dem Zumboldt gehabt haben, sagt man. Darum ist der Dollmann auch schlecht auf den Zumboldt zu sprechen gewesen. Mehr weiß ich wirklich nicht.«

»Das war doch schon eine Menge. Allerdings ganz schön wenig Namen für so ein großes Gebäude.«

»Viel mehr wohnen hier nicht. Ach, ganz oben, die beiden oberen Etagen hat so ein Ausländer gekauft. Den kenne ich nicht. So ein reicher Araber. Unten sind bis zur vierten Etage Büros. In der fünften sind der Pool und so Fitness- und Wellnesszeug für die Bewohner. Und einige Wohnungen stehen praktisch immer leer. Die Leute kommen ein- oder zweimal im Jahr zum Shoppen nach München.«

»Verstehe. Was glauben Sie?« Pfeffer stand auf und deutete auf den Kellereingang. Dort waren die Kameras nicht zu übersehen. »Werden wir auf dem Überwachungsvideo den Mörder sehen?«

Lenz Stockmair verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. »Vielleicht. Aber das müssen Sie mit der Security besprechen. Das hier ist mindestens so gut bewacht wie Fort Knox. Kann ich jetzt weiterarbeiten?«

»Tut mir leid, wir mussten den Rasentrimmer mitnehmen.«

»Macht nichts«, sagte der Gärtner. »Ich habe ein Ersatzgerät.«

04 »Das ist jetzt ein Scherz«, stöhnte Kommissar Erdal Yusufoglu.

»Leider nein. So leid es mir tut! Das ist uns äußerst peinlich. Äußerst!« Jürgen Hartwig riss die Augen weit auf, um die Dramatik der Situation mimisch zu unterstützen. »Und dann passiert ausgerechnet so etwas!« Er schlug die Hände zusammen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, meine Herren …« Er schielte zu Hauptkommissarin Bella Hemberger hinüber und fügte schnell »… und meine Dame« hinzu. »Das muss selbstverständlich unter uns bleiben!«

»Wir ermitteln in einem Mordfall, Herr Hartwig«, sagte Max Pfeffer und sah dem hibbeligen Mann mit der auffälligen Designerbrille fest in die Augen. »Es bleibt erst einmal alles unter uns.«

»Natürlich. Natürlich.« Hartwig hüpfte von einem Bein auf das andere. Er trug einen tadellosen dunkelblauen Anzug mit passender dezenter Krawatte und schwarze Budapester Schuhe. Seine mittelblonden Haare waren streng gescheitelt. Er hatte sich den Kriminalbeamten als der zuständige Objektmanager für den »Einstein-Tower« vorgestellt. Pfeffer und seine Kollegen Hemberger und Yusufoglu standen im ersten Stock. Hier befanden sich die Gebäudeverwaltung und auch die Sicherheitszentrale.

»Ich darf aber doch meine Verwunderung darüber ausdrücken, dass in diesem Anwesen, das angeblich besser bewacht wird als Fort Knox, dass ausgerechnet hier die Videoüberwachung ausgefallen ist und Sie keine Erklärung dafür haben.« Pfeffer deutete auf fünf Monitore an der Wand, die alle schwarz waren. Auf dem sechsten konnte man die Eingangshalle sehen. Dort saß der Concierge hinter seinem Desk und tippte etwas in einen Computer. Fünf weitere Monitore zeigten leere Flure.

»Wir suchen fieberhaft den Fehler.« Hartwig rang die Hände. »Nicht wahr, Bodo? Bodo Kiesekamp ist unser IT-Spezialist.«

Bodo Kiesekamp sah missmutig drein. Er war übernächtigt und blass, wie man sich das bei einem Computernerd vorstellte, ansonsten war er wie ein Metal-Fan gekleidet. Schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt mit einem wüsten, blutigen Totenkopfmotiv. Er roch ungeduscht. Seit Tagen ungeduscht. Seine ungepflegten langen Haare waren achtlos zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. »Jemand muss das System gehackt haben.«

»Das ist praktisch unmöglich«, warf Hartwig ein. »Wir haben alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen.«

»Pfhhh«, gab Bodo Kiesekamp von sich.

»Mäßigen Sie sich bitte«, wies Hartwig ihn zurecht.

»Sie wollten etwas sagen, Herr Kiesekamp«, sagte Pfeffer.

Der IT-Spezialist warf einen verächtlichen Blick auf Jürgen Hartwig. »Allerdings. Zum einen, und das wollen die hier einfach nicht kapieren, gibt es keine totale Sicherheit. Alles kann gehackt werden. Alles! Außerdem bin ich hier ganz allein mit dem ganzen Scheiß. Für alles ist Geld da, nur für das, was wirklich wichtig ist, nicht. Ich kann nicht Tag und Nacht durcharbeiten. Das habe ich Ihnen schon zigmal gesagt. Ich tu, was ich kann. Aber für einen allein …«

»Sie haben einen Assistenten!«, wandte Hartwig ein.

»Das ist ein Praktikant!«, antwortete Kiesekamp trotzig. »Der hat keine Ahnung! Es ist ja auch nicht das erste Mal.«

»Nun«, gab sich Hartwig wieder ganz jovial. »Anfangsschwierigkeiten, meine Herrschaften. So lange ist das hier ja noch nicht in Betrieb. Das ganze Ensemble hier ist ein Multimilloneneuroprojekt, das gerade erst richtig zu laufen beginnt. Das spielt sich peu à peu ein.«

Kiesekamp machte wieder »pfhhh«, verdrehte die Augen und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen einen Schreibtisch.

»Langsam«, sagte Pfeffer. »Noch einmal zum Mitschreiben: Das Videoüberwachungssystem funktioniert automatisch durch Bewegungsmelder. Die Kameras zeichnen nur auf, wenn eine Bewegung registriert wird …«

»Ja. Rings ums Haus, in den Fluren und in den Gemeinschaftsräumen wie Eingangsbereich, Tiefgarage et cetera. Die einzigen Ausnahmen sind das Foyer sowie die Flure in den Büroetagen, die werden ständig videoüberwacht. Ansonsten gilt: Erst sobald jemand sich bewegt, gehen die Kameras los und zeichnen auf. Alle zwei Sekunden ein Bild. Dazu noch dreißig Sekunden Nachschlag, also wenn die Person schon längst weg ist.«

»Kann man das leicht überlisten?«, fragte Bella Hemberger.

»Na, so einfach nicht.« Kiesekamp kratze sich am Kinn. »Man kann natürlich ganz einfach einen Klebestreifen über einen Bewegungsmelder pappen, dann löst er nicht aus. Das ist aber ein Schuss ins Knie, weil man sich ja erst mal dem Ding nähern muss und schon zeichnet die Kamera auf, wer da manipuliert.«

»Und ist das schon mal vorgekommen?«, fragte Pfeffer. »Wenn ich Ihre Worte richtig interpretiert habe, war das nicht das erste Mal.«

Kiesekamp und Hartwig wechselten einen schnellen Blick. »Ja, neulich Abend«, sagte der IT-Spezialist. »Das war ein kleiner Bub, der hat da einen Sticker draufgeklebt. Konnte man auf dem Video sehen.

»Zeigen Sie uns das bitte mal.«

»Geht nicht.« Kiesekamp zuckte mit den Schultern. »Die Aufzeichnungen werden nach vierundzwanzig Stunden überspielt. Es war ein Junge. So um die neun, zehn, dunkle Locken. Keine Ahnung, kenne mich bei Kindern nicht so aus. Der hat dann auch noch mal gestern früh einen Aufkleber hingepappt. Mit irgendwelchen Mangas drauf. Findet das wohl total lustig.«

»Und wie lange hat es gedauert, bis das jemandem aufgefallen ist?«, fragte Pfeffer.

»Das von neulich Abend ist mir erst am nächsten Tag aufgefallen, als ich mich gewundert habe, dass gar niemand durch die Hintertüre ein oder ausgeht. Da bin ich runter und habs entdeckt. Ich hab dann Schorsch, den Chefhausmeister, darauf aufmerksam gemacht, dass er immer mal wieder die Bewegungsmelder im Außenbereich kontrollieren soll, ob was abgeklebt ist. Drum hat er gestern früh auch den neuen Sticker entdeckt.«

»Hat heute schon jemand nachgesehen?«, fragte Pfeffer ungehalten.

Wieder tauschten Kiesekamp und Hartwig einen Blick, diesmal einen schuldbewussten.

Hartwig zückte sofort sein Mobiltelefon, rief den Hausmeister an und gab ihm die entsprechenden Instruktionen. Hartwig blieb am Apparat, während der Hausmeister nachsah. Plötzlich flimmerte ein bislang toter Monitor auf, man sah den Bereich des hinteren Ausgangs, der Hausmeister kam ins Bild, bückte sich seitlich und richtete sich dann wieder auf. Er fuchtelte herum und sagte etwas in sein Handy.

»Nichts«, übermittelte Hartwig und legte auf. »Der Bewegungsmelder ist frei und funktioniert.«

»Es gibt also keinerlei Videoaufzeichnungen von der mutmaßlichen Tatzeit«, fasste Erdal Yusufoglu zusammen. Die Enttäuschung darüber, dass der Fall schnell aufgeklärt werden könnte, stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Anfangsschwierigkeiten, wie ich schon sagte«, gab Jürgen Hartwig von sich. »Das ist hochkomplizierte und hochsensible Technik. Für diesen höchst unwahrscheinlichen Fall, dass mal tatsächlich die Kameraüberwachung ausfällt, hat die Security die Anweisung, mit erhöhter Frequenz Kontrollgänge durchzuführen.«

»Wenn es aber niemandem auffällt?«, warf Kiesekamp sarkastisch ein. »Machen wir uns doch nichts vor. Das hier ist vor allem Kosmetik. Soll halt abschrecken und die Bewohner in einer gewissen Sicherheit wiegen. Wirklich was bringen tun die Kameras hier nicht.«

»Zeigen Sie uns bitte die Sequenzen, die heute nach dem Kameraausfall aufgenommen wurden. Die Kameras vom Kellerausgang und vom Durchgang zur Straße«, sagte Pfeffer. »Auch die von gestern Abend vor dem Ausfall.«

Bodo Kiesekamp setzte sich an seinen Computer und tippte etwas ein. »Hier.« Er deutete auf den letzten Bildschirm links unten. Alle starrten angestrengt auf die zuckenden Bilder. Die Kameras nahmen keine Filme auf, sondern machten alle zwei Sekunden ein Foto. Im rechten oberen Eck lief eine Zeitangabe mit. Die Aufnahmen der Lobbykameras zeigten, dass um 06:37:33 der Gärtner hereinkam, den Nachtportier grüßte, kurz mit ihm schwatzte und schließlich hinter einer Tür am Ende des Saals verschwand. Bald danach betrat Schorsch, der Chefhausmeister, das Haus, machte einen kurzen Smalltalk mit dem Portier und verschwand dann auch hinter der Tür, die der Gärtner genommen hatte.

»Externes Personal wie der Gärtner hat eine Zeitsperre in den Chips«, erklärte Hartwig ungefragt. »Die können zwischen zweiundzwanzig und sieben Uhr nur durch die Lobby reinkommen, nicht durch andere Türen.«

»Der Hausmeister ist extern?«, fragte Erdal Yusufoglu ungläubig.

»Ja, nein, nicht wirklich. Der ist noch in der Probezeit. Darum.«

»Hier gehts los«, unterbrach Bodo Kiesekamp und deutete auf einen Monitor. 07:07:25 zeigte die Zeitangabe. Aus verschiedenen Kameraperspektiven sah man zwischen Hecke und Hauswand die Leiche, auf dem Rasen daneben lag der Rasentrimmer, sonst war niemand zu sehen. Das Bild wurde wieder dunkel. Um 07:08:51 kam der Gärtner Lenz Stockmair aus der Kellertür und wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. Dann holte er sein Mobiltelefon heraus und telefonierte.

»Jetzt ruft er die Polizei, oder«, sagte Yusufoglu. »Warum war er erst noch drinnen?«

»So derangiert, wie der vorhin ausgesehen hat, vermute ich mal, dass er sich übergeben musste«, meinte Bella Hemberger.

»Wer hat kurz vor sieben Uhr sieben und fünfundzwanzig Sekunden die Kamera ausgelöst? Jemand, der hineingegangen ist? Warum ist er dann nicht auf dem Bild?«, sinnierte Pfeffer. »Es lag also nicht am Bewegungsmelder.«

»Sondern?«, fragte Hartwig unbedarft.

»An der Kamera«, schnaufte Bobo Kiesekamp ungehalten über die Begriffsstutzigkeit seines Vorgesetzten.

»Jemand muss das also manipuliert haben«, sagte Hauptkommissarin Hemberger.

»Unmöglich«, brummte Hartwig.

»Möglich«, brummte Kiesekamp wie ein Echo, »aber sehr unwahrscheinlich. Das muss dann ein echter Profi gewesen sein.«

»So schauts aus«, sagte Max Pfeffer.

»Ich habe vorhin die Logfiles gecheckt«, sagte Bodo Kiesekamp. »Da gab es noch eine Bewegung in den Büroetagen.« Er tippte etwas in seine Tastatur ein. Dann sah man auf einem Monitor, wie ein Mann um 05:48:19 den Büroflur im vierten Stock betrat und in einem Raum verschwand. »Das ist Guido Zumboldt«, erklärte Jürgen Hartwig. »Er hat sein Büro im vierten Stock.« Um 05:53:02 verließ der Mann wieder das Büro, ging den Flur entlang auf die Kamera zu, drückte den Liftknopf und bestieg dann den Fahrstuhl.

»Warum war er so kurz im Büro? Er scheint nichts mitgenommen zu haben. Vermutlich fährt er jetzt runter und geht hinten raus«, sagte Pfeffer. »Damit wäre unsere Tatzeit so gegen sechs Uhr. Sagen Sie, Bodo, wer hat denn das Überwachungssystem hier installiert?«

»Na, im Wesentlichen ich. Also mit meinen Kollegen. Ich habe früher bei SecuCheck gearbeitet. Die haben den Auftrag für den Turm hier bekommen. Dann haben sie mich abgeworben, weil ich mich mit dem ganzen Scheiß eben gut auskenne. Die mich. Um das deutlich zu machen. Also, hier bin ich und verdiene deutlich mehr. Ist nie verkehrt.« Er grinste zufrieden.

»Gut.« Pfeffer machte Anstalten zu gehen. »Geben Sie meinen Kollegen bitte noch die Kontaktdaten der Securitymänner, die heute Nacht Dienst hatten. Und ich erwarte selbstverständlich, dass alle Aufnahmen der letzten Nacht und des heutigen Vormittags nicht wieder überspielt werden. Lassen Sie uns eine DVD von allem erhaltenen Filmmaterial zukommen. Ich werde dann mal nach oben gehen und den Angehörigen die traurige Mitteilung machen.«

»Ich begleite Sie«, sagte Hartwig etwas zu devot und beeilte sich, mit Max Pfeffer Schritt zu halten, als der durch den Büroflur Richtung Ausgang schritt.

»Danke, aber das schaffe ich schon alleine.«

»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.« Hartwig lächelte entschuldigend. Sie hatten die Fahrstühle erreicht. Hartwig zog eine kleine runde Plastikscheibe, die über eine dünne Kette an seinem Gürtel befestigt war, aus der Hosentasche. Er hielt die Plastikscheibe gegen einen Sensor. »Ohne den Chip können Sie den Fahrstuhl nicht bedienen.«

»Verstehe«, sagte Pfeffer.

»Nur Bewohner bekommen so einen Chip. Anders kommt man nicht in den Einstein-Tower.«

»Tiefgarage und Hintertür eingeschlossen?«

»Tiefgarage und Hintertüren eingeschlossen. Ohne Chip kommt niemand rein. Die Bewohner haben zusätzlich die Möglichkeit, neben dem Chip eine App auf dem Smartphone zu nutzen.«

»Und wer keinen Chip hat, muss am Haupteingang am Pförtner vorbei?«

»Richtig. Wobei wir den Begriff Concierge bevorzugen. Er kann dann den Lift für Lieferanten oder Besucher freigeben, nachdem er sie bei den Herrschaften angemeldet hat.«

Die Lifttür öffnete sich geräuschlos. Im Aufzug hielt Hartwig seinen Chip wieder gegen einen Sensor und drückte dann die Taste zum elften Stock. »Mit dem anderen Lift nebenan könnten wir gar nicht fahren«, erklärte er dabei. »Den können nur die Bewohner nutzen. Der führt direkt in die Wohnungen.«

»Verstehe«, sagte Pfeffer. »Daher gibt es auch keine Aufzeichnung von dem Zeitpunkt, an dem Zumboldt seine Wohnung verlassen hat. Er musste ja gar nicht in den Flur.«

05 »Hedy, hast du das Habsburg-Gilet gesehen?«, rief Alois Zumboldt quer durch die Wohnung. Er fischte sich noch ein Champagnertrüffel aus der Schachtel und schob ihn sich unter die Zunge. Er liebte es, die feine Schokolade langsam im Mund schmelzen zu lassen.

»Das rote oder das blaue?«, kam es aus dem Badezimmer zurück.

»Blau!«

»Wenn es nicht in deinem … ach, Moment, da hast du doch neulich ein Triangel reingerissen.« Hedwig Zumboldt kam zu ihrem Mann in dessen Ankleidezimmer. Ihre Absätze klackten auf dem geölten Eichenparkett. Sie trug ein knöchellanges nachtblaues Dirndl mit hellblauer Schürze und zupfte sich Lockenwickler aus den zu dunkel gefärbten Haaren. Das Mieder mit den Goldknöpfen gab ihrem umfangreichen Körper den Hauch einer Taille und hielt den üppigen Busen hoch. Ihr Blick fiel auf die offene Pralinenschachtel.

»Ach, Alois«, schimpfte sie. »Was soll denn das? Du weißt doch, was die kosten! Die sind außerdem für die Gäste!« Sie begann sofort, die Gästegeschenke zu kontrollieren.

»Hab dich nicht so.« Er schob sich noch einen Trüffel nach. »Die Packung ist eh angebrochen. Da kann ich sie gleich aufessen. Wir kaufen bei Elly Seidl einfach ein paar neue. Liegt quasi auf dem Weg. Was ist nun mit meinem Gilet«, sagte er ungeduldig. »Nicht das mit dem eingerissenen Triangel. Das ist aus grünem Samt. Ich mein das blaue von Habsburg.«