Where Sleeping Girls Lie - Faridah Àbíké-Íyímídé - E-Book

Where Sleeping Girls Lie E-Book

Faridah Àbíké-Íyímídé

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  • Herausgeber: Lago
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Das Unglück war ein ständiger Begleiter im Leben von Sade Hussein, weswegen sie mit ihrem Übertritt auf die renommierte Alfred Nobel Academy auf einen Neuanfang hofft. Doch auch hier scheint ihr die Dunkelheit zu folgen. Schon in ihrer ersten Nacht verschwindet ihre Mitbewohnerin Elizabeth spurlos. Während der Campus vor Gerüchten und Anschuldigungen brodelt, gerät Sade in den Fokus der berüchtigten Mädchen-Gruppe, die als »Unholy Trinity« bekannt ist. Als dann auch noch eine Schülerin tot aufgefunden wird, stürzt Sade sich mit Elizabeth' bestem Freund Baz in die Untersuchung der Vorfälle. Während sie immer tiefer graben, stoßen sie auf Wahrheiten, die vielleicht besser im Verborgenen geblieben wären, und Sade muss sich den finsteren Realitäten einer Schule stellen, in der nichts so ist, wie es scheint. Der packende New-York-Times-Bestseller für alle Fans von Dark Academia mit Geheimnissen, Lügen und unerwarteten Wendungen!

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Seitenzahl: 696

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Where Sleeping Girls Lie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2025

© 2025 by Lago Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Die englische Originalausgabe erschien 2024 bei Usborne Publishing Ltd unter dem Titel Where Sleeping Girls Lie.

© 2024 by Faridah Àbíké-Íyímídé. All rights reserved.

Published by Arrangement with Faridah Àbíké-Íyímídé Ayoola.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Tanja Ohlsen

Redaktion: Tanja Schröder

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: Elizabeth Clark

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95761-249-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-382-9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für meine Schwestern:

Maliha und Tamera

Liebe*r Leser*in,

WHERE SLEEPING GIRLS LIE handelt von vielen Dingen. Es geht um die Notwendigkeit einer Gemeinschaft und die Bedeutung platonischer Beziehungen. Es geht um die Geister, die uns heimsuchen, und die wir zurückheimsuchen. Es geht um die vielen legitimen Wege, wie wir auf schmerzhafte Erlebnisse reagieren.

Vor allem aber geht es in diesem Buch um das Überleben. Wie du vielleicht bemerkt hast, gibt es eine beträchtliche Lücke zwischen der Veröffentlichung von Ace of Spades – Pik Ass und diesem zweiten Buch. Es hat mich viele Jahre gekostet, diese Geschichte so zu schreiben, dass ich der Erzählung, den Charakteren und den Leser*innen, die sich in dieser Geschichte vielleicht wiederfinden, gerecht werde. (Außerdem sind zweite Bücher einfach verdammt schwierig.)

Wenn ich gefragt werde, ob ich mich selbst in meine Geschichten schreibe, antworte ich immer, dass ich das nicht tue, weil ich mehr Beobachterin bin als Memoiristin. Allerdings ist Where Sleeping Girls Lie definitiv eine meiner persönlichsten Geschichten bisher. Auch wenn ich mich nicht genau in einen der Charaktere eingefügt habe, gibt es doch Erfahrungen und Gefühle darin, zu denen ich leider eine tiefe Verbindung spüre. Ich wollte in diesem Buch eine Hauptfigur zeigen, die trotz vergangener Traumata ein erfülltes Leben führt, so wie ich es auch versuche. Aus diesem Grund ist WSGL nicht nur eine Art Geschichte: Es ist zum Teil ein Spannungs- und Mysteryroman, zum Teil eine zeitgenössische Coming-of-Age-Romance und zugleich eine Antiheld*innen-Reise.

Wenn ich Geschichten schreibe, schreibe ich immer mit einem bestimmten Gefühl, für bestimmte Menschen. Mit Ace of Spades – Pik-Ass schrieb ich in erster Linie für junge, queere, Schwarze Menschen, die PWIs (Primarily White Institutions) besuchen und unter der Last des weißen Suprematismus unterzugehen drohen, unsichtbar und ungehört. Mit Where Sleeping Girls Lie schreibe ich für junge Mädchen, die so viel Wut in sich tragen und verzweifelt jemanden oder etwas brauchen, das ihnen sagt, dass ihre Wut wichtig ist und dass es durchaus möglich ist, von tiefen Wunden zu heilen. Während ich dieses Buch schrieb, dachte ich immer wieder an Oluwatoyin Salau und Frauen wie sie, die so viel mehr verdienen, als die Welt ihnen gibt. Where Sleeping Girls Lie ist mein Versuch, nicht nur einige meiner eigenen Wunden zu heilen, sondern auch anderen dabei zu helfen, Wege zur Heilung zu finden.

Ich wünsche mir, dass dieses Buch so vieles ist, aber natürlich ist das, was ich will, weniger wichtig als das, was dieses Buch dir bedeuten könnte. Ich bitte dich daher, beim Lesen wie immer gut auf dich zu achten, und hoffe, dass dir die Figuren und die Geschichte genauso viel Freude bereiten, wie sie mir beim Schreiben bereitet haben.

Mit Liebe, Faridah

»Wenn er Mr. Hyde ist«, dachte er, »dann bin ich Mr. Seek.«

Dr. Jekyll an Mr. Hyde, Robert Louis Stevenson

»Keine Stunde ist je eine Ewigkeit, aber sie hat das Recht, zu weinen.«

Their Eyes Were Watching God, Zora Neale Hurston

Die Welt war still, als sie unterging.

Das Gewicht der Sterne, des Universums und ihres Geistes war wie ein Anker, der sie dem Vergessen immer näherbrachte.

Als ihre Lungen zu brennen begannen, wurde ihr schwarz vor Augen.

Ihr Herzschlag verlangsamte sich.

Ihre letzten Gedanken verweilten im komplizierten Netz aus Adern und leerem, leerem Raum.

Und dann flüsterte sie die Worte, die sie später auf dem Zettel lesen würden, den sie hinterlassen hatte.

»Es tut mir leid.«

Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid …

Teil I

Das Grab der Träume

–1

Zieh eine Karte

Am Abend, als es passierte, gab es eine Party.

Partys waren bei den Studenten der Alfred Nobel Academy zwar nicht unüblich, aber diese hier schon.

An jedem ersten Wochenende im Monat gab es eine geheime Soiree außerhalb des Campus in einem Haus, das einer der Senior Hawking Jungs vermietete. Dort geschah stets etwas, über das geredet wurde. Entweder trank ein Drittklässler so viel, dass er öffentlich mit dem Ex-Freund herummachte, oder jemand aus der vierten Klasse war so betrunken, dass er oder sie vergaß, wo man war, und sich am Pool vor allen anderen entblößte.

Am Montag waren die Taten vom Wochenende dann das heiße Thema am gesamten Internat und in gedämpftem Wispern sprach man in den Gängen, Klassenzimmern und Schlafräumen von den wenigen Glücklichen.

Was diesen Abend besonders seltsam machte, war, was passierte, wo keine wachsamen Blicke oder Kameras anwesend waren – so weit sie wusste –, die Folgendes dokumentieren konnten:

Ein Mädchen, das von einem Balkon herunterkletterte. Mit zitternden Fingern hielt sie sich am Geländer der Wendeltreppe fest. Die Nacht verschluckte ihre Schreie, als sie auf das Auto zustolperte, das auf sie wartete.

Sie wagte es nicht, zurückzublicken.

Denn zurückzublicken hieße, einzugestehen, was geschehen war.

Was sie getan hatte.

Der graue Wagen stand in einer dunklen Ecke am Weg, der zum Haus führte, und verschmolz mit den Schatten, sodass er nur für die sichtbar war, die wussten, wo sie danach suchen mussten.

Das Klicken der Autotür hallte laut, als sie auf dem Beifahrersitz einstieg und die Tür schnell schloss, bevor sie jemand sah.

Auf dem Fahrersitz saß ein weiteres Mädchen, deren dunkles Gesicht besorgt dreinblickte. Ihr kurzes blondes Haar war in sanften Wellen frisiert und fiel weich über ihren Kopf. Durch den Tränenschleier wogten die Wellen noch mehr.

»Hast du das …« Das blonde Mädchen hielt inne, als sie die tränenüberströmten Wangen ihrer Freundin sah, und beendete stattdessen: »Was ist passiert?«

Das Mädchen wich ihrem Blick aus und wischte sich schweigend über das Gesicht.

»Sade?«, flüsterte das blonde Mädchen sanft.

Schließlich sah Sade sie an und blickte ihr in die Augen.

»E-er ist tot.«

0

5 Wochen zuvor Montag

Die Neue

Sade Hussein war es gewohnt, angelogen zu werden.

Als sie sieben war, sagte man ihr, die Frau, die sie am frühen Morgen aus dem Zimmer ihres Vaters schleichen sah, sei die Zahnfee und auf keinen Fall ihre Nanny. Als sie zehn war und ihre Mutter zusammengesackt in der Badewanne gefunden hatte, reglos und mit einer Pillendose am Wannenrand, sagte man ihr, dass ihre Mutter einen sehr langen Mittagsschlaf machte und bald aufwachen würde. Mit 14 hatte sie ihren Vater gebeten, auf eine normale Schule gehen zu dürfen, wo sie Freunde in ihrem Alter finden könnte, anstatt dass ihr einziger Freund ihr Mathelehrer war, der sie gelegentlich im Unterricht schlafen ließ. Ihr Vater behauptete, die High School sei nicht, was sie schien. Dass sie weit entfernt war von der Magie, die ihr die Kinofilme vermittelt hatten.

Doch als die schwarze Limousine durch die Tore der Alfred Nobel Academy fuhr und das große, schlossartige Internatsgebäude in Sicht kam, konnten weder der Regen noch die Warnungen ihres Vaters ihre freudige Aufregung dämpfen.

Die Schule sah aus wie ein Palast.

Die Ziegelmauern, die verspielten Türmchen und die scheinbar endlosen Grünanlagen hatten ihre volle Aufmerksamkeit. Selbst der Fahrer machte große Augen, als er das riesige Gebäude sah.

Als es ans Fenster klopfte und ein Mann in einer Wachuniform sich zu ihnen neigte, wurden sie beide aus ihrer Trance gerissen.

Sade ließ das Fenster herunter.

»Name und Zweck Ihres Besuches?«, fragte der Sicherheitsbeamte.

»Sade Hussein, Schülerin«, sagte sie und fügte schnell hinzu: »Es ist mein erster Tag hier.«

Er nickte und sprach dann etwas in sein Funkgerät. »Gut. Sie können weiterfahren. Am Eingang wird jemand auf Sie warten.«

»Vielen Dank«, antwortete sie.

Der Wagen setzte seinen Weg fort und Sade versuchte, sich weiter auf dem Schulgelände umzusehen.

Perfekt gestutzte Rosenbüsche, gleichmäßig gemähtes Gras und Wildkirschenbäume. In der Ferne sah sie Reihen von schönen Gebäuden, alten und neuen.

»Ich glaube, weiter geht es nicht«, meinte der Fahrer, als der Wagen vor dem Hauptgebäude hielt.

»Was macht das?«, fragte sie.

Der Fahrer sah sie durch den Rückspiegel an. »Das ist bereits bezahlt – von Ihrem Vater«, erklärte er. Das letzte stieß er schnell und gedämpft hervor, als könne allein der Gedanke an ihn die Toten erwecken.

Es war seltsam, dass ihr Vater selbst vom Grabe aus noch diese Wirkung auf die Menschen hatte.

Es schien, als glaubten die Leute nicht wirklich, dass er tot war.

Der große Akin Hussein, dem sein eigenes Herz zum Verhängnis geworden war. Es schien nicht real.

Sie machte den Leuten keinen Vorwurf, selbst sie konnte seine Präsenz noch spüren. Er wachte über jeden ihrer Schritte, wie immer.

Aber sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass er tot sein musste.

Schließlich wäre sie nicht hier, wenn sein Herz noch schlüge.

Sade lächelte den Fahrer angespannt an und suchte in ihrer Tasche nach ein paar Münzen. »Hier«, sagte sie und reichte ihm zwei druckfrische 50-Pfund-Scheine.

Er wollte protestieren.

»Ich würde mich besser fühlen, wenn Sie das nehmen.«

Der Fahrer zögerte, bevor er das Geld annahm.

»Danke«, sagte sie und stieg aus dem Auto, wobei sie aufpasste, sich nicht das störrische Material ihres roten Tweeds von Oscar de la Renta zu zerknittern.

Als der Fahrer ihre Koffer auslud, öffnete sich die Haupteingangstür der Schule und eine große, magere Frau mit einem hohen Dutt, einem Bleistiftrock und ernstem Gesicht trat heraus.

»Sade Hussein?«, rief die Frau scharf, als sie auf das Auto zukam. Sie sprach sowohl Vor- als auch Nachnamen falsch aus: SADIE HOO-SEN statt Shah-day Hoosayn.

Sade bemerkte, dass die Frau ihre Kleidung missbilligend betrachtete und beim Anblick ihrer Schuhe das Gesicht verzog.

»Sade Hussein«, korrigierte sie sie und bemerkte zu spät, dass das wohl ein Fehler war. Jahrelanger Konsum von Fernsehserien und Büchern über die Highschool hatten ihr beigebracht, dass es Lehrer selten schätzten, korrigiert zu werden. Im Gegensatz zu ihren Tutoren, die sich immer freuten, wenn sie ihren Verstand einsetzte, wirkte diese Frau nicht begeistert.

»Sie sind spät«, stellte sie fest.

»Tut mir leid. Es war viel Verkehr unterwegs …«

»Vier Wochen zu spät«, unterbrach sie die Frau.

Obwohl die Gründe für diese Verspätung Sade fast ein Loch in den Kopf brannten und auf ihren Schultern lasteten, sagte sie nichts dazu. Sie hatte nicht das Gefühl, als würde die Frau Wert auf ihre Entschuldigungen legen, egal, ob gerechtfertigt oder nicht.

»Es gibt Regeln, Miss Hussein, an die sich hier jeder Schüler zu halten hat. Ich weiß nicht, wie es an Ihrer letzten Schule war, aber hier tolerieren wir weder Unpünktlichkeit noch das Auftauchen an Ihrem ersten Tag in der Schule ohne Uniform. Bitte sorgen Sie dafür, dass Sie zukünftig nicht mehr … im Verkehr stecken bleiben«, sagte die Frau und die Adern an ihrem Hals schwollen an. »Ihre Eltern sollten alle Dokumente erhalten haben und sie Ihnen weitergegeben haben … dennoch ist Ihr Formular nicht vollständig ausgefüllt. Wir werden uns heute um all das kümmern müssen und Sie werden höchstwahrscheinlich einige Unterrichtsstunden versäumen und noch weiter zurückfallen. Ich gehe davon aus, dass Sie auch nichts von dem Pensum gelesen haben, um etwas aufzuholen, da Sie ja noch nicht einmal die Zeit hatten, sich für ihren ersten Schultag ordentlich anzuziehen. Im Ernst, haben Ihre Eltern nicht …«

»Sie sind tot«, unterbrach dieses Mal Sade.

Die Frau sah sie verdutzt an und fragte: »Wie bitte?«, als hätte sie nicht verstanden.

»Meine Eltern – sie sind beide tot. Meine Mutter starb, als ich zehn war, und mein Vater vor einem Monat, ein paar Tage, bevor ich hier anfangen sollte. Man sagte mir, dass das kein Problem wäre und dass es in meiner Akte vermerkt werden würde. Ich ging davon aus, dass Sie sie gelesen haben – bitte entschuldigen Sie diese falsche Annahme«, antwortete Sade mit gezwungenem Lächeln.

Der Fahrer räusperte sich. »Ich habe Ihr Gepäck ausgeladen, Miss. Möchten Sie, dass ich es in Ihren Schlafsaal bringe?«

Sade sah von der schockierten Frau zum verlegenen Fahrer.

Zusätzlich zum Multimillionen-Anwesen ihres Vaters hatte Sade auch die Last der Trauer und die Unannehmlichkeiten geerbt, die damit einhergingen.

»Was kostet es, meine Taschen zu tragen?«, fragte sie.

Der Fahrer sah noch verlegener aus. »Das ist schon gut, Miss, ihr Vater …«

Sades Stimme begann zu beben. »Wie viel?«

Da der Fahrer schwieg, griff Sade in die Geldbörse und reichte ihm dieses Mal einen Stapel Zwanziger ohne sie zu zählen.

Dann wandte sie sich wieder an die Frau und ihr Lächeln verblasste. »Wo kann ich eine Uniform bekommen?«

•••

Das Interieur der Alfred Nobel Academy war noch schöner als die Fassade des schlossartigen Gebäudes. Es schien, als beträte man einen Tagtraum.

Sades Blick glitt über die Makellosigkeit des Hauptgebäudes, als sie am Eingang stehen blieb: Hartholzböden, große, runde Glasfenster, Deckengemälde, die auf den ersten Blick Engel darzustellen schienen, aber auf den zweiten Blick war sie sich da nicht mehr so sicher.

Sie hatte das Gefühl, ein Museum zu betreten, und nicht das Haus, das für die nächsten beiden Jahre ihr Zuhause sein sollte.

Es sah genau aus wie auf den Bildern, die sie online gesehen hatte.

»Gut«, unterbrach die Frau, die, wie sie mittlerweile erfahren hatte, Miss Blackburn hieß und die Hausdame war, ihre Gedanken. »Sie können dort hineingehen, um die Formulare auszufüllen. Es handelt sich um eine einfache Reihe von Fragen, die Ihre Bedürfnisse feststellen und klären sollen, welche Umgebung für Ihren Aufenthalt an der ANA die beste ist. Bitte versuchen Sie, so wahrheitsgemäß wie möglich zu antworten. Wir nehmen das sehr ernst und nur äußerst selten wird ein Wechsel in ein anderes Haus genehmigt – nicht dass das viele Leute wollten. Das Formular ist recht umfangreich und normalerweise äußerst präzise.«

Sade hatte über die verschiedenen Wohnheime der Schule gelesen. Es gab acht davon: Curie, Einstein, Hawking, Mendel, Franklin, Turing, Jemison und Seacole. Die Häuser schienen einem bestimmten Zweck zu dienen und die Schüler darin ihrerseits zu diesem Zweck zu passen. Es gab ein Haus für Akademiker, eines für Sportler und so weiter. Sie war gespannt, welchem sie zugeordnet werden würde.

Miss Blackburn führte Sade in den Raum, in dem ein einzelner, walnussfarbener Schreibtisch stand, auf dem ein Heft und ein Bleistift No. 2 lagen. Hinter dem Schreibtisch war eine Tür, auf der Security Room stand.

»Wenn Sie fertig sind, klopfen Sie bitte zweimal an die Wand und schieben das Formular durch den Schlitz dort drüben. Es wird bearbeitet und sobald die Resultate da sind, bringe ich Ihnen Ihre Uniform. Es sollte nicht lange dauern. Haben Sie Fragen?«, fragte Miss Blackburn passiv-aggressiv und blinzelte Sade an.

Sade schüttelte den Kopf, auch wenn sie das Gefühl hatte, sich in einem schrägen Dystopieroman zu befinden, in dem das Formular eigentlich ein Test war, der ihre gesamte Zukunft bestimmen würde oder so. Sie stellte ihre Schultertasche auf den Boden.

»Gut«, lächelte Miss Blackburn dünnlippig.

Sade setzte sich an den Schreibtisch.

Miss Blackburn wandte sich zum Gehen, drehte sich in der Tür aber noch einmal um und sah von Sades Formular zu ihr und mahnte: »Wählen Sie weise!« Dann ging sie und knallte die Tür hinter sich zu.

•••

Miss Blackburn hatte recht, das Formular war schnell ausgefüllt, obwohl die Fragen sehr merkwürdig anmuteten.

So wurde zum Beispiel gefragt, ob sie Regen oder Sonnenschein bevorzuge, was ihr völlig sinnlos erschien. Schließlich konnte man das Wetter in dem Wohnheim, dem sie zugeteilt werden würde, nicht kontrollieren. In einer anderen Frage wollte man wissen, ob sie große oder kleine Fenster bevorzugte und in wieder einer anderen, welches ihr liebstes Waldtier sei.

Als sie fertig war, klopfte sie zweimal und schob dann ihren Test durch den goldenen Schlitz in der Wand. Sie hätte schwören können, einen leichten Zug von der anderen Seite zu spüren. Als Miss Blackburn ihr gesagt hatte, dass er ausgewertet werden würde, hatte sie angenommen, von einer Art Computer.

Doch das Zupfen fühlte sich menschlich an und Sade fragte sich, ob sie hinter der Wand eine kleine alte Dame hielten, die nichts anderes tat, als die Formulare zu bewerten. Es hätte sie nicht überrascht. Denn trotz seiner Schönheit schien irgendetwas seltsam an der Alfred Nobel. Vielleicht lag es daran, dass alles zu perfekt war.

Sade war Luxus gewohnt und wusste, dass Reichtum alle möglichen Geheimnisse mit sich führte. Sie würde darauf wetten, dass die Alfred Nobel Academy eine Menge davon hatte. Sechs Fuß tief unter den perfekt gestutzten Rosenbüschen am Eingang begraben.

Es klopfte und Miss Blackburn kehrte mit einer gefalteten Uniform in den manikürten Händen zurück.

»Ich habe Ihren Fahrer angewiesen, Ihr Gepäck in Ihr Zimmer zu bringen«, verkündete sie. »Ihre Größe habe ich geschätzt«, fuhr sie fort und reichte Sade die Uniform. »Aber wenn etwas angepasst werden muss, dann können Sie in den Schulladen gehen, sobald Sie sich eingerichtet haben.«

Sade betrachtete die Kleidung vor ihr. Die Uniform schien aus einer Menge Schwarz zu bestehen. Schwarzer Rock, schwarzer Pullover und schwarze Krawatte. Es sah aus, als eigne sie sich am besten für eine Beerdigung.

»Danke … Soll ich sie gleich anziehen oder kann ich mich später umziehen?«

Miss Blackburn sah sie durchdringend an. »Wie Sie wünschen.«

Sade hatte das Gefühl, als wolle Miss Blackburn, dass sie sich sofort umzog. Offenbar war sie ob ihres unangemessenen Erscheinungsbildes immer noch beleidigt. Ihr war nicht ganz klar, was so schlimm an einem Tweedkleid und geschnürten Doc-Martens-Stiefeln sein sollte.

»Irgendwelche Fragen?«, erkundigte sich Miss Blackburn.

Sade nickte. »Zwei. Ich welchem Haus bin ich?«

Miss Blackburn richtete sich auf. »Oh ja, Sie sind im Haus Turing.«

Sade hatte über alle Häuser etwas gelesen, auch über Haus Turing. Es wurde beschrieben als das Haus für Allrounder, Schüler ohne besonderes Interesse an einem speziellen Fach, das Schwesterhaus von Seacole, und anders als die anderen Häuser hatte Haus Turing die wenigsten berühmten Schulabgänger.

Wie aufregend, dachte sie.

»Turing, der Wissenschaftler?«, fragte sie, um Interesse zu zeigen. Sie erinnerte sich an die tragische Geschichte von Alan Turing, den schwulen Wissenschaftler, aus einer ihrer Geschichtsstunden über den Zweiten Weltkrieg.

»Ja. Genau wie die anderen Häuser – sie sind alle nach Wissenschaftlern benannt. Das wüssten Sie, wenn Sie die Broschüre gelesen hätten. Aber was ist ihre zweite Frage?«, fragte Miss Blackburn, offensichtlich noch immer verstimmt, weil Sade nicht richtig vorbereitet war. Was so nicht ganz stimmte. Sade hatte die Dinge nachgeschlagen, die sie für am Wichtigsten hielt, doch dabei offensichtlich die Dinge außer Acht gelassen, die Miss Blackburn für unabdingbares Wissen hielt.

»Kann ich eine Führung durch die Schule bekommen? Ich will mich nicht verlaufen«, sagte sie.

»Natürlich. Ihre Hausschwester wird Sie herumführen – sie wartet draußen auf uns.«

»Hausschwester?«, fragte Sade.

Miss Blackburn nickte. »Normalerweise bekommen Sie in Ihrem ersten Jahr eine Hausschwester und einen Hausbruder zugeordnet, aber da sie so spät erscheinen, mussten wir Ihnen sozusagen Last-Minute-Geschwister zuweisen.« Miss Blackburn fiel offenbar Sades Verwunderung auf, daher fügte sie hinzu: »Das ist Tradition. Normalerweise übernimmt ein Schüler aus dem Jahrgang über Ihnen diese Verantwortung, aber in Ihrem Fall ist es jemand aus Ihrem eigenen Jahrgang. Praktischerweise ist sie auch Ihre Zimmergenossin. Ich bin sicher, am Ende des Schuljahres werden Sie gut miteinander bekannt sein.«

Sade musste schlucken. Sie hatte noch nie ihr Zimmer mit jemandem teilen müssen.

»Ist das optional?«, fragte sie. Sie hatte sich bereits an den Status als tragische Waise im reifen Alter von 16 Jahren gewöhnt und suchte eigentlich nicht nach einer neuen Familie.

»Nein«, entgegnete Miss Blackburn scharf. »Wie ich schon sagte, ist das Tradition. Ich habe Ihnen jemanden aus dem Hawking-Haus als Bruder zugeordnet. Er hat den Rest des Tages Unterricht, aber ich sorge dafür, dass Sie einander im Laufe der Woche vorgestellt werden.«

Traditionen. Hausgeschwister. Die Vorstellung von einer aufgezwungenen Familie behagte Sade nicht. Es kam ihr immer weniger wie ein Internat und mehr wie ein schräger Kult vor. Aber vielleicht hätte sie das eingedenk des Schulmottos erwarten sollen, das lautete Ex Unitate Vires, was übersetzt so viel hieß wie In der Einigkeit liegt Stärke.

Was ihrer Meinung nach ein ziemlich kultiger Slogan war.

Da Miss Blackburn offenbar ihre andauernde Verwirrung spürte, sagte sie: »Es kann schwierig sein, sich in einem Internat einzugewöhnen. Die Hausfamilien sollen sicherstellen, dass unsere Schüler während ihrer vier Jahre bei uns Unterstützung haben. Da Sie bereits in Ihrem dritten Jahr sind und das ihre erste Erfahrung in einem Internat ist, ist das wohl besonders vorteilhaft. Elizabeth wartet draußen auf uns.«

Sade nahm ihre Schultertasche und legte sich die Uniform über den Arm, bevor sie Miss Blackburn in den Gang folgte, auf dem es jetzt von Schülern wimmelte. Sade fielen die identischen schwarzen Uniformen mit den verschiedenfarbigen Krawatten auf, als sie an ihr vorbeihasteten.

»Sade, das ist Ihre Hausschwester – und Zimmergenossin – Elizabeth Wang. Sie wird Sie herumführen und all Ihre brennenden Fragen beantworten«, sagte Miss Blackburn und deutete auf das hübsche dunkelhaarige Mädchen vor ihnen.

Sade betrachtete ihr etwas derangiertes Aussehen. Ihr Augen-Make-up war verschmiert, ihr schwarzer Nagellack abgesplittert und ihre Strumpfhosen hatten große Löcher. Auch das Mädchen betrachtete sie und langsam schlich sich ein merkwürdiger Ausdruck in ihr Gesicht.

Es war, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Hi«, sagte Sade mit freundlichem Lächeln.

»Hallo?«, erwiderte Elizabeth nach einem Moment und betrachtete sie immer noch so merkwürdig. Eine leichte Hebung am Ende des Wortes ließ den Gruß wie eine Frage klingen.

»Sehen Sie, das ist doch schon ein guter Anfang«, verkündete Miss Blackburn ohne jegliche Begeisterung oder Fürsorge in ihrer Stimme. »Sade, bitte gehen Sie nach dem Abendessen zur Rezeption und holen Sie sich Ihr Willkommenspaket und Ihren Hausschlüssel ab. Miss Thistle wird Ihnen alles aushändigen. Ich hatte heute noch keine Zeit dazu, es vor Ihrer Ankunft zusammenzustellen.«

Sade nickte und fügte die Information ihrer mentalen Liste hinzu.

»Also gut … eine schnelle Tour?«, fragte Elizabeth schließlich. Ihr Gesicht entspannte sich und Sade bemerkte einen klaren irischen Akzent. Sie schien überwunden zu haben, was sie überkommen hatte.

»Das wäre toll«, erwiderte Sade, die das Gefühl beschlich, dass Miss Blackburns Blick ihr immer noch Löcher ins Kleid brannte. »Aber wenn es in Ordnung ist, würde ich mir vorher gerne noch meine Uniform anziehen.«

1

Montag

Vögel im Käfig

Nachdem sie die ziemlich steife Uniform angezogen hatte, folgte Sade Elizabeth aus der Eingangshalle der Schule hinaus und vorbei an einem Gebäude, an dem Personalquartier stand.

»Ich dachte, wir fangen am besten bei den Unterkünften an. Turing ist etwa fünf Minuten zu Fuß entfernt – das ist übel, wenn man morgens verschläft und losrennen muss. Aber es könnte schlimmer sein – wir könnten in Haus Einstein sein«, erklärte Elizabeth, als sie hinter dem Hauptgebäude einen gepflasterten Weg entlangliefen, auf dem nasses Laub und Kastanien lagen.

Vor sich sah Sade mehrere Gebäude hinter dem Schulhaus. Manche davon klebten aneinander, andere standen einzeln.

»Das ist John Fisher, der Gründer dieser schönen Einrichtung«, fuhr Elizabeth fort und deutete auf die riesige Statue eines alten weißen Mannes mit einem gezwirbelten Schnurrbart und einem altmodischen Mantel und Zylinder, die an der Mitte des Weges stand. »Sexy, was?«

Sade zog eine Braue hoch. Sie fand ihn eher gruselig, aber andererseits fand sie Statuen immer ein wenig verstörend. Allerdings nicht so verstörend wie Elizabeths Bemerkung.

Elizabeth grinste. »Nur Spaß. Ich würde mir wohl lieber alle vier Weisheitszähne ziehen lassen, als den alten Fisher hier zu knutschen. Außerdem würde er mich wahrscheinlich hassen, da er weder auf Frauen noch auf Farbige stand. Glücklicherweise falle ich in beide Kategorien.«

John Fisher sah auf sie beide herab, als würde er sie verhöhnen.

»Ich verstehe«, sagte Sade.

Sie gingen den gewundenen Pfad weiter und Sade betrachtete die Architektur. Ein Gebäude fiel ihr besonders auf, denn es war neuer und einigermaßen »unschlossartig«. In großen Lettern stand »Newton Sportzentrum« darauf.

Einen Augenblick lang schweiften ihre Gedanken ab und drifteten zu einer Erinnerung, die ein Jahr zurücklag. »Gibt es da einen Swimmingpool?«, fragte sie.

»Miss Blackburn hat nicht gelogen, als sie sagte, du wüsstest gar nichts«, meinte Elizabeth und wandte sich zu dem Gebäude um. »Alfred Nobel ist für sein Schwimmteam berühmt. Newton hat den zweitgrößten Pool auf dem Campus und wird hauptsächlich zum Training verwendet. Drinnen bauen sie gerade einen noch größeren Pool.«

Sade konnte aus dem Inneren des Zentrums Baulärm vernehmen.

»Das Spitz-Zentrum, das hinter der Schulkapelle liegt, hat den größten Pool und wird für Wettkämpfe und Spiele genutzt … Bist du Schwimmerin?«, fragte Elizabeth.

Wieder regte sich die Erinnerung am Rand ihres Bewusstseins.

Der Körper des Mädchens. Leblos. Kalt. Die Lippen blau, die Zöpfe im Wasser ausgebreitet. Um ihren Kopf eine Pfütze roten Blutes wie ein Heiligenschein …

»Früher«, antwortete sie.

»Nun, in dem Fall hast du Glück. Es gibt nur zwei Häuser auf dem Campus, die ganz dicht an Newton liegen: Hawking und Jemison«, sagte Elizabeth und deutete erst auf ein Gebäude links und dann auf eines auf der anderen Seite, das aussah wie eine Miniaturversion des Sportzentrums. Es war modern, hatte Glasfassaden und Solarpaneele und ein Schild, auf dem »Jemison« stand. Hawking-Haus war weiß und riesig und bestimmt doppelt so groß wie Jemison.

»Die meisten Bewohner von Hawking und Jemison gehören den verschiedenen Sportteams an. Aber … am drittnächsten an Newton ist unser Haus, Turing. Falls du also nach dem Unterricht schwimmen möchtest, hast du es nicht weit nach Newton.«

Sade nickte und hörte ihr mit halbem Ohr zu, während sie Haus Hawking betrachtete. Hinter den vorgezogenen Vorhängen der Fenster tauchten verschwommene Gestalten auf und verschwanden wieder.

Als sie endlich beim Haus Turing ankamen, sperrte Sade erstaunt die Augen auf, weil es so überwältigend war. Es wirkte wie ein verwunschenes Schloss. Im Gegensatz zum Hauptgebäude bestand es aus fast schwarzem Stein.

»Da sind wir«, meinte Elizabeth, nahm ihre Schlüsselkarte und wischte sie über ein Paneel neben dem Eingang.

Sade folgte ihr durch die Doppeltür und ihre Stiefel hallten auf dem schwarzweiß gefliesten Boden, der sie stark an ein Schachbrett erinnerte.

In der Mitte der Eingangshalle von Turing befand sich eine gewundene Treppe und dahinter ein französischer Aufzug. An der Wand hing ein gigantisches Gemälde und anders als die, die sie zuvor gesehen hatte, konnte sie dieses sogar zuordnen. Es war das Portrait eines müde wirkenden Mannes, unter dem »Alan Turing« stand.

Obwohl sie das erste Mal hier war, sah sie diesen Eingang gefühlt zum hundertsten Mal, weil sie geradezu obsessiv die Webseite der Schule besucht und durchforstet hatte.

Alles sah genau so aus wie auf den Fotos.

Ein lautes Ping riss Sade aus ihren Gedanken. Elizabeth zog ihr Handy aus der Tasche, wohl um eine Nachricht zu lesen. Sie starrte ihr Telefon einen Moment lang an und steckte es dann wieder ein.

Sade bemerkte, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, doch noch bevor sie ihn richtig deuten konnte, hatte Elizabeth die Grimasse wieder durch ein Lächeln ersetzt.

»Das ist Turing, wo du wahrscheinlich die meiste deiner Zeit in der Alfred Nobel Academy verbringen wirst«, erklärte Elizabeth mit etwas zittriger Stimme. Doch gleich darauf hatte sie ihren Gleichmut wiedergefunden. »Frühstück und Abendessen haben wir im Speisesaal des Wohnheims, mittags essen wir mit allen anderen Schülern zusammen im Hauptgebäude. Da drüben ist ein Gemeinschaftsraum, wo die Leute nach dem Unterricht oder vor dem Essen abhängen, oben sind die Schlafzimmer. Im ersten Stock sind die vom ersten Schuljahr, im zweiten die vom zweiten und so weiter«, erklärte Elizabeth. »Da die Alfred Nobel Academy eine ziemlich internationale Schule ist, haben wir hier auch ein ziemlich internationales System. Denk dir das 1. Jahr als 9. Klasse und das 4. als 12. Das ist komisch und sicher ganz anders als an deiner alten Schule, aber du gewöhnst dich schnell daran.«

Sade nickte. »Es ist sogar völlig anders. Ich wurde zu Hause unterrichtet, daher ist das hier alles neu für mich.«

Elizabeth zog eine Braue hoch. »Willst du mir etwa sagen, dass das das erste Mal ist, dass du dich mit dem Mist herumschlagen musst, den man High School nennt? Ich beneide dich.«

Ich beneide dich.

Es war lustig, dass Elizabeth das sagte. Sade hatte genau das gleiche gedacht, dass Elizabeth Glück hatte, hier sein zu dürfen, frei zu sein, seit Jahren schon.

Aber jetzt war sie hier.

Sie war endlich frei.

Das war alles, was zählte.

»Ich zeige dir schnell unser Zimmer«, sagte Elizabeth und brachte Sade zum Aufzug. Sie zog die Gittertür zu und drückte auf den Knopf für den dritten Stock.

Sade fühlte sich unwohl in französischen Aufzügen. Sie waren wie Käfige. Man konnte sehen und spüren, wie sich der Lift hob, und man spürte das Rumpeln und den Zug der Maschine. Glücklicherweise dauerte die Fahrt nicht allzu lange und bevor sie sich versah, gingen sie den Gang entlang zu dem Zimmer, dass sie sich das nächste Jahr teilen würden.

Sade verarbeitete immer noch die Vorstellung davon, sich ein Zimmer, einen so intimen Raum, mit einer Fremden teilen zu müssen, sodass sie gar nicht gemerkt hatte, dass Elizabeth stehen geblieben war. Auch dass sie scharf Luft holte und plötzlich sehr erschrocken aussah, merkte sie nicht.

Als ihr schließlich die völlige Erstarrung auffiel, sah sie zuerst auf die Tür mit dem Messingschild Zimmer 313 und Elizabeths Namen in Kreide darunter, und dann erst auf das, was Elizabeth fixierte.

Die tote Ratte auf der Matte vor der Tür.

Sade stand wie gelähmt neben ihr.

Das Tier war reglos und blass, der Schwanz eingerollt und der Kopf zerquetscht, als hätte ihn jemand eingeschlagen und das Tier dann dorthin gelegt. Die Augen waren klein und leblos und sahen hilflos zu ihr auf.

»Ist das eine …«, begann Sade entsetzt, doch Elizabeth unterbrach sie.

»Augenblick«, sagte sie, nahm ruhig ihren Bronzeschlüssel und schloss die Tür zu Zimmer 313 auf.

Sade sah Elizabeth über die tote Ratte steigen und im Zimmer verschwinden, sodass sie allein draußen blieb. Na ja, fast allein, dachte sie und hielt Blickkontakt mit der Ratte.

Gleich darauf kam Elizabeth mit einer Plastiktüte wieder. Sie verzog das Gesicht, als sie die Tüte vorsichtig um den kleinen Körper wickelte und die Ratte hineingleiten ließ. Dann knotete sie sie zu und steckte sie in den Mülleimer an der Ecke des Ganges.

»Alles klar«, verkündete sie mit etwas gezwungenem Lächeln. »Dann zeige ich dir mal unser Zimmer. Ich entschuldige mich jetzt schon für die Unordnung, aber bis heute morgen wusste ich nicht, dass ich eine Zimmergenossin bekomme«, sagte Elizabeth, als sie die Tür erneut öffnete und es Sade überließ, zu verstehen, was da gerade passiert war.

Da war eine tote Ratte. Und Elizabeth tat, als sei das gar nichts. Passierte so etwas häufig? Hatte sie jemand dorthin gelegt?

»… liegen hier immer verwesende Nagetiere im Flur?«, fragte Sade und betrachtete das Zimmer und den Fußboden misstrauisch.

Einen kurzen Augenblick war es still, dann kam Elizabeths Stimme gedämpft durch die Tür. »Nun, die Alfred Nobel Academy ist eine sehr alte Schule. Mach dir keine großen Sorgen, das kommt selten vor. Ich hoffe, nach dem heutigen Tag gibt es keine toten Ratten mehr.«

Wenn du es sagst …, dachte Sade.

Langsam betrat sie Zimmer 313 und vermied es, auf den feuchten Fleck am Boden zu treten, den die tote Ratte hinterlassen hatte.

Sie sah, wie Elizabeth schnell zu dem Stapel abgelegter Kleider auf dem Boden trat und sie in irgendeine Ecke schob. Es war dunkel im Raum, da die Vorhänge fest zugezogen waren und die Sonne ausschlossen. Elizabeth war zu sehr damit beschäftigt, ihre Sachen vom Boden zu räumen, um es zu bemerken.

Sade schaltete das Licht ein und konnte endlich Einzelheiten erkennen.

An je einer Seite stand ein Bett. Es gab zwei Schränke – neben einem davon standen ihre Koffer, bereit, ausgepackt zu werden – zwei Schreibtische und ein kleiner Tisch mit einem Haufen schmutziger Tassen.

Elizabeth folgte Sades Blick zu den Kaffeebechern. Schnell fegte sie sie zusammen und stellte sie im Gang auf den Boden.

Als sie zurückkam, war sie knallrot im Gesicht und wirkte beschämt.

»Tut mir echt leid. Ich hätte wirklich aufgeräumt, wenn ich gewusst hätte …«, begann sie.

»Schon gut«, winkte Sade ab und fügte hinzu: »Mir gefällt deine Einrichtung.«

Elizabeths Seite des Raumes war sehr persönlich. Es gab Bandposter, einen kuhförmigen Wasserkocher neben einem lächerlich großen Paket Yorkshire-Teebeutel, einen Teppich mit Sonnenblumenmuster auf dem Boden sowie diverse Pflanzen, die überall verstreut standen.

Elizabeth zog die Brauen hoch. »Oh, danke. Du kannst gerne alles benutzen, was auf meiner Seite steht. Eigentlich dürfen wir keine elektrischen Geräte in unseren Zimmern haben, aber ich bin völlig teesüchtig, daher bin ich bereit, das Risiko einzugehen.«

Sade musste lächeln. »Ich werde niemandem von deinem geheimen Teevorrat erzählen.«

Elizabeth streckte ihr den kleinen Finger entgegen. »Versprochen?«

Sade betrachtete den Finger und dachte daran, dass dieser sich soeben noch in unmittelbarer Nähe einer toten Ratte befunden hatte. Daher hakte sie nicht ihren eigenen kleinen Finger darum, sondern nickte nur und sagte: »Pfadfinderehrenwort.«

Elizabeth, zufrieden mit dieser Antwort, strahlte.

»Und da wir gerade Geheimnisse teilen, gebe ich dir hier eine kleine Warnung: Wenn ich gestresst bin, kann es vorkommen, dass ich schlafwandle. Und manchmal schlafe ich mit offenen Augen«, fügte Sade hinzu.

»Ist vermerkt«, erwiderte Elizabeth, die das nicht sonderlich zu beunruhigen schien.

Sie hatten ein Abkommen.

»Nun, da das geklärt ist, zeige ich dir wohl am besten den Rest der Schule. Wir haben noch eine Menge vor.«

•••

Nachdem sie anderthalb Stunden über den Campus gelaufen waren, kam Sade zu dem Schluss, dass die Alfred Nobel Academy zu gut war, um wahr zu sein.

Zu den Highlights der Tour gehörten das Schulaquarium, die Glücksfontäne vor dem Schulgebäude, die sie bei ihrer Ankunft irgendwie übersehen haben musste, und die Sternennachtbibliothek, in der es offenbar mehrere Sonderausgaben ihrer Lieblingsbücher gab.

Als sie fertig waren, war es bereits Mittagszeit und Sade hörte Schüler herumlaufen und Stimmen ganz in der Nähe laut werden.

Sie befanden sich mittlerweile wieder beim Haupteingang. Elizabeth holte Sade ihre Lunchkarte von Miss Blackburn, sodass Sade von ihrem High nach der Tour ein wenig herunterkommen konnte. Wie schon zuvor betrachtete sie den Eingang, doch jetzt mit etwas anderen Augen. Der Raum war nicht ganz so beeindruckend, wie er ihr beim ersten Anschein vorgekommen war, jetzt, wo sie die anderen Räume und Gebäude der Schule gesehen hatte. Die Holzpaneele an den Wänden waren matt und ein wenig angekratzt. Und die runden Fenster waren nicht so überwältigend wie die in der Sternennachtbibliothek. Und der Kronleuchter über ihr glitzerte nicht so wie die im Speisesaal.

Doch als sie nach oben sah, fiel ihr erneut das Deckengemälde auf und sie kniff die Augen zusammen, um noch ein paar Gestalten und Figuren erkennen zu können.

»Cooles Gemälde, was?«, meinte Elizabeth, die ebenfalls nach oben sah.

Sade nickte. Es war mehr als cool. Es war zugleich glamourös und traurig. Das hatte wohl mit den Farben zu tun, die gleichzeitig weich und harsch waren, und dass die Gesichter ebenso gespenstisch wie schön wirkten.

»Es heißt Die weinende Dame. Der Direktor hat es damals in Auftrag gegeben, der angeblich eine Affäre mit der Malerin hatte. Mir hat die Geschichte hinter dem Bild immer gefallen«, gestand Elizabeth.

»Was für eine Geschichte?«, fragte Sade, während ihr weitere Details auffielen, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. Zum Beispiel strömten Tränen über die Wangen der Frauen, sie hatten einen gequälten Blick und trugen ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen. Ihr Ausdruck enthüllte die Lügen, die sich hinter den schön gezeichneten Gesichtern verbargen.

Zum ersten Mal bemerkte Sade auch die Vögel. Sie hatten verschiedene Farben von Blau über Rot und Gelb. Jeder Vogel saß in einem Käfig und jeder Käfig hing in der Hand einer der weinenden Frauen.

»Die Künstlerin, Madame Alarie, die Frau des gewalttätigen Alkoholikers Monsieur Alarie, beschloss eines Tages, dass sie genug von ihm hatte, und vergiftete sein Essen«, erzählte Elizabeth.

Sade betrachtete die Vögel und konzentrierte sich auf den blauen, der im Gegensatz zu allen anderen den Schnabel geöffnet hatte. Auch seine Käfigtür stand leicht offen.

Die Geschichte schien ihre Vollendung im Gemälde zu haben, das sah Sade jetzt genau.

»Madame Alarie klingt nach einer Legende«, sagte sie.

»Da stimme ich dir zu«, erklang eine weiche Stimme hinter ihnen.

Erschrocken drehte sich Sade danach um und sah einen Jungen mit pinkfarbenen Haaren, brauner Haut und einem breiten Lächeln, bei dem er Grübchen zeigte. Er hatte die Arme um Elizabeth geschlungen und sein Kinn auf ihre Schulter gelegt.

Sade fiel auf, dass sich Elizabeths Ausdruck augenblicklich veränderte, es war, als hätte man einen Lichtschalter betätigt. Ihr Gesicht erhellte sich bei seinem Anblick. Sade fragte sich, ob er ihr Freund war oder so.

»Verdammt, du hast mich zu Tode erschreckt!«, rief Elizabeth und schlug ihm auf den Kopf.

»Tut mir leid – kommt nicht wieder vor«, entgegnete er mit einem Grinsen, das Sade nur zu deutlich sagte, dass das auf jeden Fall wieder vorkommen würde. »Ist das deine neue Zimmergenossin?«, fragte er Elizabeth.

Die nickte. »Baz, das ist Sade. Sade, Baz.«

Der Junge – Baz – lächelte Sade zu und winkte.

»Dein Name gefällt mir«, sagte er.

Noch nie hatte jemand Sade ein Kompliment zu ihrem Namen gemacht. »Danke, deiner gefällt mir auch – ist das eine Abkürzung?«

Er nickte. »Basil – wie Basilikum. Meine Mutter liebt Salat.«

Sade war sich nicht ganz sicher, ob dieser fröhliche Junge das ernst meinte oder nicht, und nickte nur kurz.

»Wie lief dein Deutschtest? Ich habe deine dringenden Sandwich-Nachrichten bekommen«, sagte Elizabeth und erklärte Sade: »In Notfällen schicken wir einander Sandwich-Emojis. Das ist so eine Art oberdramatisches SOS.«

»Grauenvoll«, erwiderte Baz. »Auf der Sandwichskala eine 3, würde ich sagen.«

Elizabeth sah plötzlich leicht geschockt aus, als mache diese Aussage für sie durchaus Sinn. Sade hingegen verstand gar nichts. »Verdammt! Echt so schlimm?«

Baz nickte ernst. »Aber zumindest muss ich Mr. Müller nicht vor Mittwoch sehen. Dann kann er mich anschreien, auch wenn es seine Schuld ist, mir einen Test zu geben, der eine Krise der Sandwichstufe 3 auslöst.«

»Ich bin sicher, so schlimm ist es nicht«, meinte Elizabeth, raufte ihm die Haare und tätschelte ihm den Kopf. »Apropos Sandwich, wir sollten essen gehen.«

»Gut, ich verhungere gleich«, stellte Baz fröhlich fest, der den Deutschtest offenbar schon vergessen hatte.

Sade nickte ebenfalls, auch wenn sie gar keinen Hunger hatte. Sowohl die Aufregung vom Morgen als auch die Erinnerung an die tote Ratte zügelten ihren Appetit.

Sie warf dem Gemälde einen letzten Blick zu, bevor sie sich davon losriss und dem Pärchen folgte.

•••

Der Speisesaal – mehr ein Ballsaal – war voller Schüler in Uniform, die in kleinen Grüppchen zusammensaßen, aßen und sich unterhielten.

Sade nahm einen Teller der Spezialität des Tages: gebackene Teigtaschen gefüllt mit Kräuter-Tomatensoße und handgemachtem Käse, dazu Pommes Frites – normalerweise als Pizzarollen mit Pommes bekannt – und folgte Baz und Elizabeth zu einem Tisch in einer Ecke des Raumes.

Baz griff sofort nach dem Ketchup und drückte eine ganze Menge davon auf seine Fritten, wo es unangenehm nach geronnenem Blut aussah.

Sade starrte lustlos ihren Teller an.

»Also, wer genau bist du, Sade?«, fragte Baz plötzlich.

Verdutzt sah sie auf. Es war eine komische Frage.

»Was?«, fragte sie, da sie nicht recht wusste, was sie antworten sollte.

Er sah sie weiter an, während er versuchte, seine Fritten in Ketchup zu ertränken. Sade konnte sie nicht mehr sehen, auf seinem Teller befand sich nur noch ein roter Berg.

»Was hast du gemacht, bevor du hierhergekommen bist?«, fragte er neugierig.

Es war eine schwierige Frage. Sie war nicht sicher, ob sie ihm die einstudierte Antwort geben oder die Wahrheit sagen sollte. Wobei fraglich war, ob er die Wahrheit überhaupt glauben würde. Sie spürte, dass Baz und Elizabeth sie abwartend ansahen.

Also die halbe Wahrheit.

»Ich wurde zu Hause unterrichtet. Mein Vater ist viel gereist wegen seiner Arbeit, deshalb war es so einfacher.«

Baz sah aus, als wäre er beeindruckt. »Wie ist das denn?«

»Hausunterricht?«, fragte sie nach.

Er nickte.

Sade erinnerte sich an ihr Zuhause und antwortete: »Im Grunde genommen langweilig.«

»Nun, ich kann dir versichern, dass an dieser Schule nichts langweilig ist«, meinte Elizabeth verächtlich und stach in ihre Pizzarollen.

Baz musste lächeln und fragte: »Wie gefällt dir die Alfred Nobel Academy bis jetzt?« Er reichte den Rest des Ketchups an Elizabeth weiter.

»Mir gefällt es – Elizabeth hat mir eine Führung über das Gelände gegeben. Es ist wirklich schön.«

Baz lächelte und sah Elizabeth vielsagend an. »Hat sie dir auch schon die echte Schulführung gegeben?«

»Ignorier ihn, er redet Unsinn«, seufzte Elizabeth.

Sade zog eine Braue hoch. »Was ist denn die echte Führung?«

»Die einzige, die zählt. Dazu gehören die Leute, die Cliquen, der Tratsch, eben alles, was man braucht, um hier zu überleben. Wissen ist Macht.«

»Siehst du, Unsinn«, bestätigte Elizabeth mit schmalem Lächeln. Baz stieß sie sanft mit dem Ellbogen in die Seite, bevor er sich wieder an Sade wandte.

»Willst du diese Tour?«, fragte er in herausforderndem Flüsterton.

Sade griff nach der Ketchupflasche und drückte etwas davon auf ihren Teller. »Na, dann los«, forderte sie ihn auf.

Baz grinste, sah sich um und nickte dann zu einem der Tische in der Ecke. »Da drüben haben wir die Oxbridge- und Ivy-League-Leute. Das sind die, die sich für etwas Besseres halten als die anderen. Aber im Grunde sind sie genauso verkorkst wie wir anderen auch – sie sind nur besser bei den Prüfungen. Das Mädchen da drüben mit den blonden Highlights – sie hat Pfeiffersches Drüsenfieber von ihrem Freund bekommen und seinen Ex-besten-Freund und Todfeind damit angesteckt«, berichtete Baz leise.

Sade betrachtete das Mädchen, das neben einem blonden Jungen saß, von dem sie annahm, dass es ihr Freund war. Sie merkte, wie sie einen anderen Jungen auf der anderen Seite des Tisches ansah – der genauso schuldbewusst dreinsah wie sie.

»Dort hinten haben wir die Theaternerds. Ihre Spezialität ist es, völlig unvermittelt in Gesänge auszubrechen und damit alle zu vergrätzen. Aber ich schweife ab. Der Knabe dort – ich habe gehört, dass er bei der letzten Hawking-Party beinahe den Orangehaarigen da drüben gekillt hätte – wegen eines ›verschwundenen‹ Pillenvorrats.« Er deutete auf einen rothaarigen Jungen an einem anderen Tisch.

»Er ist im Schwimmteam, was von Bedeutung ist, weil der Schwimmerjunge dort der Stiefsohn vom Direktor ist und sicher ins Exil geschickt würde, wenn man besagte Drogen bei ihm fände …«

Baz lieferte Sade so viele Informationen, dass sie langsam Mühe hatte, ihm zu folgen.

»Was ist eine Hawking-Party?«, fragte sie, anstatt zu versuchen, zu verstehen, was er gerade gesagt hatte.

»Das sind im Prinzip High-School-Partys, die vom Pöbel gegeben werden, der im Haus Hawking wohnt«, murmelte Elizabeth, die ihren Wackelpudding aß und durch ihr Telefon scrollte.

»Eine Menge Leute würden dafür töten, eine Einladung zu bekommen, Lizzie – ich eingeschlossen. Ich hörte, dass bei der letzten Party ein Drittklässler jedem Gast eine Rolex geschenkt hat«, meinte Baz mit großen Augen.

»Du hast doch schon eine Rolex, Baz«, erinnerte ihn Elizabeth.

»Ja, aber das ist nicht dasselbe, als wenn man eine von einem attraktiven Abschlussschüler namens Chad bekommt.«

»Hört sich lustig an«, fand Sade.

»Weit gefehlt«, erwiderte Elizabeth, während Baz gleichzeitig sagte: »Ich wette, das ist es auch.«

Die beiden begannen sich zu necken und Sade schaltete ab, beobachtete andere Gruppen im Speisesaal, um ihre eigenen Beobachtungen anzustellen. Es war wie die Teilnahme an einem gesellschaftlichen Experiment, es schien ein primitiver Instinkt zu sein, sich in kleinere Gruppen aufzuteilen. Es war so völlig anders als ihr eigenes bisheriges Leben und es erinnerte sie an die Filme, mit denen sie aufgewachsen war. Sie fragte sich, ob die Leute hier wussten, wie vielen Klischees sie eigentlich entsprachen.

Mit den Cliquen, der unangenehmen Hausdame und dem Drama hätte es Sade nicht überrascht, wenn sie sich umdrehen und eine Kameracrew und Publikum bemerken würde, das ihren ersten Schultag beobachtete, wie in einer Szene der Truman-Show.

Plötzlich veränderte sich etwas und riss sie aus ihren Gedanken.

Die Stimmen im Saal wurden plötzlich leiser und die Köpfe drehten sich zum Eingang des Raumes.

Auch Sade drehte sich um und fragte sich, was die plötzliche Veränderung verursacht hatte.

Und dann sah sie sie, die drei Mädchen, die aller Interesse auf sich gezogen hatten.

Sade beobachtete, wie sie ihre Plätze an einem Tisch in der Mitte einnahmen, augenscheinlich unbeeindruckt von der Tatsache, dass ihr Erscheinen die Stimmung im Saal verändert hatte.

»Wer sind die?«, fragte Sade Baz und sah die Mädchen an, besonders die Blonde mit der braunen Haut und den Zwanziger-Jahre-Wellen im Haar. Sie sah aus, als wäre sie aus einem Bild entstiegen – wie die anderen auch.

»Die superattraktiven Mädchen, die gerade hereingekommen sind?«, fragte Baz und sah in dieselbe Richtung.

Sade nickte.

»Die Leute haben eine Menge Namen für sie: Teufelinnen, die Wicked Witches of the West, und mein Favorit: die Unholy Trinity. Dramatisch, aber wenn man sie ein wenig kennt, recht zutreffend. Ich habe gehört, dass sie sich an den Wochenenden treffen, um dämonische Rituale durchzuführen, damit ihre Haut pickelfrei bleibt.«

»Baz, sag nicht, dass du das wirklich glaubst«, warf Elizabeth ein und sah ihn ausdruckslos an.

»He, ich bin Sozialanthropologe. Ich berichte nur, was ich höre!«, erwiderte er und hob abwehrend die Hände.

»Sind sie beliebt?«, fragte Sade. In allen Filmen über Cliquen gab es immer die, die beliebt waren.

»Ich schätze schon. Nicht so wie die Diamantringe – das sind die Mädchen, die aus dem ältesten Geldadel stammen«, sagte er und deutete auf eine Gruppe glamouröser Mädchen an einem anderen Tisch. »Die Unholy Trinity ist eher beliebt, weil sie hübsch sind – was ehrlich gesagt auch mein Ziel ist«, fügte Baz hinzu.

Sade kaute an einer Fritte und beobachtete die Blonde. Sie spürte, wie sich die Härchen an ihren Armen aufstellten und es in ihrer Brust vibrierte.

Dann sah sie die anderen beiden an. Die eine war eine Südasiatin mit dunkler Haut und langem schwarzen gewellten Haar, das ihr weit über den Rücken floss. Zwischen den beiden saß das objektiv betrachtet wohl hübscheste Mädchen, das Sade je gesehen hatte. Und sie war offenbar nicht die Einzige, die das bemerkt hatte, denn alle sahen sie an, obwohl sie nicht zu merken schien, welche Wirkung sie auf die Menschen im Speisesaal ausübte. Sie hatte langes, schnurgerades Haar, dunkle Haut und erinnerte Sade an eine jüngere, kurvenreichere Naomi Campbell.

Leise erzählte Baz: »Die mit den Haaren ist Juliette de Silva. Sie ist Torwart im Lacrosse-Team und verfügt über geradezu enzyklopädisches Wissen über alle und alles … Angeblich besitzt ihr Vater den Kerl, der Google besitzt.«

Sade war sich nicht sicher, ob Baz es ernst meinte, doch seinem Gesichtsausdruck nach war das nicht ironisch gemeint.

»… die gruselige Blonde ist Persephone Stuart. Ich habe gehört, dass sie einmal einem Kerl im Schlaf seinen … Anhang … abgeschnitten hat, weil er sie zu lange angesehen hatte. Jetzt bewahrt sie ihn in einem Glas in ihrem Zimmer auf«, fuhr er im Plauderton fort. »Und die in der Mitte ist April Owens – sie war früher mal Elizabeths Zimmergenossin.«

Elizabeth schien nicht allzu glücklich darüber, dass Baz diese Information weitergab.

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Sade.

Elizabeth sah Baz mordlüstern an und erstach dann ihr Essen mit der Gabel. »Nichts. Hier werden ständig die Zimmer getauscht. Keine große Sache. Können wir jetzt aufhören, über sie zu reden? Es sind nur Mädchen.«

Sade musste an Miss Blackburns Bemerkung denken, dass Wechsel extrem selten seien, entschloss sich aber, das Thema fallen zu lassen, da sie Elizabeth nicht verärgern wollte, damit sie nicht die potenziell einzige Freundschaft, die sie für den Rest ihrer Zeit an der Alfred Nobel Academy haben würde, ruinierte.

Elizabeths Gesicht verdüsterte sich erneut. Sade fragte sich, was für eine Geschichte wohl dahintersteckte. Offenbar war es nichts Gutes.

Baz sah aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Als eine Art Friedensangebot schob er Elizabeth schweigend seinen Wackelpudding zu, den sie mit leisem »Danke« annahm. Er musste lächeln.

Etwas an der Art, wie die beiden miteinander umgingen, kam Sade sehr intim vor. Es war die Art Intimität, die man mit jemandem teilt, den man schon sein Leben lang kennt. Sie verspürte einen Stich und schluckte den Kloß in ihrer Kehle herunter.

Dann riss sie den Blick von ihnen los und sah sich wieder im Saal um, um sich mehr auf andere zu konzentrieren als auf ihre eigenen inneren Dämonen.

Ohne es zu wollen landete ihr Blick wieder auf dem unheiligen Trio und sie beobachtete sie gedankenverloren.

Es war ganz leicht.

Es war logisch, dass sie für ihre Schönheit bekannt waren. Selbst sie erlag ihrem mühelosen Zauber.

Sie konzentrierte sich auf April, die eine dünne Schicht Lipgloss auftrug. Dann auf Juliette, die über etwas lachte, was jemand gesagt haben musste. Dann glitt ihr Blick langsam zu der Blonden, die sie zuerst gesehen hatte, und erstarrte, als sie einem neugierigen Blick begegnete.

Die Blonde – Persephone hatte Baz sie genannt – nippte an einem Glas. Sie hatte den Kopf leicht geneigt und zog die Brauen hoch, als dächte sie über etwas nach.

Aber am Wichtigsten war, dass sie auch Sade beobachtete.

2

Montag

Glashaus

Sade war erst seit ein paar Stunden im Internat, doch sie hatte bereits das Gefühl, als würde etwas sehr Schlimmes passieren.

Sie fühlte, wie sich die Angst in ihrem Magen sammelte und sich ihr die Brust abschnürte, wie immer, wenn sie die irrationalen Gedanken an einen bevorstehenden Schicksalsschlag in ihrem ansonsten langweiligen Leben überkamen.

Es war eine Panikattacke, eine unangenehme Nebenwirkung ihrer wirren Gedanken und Gefühle.

Es war ein Fehler, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. Du hättest nie hierherkommen sollen.

Diese nervige Stimme erzählte ihr Lügen und übertriebene Wahrheiten. Normalerweise wurde sie immer lauter, wenn etwas neu oder furchterregend war – wie ein völlig neues Zuhause, eine neue Schule, neues Alles.

In ihrem Kopf schwebte ziellos eine Erinnerung. Sie kam und ging, wie sie wollte, und verschlimmerte das Angstgefühl in ihrem Bauch noch.

Wenn sie früher eine besonders schlimme Panikattacke gehabt hatte, hatte ihre Mutter ihr Gesicht in ihre Hände genommen, sie auf die Stirn geküsst und geflüstert: »Nicht doch, Addie Kekere … Der Himmel fällt dir nicht auf den Kopf.«

Irgendwie hatten die Stimme ihrer Mutter und der Kosenamen, den sie ihr gegeben hatte – Addie Kekere – kleines Huhn – sie immer von ihrem persönlichen sinkenden Schiff heruntergeholt.

Jetzt, da ihre Mutter die Wogen des Sturms nicht mehr glätten konnte, fand ihr Geist andere, nicht ganz so perfekte Möglichkeiten, mit der Angst fertigzuwerden. Manchmal wachte sie schreiend auf, weil ihr Unterbewusstsein sie mit Albträumen gequält hatte. Andere Male schlafwandelte sie einfach. Sie wanderte durch das Haus und suchte ziellos nach einer unbekannten Sache. Doch meistens manifestierten sie sich einfach in so etwas: deplatzierte Panikattacken.

Es war, als würde sie permanent von sich selbst verfolgt, ohne Ruhe vor den Geistern in ihrem Inneren.

Dieselbe furchteinflößende Erinnerung blieb. Sie hielt inne, als wäre das Band in ihrem Kopf kaputt, spulte zurück, wurde erneut abgespielt und blieb immer wieder bei demselben fehlerhaften Bild stecken …

»Alles okay?«, fragte Elizabeth besorgt, und auch Baz sah sie verwundert an.

Sade bohrte die Nägel in ihre Handfläche und das Gefühl der protestierenden Nervenenden wirkte geradezu entspannend, brachte sie zurück auf den Boden von Haus Turing.

Sie nickte.

»Sorry, ich war einen Moment abwesend. Was hast du gesagt?«

»Ich habe gefragt, ob du das Gewächshaus sehen möchtest. Es ist nichts Besonderes, aber als Präsidentin des Biologieclubs bin ich die einzige Schülerin, die Zugang dazu hat, deshalb chille ich dort ab und zu gerne«, sagte Elizabeth.

»Du bist die Präsidentin des Biologieclubs?«, fragte Sade nach.

»Nun … sie war es, bevor man sie rausgeschmissen hat, weil sie das Klassenkaninchen gekillt hat«, erläuterte Baz.

Elizabeth schlug nach ihm. »Zum einen war es ein Hamster und außerdem habe ich Mr. Fluffy nicht gekillt. Das ist ein Gerücht. Aber ich habe auf jeden Fall noch den Schlüssel. Möchtest du mitkommen?«, fragte Elizabeth und ließ das fragliche Objekt vor Sades Nase baumeln.

Es war bereits nach sieben Uhr. Sade hatte gehofft, das Schulgelände vor der Sperrstunde noch ein wenig selbst erkunden zu können, da die Führung nicht alles abdecken konnte. Nach dem Mittagessen hatte Basil wieder Unterricht gehabt und Elizabeth hatte Sade noch weitere Räume und Gebäude auf dem weitläufigen Schulgelände gezeigt, während sie darauf warteten, dass Basils letzte Stunde endete. Obwohl sie sie den ganzen Tag herumgeführt hatte, konnte Elizabeth ihr höchstens einen Bruchteil der Einrichtungen der Schule zeigen und es gab immer noch Orte, die Sade gerne sehen wollte.

Sie musste an die Schatten hinter den Fenstern von Haus Hawking denken.

»Gerne«, sagte Sade, da sie Elizabeth nicht abweisen und so ihre erste Chance auf eine Freundschaft gefährden wollte.

Außerdem hatte sie immer noch Zeit.

»Ehrlich gesagt kommt das aufs Wetter an. Ich habe Rudertraining bis um neun«, sagte Baz.

»Oh ja, wie konnte ich das vergessen«, grinste Elizabeth. »Baz ist dieses Jahr dem Ruderteam beigetreten, wegen dieses Kerls von Hawking … wie hieß er noch gleich? Kyle? Kieran?«

»Er heißt Kwame und ich bin dem Team nicht seinetwegen beigetreten, sondern weil ich das Wasser beruhigend finde. Aber so gerne ich auch mit euch beiden rede, ich muss leider gehen.« Sein Gesichtsausdruck sagte Sade eindeutig, dass es definitiv um diesen Kwame ging.

»Bring mir irgendwas mit Schokolade mit«, verlangte Elizabeth, als er sie umarmte.

»Ich versuche es«, versprach er, küsste sie sanft auf die Stirn und wandte sich dann ab.

Sade sah ihm nach und kam sich vor wie das fünfte Rad am Wagen bei einem verheirateten Paar. Sie hatte die Blicke bemerkt, die sie einander den ganzen Tag über zuwarfen, als läsen sie die Gedanken des anderen und sie hatte gemerkt, wie Elizabeths Zurückhaltung dahinschmolz, wenn er in der Nähe war. Ihre Freundschaft zu sehen war … schön. Einst hatte Sade gewusst, wie es war, jemandem so nah zu sein, dass sie jeden einzelnen Gedanken des anderen auf einen Blick erkennen konnten. Sie wusste, wie es war, eine Freundin so sehr zu lieben, die die einzige Person war, die all ihre Ecken und Kanten sah und dennoch nicht davonlief.

Baz wandte sich an Sade. »Magst du Umarmungen?«

Sade schüttelte den Kopf. »Eher nicht.«

Baz nickte und dachte einen Moment nach. »Dann brauchen wir wohl einen geheimen Handschlag«, meinte er dann.

»Einen geheimen Handschlag?«, erwiderte Sade verwundert.

»Ja, und der wird echt toll.«

»Ich weiß nicht, ob ich mir das alles merken kann, aber von mir aus«, antwortete sie.

Das schien ihm zu genügen. »Schickt mir ein Sandwich, wenn ihr meine Hilfe braucht, ansonsten sehen wir uns später«, sagte er und entfernte sich rückwärts. »War schön, mit dir heute abzuhängen, Sade.« Baz grinste, winkte ihnen noch ein letztes Mal zu und ging dann den Gang entlang und aus dem Eingang des Turing-Wohnheims hinaus.

Sie sahen ihm beide nach und Elizabeths Gesicht wurde wieder so, wie Sade es früher am Tag gesehen hatte. Das Gesicht mit dem kühlen Ausdruck und den traurigen Augen. Es war, als würde die Maske, die sie getragen hatte, schnell bröckeln, sobald er weg war.

»Gehen wir hoch – das Gewächshaus ist auf dem Dach des Naturwissenschaftsgebäudes«, erklärte Elizabeth, schob sich das Haar aus dem Gesicht und band es mit einem goldenen Band zusammen.

»Cool.« Sade war sich nicht sicher, ob sie Elizabeth fragen sollte, ob alles in Ordnung war, oder nicht. Schließlich kannten sie sich kaum.