White Christmas – Das Lied der weißen Weihnacht - Michelle Marly - E-Book
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White Christmas – Das Lied der weißen Weihnacht E-Book

Michelle Marly

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Beschreibung

Dreaming of a White Christmas.

Hollywood, Heiligabend 1937. Für den erfolgreichen Jazz-Komponisten Irving Berlin aus New York ist dieser Tag stets ein besonderer – er verbindet damit sein größtes Glück und gleichzeitig auch einen schweren Schicksalsschlag. Doch diesen Heiligabend muss Irving, zum ersten Mal getrennt von seiner Familie, unter der Sonne Kaliforniens verbringen. Voller Sehnsucht nach seiner Frau und den Kindern beginnt er an einem Song über die Weihnachtszeit zu arbeiten – und erfährt schließlich, dass auch in Hollywood ein Weihnachtswunder geschehen kann ... 

Eine bezaubernde Liebesgeschichte und die Geschichte des erfolgreichsten Weihnachtsliedes aller Zeiten.

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Über das Buch

Dreaming of a White Christmas.

Hollywood, Heiligabend 1937. Für den erfolgreichen Jazz-Komponisten Irving Berlin aus New York ist dieser Tag stets ein besonderer – er verbindet damit sein größtes Glück und gleichzeitig auch einen schweren Schicksalsschlag. Doch diesen Heiligabend muss Irving, zum ersten Mal getrennt von seiner Familie, unter der Sonne Kaliforniens verbringen. Voller Sehnsucht nach seiner Frau und den Kindern beginnt er an einem Song über die Weihnachtszeit zu arbeiten – und erfährt schließlich, dass auch in Hollywood ein Weihnachtswunder geschehen kann.

Eine bezaubernde Liebesgeschichte und die Geschichte des erfolgreichsten Weihnachtsliedes aller Zeiten

Über Michelle Marly

Hinter Michelle Marly verbirgt sich die deutsche Bestsellerautorin Micaela Jary, die in der Welt des Kinos und der Musik aufwuchs. Durch ihren Vater, den Komponisten Michael Jary, entdeckte sie schon früh ihre Leidenschaft für französische Chansons. Lange Jahre lebte sie in Paris, heute wohnt sie mit Mann und Hund in Berlin und München.

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Michelle Marly

White Christmas

Das Lied der weißen Weihnacht

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Nachwort

Danksagung

Impressum

»Happy Holiday«New York City, Lower East SideDezember 1900 Prolog

Dichtes Schneegestöber trieb vom East River über Manhattan Island, angefacht von einem eisigen Wind, der die Eiskristalle wie ein Blasebalg vor sich hertrieb. Die Flocken landeten auf den Fenstersimsen der mehrstöckigen Backsteinhäuser, auf den Vordächern und Markisen der Läden und Lokale wie Puderzucker auf Zimtplätzchen, sie sammelten sich in den Hutkrempen der Passanten und blieben auf den Rücken der Kutschpferde als zarte weiße Decke liegen. Leider begruben sie auch die Stapel der Zeitungen, die der zwölfjährige Izzy an der Canal Street Ecke Bowery zu verkaufen versuchte, wie unter einem nassen Mantel – und kein Mensch wollte das New York Evening Journal mit feuchten Seiten lesen.

Je dichter das Schneetreiben wurde, desto weniger schienen die Abendnachrichten zu interessieren. Obwohl Izzy an einer sonst belebten Kreuzung stand, kehrte eine gewisse vorweihnachtliche Ruhe ein. Die Laternen waren längst aufgeflammt und warfen gelbe Lichtkreise auf die Spuren auf dem Bürgersteig, die zu verwehen begannen, der Verkehr der Fuhrwerke und Automobile ließ nach. Um diese Zeit füllten sich die Bars, Restaurants, Varietés und Nachtclubs, und der Junge wünschte, mit seiner Tasche in eines der Etablissements gehen und dort die Zeitungen verkaufen zu dürfen. Doch er wusste, dass ihn die Kellner am Schlafittchen packen und hinauswerfen würden, wenn er nur einen Fuß hinter die Eingangstür setzte.

Dabei wäre er so gern einer von ihnen. Jedenfalls einer von denen, die Getränke und Mahlzeiten mit einem Lied auf den Lippen servierten. Die singenden Kellner waren die Stars der Gegend, junge Männer mit einem Haufen Trinkgeld in den Taschen. Die Münzen klimperten sicher nur so. Izzy hatte bereits erlebt, dass eine laute, musikalische Stimme etwas wert war, selbst wenn es sich – wie bei ihm – um einen schrillen Tenor handelte. An einem verkauften Journal verdiente er einen halben Cent, aber wenn er einen Schlager intonierte, den er auf der Straße aufgeschnappt hatte, oder die Schlagzeilen in einen Liedtext verwandelte und zu einer Melodie schmetterte, die ihm gerade einfiel, wurden die Käufer spendabel. Dank seinem Talent nahm er meist ein paar Pennys mehr ein. Das hatte ihn auf die Idee gebracht, ein singender Kellner zu werden. Denn Izzy wollte nichts so sehr, wie eines Tages ein reicher Mann sein. Oder zumindest das, was er dafür hielt. Wirklich wohlhabende Gentlemen hatte er noch nie gesehen, die mischten sich nicht unter die hauptsächlich von armen Einwanderern bewohnte Lower East Side. Die 5th Avenue etwa, die Straße der Millionäre genannt wurde, kannte der Junge nur aus den Meldungen in der Zeitung, die Upper East Side Manhattans war von seinem Leben so weit entfernt wie der Mond, der sich heute hinter den dichten Wolken verbarg, die so weiß vor dem sich verdunkelnden Himmel schimmerten wie der Schnee, der auf dem sonst ziemlich schmutzigen Pflaster liegen blieb.

Langsam begann die klirrende Winterkälte durch Izzys Kleidung zu kriechen. Seine Mutter hatte ihn mit einem Mantel aus Walkstoff versorgt, den sie als Hebammenlohn für die Geburtshilfe eines gesunden Zwillingspärchens erhalten hatte. Es war ein guter Mantel. Er war nicht neu, aber von guter Qualität und schützte Izzy in der Regel vor Regen, Wind und Kälte; dennoch war er nicht dafür gemacht, über mehrere Stunden böiges Schneetreiben abzuhalten. Frierend trat der Junge von einem Bein auf das andere, Feuchtigkeit drang dabei in seinen Schnürstiefel, dort, wo die Sohle ein Loch hatte, das von seinem fürsorglichen Mamele mit Zeitungspapier ausgestopft worden war. Das war inzwischen wohl durchweicht.

Er bemerkte eine Gruppe Männer und Frauen, die sich der Straßenkreuzung näherten. Sie hielten sich untergehakt und taumelten ein bisschen, was jedoch vielleicht weniger an dem Alkohol, den sie zu sich genommen haben mochten, als vielmehr daran lag, dass sie versuchten, nicht auszurutschen. Sie schwankten wie Seeleute an Land und wirkten, als wären sie auf dem Weg in ein Lokal. Izzy verkaufte seit seinem achten Lebensjahr Zeitungen und hatte inzwischen einen Blick für die Menschen in der Gegend. Wenn er richtig lag, war der eine oder andere dieser Partygänger für die Neuigkeiten im New York Evening Journal empfänglich. Und statt die Schlagzeilen auszurufen, wäre es bestimmt einnehmender, etwas zu singen. Vor allem, wenn die Pärchen doch schon angetrunken sein sollten.

Zum Wetter und der Jahreszeit passte natürlich am besten ein Weihnachtslied. Izzy sang gern christliche Musikstücke. Sein Vater würde ihm allerdings den Hals umdrehen, wenn er es hörte. Moses Baline war zu Hause in Russland der angesehene Kantor des Schtetls gewesen, in der Emigration hatte er es jedoch in den vergangenen sieben Jahren nur zum Fleischbeschauer in einer koscheren Schlachterei gebracht. Die frommen Gesänge wurden trotzdem an jedem Freitagabend angestimmt, wenn sich die Eltern mit den sechs Geschwistern zur Sabbatfeier versammelten. Izzy indes hatte Freunde, die aus Irland eingewandert waren, keine Juden wie er, sondern Katholiken. Wenn er die O’Hara-Söhne besuchte, war er stets fasziniert von dem Christbaum, den die Familie in diesen Tagen aufstellte und mit Kerzen und bunten Papiersternen schmückte. Darüber hinaus begeisterten ihn die Weihnachtslieder, die ihm seine Freunde beibrachten: »Silent Night« und »Auld Lang Syne« oder »Twelve Days of Christmas«.

Für diesen Moment passte wohl jedoch eine schmissige Melodie besser. Die gab es auch in dem Repertoire, das er bei den Iren aufgeschnappt hatte. Glücklicherweise besaß er ein gutes Gehör und ein noch besseres Gedächtnis, denn Noten lesen konnte er nicht. Er spitzte den Mund und begann die Verse von »Jingle Bells« zu pfeifen, bevor er den Text des Refrains schließlich a cappella schmetterte. Obwohl in seinem Elternhaus nach wie vor nur Jiddisch gesprochen wurde, flossen die englischen Worte mühelos über seine Lippen:

»Jingle bells, jingle bells,

jingle all the way…«

Am Ende des Songs klirrten einige Pennys mehr in seiner Tasche, und Izzy war überzeugt, dass er eine glorreiche Zukunft als singender Kellner vor sich hatte. Er musste nur noch alt genug werden, um eine Anstellung in einem der Lokale zu finden. Als Bedienung würde er ausgesorgt haben – und dabei spielte keine Rolle, dass die Bars und Restaurants in seinem Viertel, dem Bowery, eigentlich nur Spelunken waren.

»There’s No Business Like Show Business«Beverly HillsDezember 1937 Kapitel 1

Das Schwimmbad des Beverly Hills Hotels befand sich in einem terrassenförmig angelegten Garten hinter einer dichten Mauer aus Orangen- und Zitronenbäumen, Bougainvilleen und Hibiskus. Trotz der üppigen Bepflanzung lag der Poolbereich im Sonnenlicht, so dass die wärmenden Strahlen das Wasser erreichten, die Liegestühle und Sitzgruppen standen jedoch meist unter weißen Sonnenschirmen im Schatten. Die Kellner servierten nicht nur im Trockenen, wo Herren und Damen in Sommerkleidung plauderten, sondern auf Wunsch auch den Herrschaften im Schwimmbecken, die sich trotz des an diesem Tag herrschenden kühlen Winds ins Nasse gewagt hatten. Harmlos wirkende Cocktails, deren Anteil an Gin und Curaçao-Likör für innere Hitze sorgte, oder wie Herbstblätter schimmernde Kreationen auf Whiskey- und Wermut-Basis, die mit Maraschinokirschen und kleinen Sonnenschirmen aus Papier geschmückt waren, wurden in Glasschalen an lachende Lippen geführt. Es wurde viel herumgealbert, die Gäste waren berauscht vom Alkohol, vielleicht aber auch von dem herrlichen goldenen Licht, das diese Stadt für Filmschaffende so anziehend machte – oder sie waren begeistert von der Ferienstimmung, die sich angesichts der Szenerie unweigerlich einstellte. An das bevorstehende Weihnachtsfest erinnerte jedoch nichts.

Er mochte dieses oberflächliche Leben nicht. Obwohl er es versucht hatte, war es ihm nie gelungen, in Kalifornien Fuß zu fassen. Mehrmals hatte er sich hier eingerichtet und dann doch alles wieder aufgegeben, um nach Hause, nach New York, zurückzukehren. Inzwischen war ihm mit aller Deutlichkeit klar geworden, dass er an der Ostküste Wurzeln geschlagen hatte und sich daran nichts mehr ändern würde. Wie ein Nomade wohnte er deshalb in einem Hotel, wenn er in Hollywood arbeiten musste.

»Izzy!«

Er umrundete ein Pärchen in heller Sommergarderobe und trat auf den Tisch zu, an dem der Herr saß, der ihn gerufen hatte.

Joseph Schenck war fast sechzig, nicht besonders attraktiv und auch nicht besonders elegant angezogen, ein liebenswerter, humorvoller Mensch, obgleich ein harter Geschäftsmann, der aus jedem Knopfloch seiner legeren Jacke die Macht ausstrahlte, die er in Hollywood besaß. Der einflussreiche Präsident der Filmgesellschaft Twentieth Century-Fox stand auf, um ihm herzlich die Hand zu schütteln.

»Gut, dich zu sehen, Izzy!«

»Du bist der einzige Mensch, dem ich erlaube, mich noch Izzy zu nennen. Und, Joe, wir haben uns erst gestern im Studio gesehen.«

»Betrachte es als Reminiszenz an unsere gemeinsame Jugend in der Lower East Side«, erwiderte der Tycoon, während er sich in seinen Korbsessel zurückfallen ließ. »Wer hätte damals gedacht, dass aus dem singenden Zeitungsverkäufer der beste und erfolgreichste Songwriter Amerikas werden würde?«

»Du vergisst Gershwin, Jerome Kern und Cole Porter …« Er zuckte mit den Achseln und fügte in einem bescheidenen Ton hinzu, der seine Worte Lügen strafte: »Aber vielleicht hast du recht.«

Er war eine einnehmende, mittelgroße Person, zwar immer ein bisschen nervös, aber attraktiv. Sein Haar war auch mit neunundvierzig Jahren noch so lackschwarz wie das des hoffnungsfrohen Jungen von einst, sein olivfarbener Teint und seine dunklen Augen unter den dichten Brauen verliehen ihm eine geheimnisvolle, sinnliche Aura. Am deutlichsten erinnerte aber wohl sein Talent noch an die alten Zeiten, als Joseph Schenck sein bester Freund wurde. Vieles war seitdem anders geworden: Seine Kleidung stammte aus der Savile Row in London und nicht mehr aus zweiter Hand, und sein Name war ein anderer und inzwischen weltberühmt: Aus Israel »Izzy« Baline war Irving Berlin geworden, und als er sich jetzt an dem Gartentisch niederließ, an dem sein Freund auf ihn gewartet hatte, wirkte er wie der Inbegriff eines Gentleman.

Der Kleine mit der schrillen Tenorstimme war tatsächlich ein singender Kellner geworden. Damals war er vierzehn. Nachdem ein Musikverleger aus der Tin Pan Alley nur wenige Jahre später im Pelham Café in Chinatown auf ihn aufmerksam geworden war, begann eine unvorstellbar erfolgreiche Zeit für ihn. Irving Berlin war der erste Komponist und Textdichter, der allein die Musik für eine ganze Broadwayrevue schrieb, er steuerte die Melodien zum ersten Tonfilm der Geschichte bei, und er war der erste Unterhaltungsmusiker, dessen Lebenswerk die Inspiration zu einem Spielfilm war. Letztlich waren große Teile der Handlung fiktiv, doch der Hauptdarsteller Tyron Power sah ihm nicht unähnlich, und der Titel des von Schenck produzierten Streifens – »Alexander’s Ragtime Band« – erinnerte an Izzys ersten großen Hit. Die Dreharbeiten hatten ihn kürzlich von New York nach Los Angeles geführt, zu seinem größten Verdruss war seine Anwesenheit ausgerechnet über die Weihnachtsfeiertage für die Musikaufnahmen nötig. Eine Jahreszeit, die er eigentlich lieber zu Hause an der Ostküste verbrachte – auch eine Reminiszenz, wie Schenck es nannte. Doch bei mehr als zwanzig Nummern aus seiner Feder stand außer Zweifel, dass der Songwriter auf seine privaten Vorlieben ver­zichten musste.

Ein Kellner eilte herbei und fragte nach seinen Wünschen. Irving, der seine Herkunft und Anfänge nie vergaß, verwickelte den jungen Mann in ein freundliches Gespräch, bevor er sich einen Kaffee bestellte. Als der Hotelangestellte verschwunden war, zog er sein Etui und Feuerzeug hervor und steckte sich eine Zigarette an. Nach dem ersten Zug erkundigte er sich: »Joe, was tust du hier?«

»Als ich dich gestern sah, hatte ich den Eindruck, dass dir etwas frische Luft guttun würde«, erklärte Joseph Schenck unumwunden. »Du bist ein bisschen bleich, Izzy. Wahrscheinlich siehst du nichts anderes als dein Hotelzimmer und das Studio. Aber das Leben besteht nicht nur aus Arbeit – du solltest auch die kalifornische Sonne genießen. Deshalb bin ich hier. Ich wollte dich einfach mal kurz rausholen – und das ist mir ja auch gelungen.«

»Ich bin hier, um zu arbeiten, nicht, um Ferien zu machen.«

»Wann arbeitest du nicht?« Mit einem nachsichtigen Lächeln lehnte sich Schenck in seinem Sessel zurück. »Ich kenne niemanden, der so wenig Schlaf braucht und ständig dermaßen unter Strom steht wie du.«

Genervt verdrehte Irving die Augen. Vor dem leuchtend blauen, wolkenlosen Himmel hoben sich die schmalen Stämme der hohen sogenannten Washington-Palmen wie Bleistifte ab, die etwas mit den grünen Wedeln an das Firmament schrieben. Einen Gruß vielleicht, den der Westwind weitertragen könnte. Zwischen seinem Zuhause in New York und seinem Arbeitsplatz in Los Angeles lagen nicht nur zweitausendachthundert Meilen, sondern ganze Welten. Natürlich schlürfte kein Mensch in Manhattan einen Tag vor Heiligabend ausgelassen Drinks an einem Pool. Es legte dort auch niemand während der Arbeitszeit einfach mal eine Pause ein, um den Tag zu genießen. Irving stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Worüber machst du dir Sorgen?«, unterbrach Schenck seine Gedanken. »Ich muss mir Sorgen machen, wenn mein Komponist nicht bei bester Gesundheit und Laune ist. ›Alexander’s Ragtime Band‹ ist mein teuerster Film des Jahres.«

»Danke.« Irving lächelte dem Kellner verbindlich zu, der seinen Kaffee servierte. Nachdem sich der junge Mann entfernt hatte, beugte Irving sich vor, als wollte er seinem Freund ein Geheimnis verraten; sein Getränk ließ er unbeachtet stehen. »Joe, ich will an den Broadway zurück. Meine letzten Erfolge dort sind schon viel zu lange her, ich habe alles für Hollywood zurückgestellt, aber die Filmmusicals füllen mich nicht aus.« Als er Schencks vor Erstaunen hochgezogene Augenbrauen sah, fügte er rasch hinzu: »Das hat nichts mit meiner Arbeit im Studio zu tun, du bekommst meine volle Aufmerksamkeit, aber darüber hinaus schreibe ich eine neue Revue.«

»Hm«, machte Schenck wenig begeistert.

»Es soll etwas Neues werden, etwas ganz Besonderes. Statt der üblichen zwei Akte schweben mir drei vor, die in sich jeweils eine eigene Geschichte erzählen, etwas aus der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Eine Revue von heute, gestern und morgen wäre mal etwas wirklich Modernes, verstehst du?«

»Tatsächlich?«

Irving bemerkte die Skepsis seines Freundes nur am Rande, er war nun ganz in seinem Metier, redete, plante, skizzierte, setzte in seinen Gedanken die Bruchstücke von Texten und Musikfolgen zusammen, erzählte von seinem Skript. Seine Hände schwirrten durch die Luft, der Kaffee wurde kalt.

»Für die Gegenwartshandlung brauche ich noch ein Weihnachtslied, darüber denke ich gerade nach.« Er stockte, dann gestand er mit einer Geste, die den Garten des Beverly Hills Hotels umfasste: »Aber die Stimmung hier bringt mich nicht weiter.«

Schweigen senkte sich über die beiden Männer. Von den anderen Tischen wehten Gesprächsfetzen, Gläserklirren und Lachen herüber.

Nach einer Weile nickte Schenck. »Du vermisst nicht den Broadway, sondern deine Familie«, stellte er fest.

»Vielleicht … ja«, gab Irving zu. »Weihnachten ist ein Datum, das für mich eine große Bedeutung hat.«

»Sagt der Sohn eines jüdischen Kantors«, gab Schenck lakonisch zurück. Er lächelte Irving aufmunternd zu. »Ich möchte dich übrigens zum Essen einladen. An Weihnachten bist du bei mir.« Er machte eine deutliche Handbewegung: »Und keine Widerrede: Ich zähle auf dich.«

Irving hatte damit gerechnet, sich den Room Service kommen zu lassen und in seiner Suite ein einsames Weihnachtsessen zu sich zu nehmen, da er keinen aufdringlich bunten kalifornischen Heiligabend im Hotelrestaurant zu feiern beabsichtigte. Er blickte Joseph Schenck an und nickte. »Natürlich komme ich. Danke für die Einladung.« Er lächelte still in sich hinein. »Du weißt doch, dass ich eine Schwäche für Dinnerpartys habe.« Und in seinen Gedanken wanderte er nicht nur nach New York, sondern dreizehn Jahre zurück.

»Puttin’ on the Ritz«New York CityMai 1924 Kapitel 2

Ellin Mackay schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Sie musste irgendetwas tun, um den gelangweilten Ausdruck in ihrem Gesicht zu kaschieren. Ein wenig mehr Rouge reichte da nicht und wirkte an ihr sowieso nur lächerlich. Wenn sie ihre Mundwinkel zu einem Lächeln hochzog, erreichte die Fröhlichkeit jedoch nicht ihre Augen.

Mit ihren einundzwanzig Jahren war Ellin eine der begehrtesten Frauen der Stadt. Sie war eine der reichsten Erbinnen, und ihr familiärer Hintergrund war nicht nur irisch-katholisch, es floss dank ihrer Mutter auch das blaue Blut britischen Adels in ihren Adern. Bedauerlicherweise hatte sie nicht die Schönheit ihrer Mutter geerbt, sondern ähnelte mit ihrem blassen Teint, den gesunden Apfelbäckchen und dem bei einem bestimmten Lichteinfall rötlich schimmernden, goldblonden Haar eher ihrem Vater; auch trug sie keinen modischen Bubikopf, sondern eine halblange, lockige Frisur. Sie war nicht hässlich, aber ihre bodenständige Attraktivität ließ eher an eine zupackende junge Frau vom Land denken – und nicht an ein Mitglied der High Society. Daran änderten die teuren Kleider und Hüte, die sie trug, nur wenig, wobei sie auch nicht so aussehen wollte wie die austauschbaren Dollarprinzessinnen ihrer Umgebung, die alle auf der Suche nach einem Frosch waren, der sich in einen König verwandelte.

Hinzu kam, dass ihr die immer gleichen Bälle, Theaterpremieren, Dinnerpartys und Nachtclubbesuche mit den ebenso gleichen Gästen und Begleitern allmählich auf die Nerven gingen. Ihre Familie und ihre Freunde erwarteten von ihr, dass auch sie endlich einen jungen Mann mit adäquatem Lebenslauf und entsprechenden Einnahmen zum Heiraten fand. Doch im Grunde ihres Herzens wollte sie selbstständig sein – und nichts anderes so sehr wie schreiben. Sie wollte Schriftstellerin werden, nicht die Ehefrau eines wohlhabenden Mannes, die dasselbe Leben führte, wie sie es schon seit ihrer Zeit als Debütantin tat, mit dem einzigen Unterschied, dass sie dann einen eigenen Haushalt und Kinder hätte.

Als sie sich im vorigen Jahr auf einer Reise durch Europa befand, fasste sie zwar durchaus eine gewisse Neigung zu Ian Campbell, dem künftigen Herzog von Argyll, der stets gut gelaunt und zu Späßen aufgelegt war, aber leider zu viel trank und mit riskanten Einsätzen spielte. Als verlässlicher Ehemann kam er für sie nicht infrage. Da sie aber keine alte Jungfer zu werden beabsichtigte, erwog sie derzeit die Verlobung mit einem Diplomaten aus Washington, der zumindest so nett zu sein schien, dass sie hoffte, er würde ihr gewisse Freiheiten erlauben, selbst wenn er in allen anderen Dingen durch und durch den Vorstellungen ihres Vaters entsprach.

Ellin hatte die Einladung zu dem Essen heute Abend angenommen, weil die Gäste unterhaltsamer zu sein versprachen als viele andere Mitglieder der High Society. Frances Wellman, eine der Gesellschaftsköniginnen New Yorks, versammelte einen illustren kleinen Kreis von Künstlern um sich, was derzeit in Manhattan und auf Long Island in Mode war. Acht Personen nur, zu denen Alice Duer Miller gehörte, eine Cousine von Ellins Mutter und überdies eine bekannte Autorin und Frauenrechtlerin, nebst wohlhabendem Gatten sowie Cole Porter mit seiner Frau Linda, die eine alte Freundin von Ellins Familie war. Man kannte sich von den Sommern auf Long Island, denn Cole Porter war nicht nur ein brillanter Komponist, sondern ebenfalls ein Millionärserbe. Insofern blieb man zwar letztlich doch unter sich, die Gesprächsthemen versprachen interessanter als der übliche Klatsch zu sein.

Ihr Problem war, dass sich ihr kurzfristig eingeladener Tischherr verspätete. Ihre Gastgeberin hatte Ellin zwar versichert, dass sie in letzter Minute noch einen wunderbaren Ersatz für den Mann gefunden hatte, der – wer immer es war – hatte absagen müssen. Doch diese Aushilfe erwies sich als unpünktlich und damit als unhöflich. Beides verdarb Ellin die Laune, denn zwischen den geladenen Ehepaaren fühlte sie sich wie das fünfte Rad am Wagen. Diese Situation führte ihr wieder einmal vor Augen, wie dringend sie wenigstens einen offiziellen Verlobten als Begleitung brauchte – und eben diese Erkenntnis frustrierte sie genauso wie die üblichen albernen Tischgespräche, vor denen sie sich heute eigentlich bewahrt gefühlt hatte. Es war also gleichgültig, was sie tat, am Ende lief immer alles auf dasselbe Thema hinaus.

»Ach je …« Sie stieß einen so tiefen Seufzer aus, dass der Spiegel beschlug.

Es wurde Zeit, dass sie wieder zu der kleinen Gesellschaft stieß. Sie konnte nicht ewig im Damen-Badezimmer bleiben und mit dem Verlust ihrer Hoffnungen auf einen amüsanten Abend hadern. Wenn sie sich nicht unangenehmen Fragen durch ihre Gastgeberin aussetzen wollte, musste sie dieses nach Chanel No 5 duftende Refugium verlassen. Jetzt. Sofort.

Trotzdem konnte sie nicht anders, als sich Zeit zu lassen, sie wusch sich die Hände unter kaltem Wasser, trocknete sie an den flauschigen Gästehandtüchern ab. Dann zupfte sie an den Volants ihres hellblauen Chiffonkleids, tupfte sich den Duft hinter die Ohren und strich sich über das Haar. Als es nun wirklich nichts mehr zu tun gab, machte sie sich mit einem erneuten Seufzer auf den Weg.

Frances hatte offenbar bereits Ausschau nach ihr gehalten. Als Ellin den Salon betrat, rief sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit: »Da bist du ja!« Dafür unterbrach sie ihr Gespräch mit einem Mann, den Ellin nicht kannte. Der Fremde hatte gerade lebhaft gestikulierend etwas erzählt, verstummte und wandte sich um.

Anscheinend war das der Gast, der kurzfristig eingesprungen war, um nachher beim Dinner als ihr Tischherr zu fungieren. Er war nicht sehr groß, ein Mann Mitte dreißig und damit in den besten Jahren, der ein vorbildlich sitzendes weißes Dinnerjackett trug, das sein mit Pomade gescheiteltes und ordentlich gekämmtes lackschwarzes Haar und den olivfarbenen Ton seiner Haut betonte. Seine dunklen Augen wirkten klug, am auffallendsten waren jedoch die buschigen schwarzen Brauen darüber, die aussahen wie der Maske von Charlie Chaplin entliehen. Sein Lächeln war sympathisch – und wirkte dennoch so bemüht lässig und eingeübt, als wäre er ein Filmstar, der seine weiblichen Fans auf Distanz halten musste.

»Darf ich dir Irving Berlin vorstellen?«

Ellin kannte den Namen. Wer kannte ihn nicht in New York? Der Komponist war der König des Broadway, Ellin hatte seine Revuen gesehen und zu seinen Songs getanzt. Dabei hatte sie jedoch niemals das Bild eines realen Menschen im Kopf gehabt, zumal sie die Klatschspalten in den Zeitungen nur selten las und deshalb auch keine Fotografien von ihm gesehen hatte. Im Stillen fiel ihr auf, dass sie sich eigentlich weder über sein Alter noch über sein Aussehen jemals Gedanken gemacht hatte. Durch seine Musik war Irving Berlin eine Größe in der Stadt. Einen attraktiven Mann hatte Ellin hinter den Tönen nicht erwartet.

Als Debütantin mit beachtlichem Vermögen beherrschte Ellin natürlich die Kunst des Small Talk, und so verkündete sie mit ihrer sanften, akzentuierten Stimme: »Wie nett, Sie kennenzulernen, Mr. Berlin. Ich liebe Ihren Song ›What Shall I Do?‹.« Tatsächlich hatte sie das melancholische Liebeslied vor nicht allzu langer Zeit in seiner Revue im Music Box Theatre gehört.

Zu ihrer größten Überraschung zogen sich die beeindruckenden Augenbrauen erstaunt zusammen. Er sah sie nachdenklich an. »Der Titel heißt eigentlich ›What’ll I Do?‹«, korrigierte er und fügte hinzu: »Aber wissen Sie, ich kann immer ein wenig Hilfe bei der Anwendung der englischen Grammatik brauchen.«

Ellin fragte sich, ob er sich über sie und ihren Upperclass-Akzent lustig machte. Allerdings klang er selbst gebildet. Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, nahm sie sich eine Zigarette aus der Schatulle auf dem Beistelltisch neben ihr. Frances Wellman hatte sich ihren anderen Gästen zugewandt, die in einer Gruppe zusammenstanden und sich von dem Tablett mit gefüllten Gläsern bedienten, das ein Dienstmädchen herumreichte.

Irving Berlins Feuerzeug glomm auf.

Sie hielt die Zigarette in die Flamme, atmete tief durch. Als sie sich aufrichtete, begegnete sie seinem Blick. Irving Berlin wirkte freundlich. Ohne Hintergedanken, ohne Anzüglichkeit. Ein erfolgreicher, berühmter Mann, seinem Habitus nach auch wohlhabend, der kein Interesse daran besaß, einer jungen Erbin zu gefallen. Ellin lächelte. Wahrscheinlich würde es an seiner Seite doch ein unterhaltsamer Abend werden.

»Ich war in Ihrem Theater«, sagte sie, während eine Rauchwolke ihr Gesicht verschleierte.

»Das freut mich. Aber die Music Box ist nicht allein mein Theater, es gehört mir zusammen mit meinem Freund und Produzenten Sam Harris. Wir sind wie ein altes Ehepaar, und das Theater, das nur für meine Revuen gebaut wurde, ist sozusagen unser gemeinsames Baby.« Er grinste über den Vergleich.

Unwillkürlich rutschte ihr die Frage heraus: »Was sagen Ihre Kinder dazu, in Konkurrenz mit dem Broadway zu stehen?« Er schien in einem Alter zu sein, in dem ein Mann für gewöhnlich verheiratet und Vater war.

»Möchten Sie einen Cocktail?« Das junge Dienstmädchen bot ihnen die verbliebenen Gläser auf dem Silbertablett an. Es waren hübsche Kristallkelche, mit einer weiß schimmernden Flüssigkeit gefüllt. Obwohl die Drinks völlig harmlos, fast sogar gesund aussahen, wussten alle im Salon, dass sich darin hochprozentiger Alkohol befand. Niemand in Manhattan hielt sich an das Gesetz der Prohibition. Der neue Artikel 18 der amerikanischen Verfassung schien nur dazu zu führen, dass noch mehr Alkohol getrunken wurde, woher auch immer der trotz des Einfuhr- und Verkaufsverbots kam. Aber darüber machte sich ebenso niemand Gedanken.

Ellin griff nach dem Glas, in dem sie eine White Lady vermutete, bestehend aus viel Gin, Cointreau, wenig Zitronensaft und etwas Eiweiß.

Nachdem er sich selbst bedient hatte und das Hausmädchen weitergezogen war, beantwortete Irving Berlin gut gelaunt Ellins ein wenig zu direkte Frage: »Ich habe leider keine Kinder. Und auch sonst keinen Anhang. Nur einen Partner im Theater.«

»Na, da haben Sie immerhin mehr als ich«, gab sie, leise seufzend, zurück.

Kapitel 3

Es wurde ein sehr unterhaltsamer Abend. Das anfangs ernst geführte Tischgespräch drehte sich vor allem um den Roman »Ulysses« des irischen Schriftstellers James Joyce, der zwei Jahre zuvor von der amerikanischen Buchhändlerin Sylvia Beach in Paris veröffentlicht worden war und langsam über die Grenzen Frankreichs berühmt wurde. Fast jeder konnte etwas zu dem Werk, seinem Autor oder seiner Förderin beitragen, denn alle Beteiligten kannten sich mehr oder weniger gut aus in Paris und waren darüber hinaus mit wenigstens einer der beteiligten Personen bekannt; die Porters lebten sogar die meiste Zeit des Jahres in der französischen Hauptstadt. Das ebenso dramatische wie episch angelegte Buch über einen nächtlichen Rundgang durch Dublin war durchsetzt von Erinnerungen an feuchtfröhliche Nächte an der Seine und begleitet von nicht immer für Debütantinnenohren geeigneten anzüglichen Scherzen, über die Ellin aus ganzem Herzen lachte. Man sprach außerdem über die »Rhapsody in Blue«, ein kürzlich uraufgeführtes Werk von George Gershwin; und Cole Porter und Irving Berlin diskutierten den Begriff des »symphonischen Jazz«. Dann wurde das neue Medium Rundfunk zum Thema, in das auch Ellins Vater, der Präsident der Postal Telegraph and Cable Corporation, mit der Gründung einer eigenen Radiogesellschaft investierte. Die interessante Unterhaltung und die allgemeine Ausgelassenheit versetzten Ellin in Hochstimmung. So fühlte sich Freiheit an. Überrascht stellte sie fest, dass sie und Irving Berlin über dieselben Pointen lachten, was sie von einem Mann, der rund fünfzehn Jahre älter war als sie, nicht erwartet hatte. Außerdem fand sie es angenehm, ihm zuzuhören.

Als sich das Dinner dem Ende zuneigte, bedauerte sie, die Gesellschaft verlassen zu müssen. In ihrem Zuhause in Harbor Hill auf Long Island herrschte die bigotte Welt ihres streng katholischen Vaters, dort erwartete sie die immerwährende Frage ihrer Großmutter, wann nur ihre Verlobung endlich offiziell anzuzeigen wäre. Selbst um Mitternacht. Die alte Dame brauchte wenig Schlaf und horchte auf jeden noch so geringen Laut, um zu erfahren, wann Ellin heimkam. Dann erkundigte sie sich sofort, ob ihre Enkelin eine adäquate, hoffnungsfrohe Bekanntschaft gemacht hatte. Ellin wünschte, sie könnte das wohlige Gefühl des Abends noch ein wenig beibehalten. Doch der allgemeine Aufbruch stand bevor.

»Hätten Sie Lust, mich noch auf einen Drink zu begleiten?«, fragte ihr Tischherr. »In der Montmartre Bar wird immer eine gute Show geboten.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Sie können unbesorgt sein: Der Nachtclub ist durchaus akzeptabel, und in meiner Begleitung wird Ihnen in Greenwich Village nichts geschehen.«

»O ja!« Sie verschwieg, dass sie auch mit ihm gehen würde, wenn das Lokal weniger geeignet für eine junge Dame ihrer Herkunft gewesen wäre. Obwohl sie befürchtete, dass ein akzeptabler Nachtclub gleichzeitig ein langweiliger Nachtclub war, fügte sie hinzu: »Eine wunderbare Idee, Mr. Berlin.«

Erst als sie zugestimmt hatte, fiel ihr auf, dass er ihre Gedanken gelesen haben musste. Ahnte er, dass sie noch nicht nach Hause wollte – oder stand es ihr allzu deutlich ins Gesicht geschrieben? Egal. Der Abend war noch nicht zu Ende – mehr zählte gerade nicht. Es war gleichgültig, welchen Eindruck der Songwriter von ihr bekam, sie würde ihn wahrscheinlich niemals wiedersehen. Deshalb machte sie sich tatsächlich keine Sorgen, nicht einmal darüber, dass sie sich ohne weitere Begleitung – allein mit einem Fremden, auch wenn dies ein berühmter Komponist war –, dass sie sich also mit ihm ins Nachtleben stürzte. Sie fühlte sich fast ein wenig verrucht. Und das war sehr aufregend.

Irving Berlin besaß eine elegante Limousine der belgischen Automobilmarke Minerva, silbergrau mit schwarzem Verdeck und schwarzen Lederpolstern. Ellin war angenehm überrascht von seinem guten Geschmack, ebenso wie von dem Chauffeur, der ihr den Wagenschlag öffnete. Beides hatte sie nicht erwartet. Einen Showstar vom Broadway zu erleben, dessen Habitus und Benehmen zu einem Banker von der Wall Street passten, war verwirrend. Das Auto an sich beeindruckte sie weniger, denn in der Garage ihres Elternhauses standen mehrere teure Modelle Kotflügel an Kotflügel, poliert wie frisch geschliffene Diamanten und ebenso teuer.

»Ich hätte Sie eher in einem Roadster gesehen, Mr. Berlin«, gestand sie.

Er hob die Arme und ließ sie wie zur Kapitulation wieder fallen. »Es tut mir leid, dass ich Ihren Vorstellungen nicht gerecht werde, aber ich kann leider nicht Auto fahren. Deswegen kommt ein Zweisitzer für mich nicht infrage.«

»Nein, nein, ich bin sehr zufrieden.« Sie schob sich an dem Chauffeur vorbei und sank auf den Rücksitz. »Es ist alles in Ordnung.«

»Das beruhigt mich«, behauptete er und rutschte neben sie. Dann wandte er sich an seinen Angestellten: »Jack, bringen Sie uns bitte zu Jimmy Kelly’s Bar«, und lehnte sich schließlich entspannt zurück.

Ellin beobachtete, wie sich der Mann namens Jack hinter das Lenkrad setzte. Er war groß, bullig und rothaarig – und wirkte wie ein Leibwächter. Sie neigte ihren Kopf in seine Richtung. »Brauche ich mir seinetwegen keine Sorgen zu machen?«, wollte sie wissen. »Ich meine, ist Ihr Chauffeur unser Beschützer?«

»Im Krieg fuhr Jack einen Panzer«, erwiderte der Komponist mit einem stillen Lächeln. »Seit seiner Repatriierung fährt er mich.«

»Sie sehen gar nicht aus wie ein Kampffahrzeug.« Ellin kicherte albern.

»Ich bin der friedlichste Mensch der Welt – nur beim Poker bin ich unberechenbar.« Sein Lachen verriet ihr das Gegenteil.

Die Straßenbeleuchtung fiel in den Fond, und sie bemerkte nicht nur seinen aufmerksam auf sie gerichteten Blick, sondern auch das Blitzen in seinen dunklen Augen. Da das Tempo, das New York nach dem Großen Krieg ergriffen hatte, auch in der Nacht die Geschwindigkeit auf Manhattans Straßen bestimmte, war es so voll, dass es nur langsam voranging. Schon die 5th Avenue war verstopft, am Broadway hielt sie dann ein Stau auf. Das bunte, flackernde Licht der Werbetafeln zuckte über Ellins und Irvings Gesichter, Hupen, Rufe und Musik drangen durch die Fenster. An einem Straßenmast lehnte ein Musiker und entlockte seinem Saxophon wundervolle Töne, die in dem Verkehrslärm wie Regentropfen im Sturm ­klangen.

»Wie viele Instrumente spielen Sie?«

Irving schien überrascht. »Eigentlich gar keines. Na ja, ich spiele ein bisschen Klavier, das habe ich mir selbst beigebracht, aber ich beherrsche das Instrument nicht wirklich gut.« Er wirkte plötzlich verlegen, so dass sie sich fragte, ob seine Antwort der Wahrheit entsprach oder ein Ausdruck seiner Bescheidenheit war.

»Seltsamerweise dachte ich immer, ein erfolgreicher Komponist wäre der geborene Musiker und besäße eine umfassende Begabung für jedes Instrument.« Sie fühlte sich naiv und fürchtete, sich lächerlich zu machen, weshalb sie fast trotzig hinzufügte: »Cole Porter ist ein brillanter Pianist.«

»Ich weiß. Cole hat auch eine Erziehung genossen, in der ein Flügel zum guten Ton gehörte.«

»Ja«, sagte sie nur und verkniff sich, dass es bei ihr nicht anders gewesen war. Dennoch entfuhr ihr: »Gab es bei Ihnen zu Hause kein Klavier?«

Er lachte. »O nein. Daran war gar nicht zu denken. Wir hatten zwar immer zu essen und auch Kleidung, aber meine Eltern sind aus Russland eingewandert und waren ­mittellos …«

»Wie schrecklich«, murmelte sie aufrichtig erschrocken. Ihre Blicke wanderten über den eleganten Mann neben ihr, der sich ausgezeichnet zu benehmen verstand und in der gehobenen Gesellschaft keinesfalls als Außenseiter aufgefallen war. Nie zuvor war sie einem so widersprüchlichen Menschen begegnet. Genau genommen gehörten zu ihrem Bekanntenkreis gar keine armen Leute und schon gar keine Emigranten. Ihr Großvater, der als mittelloser Ire eingewandert war, zählte nicht, denn den hatte sie ja erst als reichsten Mann westlich des Hudson kennengelernt.

»Ich habe die Armut in meiner Kindheit nie als schlimm empfunden, weil ich es ja nicht anders kannte. Und sehen Sie, Miss Mackay, Jimmy Kelly, in dessen Nachtclub wir fahren, ist genauso wie ich in der Lower East Side aufgewachsen. Wir kommen aus derselben Gegend, und deshalb wird Ihnen bei ihm in meiner Gesellschaft nichts geschehen.«

»Oh!« Ellin riss die Augen auf. Sie war noch nie in der Lower East Side gewesen und hatte auch nicht für möglich gehalten, jemals einen Bewohner von dort kennenzulernen. Jetzt saß sie neben einem Kind dieses verrufenen Viertels und fühlte sich an dessen Seite unfassbar wohl.

Erstaunlich. Aufregend – und unglaublich sympathisch. Sie dachte angestrengt nach, aber die richtigen Worte fand sie nicht, um einzuordnen, wie sie Mr. Berlin sah.

***

Ellin hatte die Zeit längst aus den Augen verloren, als sie wieder in Irvings Auto stieg. Er hatte angeboten, sie nach Hause zu bringen, was angesichts der späten – oder eher frühen – Stunde nicht nur höflich, sondern auch ver