Wichtiger als Liebe - Marie Louise Fischer - E-Book

Wichtiger als Liebe E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Claudia Mennersdorfer beginnt in dem Verlag, für den sie tätig ist, als Sekretärin. Doch sie will hoch hinaus. Mit großem Ehrgeiz und harter Arbeit erklimmt sie eine Karrierestufe nach der anderen und arbeitet sich so mit ihrem übergroßen Einsatz zur Chefredaktion vor. Eigentlich könnte sie jetzt glücklich sein, da sie kurz davor ist, ihr Ziel zu erreichen. Doch mit einem Mal öffnen sich ihr die Augen. Sie erkennt, was für Fehler sie auf dem Weg dahin gemacht hat und welche Lücken sich auftun. Ihre Freunde haben sich ausnahmslos zurückgezogen und, was noch schlimmer ist, auch für Herbert und die Liebe war kein Platz mehr. Ganz und gar wacht sie auf, als sie sich für den Tod einer jungen Frau verantwortlich fühlt. Es ist höchste Zeit, diesen Lebensweg zu beenden und noch einmal komplett von vorne zu beginnen.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Wichtiger als Liebe

Saga Egmont

Wichtiger als Liebe

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1981 by Bertelsmann Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719275

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Niemand außer Claudia Mennersdorfer konnte das Verlagshaus Togelmann schön finden. Sie tat es.

Es war ein Kasten mit quadratischem Grundriß, auf den sich zehn quadratische Stockwerde türmten; in den Augen der Elmroder war es ein Hochhaus. Daneben erstreckten sich, erdgeschossig, Druckerei, Packerei und Lagerhalle, so daß die Anlage alles in allem wie eine überdimensionale moderne Kirche wirkte, bei der das Verlagshaus den Turm bildete. Im obersten Stockwerk war die kleine Redaktion der neuen Zeitschrift »Blitzlicht« untergebracht, und »Blitzlicht« schrien von allen vier Seiten des Turms riesige Buchstaben in die Welt hinaus; von Beginn der Dämmerung bis Mitternacht flammten sie in regelmäßigen Abständen gen Himmel.

Hier arbeitete Claudia seit einem halben Jahr als Sekretärin in der Romanabteilung, und obwohl es ihr noch nicht gelungen war, einen Fuß in die Tür zur Redaktion zu schieben, war sie doch sicher, daß es ihr früher oder später gelingen mußte. Sie war sich ihrer überdurchschnittlichen Fähigkeiten bewußt, und Elmrode, eine kleine Stadt im Zonenrandgebiet, schien ihr gerade der richtige Platz, um vorwärts zu kommen. Menschen, die mehr vom Leben erwarteten als berufliche Erfolge, würden immer Redaktionen in München, Hamburg, ja sogar in Offenburg vorziehen.

Es war früher Morgen.

Claudia fuhr ihr kleines, kompaktes Auto auf den riesigen betonierten Parkplatz. Grund und Boden war am Rande von Elmrode billig gewesen und war es noch. Der alte Togelmann, Paul Togelmann senior, hatte ihn, als er aus den ersten Anfängen heraus war, großzügig eingekauft.

Wie immer war Claudia eine der ersten, die die Halle des Verlagshauses betrat. Es steckte keine Berechnung dahinter, sie wollte sich nicht durch besonderen Arbeitseifer beliebt machen, sondern es trieb sie einfach, morgens so früh wie möglich an ihrem Arbeitsplatz zu sein — Pech für ihre Freundin und Kollegin Elke Kramer, die nicht so mühelos aufstand, und deshalb den Weg von der Wohnung, in der sie zusammen lebten, meist zu Fuß machen mußte. Claudia brachte es nicht über sich, untätig zu warten, bis die andere fertig war.

Sie begrüßte Herrn Kaspar, den Pförtner, mit einem liebenswürdigen Lächeln und einer Bemerkung über den immer noch schönen Herbst. Er war ein unfreundlicher Mann, der sich gern aufplusterte und sich eine Macht anmaßte, die ihm nicht zustand. Aber Claudia wußte, daß er, den niemand außer dem alten Togelmann schätzte, für ein herzliches Wort besonders empfänglich war. Es befriedigte sie, daß sie ihm ein verzerrtes Lächeln entlockte.

Gnädig schloß er ihr den Lift 6 auf, dessen Benutzung eigentlich nur Mitgliedern der Redaktion zustand und der den Vorteil hatte, daß er ohne anzuhalten in den zehnten Stock hinauf glitt.

Oben angekommen hängte Claudia ihren gestrickten korallenroten Mantel, der gleichzeitig elegant und salopp wirkte, sorgfältig über einen Bügel in den Garderobenschrank und warf, bevor sie ihn schloß, einen Blick in den Spiegel.

Mit der Tatsache, daß sie nicht hübsch war, hatte sie sich seit langem abgefunden. Ihre Nase war zu groß, das Kinn zu energisch in dem schmalen Gesicht und ihre blauen Augen mit dem sehr intensiven, manchmal geradezu stechenden Blick waren zu klein. Aber sie hatte gelernt, das Beste aus ihrer Erscheinung zu machen. Sie pflegte ihre Augen kunstvoll zu ummalen, um sie größer scheinen zu lassen, und hatte sich angewöhnt, die Lider leicht zu senken, um nicht hart zu wirken. Das schwarze schulterlange Haar wusch und föhnte sie häufig, so daß es sich wie eine Woge um ihr Gesicht bauschte. Jetzt kämmte sie es, da es vom Wind ein wenig zerzaust war, noch einmal durch.

Dann trat sie einen Schritt zurück. Sie war groß, flachbusig, schmalhüftig und schlaksig und hatte in einer Zeit, die sie bei sich selber ihr »früheres Leben»nannte, mit Vorliebe sportliche Röcke, wenn nicht gar Hosen, Blusen und Pullis getragen. Noch bevor sie nach Elmrode kam, hatte sie ihren Typ ganz bewußt geändert und sich für die warmgetönten, weichen, fließenden Gewänder eines teuren italienischen Modehauses entschieden, eine Wahl, die ihr durch eine kleine Erbschaft erst ermöglicht worden war. Dazu trug sie elegante Pumps mit mittelhohem Absatz.

In dieser Aufmachung fühlte sie sich immer noch verkleidet, aber nicht sich selbst entfremdet, sondern angenehm verwandelt wie eine Schauspielerin in ihrer Bühnengarderobe. Sie schloß den Garderobenschrank und suchte ihren Schreibtisch auf, der nur durch einen halben Wandschirm und einen Kübel mit einer Zimmerlinde von den anderen Arbeitsplätzen getrennt war. Der große Raum wurde von Neonlicht künstlich erhellt. Die Redakteure hatten Kabinen entlang der Fenster mit Trennwänden, die so leicht gebaut waren, daß man schweigen mußte, wenn nebenan telefoniert wurde.

Bevor Claudia sich zeigte, überzeugte sie sich, daß die Hydrokultur ihrer Zimmerlinde feucht genug war; das gehörte nicht zu ihren, sondern zu den Aufgaben der Putzfrauen, die es damit aber nicht sehr genau nahmen. Claudia hätte es als deprimierend empfunden, ihre Pflanze dahinkränkeln zu sehen, wie sie es bei anderen schon mehr als einmal erlebt hatte. Sie steckte ihre große, welche Handtasche in den Schreibtisch und holte ein Kästchen mit Zigaretten heraus, das sie offen hinstellte. Den lederbezogenen Flachmann, den sie leicht schüttelte, um festzustellen, daß er noch halb voll war, verstaute sie wieder an seinem Platz. Es war ihr selbstverständlich geworden, für die Kollegen immer eine Zigarette, ein Bonbon, eine Kopfschmerztablette und — unter besonderen Umständen — auch einen Schluck Kognak bereit zu haben. Das förderte, wie sie glaubte, ihre Beliebtheit und trug ihr sehr rasch Gerüchte und Klatschereien als Gegenleistung zu, denn wortlos wagte sich niemand zu bedienen.

Während die anderen, einer nach dem anderen, eintraten und der Fernschreiber zu ticken begann, machte sie sich daran, einige schwierige Briefe, für die sie einen ausgeruhten Kopf hatte haben wollen, herunter zu hämmern.

Die Unterschriftenmappe unter dem Arm betrat sie die Kabine, offiziell »Büro«, unter den Angestellten nur »Kabäuschen« genannte, von Frau Elsbet Gottschalk, ihrer unmittelbaren Vorgesetzten.

Frau Gottschalk sah zum Fenster hinaus, als sie eintrat. Claudia, die der Meinung war, daß sie die Aussicht bewunderte — von ihrem Fenster aus konnte man die westlichen Höhenzüge des Harzes sehen, dessen Wälder sich herbstlich bunt zu verfärben begannen — grüßte und sagte munter: »Ein schöner Tag, Chefin, nicht wahr?«

Frau Gottschalk zuckte zusammen und wandte sich ihr zu. Sie war eine nicht mehr junge Dame mit vollem Haar, dessen weiße, leicht geblauten Töne ihre rosige Gesichtsfarbe sonst angenehm unterstrichen — aber heute wirkte sie grau, um Jahre gealtert, und ihre Falten zwischen Mundwinkeln und Nasenflügel schienen sich über Nacht vertieft zu haben.

»Ist Ihnen nicht gut?« fragte Claudia spontan und dann, als sie nicht sogleich eine Antwort erhielt: »Soll ich Ihnen eine Tablette bringen?«

»Nein, danke«, sagte Frau Gottschalk schwach.

Aus dieser Antwort schloß Claudia, daß sie über ihren Zustand nicht sprechen mochte und legte ihr wortlos die Unterschriftenmappe, die sie gleichzeitig öffnete, auf den Schreibtisch. Frau Gottschalk setzte ihre Brille auf, die sie an einer Kette um den Hals trug, und begann zu lesen. Es schien ihr schwerzufallen, denn sie bewegte dabei die Lippen — gewöhnlich pflegte sie die Briefe rasch zu überfliegen.

»Sie brauchen nur zu unterschreiben, Chefin, die sind ganz in Ordnung«, sagte Claudia munter, »ich stehe dafür gerade.«

»Aber das weiß ich doch!« Frau Gottschalk schraubte ihren dicken Füllhalter auf — Geschenk der Firma zum letzten Weihnachtsfest und Statussymbol — und versuchte ihre Unterschrift zu setzen. Aber ihre Finger gehorchten ihr nicht, und es wurde ein unleserlicher Krakel daraus. »Entsetzlich!« sagte sie.

»Das macht doch nichts!« tröstete Claudia. »Das Diktatzeichen steht ja oben.«

»Aber wie sieht das aus!«

»Wenn es Sie stört, lassen Sie mich unterschreiben … ›im Auftrag‹ oder ›nach Diktat verreist‹.«

»Das klingt so unhöflich.«

»Ach was, das ist allgemein üblich.« Claudia nahm das unterzeichnete Blatt, faltete es und steckte es in den Umschlag. Frau Gottschalk saß nur da, ohne umzublättern, versuchte das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bekommen und schwieg.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Claudia, »Sie brauchen eine Beruhigungstablette und Sie gehören ins Bett.«

»Ich bin nicht krank.«

»Einen gesunden Eindruck machen Sie jedenfalls nicht.«

»Es ist nur … meine Tochter …« Frau Gottschalks Stimme klang brüchig, »Sie wissen, daß meine Tochter verheiratet ist …«

»Ja«, sagte Claudia — wie jeder im Betrieb und wahrscheinlich in ganz Elmrode wußte sie, daß Frau Gottschalks Tochter mit einem Hemdenfabrikanten in Bielefeld eine gute Partie gemacht hatte.

»Sie erwartet ein Baby.«

Auch das war Claudia bekannt, aber sie sagte nichts.

»Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle …«

Für Claudia war das ganz offensichtlich: Frau Gottschalk stand unter schwerem Druck und mußte einfach ein Ventil öffnen.

»Sie ist gestern abend in den Kreißsaal gekommen … in das Kreißzimmer, wollte ich sagen, sie ist natürlich Privatpatientin … und heute früh war das Baby immer noch nicht da!« Der letzte Satz war nicht laut gesprochen und hatte doch wie ein Aufschrei geklungen.

»Das will doch nichts besagen«, behauptete Claudia.

»Um sieben Uhr haben die Wehen begonnen, und heute morgen um neun ist immer noch nichts passiert … nach vierzehn Stunden!«

»Rufen Sie doch einfach noch mal an!«

»Das haben die nicht gern. Es ist ihnen lästig.«

»Na und? Nebbich.«

»Sie haben mir versprochen, mich sofort zu benachrichtigen.«

»Na also. Dann kann der Anruf doch jede Minute kommen.« Frau Gottschalk seufzte tief und blickte Claudia an, als würde sie sie jetzt erst wirklich wahrnehmen. »Das verstehen Sie nicht. Sie können nicht verstehen, wie einer Mutter zumute ist …«

»Wahrscheinlich nicht«, gab Claudia zu.

« … und Sie kennen meinen Schwiegersohn nicht. Er ist so sensibel. Ich fürchte, er steht’s nicht durch.«

»Frau Gottschalk, ich habe noch nie gehört, daß ein werdender Vater die Geburt nicht überstanden hätte.«

»Sie verstehen das nicht.«

»Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle tun würde?« sagte Claudia mit einem plötzlichen Einfall. »Mich in mein Auto setzen und schnurstracks nach Bielefeld fahren.«

»Aber das geht doch nicht! Gerade heute, wo wir die Konferenz wegen der Weihnachtsnummer haben.«

Claudia zählte bis drei, um sicher zu sein, daß ihre Stimme ganz gleichgültig klang und senkte die Lider, um sich nicht durch einen Blick zu verraten. »Ich könnte Sie ja vertreten.«

»Unmöglich!«

Diese heftige Ablehnung traf Claudia und kränkte sie, aber sie ließ es sich nicht anmerken. »Wie Sie denken«, sagte sie ruhig, »sonst kann ich wohl kaum etwas für Sie tun.«

»Fräulein Mennersdorfer, bitte, gehen Sie nicht … lassen Sie mich überlegen … Sie würden das wirklich tun?«

»Ihnen zuliebe«, sagte Claudia heuchlerisch, »ja. Ich könnte auch Protokoll führen … alle die Punkte berücksichtigen, von denen wir wissen, daß Frau Tauber sie gern unter den Tisch fallen läßt.«

Der Köder war zu saftig, Frau Gottschalk hatte ihn schon halb geschluckt, ehe sie es selber merkte. »Aber wie würde das denn aussehen?!« protestierte sie schwach. »Der Junior hat es nicht gern, wenn jemand ausfällt!«

Claudia stimmte mit dieser Auffassung Paul Togelmanns junior ganz überein; dennoch sagte sie: »Seien Sie doch ehrlich, Chefin! Ihre Anwesenheit bei der Konferenz würde doch ohne jede Effektivität sein. Sie sind doch heute außerstande zuzuhören, geschweige denn einen kreativen Anstoß zu geben.«

»Vielleicht …«

»Bestimmt sogar! Und Sie wissen das besser als ich.«

»Aber wie könnte ich mich entschuldigen?«

»Legen Sie dem Chefredakteur einfach ein paar Zeilen auf den Schreibtisch … daß Sie plötzlich erkrankt sind und ich Sie vertreten soll.«

»Das wäre eine Lüge und dann … er würde es mir übelnehmen.«

Es amüsierte Claudia, daß Frau Gottschalk solche Manschetten vor dem sehr viel jüngeren Mann hatte, aber sie ließ es sich nicht anmerken. »Dann rufen Sie ihn an!« riet sie, erkannte aber, kaum daß sie es ausgesprochen hatte, daß dies keine gute Idee war; Frau Gottschalk war nicht in der Verfassung, überzeugend zu argumentieren.

»Das kann ich nicht!« erklärte sie denn auch prompt.

»Dann rufen Sie den alten Herrn an oder, besser noch, fahren Sie hinunter und sprechen Sie mit ihm.« Nach einem Blick auf ihre elegante goldene Armbanduhr mit dem kobaltblauen Zifferblatt fügte sie hinzu: »Um diese Zeit ist er bestimmt längst im Verlag.«

»Soll ich wirklich?« fragte Frau Gottschalk noch, machte aber schon Anstalten aufzustehen.

»Aber ja doch. Ihm können Sie die Wahrheit sagen. Er wird die Situation bestimmt verstehen.«

In der Redaktion kursierte das Gerücht, daß Frau Gottschalk ihren Posten durch Protektion Paul Togelmanns senior bekommen hätte. Ihre berufliche Laufbahn — sie war in jungen Jahren Bibliothekarin gewesen, dann aber hatte sie eine lange Pause gemacht prädestinierte sie wohl kaum dazu. Es hieß, daß sie einige Jahre die Geliebte des alten Herrn gewesen war, der ihr, als sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes unversorgt dagestanden hatte, auf diese Weise hatte helfen wollen.

Frau Gottschalk, eine sehr harmlose Person, ahnte nicht, was und wie über sie geredet wurde, und so wurde sie durch Claudias Bemerkung irritiert. Fragend und erschrocken blickte sie auf. Aber Claudia, die schon fürchtete, zuviel gesagt zu haben, machte ein ausdrucksloses Gesicht.

Die Redaktionskonferenz sollte um zwei Uhr beginnen. Wenige Minuten davor betrat Claudia den Konferenzsaal, der eigentlich das Arbeitszimmer des Chefs, Paul Togelmann junior, war. Sein Vater hatte für die Redaktion vom »Blitzlicht« nur ein Stockwerk zur Verfügung gestellt, alle anderen waren dem juristischen Verlag »Togelmann & Sohn« verblieben, der das finanzielle Rückgrat des Unternehmens bildete. Der Senior wollte, daß die Zeitschrift, das Lieblingskind seines Sohnes, so kostenarm und bescheiden wie nur möglich gestartet wurde. Den Sohn aber verlangte es nach Repräsentation, und so hatte man sich darauf geeinigt, ihm einen großen Raum zu geben mit einem riesigen Fenster, das den Blick über Elmrode bis zu den Ausfallstraßen freigab. Um diese Pracht zu rechtfertigen, nahm etwa die Hälfte des Zimmers ein langer, rechteckiger Tisch aus Eichenholz ein, um den sich die Redakteure bei Besprechungen auf gepolsterte, mit grünem Leder bezogene Eichenstühle zu scharen pflegten. Togelmann junior thronte im anderen Teil an einem Schreibtisch, der ebenfalls aus dunkler Eiche und nicht sehr viel kleiner als der Konferenztisch war.

Heute jedoch war er noch abwesend. Claudia, die sich darüber informiert hatte, hätte sonst nicht gewagt, als erste zu erscheinen. So aber hatte sie sich zu eben diesem Vorgehen entschlossen. Es schien ihr besser, als durch einen späteren Auftritt Aufsehen zu erregen und womöglich provozierende Fragen beantworten zu müssen.

Als sie eintrat, einen Schnellhefter unter dem Arm, war Frau Hedda Tauber, die Sekretärin des Chefredakteurs, noch damit beschäftigt, Papierstöße und Schreibutensilien auf dem Konferenztisch zu verteilen.

Sie blickte auf und fragte scharf: »Sie wünschen?!« Frau Hedda Tauber war eine Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, wegen ihrer unerbittlichen Strenge und ihrer scharfen Zunge allgemein gefürchtet, aber Ihrer Tüchtigkeit wegen unersetzlich; sie trug das dunkle Haar kurz geschnitten, hatte eine attraktive Figur und war immer, meist mit Röcken, Hemdblusen und Westen, tipp topp gekleidet.

Claudia mußte sich zwingen, dem durchbohrenden Blick der dunklen, glänzenden Augen standzuhalten. »Aber wissen Sie denn nicht?« erwiderte sie in sanftem Plauderton. »Frau Gottschalk hat sich entschuldigen lassen und mich mit ihrer Vertretung beauftragt.«

»Ach wirklich?« Frau Tauber tat nichts, um ihre Ungläubigkeit zu verhehlen.

»Doch!« behauptete Claudia und konnte nur hoffen, daß Frau Gottschalk sie trotz ihrer Aufregung vorgeschlagen und sie nicht einfach vergessen hatte.

Frau Tauber ließ sich durch ihre entschiedene Haltung beeindrucken. »Jedenfalls ganz gut, daß Sie da sind«, meinte sie, »dann können Sie gleich einen Kaffee kochen.«

Claudia hätte unter normalen Umständen nichts dabei gefunden, diesen Wunsch zu erfüllen, sie hatte das auch bei »Blitzlicht« oft genug getan, und es gehörte mit in ihr Programm sich angenehm zu machen. Aber jetzt durchschaute sie sofort den Trick, mit dem Frau Tauber sie auf die Ebene der Schreibkraft festnageln wollte.

»Der Chef und Herr Hilgers wünschen bestimmt gleich Kaffee!« fügte die Tauber hinzu.

»Das tut mir wahnsinnig leid, Frau Tauber, aber … unmöglich!« erklärte Claudia. »Ich muß mich noch vorbereiten. Der Auftrag kam so plötzlich. Aber ich könnte Fräulein Kramer bitten …«

»Die wird wohl auch anderes zu tun haben!«

»Schon möglich!« Claudia hatte den Tisch überschaut, nahm an seinem unteren Ende Platz und schlug ihren Schnellhefter auf.

Sie wußte, daß sie Frau Tauber gegen sich aufgebracht hatte, aber das hatte sie riskieren müssen. Die Chefsekretärin war ihr ohnehin nicht gewogen, und Claudia sah keine Möglichkeit, ihre Gunst zu gewinnen. Es hieß, daß Frau Tauber alle jüngeren weiblichen Kräfte im Haus ein Dorn im Auge wären. Also war es wohl besser, die Konfrontation zu wagen. Außerdem glaubte Claudia dem Gerücht, daß zwischen dem Chefredakteur und seiner Sekretärin eine latente Spannung bestand. Sie war ihm von seinem Vater empfohlen oder sogar aufgezwungen worden als eine Person, die das Geschäftliche beherrschte, aber auch, wie man munkelte, weil sie die Gewähr dafür bot, daß nichts in der Redaktion geschehen konnte, ohne daß es der alte Herr erfuhr.

Frau Tauber betrachtete Claudia mißbilligend. »Sie sind reichlich anmaßend, Fräulein Mennersdorfer!«

»Oh nein!« erwiderte Claudia fröhlich. »Das kommt Ihnen nur so vor! Was würden Sie denn tun, wenn man Sie bäte, Ihren Chef zu vertreten?«

Claudia entschied sich, daß es doch besser war zu stehen, wenn die anderen hereinkamen, und so erhob sie sich wieder. Da erschienen sie auch schon, einer nach dem anderen, in sehr kurzen Abständen.

Zuerst trat Frau Brehm ein, eine Frau in den Fünfzigern, ungeschminkt und streng frisiert. Sie wirkte wie eine Gewerbelehrerin und hatte einen männlichen, kräftigen, weit ausholenden Schritt. Frau Brehm war verantwortlich für Mode, Kosmetik und Handarbeiten. Sie begrüßte Frau Tauber und sah kalt über Claudia hinweg, ohne ihr freundliches Lächeln zu erwidern, das Claudia jetzt selber vorkam wie das Wedeln eines Hündchens.

Ihr auf den Fersen folgte breit, behäbig und selbstsicher Herr Anderson, der mit einem freundlichen »Hallo« grüßte und allen, auch Claudia, die Hand schüttelte. Er machte die Rezeptseite für »Blitzlicht«, aber da er hauptberuflich als Chefkoch im »Goldenen Hahn« fungierte, dem besten Restaurant in Elmrode, hatte er es nicht nötig, sich um Betriebsintrigen zu kümmern und tat es auch nicht.

Hinter ihm schob sich Hans Jürgen Hilgers, der politische Redakteur, durch die Tür. Er bewegte sich wie der schwergewichtige Mann, der er einmal gewesen war und schien vergessen zu haben, daß er längst abgemagert war. Der Hemdkragen schlotterte um seinen faltigen Hals, das Jackett um seinen schmalen Oberkörper, und die Hose wurde, weit über der Taille, von Trägern gehalten. Selbst seine Haut war ihm zu groß geworden; seine schlaffen Hängebacken reichten ihm bis zum Kinn. Nur seine Nase war noch mächtig, und seine kleinen Augen blitzten listig. Er war ein Mann Von profundem Wissen, und Claudia mochte ihn, weil er eine Fundgrube von Geschichten war. Als schwerer Säufer hatte er immer wieder durch Entziehungskuren versucht, Herr seiner Krankheit zu werden.

Claudias Anwesenheit entging seiner Aufmerksamkeit nicht. »Tag, Kindchen!« sagte er schmunzelnd. »Welch glücklicher Zufall bringt Sie in diese hehren Hallen?«

Claudia betete ihr Sprüchlein herunter.

»Da sieh mal einer an! Die gute Gottschalk in einer Seelenkrise!«

»So würde ich das nicht nennen«, verteidigte Claudia ihre persönliche Vorgesetzte, »es war einfach so …«

Hilgers winkte mit seiner großen schlaffen Hand ab. »Ersparen Sie uns Einzelheiten aus dem Nähkästchen, Kind!«

Kurt Schmidt, der sich an die Seite von Hilgers drängte, beachtete sie überhaupt nicht; er war ein junger Mann in Claudias Alter, wirkte aber immer noch eine Spur pubertär, was wohl von seiner unreinen Haut und dem schwachen, flaumigen Bartwuchs herrührte. »Ich ahne Fürchterliches!« sagte er. »Passen Sie auf, Hilgers, man wird eine sentimentale weihnachtliche Reportage von mir verlangen! Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?«

Schmidt pflegte in Gegenwart des Chefredakteurs immer und bedingungslos auf dessen Seite zu stehen, bei anderen Gelegenheiten aber abfällige Bemerkungen über ihn zu produzieren, die er ihm dann brühwarm weitererzählte.

Hilgers wußte das wie alle anderen, und so blieb er stumm. Claudia konnte den Mund nicht halten. »Es gibt doch in der Weihnachtszeit immer Katastrophen«, sagte sie, »entgleisende Züge, Flugzeugabstürze. Man könnte doch die Hinterbliebenen interviewen nach dem Motto: das erste Weihnachten ohne ihre Lieben!«

Kurt Schmidt drehte den Kopf, als würde er eine Mücke suchen, von der er sich belästigt fühlte. »Hab’ ich da was gehört?« fragte er.

Hilgers zwinkerte Claudia zu. »Gar nicht schlecht, Kindchen!« Claudia bemühte sich, ein gleichmütiges Gesicht zu machen.

Zwei Fotografen eilten herein und stellten erleichtert fest, daß sie nicht die letzten waren.

Sämtliche Gespräche verstummten, als Paul Togelmann junior den Raum betrat. Nachdem er den Blick flüchtig über die Anwesenden hatte schweifen lassen, wobei er kurz auf Claudia verweilt hatte — mit einem Ausdruck der Irritation, bei dem Claudia fast der Herzschlag ausgesetzt hatte —, sagte er: »Ich bitte doch, Platz zu nehmen.«

Aber als einziger tat es Hilgers, der glaubte, sich als alter Herr das herausnehmen zu können. Außerdem hatte er das Privileg, vom jungen Chef geduzt und als »Onkel Hans« angesprochen zu werden, wie auch er ihn duzte und »Peter« nannte, den Vornamen, mit dem man ihn in der Familie anredete, um Verwechslungen zu vermeiden.

Die anderen setzten sich erst nach Togelmann junior.

Er war ein schlanker Mann Mitte dreißig, gut gebaut, mit einem schmalen Schädel, aschblondem Haar, gerader Nase und einem breiten, etwas schlaffen Mund. Die grauen Augen waren hell bewimpert und konnten blitzen, wenn er sich begeisterte, aber auch tödlich kalt blicken.

Jetzt sah er in die Runde und wartete darauf, bis auch der letzte Räusper und leiseste Huster verstummt war, dann eröffnete er das Gespräch. Wie immer gab er sich kameradschaftlich, fast kumpelhaft, tat so, als wären sie alle gleichberechtigt und gleichmäßig am Erfolg von »Blitzlich« beteiligt. Aber alle hatten die Erfahrung gemacht — Claudia wußte darum vom Hörensagen —, daß es sehr unratsam war, auf seinen Ton einzugehen. Sobald jemand mit der gleichen Lässigkeit antwortete, ging Togelmann junior auf Distanz.

Das A und O seiner Rede war, daß »Blitzlicht« zwar eine hervorragende Zeitschrift sei, in Anbetracht der geringen Mittel, die der Redaktion zur Verfügung stünden — ein Seitenhieb auf Papa —, daß sie aber noch besser, sehr viel besser werden müsse. Die Verkaufsziffern stiegen zwar in erfreulicher Weise, mußten aber noch sehr viel schneller und höher hinaufschnellen, wenn »Blitzlicht« endlich aus den roten Zahlen kommen sollte. Er dankte allen Anwesenden herzlich für die gute Zusammenarbeit und ihren Eifer, warnte sie aber davor, nachzulassen, sondern — Claudia hatte es schon nicht anders erwartet — erklärte: »Wir alle müssen unsere Anstrengungen noch steigern, uns geradezu selber übertreffen, um ein Blatt zu gestalten, das jeder Konkurrenz standhält!«

Claudia hatte das Gefühl, daß sie die einzige war, die zuhörte. Die anderen bemühten sich nur, interessierte Gesichter zu machen, aber ihre Augen blieben leer. Hilgers gähnte sogar einmal verstohlen, was ihm einen eisigen Blick des Chefs zutrug. Daraufhin wechselte der alte Mann schleunigst die Haltung und straffte die Schultern.

»Wir haben nicht das Geld, und wir verfügen auch nicht über die Routine eingefleischter Illustriertenmacher«, fuhr Togelmann fort, »aber wir sind auch noch nicht festgelegt. Wir gleiten nicht wie eine veraltete Straßenbahn auf ausgeleierten Gleisen dahin, sondern wir sitzen in einem rassigen Rennwagen, aus dem wir das Beste an Tempo, Glanz und Glamour herausholen wollen!«

Unwillkürlich blickte Claudia zu Hilgers hin, und er verriet ihr mit einem Wimpernzucken, daß auch er diesen Vergleich für ziemlich weit hergeholt, wenn nicht gar unzutreffend hielt. »Die Weihnachtsnummer muß etwas ganz Besonderes werden!« tönte Togelmann. »Darüber sind wir uns wohl alle einig. Sie ist unsere erste Weihnachtsnummer, das ist unsere Chance. Wir müssen sie so gestalten, daß unser Publikum sie frißt! Vorschläge?« Er blickte in die Runde.

Kurt Schmidt hob seinen Zeigefinger wie ein Schuljunge. »Da war doch voriges Jahr kurz nach Weihnachten dieser Unfall auf der B 6 kurz vor Nienburg. Erinnern Sie sich, Chef? Eine junge Familie wollte zu den Großeltern. Auf der eisig glatten Fahrbahn gab es einen Zusammenstoß. Der Vater und die kleine Tochter waren auf der Stelle tot. Die Mutter und zwei Söhne überlebten.«

Claudia traute ihren Ohren nicht.

»Na und?« fragte Togelmann. »Das klingt alles andere als festlich!«

»Ich dachte, ich könnte eine Reportage darüber machen, so etwa: ›Ihr erstes Weihnachtsfest nach dem schweren Unglück! Wie leben sie heute?‹«

Claudia war drauf und dran, ihren Anspruch auf diese Idee, die Kurt Schmidt so gewissenlos ursurpiert hatte, anzumelden. Aber die ausdruckslosen Gesichter ringsum verrieten ihr, daß keiner sich für sie einsetzen würde. Selbst Hilgers, den sie bisher fast als väterlichen Freund betrachtet hatte, sah durch sie hindurch. Kürt Schmidt, das wußte sie, würde glatt leugnen.

»Klingt gut«, sagte Togelmann.

Claudia schwor sich, nie wieder einen Einfall zwischen Tür und Angel fallen zu lassen.

Die Konferenz ging weiter. Für Claudia wurde sie zu einer Enttäuschung. Sie hatte sich vorgestellt, daß die Redakteure vor Einfällen nur so platzen würden. Aber alle verhielten sich sehr zurückhaltend, wenn nicht sogar vorsichtig. Togelmann schien nicht die Gabe zu haben, die Geister zu animieren. Die meiste Zeit redete er selber. Die anderen schienen lieber zu schweigen, als sich in Gefahr zu begeben, etwas Falsches oder Unerwünschtes zu sagen. Claudia selber hatte sich von Anfang an vorgenommen, nicht zu sprechen. Sie wußte, daß sie in diesem Kreis nur geduldet wurde. So blieb sie stumm, obwohl ihr manches ein- und auffiel. Aber sie beschränkte sich darauf, Notizen zu machen.

Als Frau Brehm ihren Vorschlag für die Weihnachtsnummer vorbrachte, hätte Claudia fast etwas gesagt. Sie öffnete den Mund, schloß ihn dann aber wohlweislich gleich wieder. Frau Brehm wollte Tips für ein festliches Sylvester geben: Abendkleider, Abendfrisuren, großes Make up. So weit so gut. Aber im Handarbeitsteil wollte sie zu einer bunten Decke für den Sylvestertisch anregen, sehr hübsch und sehr kompliziert, im Kreuzstichmuster.

›Wenn eine Frau damit vor Weihnachten beginnt‹, hätte Claudia beinahe gesagt, ›wird sie frühestens Ostern fertigt Aber den Herren gefiel diese Idee, und Claudia war froh, den Mund gehalten zu haben. Sie suchte Frau Taubers Blick, doch die Chefsekretärin stenographierte mit ausdruckslosem Gesicht.

Endlich wendete sich das Interesse ihrem Ressort zu. »Und was hat sich die Romanabteilung Schönes für die Weihnachtsnummer ausgedacht?« fragte Togelmann; er sah Claudia kurz an und fügte hinzu: »Oder lassen wir das besser für heute …« »Nein! Warum denn?« sagte Claudia. »Ich habe die Unterlagen da! Unser Roman geht Weihnachten in die fünfte Folge … es wird ein Höhepunkt der Story. Wir …« Sie verbesserte sich: »Frau Gottschalk hat an eine doppelseitige Zeichnung gedacht. Ich habe den Entwurf des Graphikers dabei … hier, bitte!« Sie stand auf und legte ihn vor Togelmann hin.

Der Entwurf zeigte eine Familienszene, die erstaunlich echt wirkte und die Frau Gottschalk und ihr sehr zugesagt hatte. »Ganz hübsch«, urteilte Togelmann säuerlich, »aber dann müßte die Folge selber noch stärker eingestrichen werden.«

»Noch stärker?!« rief Claudia entsetzt. »Wir haben ohnehin nur acht DIN A 4 Seiten!«

»Fünf!« berichtigte Togelmann.

»Aber das wäre doch ein Jammer! Der Text ist wirklich interessant … rührend und packend!«

»Sie scheinen nicht zu wissen, daß die Ausgabe ziemlich dünn werden wird. Bedauerlicherweise läßt das Interesse der Inserenten nach, sobald das Weihnachtsgeschäft gelaufen ist.«

»Natürlich weiß ich das! Aber ich sehe nicht ein, warum ausgerechnet unser Roman darunter leiden soll!«

»Weil er das Uninteressanteste ist«, ließ sich Kurt Schmidt vernehmen.

»Wie können Sie das sagen!« fuhr Claudia ihn an. »Ich möchte wetten, daß Sie Ihre Nase noch nie hinein gesteckt haben!« Schmidt grinste. »Was nicht gerade eine Empfehlung für ihn ist, oder?«

»Für Leute wie Sie ist er nicht geschrieben worden!«

»Schmidt hat recht!« behauptete Togelmann. »In der fünften Folge springt kein Leser mehr in einen Roman ein. Die ihn kennen und mögen, werden ihn weiterlesen, egal wie stark er gekürzt ist.«

»Aber es gibt Menschen, die sich ›Blitzlicht‹ kaufen, gerade an den Feiertagen, weil sie sich auf eine saftige Portion Lesefutter freuen. Sie werden enttäuscht sein … vielleicht sogar abspringen …«

»Da bin ich ganz und gar nicht Ihrer Meinung«, verkündete Togelmann abschließend.

Claudia mußte einsehen, daß sich jedes weitere Wort erübrigte; sie griff über Togelmanns Schulter und nahm den Entwurf an sich. »Dann wird Frau Gottschalk wohl lieber auf ein festliches Layout verzichten wollen«, sagte sie, kehrte zu ihrem Platz zurück und faltete im Gehen das Blatt zusammen.

»Wie steht es mit der Kurzgeschichte?« fragte Togelmann hinter ihr her.

Claudia sah noch eine letzte Chance; sie drehte sich um. »Könnte man die nicht weglassen und statt dessen den Roman …«

Er fiel ihr scharf ins Wort. »Nein! Eine Geschichte und eine Folge … das ist eine Grundsatzentscheidung!«

»Ich dachte nur, ausnahmsweise …«

»Das heißt also, Sie haben keine?«

»Oh doch! Wir haben drei in die engere Auswahl genommen! Wenn Sie sie lesen möchten …«

»Nun, ich nehme doch an, daß Frau Gottschalk schon ihre Entscheidung getroffen hat.«

»Ja«, sagte Claudia, nahm ein Blatt aus ihrem Schnellordner und fügte den Entwurf wieder ein, »es handelt sich in der Erzählung um ein alleinstehendes Mädchen und einen Junggesellen, die beide, unabhängig voneinander und ohne sich zu kennen, dem Londoner Trubel und den Feiertagen entgehen wollen und sich auf’s Land zurückziehen. Dabei lernen sie sich natürlich kennen und, nachdem sie noch eine Weile mit dem Schicksal gehadert und ihre Wunden geleckt haben, auch lieben.«

»Na ja«, sagte Kurt Schmidt.

Claudia mußte an sich halten, keinen wütenden Blick auf ihn abzuschießen, der ihr ja auch nichts geholfen hätte.

»Frau Gottschalk fand die Geschichte gerade für die Feiertage sehr passend. Die Autorin ist Evely Worthy.«

»Nur?« fragte Hilgers augenzwinkernd.

»Wieso nur?« gab Claudia verwirrt zurück.

»Sie sagten das eben so, als wollten Sie eine Einschränkung hinzufügen.«

»Tat ich das? Ist mir gar nicht bewußt geworden. Aber da Sie mich daran erinnern …« Claudia hatte diese Sache gar nicht auf das Tapet bringen wollen, entschloß sich jetzt aber vorzupreschen, anstatt zurückzuweichen. »Frau Gottschalk meint«, sagte sie, »daß die Geschichte besser ankäme, wenn man sie auf deutsche Verhältnisse adaptieren würde.«

»Wie das?« fragte Togelmann.

»Eine deutsche Großstadt anstatt London nehmen …« Togelmann hob die dichten, blonden Augenbrauen. »Und dadurch, glauben Sie, würde der Plot besser?«

»Nein, nicht dadurch. Frau Gottschalk meint, daß die ausgesprochen englischen Gebräuche auf unsere Leserinnen verwirrend wirken könnten … die ewigen Teestunden zum Beispiel. Wenn man statt dessen einen Nachmittagskaffee …« Kurt Schmidt, der auf den Hinterbeinen seines Stuhls schaukelte, unterbrach sie unhöflich. »Sagen Sie mal, für wie einfältig halten Sie unsere Leserinnen eigentlich? Wir leben in einer Zeit, in der jeder Hauptschüler Englisch als Pflichtfach hat und jeder auch nur einigermaßen beschlagene Mensch die Vorliebe der Engländer für Teepausen kennt!«

»Das wissen wir auch!« parierte Claudia. »Aber Frau Gottschalk meint, daß das typisch Englische in der Geschichte eben doch einen Entfremdungseffekt bewirken … daß die Leserinnen sich nur schwer mit der Heldin identifizieren könnten!«

Man sah, daß Kurt Schmidt, der seinen Stuhl unvermittelt auf alle vier Beine plumpsen ließ, im Begriff stand Claudia noch einmal anzugreifen. Aber Togelmann brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Und wer soll diese Adaption durchführen?« fragte er.

»Frau Gottschalk natürlich.«

»Aber sie ist ja im Augenblick nicht greifbar. Apropos … haben Sie eine Ahnung, wann wir wieder mit ihr rechnen können?«

»Ich weiß es nicht!« gab Claudia zu und verbesserte sich rasch:

»Aber sicher bald!«

»Und wenn nicht, sitzen wir in der Klemme. Soviel ich weiß, handelt es sich um eine Familienangelegenheit,« Togelmann blickte auf seine eigenen Notizen. »Frau Brehm, könnten Sie vielleicht im Notfall …«

»Oh nein!« wehrte die Redakteurin hastig ab. »Ich nicht!«

»Was ist mir dir, Onkel Hans?«

Ehe Hilgers noch antworten konnte, rief Claudia: »Warum fragen Sie nicht mich? Ich bin durchaus imstande, Frau Gottschalk zu vertreten … sehr gut sogar!

Kurt Schmidt schlug die Augen gen Himmel, »Hört hört! Sie ist imstande! Sehr gut sogar!«

Alle lachten.

»Ich arbeite seit einem halben Jahr auf der Rorman-Redaktion!«

»Als Schreibkraft!« sagte Kurt Schmidt höhnisch.

»Ich assistiere Frau Gottschalk!« Claudra wandte sich an Togelmann. »Sie wird es Ihnen bestätigen!«

»Womit wir wieder zum Angelpunkt zurückgekehrt wären«, stellte Togelmann fest, »sie ist zur Zeit nicht greifbar. Vertagen wir das Problem.«

Claudia war wütend. Ihr erster Auftritt bei einer Redaktionskonferenz, von dem sie sich so viel erhofft hatte, war ein Mißerfolg geworden. Es gab kaum jemanden unter den Anwesenden, für den sie nicht einmal oder öfter etwas getan hatte, was über ihre beruflichen Pflichten hinaus ging: einen eiligen Artikel abgesphrieben, Kaffee gekocht, Zigaretten angeboten oder sich von einer privaten Geschichte hatte langweilen lassen. Und doch hatte keiner sie unterstützt.

Kurt Schmidt hatte es sogar darauf angelegt, sie zu verhöhnen und zu blamieren. Sie kannte den Grund. Es hatte eine Zeit gegeben, wo er sich an sie heranzumachen versucht hatte. So höflich und taktvoll und behutsam, wie es ihr nur möglich war, hatte sie ihn abgewiesen. Das hatte er ihr übel genommen. Aber sie konnte doch nicht mit einem solchen Schnösel ins Bett gehen, nur um ihn bei guter Laune zu halten!

Dabei gab sie sich zu, daß sie das sogar erwogen hatte. Falls sie sich Erforg davon versprochen hätte, hätte sie es vielleicht auch getan. Aber sie wußte, daß es zwischen ihnen beiden nie auch nur zu einer noch so äußerlichen Harmonie gekommen wäre, und die unausbleiblichen Kräche und Zerwürfnisse hätten ihre Situation noch verschlechtert.

Nur noch mit halbem Ohr hörte sie, was um sie herum vor sich ging; sie kaute an ihrer Niederlage wie an einem schwer verdaulichen Knochen.

»Übrigens hat Döberer mich um Hilfe gebeten«, sagte Togelmann, »er hat keine passende Anfrage für die Festtage in seiner Korrespondenz.«

Felix Döberer bearbeitete den Fragekasten: »Dr. Stephan weiß Rat«. Er war noch als Hauptschullehrer tätig und deshalb bemüht, die Rubrik zwar am Leben zu halten, die Anfragen aber nicht so zahlreich werden zu lassen, daß er sich zwischen seinem einen und seinem anderen Beruf hätte entscheiden müssen. Claudia fand ihn sympathisch, hielt ihn aber für den falschen Mann.

»Also müssen wir etwas türken«, sagte Hilgers.

Das wäre eine Aufgabe für Claudia gewesen; einen interessanten Leserbrief schreiben konnte sie alle Male. Aber sie war zu deprimiert, um sich noch einmal einem Angriff Kurt Schmidts aussetzen zu mögen. Also schwieg sie wie die anderen.

»Machst du das, Onkel Hans?« fragte Togelmann. »Wir brauchen zwei.«.

»Ja, sicher, Peter«, sagte Hilgers, »aber erwarte nicht, daß ich das so einfach aus dem Ärmel schüttele. So etwas muß gefeilt sein,«

Claudia fand, daß er ohnehin zu viel an seinen Artikeln polierte, um über eine gewisse alters-oder gesundheitsbedingte Einfallslosigkeit hinwegzutäuschen.

Aber Togelmann schien das noch nicht aufgefallen zu sein. »Du hast Zeit«, sagte er.

Als der Chefredakteur die Konferenz beendete, war es acht Uhr geworden. Die anderen blieben noch eine Weile beieinander stehen und tauschten Bemerkungen aus. Claudia mochte keinen mehr sehen. Sie stürmte hinaus, brachte ihren Schreibtisch in Ordnung, packte ihre Handtasche, wickelte sich in ihren Mantel und fuhr hinunter.

Elke war längst nach Hause gegangen.

Claudia versuchte sich vorzustellen, daß die Freundin sie mit einem netten kleinen Abendbrot empfangen würde — oder hatte sie heute etwas vor? Sie war außerstande, sich selber auf angenehme Gedanken zu bringen.

Das Lächeln, mit dem sie Herrn Kaspar bedachte, war gequält. Er merkte es sofort. »Hat es Ärger gegeben, Fräulein?«

»Ich bin schrecklich abgespannt.«

»Kein Wunder! Schlafen Sie sich morgen mal aus!«

»Ich werd’s versuchen.«

Sie startete ihren kleinen, maisgelben Sportwagen, ein Cabriolet mit Schiebedach, gab vor Nervosität zu viel Gas, so daß ihr der Motor beinahe abgestorben wäre, scherte rückwärts aus der Parklücke und brauste los.

An der Kreuzung Achim-/Adenauerstraße spürte sie einen heftigen Schlag, zugleich gab es einen gewaltigen Krach, so daß sie glaubte, das Auto löse sich in seine Bestandteile auf. Zitternd vor Entsetzen nahm sie Gas weg und konnte den Wagen noch einige Meter weiter an den Straßenrand fahren. Dann stellte sie den Motor ab, saß da, holte Luft und versuchte sich zu fassen.

Jemand klopfte an das Seitenfenster.

Sie sah in ein junges, braun gebranntes Gesicht, Lippen bewegten sich, ohne daß sie ein Wort verstand. Endlich hatte sie sich so weit in der Gewalt, daß sie darauf kam, das Fenster herunter zu kurbeln.

»Alles in Ordnung?« fragte eine männliche Stimme.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie hilflos.

»Steigen Sie aus und prüfen Sie Ihre Knochen.«

»Das wird nicht nötig sein.«

»Tun Sie es trotzdem.«

Claudia gehorchte; sie stellte fest, daß sie nichts verstaucht oder gebrochen hatte.

»Na, Gott sei Dank!« sagte der junge Mann, der ihr herausgeholfen hatte. Er war einen guten Kopf größer als sie, hatte braunes, lockiges, unfrisiert wirkendes Haar und glänzende braune Augen.

»Was ist passiert?«

»Der Kotflügel!«

Benommen ging sie um ihr Auto herum und sah, daß der rechte Kotflügel demoliert war; allmählich gingen ihr die Zusammenhänge auf. »Sie sind mir hinten rein gefahren!« sagte sie mit schwacher Empörung.

»Stimmt! Aber Sie haben die Vorfahrt nicht beachtet.«

»Unmöglich.«

»Doch. Sie kamen aus der Achim-, ich aus der Adenauerstraße. Adenauerstraße hat Vorfahrt.«

»Bestimmt waren Sie zu schnell.«

»Zum Glück nicht Sonst wäre Schlimmeres passiert.«

»Eine Schweinerei ist es trotzdem.«

»Ich bin versichert. Sie auch, nehme ich an.«

»Natürlich.«

»Dann sollten wir das ganze nicht zu tragisch nehmen. Oder wollen Sie die Polizei holen?«

Claudia dachte nach. »Das hätte wenig Sinn.«

»Ganz meine Meinung.« Er legte sanft den Arm um ihre Schultern. »Sie zittern ja. Können Sie überhaupt noch fahren?«

»Aber sicher.« Es kostete sie eine ungewohnte Willensanstrengung, sich freizumachen.

»Dann fahren Sie, bitte, hinter mir her. Aber ganz langsam, ja?«

Wie hypnotisiert setzte sie sich wieder hinter das Steuer und wartete, bis sein Auto, ein hochrädriger Jeep, sie überholte. Er fuhr so umsichtig, daß es ihr nicht schwerfiel, ihm zu folgen. Keinen Augenblick fragte sie sich, wohin die Fahrt ging. Sie stand immer noch unter Schockeinwirkung. Das einzige, was ihr durch den Kopf ging, war die Frage, wie ein so kleiner Zusammenstoß einen solchen Schlag und einen so irrsinnigen Krach hatte verursachen können.

Als die Bremslichter des Jeeps aufleuchteten, brachte auch sie ihr Auto zum Stehen. Der Fremde half ihr aus dem Wagen. »Was ist an Ihrem Auto?« fragte sie.

Er lächelte auf sie herab. »Nichts. Der ist solide,«

Sie sah sich um und fand sich in einer Straße mit kleinen Reihenhäusern und Laternen wieder. »Ich dachte, Sie hätten mich zu einer Reparaturwerkstatt gebracht!« sagte sie vorwurfsvoll. »Sie haben eine Stärkung dringender nötig als Ihr Auto, Sie zittern ja immer noch. Kommen Sie.« Er reichte ihr seinen Arm.

Es war ihr ganz ungewohnt, sich unterzuhaken, und ihr Körper versteifte sich. Er führte sie über einen kurzen, mit Platten belegten Weg und schloß eine Haustür auf.

»Sie wohnen hier?«

»Ja«, sagte er, »und zwar allein.« Er sah sie prüfend im Licht der Hausbeleuchtung an. »Aber ich nehme an, Sie haben keine Bedenken, die Wohnung eines Mannes zu betreten?«

»Aus dem Alter bin ich heraus!« behauptete sie, empfand die Situation aber doch als recht sonderbar.

»Ausgezeichnet!« Er schloß die Tür auf, knipste Licht an und zog sie herein. »Es ist zwar geheizt, aber Sie sollten Ihren Mantel trotzdem noch anbehalten.«

Sie folgte ihm in einen großen Raum, der mit sehr viel Holz und bequemen, mit naturfarbenem Leinen bezogenen Sesseln angenehm eingerichtet war. Es herrschte eine gewisse Unordnung; Bücher, Zeitschriften und Schallplatten lagen überall herum, aber das machte das Zimmer nur um so gemütlichen »Setzen Sie sich irgendwohin«, sagte er, »ich werde Ihnen einen Drink einschenken. Was bevorzugen Sie?«

»Egal!« sagte sie und merkte, daß ihre Zähne klapperten.

»Ein Kognak dürfte das Richtige sein!« Er machte sich an einem eingebauten Schrank neben einer unverputzten, aus rötlichen Ziegeln errichteten Mauer zu schaffen und kam gleich darauf, ein Glas mit braungoldener Flüssigkeit in der Hand, zu ihr zurück. »Da, trinken Sie!«

»Und Sie?«

»Mir ist der Schreck ja nicht in die Glieder gefahren.«

Sie nahm einen Schluck und noch einen und spürte, wie ihre Verkrampfung sich löste. »Der ist gut!« sagte sie.

»Über fünfzig Jahre alt! Ich bewahre ihn für besondere Fälle.«

»Und meiner ist einer?«

»Ja, ganz bestimmt. Nun setzen Sie sich endlich. Machen Sie es sich bequem!« Er strich ein langes Zündholz an, hielt es an das Holz des offenen Kamins und wartete einen Augenblick, bis es brannte. »Ich bin gleich zurück«, sagte er dann. Claudia ließ sich in einen Sessel nahe dem Feuer sinken und hielt ihre Hände den Flammen entgegen. Wärme begann ihren Körper zu durchfluten. Sie streifte ihren Strickmantel ab und warf ihn über ein Polster.

Er war bald zurück und trug jetzt, statt des korrekten grauen Anzuges mit Hemd und Krawatte, eine braune Cordhose mit einem beigen Rollpulli; er sah sehr gut aus.

»Ich habe gar nicht gewußt …« sagte sie und stockte.

»Ja, was?«

»Diese Häuser sehen von außen so einfach aus. Ich wußte nicht, daß sie innen so schön sind.«

»Ich habe das alles umgebaut«, berichtete er mit leisem Stolz, »Wände eingerissen, den Kamin gemauert …«

»Gehört das Haus Ihnen?«

»Leider nicht. Aber ich hatte die Erlaubnis des Besitzers.« Er trat wieder an den Schrank und kam dann mit einem Glas in der Hand zurück. »Whisky mit Wasser«, erklärte er.

»Sie sind sehr nett.«

»Irgendwie muß man doch versuchen gutzumachen, was man angerichtet hat.«

»Aber Sie hatten die Vorfahrt!«

Er lachte. »Seien Sie froh darüber! Sonst wäre ich nicht so gut gelaunt.«

»Ein Glück, daß Ihrem Jeep nichts passiert ist.«

»Wäre auch nicht so tragisch. Die Dinge haben nun mal die Eigenschaft in sich kaputtzugehen. Früher oder später. Wer darüber jammert, verpatzt sich sein Leben.« Er nahm einen kräftigen Schluck. »Sie sehen aus, als fühlten Sie sich schon wohler.«

»Ja«, sagte sie, »aber ich komme mir sonderbar vor. Wie verwunschen.«

»Wahrscheinlich haben Sie heute noch nicht viel gegessen«, sagte er nüchtern.

»Ja, das stimmt. Nur einen Salat. Heute Mittag.«

Er sprang auf. »Du lieber Himmel! Dann müssen Sie ja halb verhungert sein!«

»Nicht so schlimm. Ich esse immer nur wenig.«

»Wenn Sie mir das gleich gesagt hätten, hätte ich Ihnen keinen Kognak gegeben!«

»Aber der hat mir ja gerade gut getan.« Sie leerte ihr Glas.

»Jetzt fahre ich nach Hause …«

»Auf keinen Fall! Mit einem Salat und einem Kognak im Magen sind Sie nicht fahrtüchtig.«

»Mein Auto ist ja schon zerdellt.«

»Es geht mir nicht um das Auto, sondern um Sie!« Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Entschuldigen Sie, bitte! Sie müssen mich für ziemlich ungehobelt halten. Ich habe ganz vergessen mich vorzustellen. Ich heiße Herbert Kranich. Meine Freunde nennen mich Herb, was ich ziemlich albern finde. Meine Mutter nannte mich Bert.«

»Herb gefällt mir«, sagte sie und hielt ihm ihre Hand hin, »erinnert an Herbarium. Als Kind habe ich mal eine Blättersammlung angefangen, aber es ist leider nicht viel daraus geworden. Ich heiße Claudia Mennersdorfer.«

Er behielt ihre Hand zwischen seinen starken, warmen Fingern. »Claudia … ein sehr schöner Name!«

»Ja«, sagte sie, »deshalb habe ich ihn mir auch ausgesucht!« Als es heraus war, zog sie ihre Hand zurück und schlug sich erschrocken auf den Mund.

Er fragte nichts, blieb vor ihr stehen und blickte mit einem Ausdruck leichter Belustigung in den Augen auf sie herab.

»Ich glaube, jetzt möchte ich noch einen Kognak!« bat sie. »Sind Sie sicher? Wissen Sie, ich möchte nicht in den Ruf kommen, junge Damen in mein Haus zu verschleppen und betrunken zu machen.«

»Keine Sorge.«

Er nahm ihr das Glas ab und trat zum Schrank.

Als er mit dem Rücken zu ihr stand, sagte sie: »Ich habe das noch niemandem verraten.«

»Mir brauchen Sie nicht zu beichten … nicht, wenn Sie nicht wollen. Ich bin nicht neugierig.«

»Kein bißchen?«

»Nicht sehr.« Er schenkte ein und brachte ihr das Glas zurück.

»Danke.« Sie nahm einen Schluck. »Im allgemeinen bin ich nicht geschwätzig.«

»Dann seien Sie es auch heute nicht.« Er setzte sich in einen Sessel ihr gegenüber und streckte die langen Beine aus. »Ich möchte nicht, daß Sie mehr von sich preisgeben, als Sie wollen.« Nachdenklich sah er sie an. »Am Ende würden Sie es morgen bereuen.«

»Das wäre doch mein Problem.«

»Nicht nur. Sie würden mir aus dem Weg gehen. Es könnte das Ende einer Freundschaft sein, die gerade erst begonnen hat.«

Claudia war überrascht. Sie wußte aus Erfahrung, daß sie durchaus nicht der Typ war, auf den Männer flogen. Es fehlte ihr etwas, das sie selber nicht hätte definieren können. Wahrscheinlich wirkte sie nicht weiblich, nicht anschmiegsam genug. Immer hatte sie sich Mühe geben müssen, wenn sie Eindruck machen wollte.

Eine Zahl von Entgegnungen gingen ihr durch den Kopf, die sie alle als unpassend verwarf; sie wählte die ehrlichste: »Sie überraschen mich»«

»Das kann ich nicht verstehen. Sie sehen aus wie ein Mädchen, das die Männer verwirrt.«

»Verwirre ich Sie?«

»Ja, sehr.«

»Wie angenehm.« Sie nahm noch einen Schluck. »Es ist alles sehr angenehm hier bei Ihnen. Als wäre ich nach einem anstrengenden Tag nach Hause gekommen und könnte mich endlich gehen lassen. Wahrscheinlich habe ich zuviel getrunken. Aber es ist alles wirklich sehr angenehm.«

»Ich werde Ihnen jetzt etwas zu essen machen.« Er wollte sich erheben.

»Nein, bitte nicht. Ich möchte in dieser Stimmung bleiben. Wenigstens noch eine Weile. Später … wir werden sehen, was später ist. Haben Sie vergessen, daß ich Ihnen etwas erzählen wollte?«

»Haben Sie vergessen, daß ich Sie davor gewarnt habe?«

»Nein.« Sie warf mit einer hübschen Kopfbewegung — sie hatte sie lange vor dem Spiegel geübt — das schwarze, schimmernde Haar zurecht. »Aber Sie wirken wie ein Katalysator auf mich. Ist das ein passender Vergleich?«

»Ich weiß schon, was Sie meinen.«

»Ich dachte, ich hätte mit meinem früheren Leben Schluß gemacht. Aber ganz kann man das wohl doch nicht.«

»Das klingt geheimnisvoll.«

»Ist es gar nicht. Versprechen Sie mir, mich nicht auszulachen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort, als könnte sie keine Minute länger schweigen: »In Wirklichkeit heiße ich nämlich Erna Marie.«

»Was ist dagegen einzuwenden?«

»Ich habe ihn immer gehaßt. In der Schule haben sie mich ›Klein Erna‹ genannt. Und ›Marie‹, das klingt doch nach einem Dienstbolzen, nicht wahr?«

»Ein Name ist nur das, was man sich dahinter vorstellt. Für mich ist Marie immer eine zarte, schöne, weißhäutige, blonde Frau gewesen.«

»Also nicht eine wie ich?«

»Nein.«

»Sie werden zugeben, daß Claudia besser paßt. Wenn ich Politiker wäre, würde ich ein Gesetz erlassen, nach dem jeder Mensch zum Zeitpunkt seiner Volljährigkeit den Namen wechseln kann … sich den Namen aussuchen kann, der ihm wirklich gefällt.«

»Ziemlich viel Arbeit für die Behörden«, sagte er trocken.

»Man kann doch von einem Menschen nicht verlangen, daß er sein ganzes Leben lang unter der Bezeichnung herumläuft, die seine Eltern sich für ihn ausgedacht haben, als er noch ein Säugling war, ja, oft sogar schon vor seiner Geburt. Man wird zu etwas geprägt, das man gar nicht sein will.«

»Deshalb nennen Sie sich jetzt einfach anders?«

Sie lachte. »So einfach war das gar nicht. Es gehörte eine ganze Menge Überzeugungskraft dazu, einen sturen Standesbeamten zu der Einsicht zu bringen, daß man unter seinem alten Namen nicht weiterleben will … zumal, wie Sie mit Recht bemerkten, gegen ›Erna Marie‹ an sich nichts einzuwenden ist.«

»Und das haben Sie geschafft?«

»Ja«, sagte sie schlicht.

»Sie werden es noch weit im Leben bringen.«

»Das hoffe ich.«

Eine Weile schwiegen sie beide, aber es war kein Schweigen, bei dem der eine nervös darauf wartet, daß der andere endlich sprechen sollte. Es war eine Pause, in der sie ihren Gedanken nachgingen und förmlich zu spüren glaubten, wie ihr Vertrauen zueinander wuchs.

Claudia streifte ihre Pumps ab und zog die Füße unter sich. »Aber Mennersdorfer«, fragte er, »heißt du wirklich?« Es war das erste Mal, daß er sie duzte, aber es wurde ihr gar nicht bewußt.

»Es ist kein so übler Name«, meinte sie, »obwohl es klangvollere und interessantere gibt. Ich habe mir überlegt, ihn zu ändern. Aber dann wollte ich meinen Vater nicht so sehr kränken. Er hat es schwer mit seiner enttäuschten Frau, und im Grunde ist er doch ein ganz netter Kerl.«

»Eine sehr erfreuliche Nachrede auf einen Vater.«

»Meinst du? Ich weiß nicht.« Sie drehte das Glas zwischen den Fingern. »Er war Chauffeur bei Mutters Eltern. Das waren reiche Leute, reich und vornehm. Haus an der Außenalster und alles, was dazu gehört. Großvater hatte mit Schiffsbau zu tun. Mutter war jung und dumm, behütet und unerfahren und verknallte sich in den Chauffeur. Als sie schwanger wurde — mit mir, versteht sich — waren die Großeltern natürlich entsetzt. Mutter wollte nicht abtreiben, also müßte geheiratet werden. Zu Großvaters Ehre muß gesagt werden, daß er Vater in seiner Firma unterbrachte. Es waren die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs, und er glaubte, etwas aus ihm machen zu können. Aber daraus wurde nichts. Großvater war ein strenger und selbstgerechter Mann. Ich selber kann mich gar nicht mehr an ihn erinnern, aber so muß er wohl gewesen sein. In seiner Nähe konnte ein unsicherer junger Mann wohl kaum das Beste aus sich machen. Vater jedenfalls konnte es nicht, vielleicht hatte er auch einfach nicht das Zeug dazu. Er warf die Arbeit hin, und jetzt verlangten Mutters Eltern, daß sie sich von ihm trennte. Ich heiße übrigens nach Vaters Mutter, einer dummen, betulichen kleinen Frau. Vielleicht konnte ich deshalb den Namen nie ausstehen. Aber Mutter war schon wieder schwanger. Vielleicht liebte sie Vater auch immer noch. Wer weiß. Die Liebesgeschichten der eigenen Eltern sind immer schwer durchschaubar, nicht wahr?« Sie hatte das alles erzählt wie jemand, der sich oft und oft Gedanken über seine Herkunft gemacht hat; es sprudelte aus ihr heraus.

»Wahrscheinlich!« stimmte er zu. »Deshalb machen sich auch nur die wenigsten überhaupt Gedanken darüber.«

»Die meisten haben es ja auch nicht nötig«, sagte sie bitter, »aber für mich war es entscheidend. Ich wuchs in einem Kleine-Leute-Milieu auf, Wohnküche und so weiter.«

»Ist das denn schlimm?«

Sie stutzte, als hätte sie selber sich diese Frage noch nie gestellt. »Vielleicht nicht, wenn man daran gewöhnt ist. Aber Mutter konnte sich nicht gewöhnen, nicht an Vaters harmlose Späße, seine Sorglosigkeit und die vielen, vielen Bierflaschen. Nie war genügend Geld da, kaum für das Notwendigste und darüber hinaus schon gar nichts. Dazu kam, daß sie stolz war. Sie hatte sich mit ihren Eltern überworfen und konnte nicht zugeben, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Sie wies jede Hilfe zurück. Wie mich das aufgeregt hat! Dabei war dies vielleicht das einzige Vergnügen, was sie noch hatte, ihre Mutter vor den Kopf zu stoßen.«

»Erzähl mir von dir«, bat er, »du siehst durchaus nicht aus wie ein Mädchen aus einem Kleine-Leute-Milieu.«

»Ich habe mich umstilisiert«, erklärte sie ernsthaft.

»Aber warum? Ich verstehe das nicht. Sinn des Lebens ist es doch, zu sich selber zu finden!«

»Meinst du? Nein. Ich kenne mich ganz gut. Was hätte ich schon davon, mich dauernd zu fragen: wie bin ich wirklich. Es käme nicht viel dabei heraus, denn ich bin nun mal nicht sehr interessant, weder für mich noch für andere. Aber ich will etwas erreichen. Nicht mein ganzes Leben hinter der Schreibmaschine sitzen und die Gedankenblitze anderer zu Papier bringen. Ich will selber etwas machen.«

»Und du glaubst, das erreichst du leichter als Claudia? Und im Modellkleid?«

»Als Erna Marie in Rock und Bluse habe ich es jedenfalls nicht geschafft. Ich habe geschuftet wie eine Wahnsinnige. Aber über das Vorzimmer des Chefs bin ich nicht hinaus gekommen.« Sie nippte. »Ich habe in Hamburg in einem Verlag gearbeitet, weißt du. Das hat mir Spaß gemacht. Alles, was mit Büchern und Manuskripten und so zu tun hat, macht mir Spaß, Die Chefsekretärin stand kurz vor dem Abgang. Sie erwartete ein Kind. Ich war sicher, ich bekäme den Posten. Ich war wirklich die Tüchtigste, das hat sie mir dann auch bestätigt. Aber nicht mich, sondern Susanne hat der Chef dann genommen … nur weil sie liebenswürdiger, weicher, hübscher war als ich.«

»So was kann passieren.«

»Mir aber nur einmal. Ich habe gekündigt und die Weichen umgestellt.«

»Du bist ein tolles Mädchen.«

»Halb so wild. Wenn ich nicht was von meiner Großmutter geerbt hätte, hätte ich es gar nicht gekonnt. Viele möchten gerne schöne Kleider tragen, aber sie können es sich einfach nicht leisten. Dank Großmutters Hilfe konnte ich es.«

Sie leerte ihr Glas. Ohne daß sie ihn darum bitten mußte, stand er auf und schenkte ihr noch einmal ein.

»Weißt du, die Sache hat mich in einen echten Konflikt gebracht«, gestand sie, »ich hatte das Gefühl, mit dem Geld etwas für meine Familie tun zu müssen. Aber dann habe ich es mir anders überlegt. Mutter hätte ja all die Jahre Geld von zu Hause beziehen können. Dann wäre es uns allen besser gegangen. Ich mußte die Chance einfach ausnutzen, etwas aus mir zu machen. Verstehst du das? Später, wenn ich etwas geworden bin, kann ich immer noch was für die anderen tun.« Sie nahm das Glas aus seiner Hand entgegen. »Danke.«

Er versorgte sich selber mit einem Whisky. »Es ehrt dich, daß du wenigstens mit dir gekämpft hast.«

»Nein, ich weiß nicht. Daran denken, was man eigentlich tun sollte, kann jeder … eine kranke Tante zu besuchen, meine ich, oder dem Bruder bei den Schularbeiten helfen oder in eine Hilfsorganisation einsteigen. Gewollt hat so etwas bestimmt jeder schon mal. Aber das bringt doch nichts. Entscheidend ist, was man dann wirklich tut, und die meisten denken dann am Schluß doch nur an sich selber, ihre eigenen Vorteile, ihre Bequemlichkeit und so weiter.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Du bist womöglich anders.«

»Ich fürchte nein.«

»Doch. Schon, daß du mich mit deinem wunderbaren Kognak labst und dir meine dummen Geschichten anhörst.«

»Ich habe mich seit langem nicht mehr so gut unterhalten«, sagte er lächelnd.

»Das ist so eine Behauptung, die wahrscheinlich auch nur der Güte deines Herzens entspringt!«

»Du überschätzt mich.« Er setzte sich jetzt neben sie. »Aber sag mal, was hat dich eigentlich vorhin so in Rage gebracht? Du bist doch bestimmt nicht die Person, die unter normalen Umständen die Vorfahrt mißachtet.«

»Ach das! Ja, da war ich wirklich wütend.«

Er legte den Arm um ihre Schultern, und sie ließ es ganz selbstverständlich geschehen. »Erzähl’s mir!« bat er.

»Also, das war so«, begann sie, um sich sogleich zu unterbrechen: »Hast du bestimmt noch nicht genug von meinem Gequatsche?«

»Ich würde es dir sagen.«

»Wenn du es wirklich wissen willst!« Die Geschichte von der Mitarbeiterkonferenz, die für sie zu einem solchen Fiasko geworden war, brach aus ihr heraus.

»Das klingt so«, sagte er, als sie geendet hatte, »als wolltest du am liebsten die Chefredaktion von ›Blitzlicht‹ übernehmen!«

»Und warum nicht?« Erschrocken über ihre eigene Kühnheit stellte sie richtig: »Nein, jetzt noch nicht. Dafür hätte ich doch noch nicht den richtigen Durchblick. Aber die Romanredaktion, ja. Ich könnte das mindestens so gut wie die Gottschalk, und praktisch mache ich es ja auch schon.«

»Ahnt die Gute, daß du an ihrem Stühlchen sägst?«

Empört löste sie sich aus seinem Arm. »Aber wieso! Das tue ich doch gar nicht! Ich will nur, daß die Romanredaktion mehr Gewicht bekommt und ich als ihre Assistentin anerkannt werde!«

»Als die du aber nicht engagiert bist!«

»Sag mal, willst du mich ärgern?« Sie wurde sich bewußt, daß ihre Augen jenen funkelnden Blick bekommen hatten, durch den sie gefährlich wirkte, und senkte rasch die Wimpern.

»Das war, wie mir scheint, die echte Erna Marie!« Er nahm sie in die Arme und küßte sie.

Sie sträubte sich nur kurz, aber ihr Zorn schmolz rasch dahin. Er war stark, er roch gut, und er war zärtlich. Warum sollte sie sich gegen ihn wehren. Sie war lange nicht mehr mit einem Mann zusammen gewesen, und sie hatte noch nie jemanden gekannt, der ihr so sympathisch gewesen wäre.