Wettlauf in der Nacht - Thomas Taylor - E-Book

Wettlauf in der Nacht E-Book

Thomas Taylor

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Beschreibung

Eddie, Adam und David leben in verschiedenen Jahrzehnten. Trotzdem laufen sie sich immer wieder über den Weg. Denn die Jugendlichen verbindet eine seltene Gabe. Während sie schlafen, können sie alle Grenzen überwinden und durch Raum und Zeit reisen. Dabei verfolgt jeder sein ganz eigenes Ziel. Eddie will alles über das Traumwandeln herausfinden. Adam versucht mit allen Mitteln den Lauf der Geschichte zu verändern. Und David muss seine Familie retten, bevor sie ausgelöscht wird.

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In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.Ein Chicken House-Buch im Carlsen Verlag © der deutschen Erstausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2014 © der englischen Originalausgabe by The Chicken House, 2 Palmer Street, Frome, Somerset, BA11 1DS, 2012 Text © Thomas Taylor, 2012 The author has asserted his moral rights. All rights reserved. Originaltitel: Haunters Umschlagbild: Shutterstock / Mikhail Bakunovich Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge, Vivien Heinz Aus dem Englischen von Stefanie Mierswa Lektorat: Christin Ullmann Layout und Herstellung: Tobias Hametner Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg ISBN 978-3-646-92505-0 Alle Bücher im Internet unterwww.chickenhouse.de

Für Penny und Tim

Die drei Regeln des Traumwandler-Kodex:

1. Zeig dich, aber fall nicht auf.

2. Sprich, aber verrate nichts.

3. Hinterlass keine Spuren.

00:01  Unschlaf

David kauerte auf dem Dach des Hauses seines besten Freundes, während die Flammen, die es verschlangen, in den Nachthimmel loderten. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hier hergekommen war, und hatte erst recht keinen Schimmer, warum er hier war. Doch als ein weiteres großes Stück Dach in einem Feuer- und Funkenschwall zusammenbrach, zählte eigentlich nur eine Frage: War Eddie noch im Haus?

Und leider gab es nur einen Weg, das herauszufinden.

David kletterte zum Schornstein hinauf und versuchte durch die heiße Luft und den Rauch etwas zu erkennen. Am anderen Ende des Daches klaffte ein riesiges Loch, aus dem hohe Flammen schlugen. Auf diesem Weg konnte er nicht ins Haus gelangen. Wie dann? Denk nach!

Während er in den grellen Feuerschein blinzelte, merkte er plötzlich, dass er nicht allein war. Eine schlanke Gestalt beobachtete ihn seelenruhig vom anderen Ende des Daches aus, obwohl sie von Flammen umzüngelt wurde.

»Eddie?«, brüllte David. »Eddie, bist du das?«

Dichte Rauchschwaden zogen vorbei und nahmen ihm die Sicht. Als sie wieder frei war, erkannte David in der Gestalt einen Jungen, der ungefähr in seinem Alter war. Nur war es nicht Eddie, sondern …

David starrte ungläubig hinüber. Er blickte auf sich selbst. Sogar die Kleidung war seine.

Er rieb sich die Augen – dies war ein schlechter Zeitpunkt, um sich Dinge einzubilden. Die Details veränderten sich plötzlich, als er wieder hinsah, sie verschwammen, als noch mehr Rauch vorüberzog, und die Gestalt entpuppte sich doch als ein Unbekannter – ein hochgewachsener, dunkelhaariger Junge, vielleicht knapp unter zwanzig.

»Wer bist du?«, schrie David. »Wo ist Eddie?«

Der Junge lachte und warf den Kopf nach hinten.

»Du kommst zu spät!«, sagte er triumphierend. »Falls du wegen Eddie hier bist, Davy-Schätzchen, kommst du viel zu spät.«

»Was meinst du damit?« David war nicht sicher, ob er ihn richtig verstanden hatte; das Feuer erschuf einen eigenen Wind, der ihm in den Ohren dröhnte. »Wer bist du?«

Aber der Junge lachte nur wieder. Dann drehte er sich um und sprang geradewegs vom Dach hinunter.

David rutschte zum Rand und sah nach unten. Der Garten vier Stockwerke tiefer war vom Feuerschein hell erleuchtet. Eigentlich hätte dort unten ein verrenkter, lebloser Körper liegen müssen – niemand konnte einen solchen Sturz überleben –, doch da war nichts. David blickte durch die Nacht zu den hinter dem Garten liegenden Häusern, entdeckte dort allerdings nur die Silhouette einer schwarzen Katze, die in der Ferne einen Dachfirst entlanglief. Erst in diesem Moment bemerkte er, dass Eddies Haus nicht das einzige war, das brannte.

Der Horizont war in allen Richtungen mit leuchtend gelben Flecken gesprenkelt, in denen sich die Schornsteine und Kirchtürme entlang der Londoner Skyline dunkel abzeichneten. Es sah aus, als stünde die ganze Stadt in Flammen.

Und der Lärm war fürchterlich. Über dem Tosen direkt um David herum ertönte ein Durcheinander aus Sirenen und krachenden Donnern. Er hörte sogar Geräusche, die wie das Dröhnen von Flugzeugen und das Tacken von Flugabwehrkanonen klangen, auch wenn das eigentlich unmöglich war.

Ein angrenzendes Gebäude fiel plötzlich zusammen und riss ihn aus seiner Starre. Vergiss das Sightseeing, vergiss den seltsamen Jungen – du musst Eddie finden. Über das Dach ging es nicht ins Haus, also … vielleicht durch ein Fenster?

Während David auf die Gaube zurutschte, die am weitesten vom Feuer entfernt war, erhaschte er einen flüchtigen, schwindelerregenden Blick auf die Straße tief unter sich, auf der er Feuerwehrmänner zu erkennen glaubte. Doch in der Eile konnte er nicht genauer hinsehen. Nach einer einzigen schwungvollen Bewegung fand er sich in einem Schlafzimmer im Dachgeschoss wieder. Leider gehörte es nicht Eddie.

»Eddie!«, brüllte David. »Eddie, wo bist du?«

Keine Antwort, nur das gleichmäßige Brausen des Feuers. Er musste tiefer ins Haus vordringen. Also lief er zum Treppenabsatz und blickte nach unten.

Die Treppe brannte. Ein großes Stück Putz war von der Decke gefallen und versperrte den Weg. Darüber stand alles in Flammen, aber der Treppenabsatz vor Eddies Zimmer schien noch intakt zu sein, soweit er das durch den grellen Feuerschein erkennen konnte. Und Eddies Tür war zu. Aber was hatte das zu bedeuten?

Weiter unten tobte ein einziges Flammenmeer. Das ganze Haus würde wahrscheinlich jeden Moment einstürzen.

»Eddie!«

Immer noch nichts.

David zögerte. Es war ein wahnsinniges Risiko, sich so weit ins Haus vorzuwagen. Sicher war Eddie bereits geflüchtet. Und wenn nicht, wenn er den Flammen zum Opfer gefallen war … Nein! Bei der Vorstellung, Eddie könnte tot sein, wurde David ganz übel. Aus irgendeinem Grund wusste er einfach, dass Eddie noch lebte, dass der Sinn und Zweck seiner Anwesenheit hier nur der war, Eddie zu retten, so seltsam das auch klingen mochte. Er blickte erneut nach unten und sah, dass das große Stück Deckenputz am Geländer lehnte. Darunter blieb eine geschützte Stelle frei, die gerade groß genug war, um hinunterzukriechen.

David fluchte. »Dafür hab ich bei dir echt was gut, Eddie«, sagte er und nahm allen Mut zusammen.

Mit einem Schrei duckte er sich unter den Putz und rutschte ins nächste Stockwerk hinunter. Es war heiß hier, heißer als alles, was er bisher erlebt hatte. Ohne nachzudenken, sprang er auf und rannte mit zusammengekniffenen Augen auf Eddies Zimmer zu, in dem verzweifelten Wunsch, nur sicher hineinzugelangen. Er vergaß sogar, dass die Tür zu war. Trotzdem kam er taumelnd im Zimmer hinter der noch immer geschlossenen Tür zum Stehen.

»Eddie!«

»David?«, krächzte es aus dem Dunkeln. »David, bist du das?«

David blinzelte. Er konnte kaum die Einzelheiten im Zimmer erkennen, nur das altmodische Messingbett wurde durch den Schein hinter dem Fenster erhellt. Im Zimmer brannte es noch nicht, aber die Hitze und die rauchige Luft waren so drückend, dass David verwundert war, dass er noch atmen konnte.

Auf dem Fußboden in der Nähe des Fensters bewegte sich etwas und David sah seinen Freund dort zusammengekauert sitzen. Er trug einen Mantel und umklammerte eine Art Schultasche.

»Eddie! Warum bist du noch hier? Und wer war das auf dem Dach? Nein, erzähl’s mir später – wir müssen raus hier, und zwar schnell! Das Haus kann jeden Moment einstürzen.«

Als Antwort hob Eddie ein abgegriffenes Schulheft hoch. Obwohl es so dunkel war, erkannte David neben wildem, teilweise wieder durchgestrichenem Gekritzel die quer über die Seite geschriebenen Worte Kann nicht raus. Dann brach Eddie in ein lang anhaltendes, ersticktes Husten aus.

»Ich schlag das Fenster ein. Du brauchst Luft«, sagte David, doch Eddie wedelte plötzlich aufgeregt mit dem Heft.

Nicht das Fenster einschlagen – Sauerstoff nährt Feuer!

»Eddie, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt zum Schreiben!« David schüttelte ungläubig den Kopf, obwohl er wusste, dass Eddie mit dem Sauerstoff Recht hatte. In solchen Dingen hatte Eddie immer Recht. »Steh auf! Es gibt einen sicheren Weg aufs Dach, aber bestimmt nicht mehr lange.«

»Ja, aber, David, du bist …«

Eddie bekam einen weiteren trockenen Hustenanfall, während er mühsam aufstand. Es schien ihm wirklich schlecht zu gehen. David verstand es nicht – warum war Eddie nur in einem so üblen Zustand, während bei ihm selbst alles mehr oder weniger in Ordnung war? Einen Moment lang kam es ihm vor, als gäbe es da etwas, das ihm auffallen müsste – dieses Gefühl hatte er oft in Eddies Gegenwart, aber es war wieder verschwunden, bevor er wirklich darüber nachdenken konnte. Außerdem atmete Eddie schon viel länger den Rauch ein. Kein Wunder, dass er kaum noch sprechen konnte. David lief zur Tür und Eddie taumelte ihm hinterher.

»David …«, sagte Eddie und versuchte auf etwas anderes zu zeigen, das er geschrieben hatte, aber David unterbrach ihn.

»Später. Wenn wir die Tür hier öffnen, kommt das Feuer ins Zimmer, okay? Duck dich und folge mir, aber mach schnell!«

David umfasste den Türknauf.

Er ließ sich nicht drehen.

Seine Finger rutschten immer wieder ab und bekamen keinen Halt. Aber war er nicht gerade hier hereingekommen? Fluchend ließ er den Knauf los und bevor er es noch einmal versuchen konnte, hatte Eddie seine schwache Hand ausgestreckt und die Tür geöffnet.

»Das liegt daran, dass du …«, begann Eddie, verstummte jedoch, als ein Hitzeschwall hereinschoss und ihn vor Schmerz aufschreien ließ.

»Da lang!«, brüllte David durch das Tosen und zeigte auf die Lücke unter dem heruntergefallenen Putz. »Los!«

Eddie schrie erneut auf, machte einen Satz nach vorn und krabbelte in einem hektischen Durcheinander aus Armen und Beinen die Treppe hinauf. David folgte dicht hinter ihm.

Plötzlich gab das Haus ein lautes Ächzen von sich und ein großes Deckenstück krachte hinter ihnen in den Treppenschacht. Schluchzend vor Schmerzen zog Eddie sich auf den obersten Absatz. Seine Haare und sein Mantel glommen und seine Brille war gesprungen und mit Blut und Ruß beschmiert. Sein Schulheft hielt er noch immer fest eingerollt in einer Hand.

»Da rein!«, rief David und zeigte auf das Schlafzimmer im Dachgeschoss.

Das Haus knarzte wieder und sackte ab, als die unteren Wände zu zerfallen anfingen. Oben im Dachzimmer sank Eddie erneut zusammen. Das Fenster war fest verschlossen.

»Aber ich bin doch gerade hier reingekommen!«, schrie David. »Wie kann es verschlossen sein?« Er umfasste den Griff, doch ebenso wie den Türknauf unten konnte er ihn nicht bewegen.

»Hör doch auf, mir was vorzumachen!«, brüllte Eddie verzweifelt. »Ich weiß, dass du genau das hier wolltest. Du spielst mit mir … Du wartest darauf, mich sterben zu sehen.«

»Was?«

»Ich hasse dich!«, schrie Eddie. »Du hast mich umgebracht!«

»Aber …« Jetzt brüllte David selbst. »Ich versuche dir gerade das Leben zu retten, du Idiot! Uns beiden.«

»Du wusstest genau, dass das hier passiert … irgendwie. Du hast mich hierher zurückgeholt, damit ich in den Flammen umkomme!« Eddie rappelte sich wütend vom Boden auf und wedelte mit dem zerdrückten Schulheft in der Faust. »Ich dachte, ich könnte dir trauen. Aber Kat hat mich gewarnt – sie wusste es. Sie hat gesagt, du würdest irgendwann versuchen wollen, aus mir das zu machen, was du bist. Warum hab ich nicht auf sie gehört? Du bist ein … ein Ungeheuer …« Dann wurde er von einem weiteren Hustenanfall unterbrochen.

»Hör auf, Eddie! Sieh dich um – das Fenster … Wir müssen jetzt hier raus.«

Doch als Antwort hob Eddie nur einen schmalen, schwelenden Holzbalken auf, der von der Decke gefallen war.

»Geh weg von mir!«

David war sprachlos, als Eddie die grobe Waffe in seine Richtung schwang. Benommen fiel er nach hinten und hörte, wie die Fensterscheibe zersprang.

Mit einem gewaltigen Hitzestoß wallte das Feuer ins Zimmer.

Eddie stürzte auf das Fenster zu. Ohne auf die Scherben zu achten, hielt er sich am Fensterbrett fest und zog sich nach draußen. Während David sich aufrappelte, drehte Eddie sich im Fenster um und sah ihm direkt in die Augen.

»Ich hasse dich! Ich will dich nie wiedersehen!«

Dann war er weg.

David blieb entgeistert stehen. Wovon zum Teufel redete Eddie eigentlich?

Dann kam ein schreckliches Geräusch von der Treppe hinter ihm – das Geräusch von tonnenschwerem Mauerwerk, das sich bewegte.

David stand noch immer da und bemerkte kaum, dass sich die Fußbodendielen unter ihm schnell auflösten. Die Flammen aus dem Zimmer darunter leckten zwischen ihnen herauf und tauchten den Raum in Feuerschein. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, während das Ächzen der Wände immer lauter wurde.

Er musste nach draußen. Er versuchte zu rennen, aber seine Beine waren schwer wie Blei.

Das Haus erzitterte und der Boden gab vollständig nach. David konnte gerade noch aufschreien, als er in das tosende Herz des Feuers gezogen wurde.

00:02  Das Schlimmste sind die Kopfschmerzen

David fuhr mit einem Aufschrei hoch und warf die verschwitzte Bettdecke zurück. Sein Herzschlag raste. Schon wieder dieser Traum. Nur – nein, es war nicht genau der gleiche Traum. Ein stechender Schmerz schoss ihm durch die Schläfen und er stöhnte laut auf. Er warf einen Blick auf sein Handy, das auf dem Nachttisch lag. Es war 5.02 Uhr morgens.

»Na, super!« Keine Chance, jetzt noch mal einzuschlafen.

David schwang die Füße auf den Boden und massierte sich die Schläfen. Er hatte einen Albtraum gehabt. So einen hatte er schon ewig nicht mehr, nicht seit … jedenfalls schon ewig nicht. Aber hatte es etwas zu bedeuten, dass sein Eddie-Traum darin vorgekommen war? Albträume bekam man, wenn man zu viel Käse aß, oder? David mochte gar keinen Käse.

»Darauf hätte ich gut verzichten können, Eddie.«

David stand auf und in seinem Kopf pochte es wieder. Ein Albtraum und dann auch noch Kopfschmerzen. Schöner Start in den Tag. In seinem Zimmer war es kalt – die Heizung war noch nicht an –, also schnappte er sich eine Decke, wickelte sich darin ein und trat auf den dunklen Flur hinaus. Dort blieb er stehen und lauschte. Hatte er wirklich laut geschrien? Hatte ihn jemand gehört?

Ein Klicken kam von der Tür auf der anderen Seite des Flurs. David sah Dutzende von Aufklebern im trüben Schein der Straßenlaternen glitzern, als sich die Tür seiner kleinen Schwester einen Spaltbreit öffnete.

»Was machst du da?«

»Nichts, Phil – ich geh nur pinkeln. Schlaf weiter.«

Philippa lugte verstohlen hinter der Tür hervor, als spräche sie mit einem Freund, der sich jeden Moment in einen Feind verwandeln konnte. Sie bewachte ihr Zimmer wie eine Festung.

»Sie merkt es, wenn du in der Küche warst«, sagte sie.

»Ich gehe nicht in die Küche. Leg dich wieder hin!«

Philippas Tür schloss sich.

David wartete einen Moment und hörte das riesige Federbett seiner Schwester leise rascheln, dann nichts mehr. Allem Anschein nach hatte seine Mum nichts mitbekommen. Immerhin etwas, dachte er, während er zur Küche hinunterschlich.

Der Fußboden war eiskalt. David goss sich ein Glas Orangensaft ein, setzte sich auf einen Barhocker und zog die nackten Füße unter die Decke. Eines der zerlesenen alten Bücher seiner Mutter lag auf der Theke, aber er schob es gleichgültig beiseite. So blieb er eine Ewigkeit sitzen und versuchte, nicht auf die Uhr zu sehen.    

David träumte seit weit über einem Jahr von Eddie, aber so etwas war noch nie passiert. Es war seltsam. Nein, seltsam war, dass er diese bizarren Träume überhaupt hatte. David glaubte nicht daran, dass Träume irgendetwas zu bedeuten hatten, aber manchmal gaben sie ihm doch zu denken. Normal war es mit Sicherheit nicht, jemand völlig Fremdem in einem Traum zu begegnen und ihn dann fast jede Nacht wiederzutreffen, bis man irgendwann das Gefühl hatte, dass er ein enger Freund geworden war. Gut, manche Kinder hatten vielleicht imaginäre Freunde, aber David war gerade vierzehn geworden und für so etwas auf jeden Fall zu alt.

Nein, es war nur ein Traum und jetzt hatte er sich in einen Albtraum verwandelt. Und wer war der andere Junge, der so gehässig gelacht und sich dann anscheinend in Luft aufgelöst hatte? Alles war diesmal anders gewesen. Vielleicht bedeutete das, dass der Traum jetzt endgültig vorbei war. David hoffte es, bis ihm einfiel, dass er Eddie dann nie wiedersehen würde. Jetzt wusste er nicht mehr, was er denken sollte.

»Blöder Traum«, murmelte er und nippte an dem kalten Saft in seinem Glas. Die Kopfschmerzen waren immer noch schlimm, schienen aber besser zu werden. »Blöder Eddie.«

»Dachte ich’s mir doch«, zischte es plötzlich von der Küchentür und Philippa kam herein. Sie hatte ihren lila Morgenmantel an und einen nervigen, selbstgefälligen Gesichtsausdruck. »Gib mir auch was.«

»Was denn?«

»Kuchen.«

»Ich esse doch gar nichts, Phil. Ich kann bloß nicht schlafen, das ist alles. Geh wieder ins Bett.«

»Wegen Dad?«, fragte Philippa. Sie sprang auf den Hocker neben David und sah ihren Bruder forschend an. Meistens verunsicherten ihn diese Blicke – seine Schwester schien stets mehr über sein Gefühlsleben zu wissen, als ihm lieb war.

»Nein. Es hat nichts mit Dad zu tun«, entgegnete David. »Ich hab nur schlecht geträumt.«

»War es wieder der Traum?«, hakte Philippa nach. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Das hat total viel mit Dad zu tun. Du hattest ihn das erste Mal, als Dad gestorben ist.«

David seufzte. Warum hatte er Philippa bloß von Eddie erzählt? Sie merkte sich selbst das kleinste Detail und hatte ständig neue Theorien über ihn. Und sie gehörte zu den Menschen, die glaubten, dass Träume voller Symbole und verborgener Bedeutungen waren.

»War er denn diesmal anders?«, fragte Philippa und sprang vom Hocker, um sich die Kuchendose zu holen. Jetzt war klar, dass sie auf keinen Fall wieder ins Bett gehen würde.

»Lass es doch einfach, Phizzy. Ich möchte nicht darüber reden. Okay?«

»Er war auch mein Vater«, entgegnete Philippa und fuhr mit einem Esslöffel in den ungeschnittenen Kuchen. »Wenn du etwas über ihn erfährst, will ich es auch wissen.«

»Was meinst du damit, wenn ich etwas über ihn erfahre? Fang nicht schon wieder damit an.«

»Träume können uns etwas über unsere wahren Gefühle verraten, David. Du hast nicht genug geweint, als Dad gestorben ist, deshalb sucht sich die Trauer einen anderen Weg nach draußen. Das ist doch offensichtlich«, sagte Philippa und besprühte ihren Bruder bei dem letzten Wort mit Krümeln.

David musste einfach lächeln. Phizzy war der nervigste Mensch auf dem ganzen Planeten, aber sie war auch seine kleine Schwester. Laut, ja, und sie roch immer nach Zucker, aber wenn sie so mit ihm redete, fand er es gar nicht so schlimm, wie er vorgab. Außerdem war sie die engste Verbindung zu seinem Vater, die ihm geblieben war. Zu ihrem gemeinsamen Vater.

»Du hast doch niemandem von meinem Traum erzählt, oder, Phil? In der Schule werden nämlich wieder Sachen herumgetratscht. Über mich.«

»David, ich werde nie jemandem davon erzählen. Im Leben nicht!«, versicherte ihm Philippa so überzeugend, dass er ihr einfach glauben musste. Sie sah ihn mit großen, unschuldigen Augen an. »Er ist etwas Besonderes, viel zu besonders, um erzählt zu werden. Er ist unser Geheimnis. Ich meine, ein echtes Geheimnis. Eddie ist dein Traumfreund.«

David zuckte zusammen. Er hatte es sich mit dem Kuchen beinahe anders überlegt, aber als er Eddies Namen laut ausgesprochen hörte und dann auch noch auf solch kindische Weise, war ihm das Ganze nur unendlich peinlich.

»Sprich einfach nicht drüber, ja? Erzähl bloß niemandem davon.«

»Mach ich nicht«, versprach sie. »Nicht mal Mum.«

»Vor allem nicht Mum!«

»Obwohl sie es verstehen würde, Davy«, sagte Philippa und untersuchte ihren klebrigen Löffel. »Sie würde es gern hören, dass sich noch was tut wegen Dad. Vielleicht wäre sie glücklicher, wenn …«

»Glücklicher?« David musste fast lachen. »Wenn du ihr nur ein Sterbenswörtchen davon erzählst, fängt bei ihr alles wieder von vorn an.«

Philippa sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und hielt den Löffel fest im Mund.

»Immerhin hat Mum ihre Gefühle gezeigt«, murmelte sie, »anders als mein bescheuerter, supercooler Bruder.«

»Behalt’s einfach für dich, okay?«, fuhr David sie an.

»Aber warum soll ich es ihr nicht erzählen?«, fragte Philippa und schwenkte den Löffel. »Du bist hier nicht der Einzige, der Dad vermisst, weißt du.«

David knallte den Deckel auf die Kuchendose.

»Du hast noch zwei Stunden Zeit bis zum Aufstehen, Phil. Warum nimmst du den Kuchen nicht einfach mit ins Bett und liest eins von deinen blöden Büchern?«

Zu seiner Überraschung schien Philippa die Idee zu gefallen.

»Wenn Mum die leere Kuchendose findet, kann ich immer noch alles auf dich schieben«, antwortete sie und sprang vom Hocker. Dann nahm sie Davids Glas und trank den Saft in einem Zug aus.

»Gute Nacht«, sagte sie. »Oder besser: guten Morgen.«

»Wenn du meinst.«

David sah zu, wie seine Schwester durch die noch dunkle Küche zur Tür ging. Unter einen Arm hatte sie einen Teddybär geklemmt. David erkannte ihn. Sein Vater hatte ihm den Bären mal geschenkt, aber das war schon ziemlich lange her. Wie er erwartet hatte, drehte sich Philippa an der Tür noch mal um, um das letzte Wort zu haben.

»Davy?«

»Was?«, sagte David mit müder Stimme.

»Wegen dieser komischen Träume, die du immer hast. Hast du mal probiert, Eddie danach zu fragen?«

»Ach, verzieh dich, Phizzy!«

*

Fünf Minuten später schlich David in sein Zimmer zurück und zog sich an. Es hatte keinen Sinn, bis zur Schule im Haus herumzuhängen, also beschloss er ein bisschen mit dem Fahrrad herumzustreifen, um den schmerzenden Kopf freizupusten. Zu dieser frühen Stunde würde auf den Straßen noch nicht viel los und die Luft frisch sein.

Eigentlich durfte er nicht allein im Dunkeln raus, aber er hatte keine Lust, sich noch länger solche Vorschriften machen zu lassen, vor allem da es seine Mutter zurzeit sowieso nicht mitbekommen würde. Und zählte man mit vierzehn nicht schon als Jugendlicher? Aber sein Handy nahm er lieber mit. Nur für den Fall, dass Mum früher aufstand als erwartet.

Draußen war es eiskalt und graublau und der Tag hatte im Osten gerade erst zu dämmern begonnen – ein typischer Herbstmorgen in den Londoner Vororten. Es waren nicht viele Leute unterwegs und diejenigen, die David sah, waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, stiegen in Autos oder gingen zu Fuß, um einen Zug zu erwischen. David achtete nicht groß auf sie, als er mit dem Fahrrad aus der Einfahrt schoss und die Straße hinunterraste.

Phil und ihre dämlichen Theorien! Sie hielt Eddie tatsächlich für eine Art Traumsymbol ihres Vaters, obwohl ihr Vater ein gesunder Soldat namens Richard und kein kränklicher, brilletragender Junge namens Eddie gewesen war. Außerdem hatte Dad helles, fast blondes Haar gehabt, während Eddies genau wie Davids dunkelbraun war. Wenn Eddie überhaupt jemandem ähnlich sah, dann David selbst. Aber es war nicht so, als würde er in einen Spiegel sehen. David war zwar schlank wie Eddie, aber auch drahtig und stark. Eddie zog sich außerdem ziemlich altmodisch an, was ihm in der Schule sicher jede Menge Schwierigkeiten einbrachte. Nur, dass Eddie gar nicht zur Schule zu gehen schien. Und dann immer dieses Schreiben …

David hielt mit quietschenden Bremsen an. Er tat es schon wieder – über Eddie nachdenken, als wäre er real. Aber Eddie gab es in Wirklichkeit gar nicht, er war nur eine Gestalt aus einem Traum, ein erfundener Junge. Zugegeben, die Träume wirkten ziemlich lebensecht, und wenn David sie hatte, war ihm nie klar, dass er nur träumte. Aber hier und jetzt, hellwach und mitten auf der Straße, auf der gleich der Berufsverkehr einsetzen würde, ermahnte David sich wieder einmal selbst sich zusammenzureißen.

Er kickte die Pedale nach oben und raste weiter. Ein Lieferwagen scherte hinter ihm aus. Eine Weile trat David kräftig in die Pedale und seine Kopfschmerzen verschwanden allmählich ganz. Dann merkte er, dass der Lieferwagen langsam hinter ihm herfuhr, obwohl er reichlich Platz zum Überholen hatte. Er drehte sich um.

Sofort beschleunigte der Wagen. Die Fenster waren verdunkelt, aber wer immer drinnen saß, würde ihn gut erkennen können, während der Wagen an ihm vorbeirollte. Dann bog er links ab und war nicht mehr zu sehen. David radelte weiter, doch als er selbst um die Ecke bog, stellte er fest, dass der Lieferwagen wieder nur Schrittgeschwindigkeit fuhr, so als wartete er auf ihn. Also änderte David die Richtung. Er ratterte eine Betontreppe hinunter, wich den Mülltonnen in einer Seitengasse aus, umfuhr im Slalom ein paar Poller und kam dann wieder auf einer Straße heraus. Kurz darauf sprang er auch schon auf den Bürgersteig in seiner eigenen Straße.

Und der Lieferwagen parkte genau vor seinem Haus.

David fuhr den überdachten Durchgang zum Garten entlang und warf das Fahrrad in den Schuppen. Als er ins Haus ging, fummelte er zitternd an den Schlüsseln herum. Blöder Eddie! Blöder Traum! Jetzt wurde er auch noch paranoid.

Drinnen ließ er sich in einen Sessel fallen, saß nervös den Rest der Zeit bis zur Schule ab und versuchte sich auf den Fernseher zu konzentrieren.

00:03Das Mädchen in der Gasse

Auf dem Weg zur Schule hielt David argwöhnisch nach dem Lieferwagen mit den getönten Scheiben Ausschau. Er konnte ihn nirgendwo entdecken, wurde aber zugleich das Gefühl nicht los, dass er beobachtet wurde. Damit Philippa ihn begleiten konnte, radelte er extra langsam. Er hatte schon befürchtet, dass sie wieder über Eddie reden wollte, doch stattdessen sah sie ihn nur wissend an, wann immer sich ihre Blicke trafen. Er war erleichtert, als sie sich am Fahrradunterstand trennten und Philippa zu ihren Freundinnen hinüberlief. Die Glückliche, dachte David, während er allein das Schulgebäude betrat.

In der ersten Stunde hatte er Physik, was ihm fast wieder Kopfschmerzen bescherte. Der Lehrer leierte seinen Stoff vor der Klasse herunter und zeigte dabei auf ein Schaubild, in dem irgendetwas mit Raum und Zeit dargestellt war, während David Mühe hatte, die Augen offen zu halten.

»Hast wohl nicht genug Schlaf bekommen?«, fragte eine leise Stimme hinter ihm. David beachtete sie nicht.

»Hast dir ein paar neue Geschichten über deinen Dad ausgedacht, was?«, sagte jemand anders.

David versteifte sich.

»Was war er noch beim letzten Mal?«, flüsterte die erste Stimme weiter. »Soldat? Oder Astronaut?«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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