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"Ich bin wie jener Mann auf dem Tender eines in den Abgrund rasenden Zuges, der entsetzt erkennt, er vermag den Zug nicht zum Stehen zu bringen. Die Fahrgäste hingegen entsetzten sich erst, als die Katastrophe geschehen war." - Der vorliegende Sammelband erschließt ausgewählte "Pazifistische Betrachtungen und Aufrufe" von Leo N. Tolstoi (1828-1910). In einem Brief an ihren engsten Mitstreiter meinte Bertha von Suttner 1909, der russische Dichter sei doch "eigentlich der Konsequenteste aller Kriegshasser". Dessen Distanz zur bürgerlichen Friedensbewegung mit ihren Versammlungen und staatstragenden Forderungskatalogen lag offen zutage. Im gleichen Jahr verfasste Tolstoi eine Rede, die er auf dem Internationalen Friedenskongress in Stockholm halten wollte: "Die Menschheit ... ist zu einem so schroffen Widerspruch zwischen ihren sittlichen Forderungen und der bestehenden Gesellschaftsordnung gelangt, dass unbedingt eines geändert werden muss, ... was wohl geändert werden kann: die Gesellschaftsordnung. Diese Änderung, die der innere Widerspruch gebietet, der in der Vorbereitung zum Morde besonders scharf zu Tage tritt, wird ... von Tag zu Tag immer dringender. Die Spannung, die diese bevorstehende Änderung seit langem erzeugt, hat heute schon einen solchen Grad erlangt, dass ... es zum Übergang aus jenem grausamen und unvernünftigen Leben der Menschen mit seiner Absonderung, seinen Rüstungen und Armeen, zu einem vernünftigen, den Forderungen der Erkenntnis der jetzigen Menschheit entsprechenden Leben möglicherweise nur einer geringen Anstrengung, vielleicht nur eines Wortes bedarf. ... So, wie im Märchen Andersens, als beim feierlichen Umzuge der König durch die Straßen der Stadt ging, ... das Wort eines Kindes, das aussprach, was alle wussten ..., alles geändert hat: Er hat ja gar nichts an. ... Die Menschen werden ... aufhören, im Krieg den Vaterlandsdienst, den Heldenmut, den Kriegsruhm, den Patriotismus zu sehen, und werden sehen, was da ist: die nackte frevelhafte Mordtat." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 4 (Signatur TFb_B004) Herausgegeben von Peter Bürger
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Seitenzahl: 291
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„… eigentlich der Konsequenteste aller Kriegshasser“
Vorwort des Herausgebers
I. WÄHREND DES TRANSVAALKRIEGES | 1899
Leo N. Tolstoi
Übersetzung von Wladimir Czumikow
Beigabe: Alternative Übersetzung von Nathan Syrkin – mit Anmerkungen zu den zensierten Passagen
II. PATRIOTISMUS UND REGIERUNG
(
Patriotizm i pravitel'stvo, 1900)
Leo N. Tolstoi
Deutsch von Nathan Syrkin
III. ZWEI BRIEFE AN BERTHA VON SUTTNER
(
Oktober 1891 / August 1901)
Leo N. Tolstoi
Bertha v. Suttners „Randglossen zur Zeitgeschichte“
IV. BESINNET EUCH!
Ein Wort zum Russisch-Japanischen Krieg (Odumajtes'!, 1904)
Leo N. Tolstoi
Übersetzt von Raphael Löwenfeld
V. AUS DEM LESEZYKLUS FÜR ALLE TAGE
(
Krug čtenija, 1904-1906)
Von Leo Tolstoi ausgewählte und selbst verfasste Texte
VI. DIE ANNEXION BOSNIENS UND DER HERZEGOWINA
(
O prisojedinenii Bosnii I Gerzogowiny k Awstrii, 1908)
Leo N. Tolstoi
Nach dem russischen Manuskript übersetzt von Edmund Rot
VII. „REDE GEGEN DEN KRIEG“
Vortrag für den Friedenskongress in Stockholm | 1909 (Doklad, prigotovlennyj dlja kongressa mira v Stokgol
'
me)
Leo N. Tolstoi
[
Gustav Landauer:] Zur Vorgeschichte von Tolstois Rede gegen den Krieg
_____
ANHANG Gesamtübersicht, Anmerkungen und Materialien zu den ausgewählten Texten
Vorwort des Herausgebers
„Ich bin wie jener Mann auf dem Tender eines in den Abgrund rasenden Zuges, der entsetzt erkennt, er vermag den Zug nicht zum Stehen zu bringen. Die Fahrgäste hingegen entsetzten sich erst, als die Katastrophe geschehen war.“
Leo N. TOLSTOI: Tagebucheintrag vom 27. Dezember 19051
Mit Blick auf den Anbruch des 20. Jahrhunderts vermerkt Viktor Schklowski über LEO N. TOLSTOI (1828-1910), der seiner Ansicht nach versuchte, mit dem Heck des großen „Schiffs seiner Utopien“ „voraus in die Vergangenheit zu segeln“: „In vielem jedoch begriff Tolstoi mehr als andere Leute. Er schrieb, es würde zu Kriegen von derartiger Gewalt kommen, daß sie den Untergang von 99 Prozent der Erdbevölkerung bewirken könnten, selbst das aber könne den Wahn der Reichen nicht eindämmen. […] Das neue Jahrhundert setzte mit Kriegen ein. Man kämpfte auf den Philippinen und im Transvaal. Es waren Kriege von neuartiger Abscheulichkeit. Tolstoi sagte: ‚Kriege der Amerikaner und Engländer innerhalb einer Welt, in der schon Gymnasiasten den Krieg verurteilen, sind entsetzlich‘.“2 Bei einem Besuch von MAXIM GORKI (Alexej Maximowitsch Peschkow) am 13. Januar 1900 meinte TOLSTOI „sich selbst ironisierend, er freue sich unwillkürlich über die Siege der Buren, wenn er auch wisse, daß es Sünde sei: sowohl die Buren als auch die Engländer begingen jenen Massenmord, den sie als Krieg bezeichneten.“3
In einem Brief zu den Kämpfen im Transvaal vom Dezember 1899 (→ I ) nennt LEO N. TOLSTOI drei Hauptursachen für Kriege: „Erstens: die ungleiche Verteilung des Besitzes, das heißt: die Beraubung eines Menschen durch die anderen. Zweitens: die Existenz eines Soldatenstandes, das heißt: solcher Menschen, die für den Mord erzogen und bestimmt werden. Drittens: die falsche und meist bewußt betrügerische religiöse Lehre, in der die Jugend zwangsweise erzogen wird. […] Es wird solange Kriege geben, wie wir die Entstellung des Christentumes predigen oder ohne sittliche Empörung und Widerwillen dulden werden“.
Die Differenz zur bürgerlichen Friedensbewegung
Der Kampf gegen Todesstrafe und Krieg gehört zu den zentralen Schauplätzen des letzten Lebensjahrzehnts. „Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist Tolstoj ein geistiges Kraftzentrum mit kolossalem Ansehen. Es war fast unmöglich, über Lebensprobleme zu diskutieren, ohne zu seiner Ansicht Stellung zu nehmen. Der ehrwürdige Patriarch mit dem über dem einfachen Bauernhemd wallenden Bart war der große geistige Führer der Zeit. Aus der ganzen Welt – nicht zuletzt aus Asien und Amerika – trafen bei dem Propheten in Jasnaja Poljana Grüße begeisterter Anhänger ein.“4 Ihn erreichten Zuschriften aus vielen Ländern des Erdkreises in 26 Sprachen.5
Zwei im vorliegenden Band dokumentierte Briefe TOLSTOIS an BERTHA VON SUTTNER vom Oktober 1891 und vom August 1901 (→ III ) lassen – trotz des warmherzigen Tones – unschwer eine Differenz zum bürgerlichen Pazifismus vor dem Ersten Weltkrieg erkennen. TOLSTOI setzt wenig Vertrauen in Friedensgesellschaften, Konferenzen und Neuerungen des Internationalen Rechts. Er erhoffte sich ein Ende der Kriegsapparatur nicht durch staatstragende Aktivitäten, sondern aufgrund der Verweigerung des Tötens von unten.
Selbst da, wo es um den unbestrittenen literarischen Ruhm ging, wollte das Bürgertum dem russischen Kritiker der Staatsdoktrin kein öffentliches Forum verschaffen: „Dass Tolstoj 1902 den Nobelpreis für Literatur nicht erhalten hat, erscheint heute mehr als verwunderlich. […] Nirgends steht geschrieben, der Preis könne nur nach Einwilligung des Kandidaten verliehen werden. Ausschlaggebend war dagegen, dass die schwedische Akademie Tolstoj, genau wie Ibsen und Strindberg, als zu anarchistisch und zu wenig ‚idealistisch‘ betrachtete und dass er deshalb den Preis nicht verdiene. Der Einfluß dieser Autoren auf die gesellschaftliche Entwicklung war in den Augen der Akademie eher negativ als positiv. Weshalb sollte man die gute Gesellschaft provozieren, indem man einen so umstrittenen Schriftsteller bedachte?“6
TOLSTOI bezeichnete die Regierung, mit welcher die Friedensgesellschaften gleichsam Hand in Hand gehen wollten, in einem Tagebucheintrag sogar als eine „Bande von Räubern“: „22. Januar [1904], Jasjana Poljana. […] Wir müssen unsere Einstellung zur Regierung klären. Und diese Einstellung kann von zweierlei Art sein: Entweder ist die Regierung eine notwendige Bedingung für Ordnung, und man muß sich ihr unterwerfen und ihr dienen; oder man muß erkennen, was ich erkenne und was einfach nicht geleugnet werden kann, daß die Regierung eine Bande von Räubern darstellt, und dann muß man zwar einerseits versuchen, diese Räuber aufzuklären, sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihr Räuberhandwerk aufzugeben, sich aber außerdem soweit wie möglich davor hüten, mit diesen Räubern gemeinsame Sache zu machen und an ihrer Beute teilzuhaben. Vor allem darf man nicht tun, was jetzt die Liberalen tun: die Regierung als notwendig anerkennen und sie mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. Das ist Kinderei.“7 Diesen Gedanken wird LEO TOLSTOI auch in seiner Schrift „Eines ist not“ (Edinoe na potrebu, 1905)8 über die Staatsmacht ausführen: „Man könnte die Unterordnung eines ganzen Volkes unter wenige Leute noch rechtfertigen, wenn die Regierenden die besten Menschen wären; aber das ist nicht der Fall, war niemals der Fall und kann es nie sein.“
Für solche Kompromisslosigkeit konnte BERTHA SOPHIA FELICITA VON SUTTNER nach Jahren voller Enttäuschung in der Friedensarbeit durchaus Verständnis aufbringen. Sie meinte 1909 in einem Brief an ihren engsten Mitstreiter: TOLSTOI „ist eigentlich der Konsequenteste von allen Kriegshassern.“ (→ III )
Russisch-japanischer Krieg 1904-1905
Zu Beginn des Jahres 1904 zeugt ein anderer Tagebucheintrag von drängender Sorge um den Frieden: „27. Januar, Jasjana Poljana. […] Der Krieg und Hunderte von Überlegungen, warum es ihn gibt, was er zu bedeuten hat, welches seine Folgen sind und dergleichen mehr. Alle reden darüber, vom Zaren bis zum letzten Trainsoldaten. Und alle müßten sich, abgesehen von den Überlegungen, was der Krieg für die ganze Welt bringt, noch Gedanken darüber machen, wie ich, ich, ich mich dem Krieg gegenüber zu verhalten habe. Doch diese Überlegung stellt niemand an. Jeder glaubt vielmehr, das brauche man nicht, es sei nicht wichtig. Man packe ihn aber einmal bei der Gurgel und drücke ihm die Luft ab, dann fühlt er, am allerwichtigsten ist für ihn sein Leben, dieses Leben seines Ich. Und wenn dieses Leben seines Ich das Allerwichtigste darstellt, dann ist er eben nicht nur Journalist, Zar, Offizier oder Soldat, sondern auch ein Mensch, der zu kurzem Verweilen in die Welt kam und sie nach dem Willen dessen, der ihn gesandt hat, wieder zu verlassen hat. Was also kann wichtiger für ihn sein als das, was er in dieser Welt zu tun hat, wichtiger ohne Zweifel als alle Überlegungen, ob der Krieg notwendig ist und wohin er führt? Und was den Krieg anlangt, so hat er offensichtlich folgendes zu tun: nicht Krieg zu führen und anderen nicht zu helfen, es zu tun, wenn er sie schon nicht zurückhalten kann.“9
Im Februar 1904 begann der russisch-japanische Krieg. Er war – aus marxistischer Sicht – „das Ergebnis der rücksichtslosen Außenpolitik des Zarismus, die von einer Gruppe von Bürokraten geleitet wurde, die daran interessiert waren, den Fernen Osten zu plündern. Die zaristische Regierung provozierte einen Krieg mit Japan, ohne Zeit zu haben, ihn militärisch oder materiell vorzubereiten. Der Krieg sollte, nach dem Plan seiner Organisatoren, auch die soziale Atmosphäre in Russland entschärfen. Die blinden zaristischen Bürokraten erwarteten einen kontinuierlichen Triumph im Kampf gegen die ‚Asiaten‘. Alle Berechnungen der Selbstherrschaft erwiesen sich als falsch. Von den ersten Tagen des Krieges an fingen die russische Armee und Marine an, Niederlagen zu erleiden. Innerhalb Russlands führte der Krieg zu einer beispiellosen Verschärfung des Klassenkampfes und verursachte defätistische Gefühle nicht nur unter den Sozialdemokraten, sondern auch in manchen liberalen Kreisen. – Die Niederlage des zaristischen Russlands hat seine internationale Position stark untergraben. Liberale Kreise aller Länder sahen mit unverhohlener Befriedigung den Zusammenbruch des Zarismus im Osten. Nur die Angst der Großmächte, dass Japan im Fernen Osten nicht zu stark werden solle, half Russland, den Krieg zu beenden und Frieden zu weniger schlechten Bedingungen zu schließen, als aus der Größe des Sieges Japans gefolgt wäre. In Russland selbst gab der Krieg der revolutionären Bewegung einen starken Impuls …“10
Anlässlich des russisch-japanischen Krieges verfasste LEO N. TOLSTOI seinen am 8. Mai 1904 abgeschlossenen Artikel „Besinnet Euch!“ (Odumajtes'!, 1904), der im vorliegenden Band neu ediert wird (→ IV ). „Der Krieg entbrannte immer stärker, die Menschen gingen in die Schlachten wie Wanderheuschrecken, die Wasserläufe über die Leichen ihrer Ertrunkenen überqueren. Der Krieg wurde um fremdes Land geführt, um ‚Pachtland‘, um eine Konzession. Im Artikel sind Briefe eingestreut, die erzählen, wie Reservisten, zum Morden einberufen, verabschiedet werden.“11 Geir Kjetsaa schreibt über die Haltung des Dichters: „Aufsehen erregend war […] sein Protest angesichts des Kriegsausbruchs zwischen Russland und Japan. Wieder einmal Krieg, wieder einmal Leiden, wieder einmal diese verdummende Hurrastimmung! Keine staatliche Institution hasste er so sehr wie das Militär. Dass sein Sohn Andrej sich freiwillig gemeldet hatte, machte die Sache nicht besser. Der Schriftsteller brachte es nicht über sich, die kriegstreibenden Zeitungsberichte zu lesen. War es nicht Christus, der uns befohlen hatte, unsere Feinde zu lieben? ‚Besinnt Euch!‘ lautete sein Aufruf an alle, die sich auf den Schlachtfeldern jetzt gegenseitig umbrachten. – Einziger Trost war ihm der wachsende Widerstand des Volkes gegen diesen wahnsinnigen Krieg: ‚Der Zweifel, ob es der Wille Gottes sei, dass die Behörden uns zwingen zu töten, ist der Funke des Feuers, das Christus auf die Erde gebracht hat. Das zu wissen und zu fühlen ist eine große Freude.‘ Auf die Aufforderung einer amerikanischen Zeitung präzisierte er seine Sichtweise der Kriegshandlungen: ‚Ich bin weder für Russland noch für Japan, sondern für die Arbeiter beider Länder, die jetzt von ihren Regierungen hinters Licht geführt und gezwungen werden, gegen ihr Wohlergehen, ihr Gewissen und ihre Religion zu kämpfen.‘ – Es sieht so aus, als sei der tapfere Kämpfer von Sewastopol jetzt der eifrigste Pazifist geworden: Patriotismus sei nur Egoismus, eine Zufluchtsstätte für Ganoven!“12
Ernst Keuchel zählt „Odumajtes'!“ zu jenen Texten, in den denen LEO N. TOLSTOIS Ahnungen von einem kommenden Weltkrieg zum Ausdruck kommen: „Tolstoi hat […] – unter anderem in seinen Schriften ‚Vom unvermeidlichen Umsturz‘ und ‚Besinnet euch!‘ – die europäische Katastrophe bestimmt und ziemlich genau vorausgesagt: ‚Der Abgrund‘, heißt es z. B. in der letzteren im Jahre 1904, ‚dem wir uns nähern, wird schon sichtbar und die einfachen, ungelehrten und unphilosophischen Leute sehen es, daß wir, indem wir uns immer mehr bewaffnen und im Kriege gegenseitig zu vernichten streben, wie die Spinnen in einem Glase nichts weiter tun können, als uns gegenseitig umzubringen.‘ Kurz vor seinem Tod (1910) hatte Tolstoi einen Wahrtraum, in dem er Beginn und Verlauf des Weltkrieges mit erstaunlicher Sicherheit vorausschaute! Sein Entsetzen vor dem Kriege, das ihn mitten in der tiefsten Friedenszeit – (1894-1904) – stets von neuem mit elementarer Gewalt packte […], zeugt davon, daß er, als wahrer geistiger Führer, sich verantwortlich für Alle fühlte und sie vor der nahenden, für ihn bereits fühlbaren, Katastrophe zu warnen für seine heilige Pflicht hielt.“13
Im Monat nach Abschluss seiner Schrift gegen den russischjapanischen Krieg zeigt sich TOLSTOI unverändert bedrückt angesichts des Zeitgeschehens: „4. Juni [1904]. Jasjana Pojana. […] Der Krieg – die Reservistenaushebungen, ich leide unaufhörlich. […] Der Krieg ist eine Frucht des Despotismus. Gäbe es keinen Despotismus, könnte es keinen Krieg geben; Raufereien könnte es geben, aber keinen Krieg. Despotismus erzeugt Krieg, und der Krieg erhält den Despotismus am Leben. – Wer den Krieg bekämpfen will, muß ausschließlich den Despotismus bekämpfen.“14 – Es melden sich jedoch auch innere Zweifel am Nutzen des eigenen Antikriegs-Aufsatzes: „6. Juni [1904]. Jasjana Pojana. […] Vielerorts sieht man jetzt unglückliche verlassene Soldatenfrauen. Ich lese die Zeitungen, und all diese Schlachten, diese Standartenweihen scheinen so unabänderlich, daß es sinnlos dünkt, sich dagegen auflehnen zu wollen, und manchmal glaube ich, es war ein Fehler von mir und hat mir nur Feindseligkeit eingebracht, den Aufsatz zu schreiben; sehe ich aber dann das Volk, die Soldatenfrauen, bedaure ich wiederum, so wenig und so schwach geschrieben zu haben.“15
LEO N. TOLSTOI hatte noch 1855 an eigenen staatstragenden Beiträgen zu einer Militärreform gearbeitet.16 Im nächtlichen Traumleben konnte ihm jetzt seine soldatische Seite vor Augen geführt werden.17 Mit Blick auf die Ambivalenzen TOLSTOIS 1904 - 1905, die nicht verschwiegen werden dürfen, führt Geir Kjetsaa aus: „Aber auch ihm sind nationalistische Stimmungen nicht fremd. Besonders ärgert ihn die schändliche Niederlage der Russen bei Port Arthur: ‚Ich war selbst Soldat, zu meiner Zeit wäre das nie passiert. Wir hätten alle unser Leben geopfert, wir hätten uns nie ergeben.‘ Man stelle sich vor, eine Stellung aufzugeben, wenn man doch noch ausreichend Munition und ein Herr von vierzigtausend Mann hat! – Er hatte gehofft, die Russen würden gewinnen, gestand er schuldbewusst beim Friedensschluss.“18
Viktor Schklowski lässt als Biograph ebenfalls keinen Zweifel daran, dass TOLSTOI im weiteren Verlauf dieses Krieges zeitweilig von einem ‚nationalistischen Schatten‘ eingeholt wurde: „Am 30. Januar sagte er: ‚Mascha griff mich an, weil ich gesagt hatte, es wäre besser gewesen, Port Arthur in die Luft zu sprengen, als es den Japanern auszuliefern … Wer sich über Niederlagen freut, muß direkt gegen die Regierung auftreten, nicht auf Umwegen über Menschenverluste.‘ – Im Februar stellte Tatjana Kusminskaja ihm die Frage: ‚Was denn, hätten wir deiner Meinung nach Porth Arthur nicht aufgeben sollen?‘ ‚Ich bin selbst beim Militär gewesen. Zu unserer Zeit wäre das nicht passiert. Da hieß es, und wenn wir alle sterben, aufgegeben wird nicht.‘ – In der gleichen Weise sprach er mit dem Sohn Ilja: ‚Schlecht … Vom militärischen Standpunkt aus darf man so nicht handeln.‘ – Das alte Rußland existierte nicht mehr. Tolstoi hatte als Freiwilliger im Kaukasus gekämpft, vom Georgskreuz geträumt; sein Sohn Andrej zog als Freiwilliger in den russisch-japanischen Krieg. Für den Sohn des berühmten Mannes fand sich ein Platz im Stabswaggon, er reiste wie ein Offizier, nicht wie ein einfacher Soldat. Er erhielt das Georgskreuz und wurde vom Kriegsdienst befreit, weil ein Pferd ihm einen Hufschlag versetzt hatte. Der Krieg benötigte ihn nicht, er benötigte nur seinen Namen. – Tolstoi schwor in seinen Tagebüchern, Patriot zu sein. Und sein Patriotismus war volksverbunden und aufrichtig. – Andrejs Rückkehr vom Kriegsschauplatz kam einer Kapitulation gleich, war ein Zeichen von Schwäche und Niederlage. – Das alte Rußland war nicht mehr.“19
„Entfachung des Patriotismus“ am „höchsten Kulminationspunkt“
Im zweiten Band der Reihe B unserer Tolstoi-Friedensbibliothek („Staat – Kirche – Krieg“) konnten wir bereits sehen, wie TOLSTOI in mehreren Schriften größten Nachdruck auf eine Kritik des ideologischen Herrschaftsinstruments „Patriotismus“ legt. In der vorliegenden Sammlung wird sein Text „Patriotismus und Regierung“ (Patriotizm i pravitel'stvo, 1900) noch einmal in einer anderen, von NATHAN SYRKIN bearbeiteten Übersetzung dargeboten (→ II ). Der Verfasser wirft darin die Frage auf, warum der „Patriotismus“ – trotz seiner Antiquiertheit in geistesgeschichtlicher Hinsicht – nicht nur nicht verschwindet, sondern „im Gegenteil … immer stärker und mächtiger“ wird. Seine Antwort: „Es rührt dies davon her, daß die herrschenden Klassen (nicht allein die Regierungen und ihre Beamten, sondern die privilegierten Klassen überhaupt: die Kapitalisten, Journalisten, die meisten Künstler und Gelehrten) ihre privilegierte Ausnahmestellung nur dank der Staatseinrichtung, welche durch den Patriotismus erhalten wird, beibehalten können. Indem sie nun die mächtigsten Mittel in ihren Händen haben, um das Volk zu beeinflussen, pflegen sie bei sich und bei den anderen die patriotischen Gefühle unablässig, umsomehr da diese Gefühle von der Staatsgewalt am besten belohnt werden. […] Hauptsächlich aber wird der Patriotismus hervorgerufen, indem man durch allerlei Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten gegen fremde Völker bei denselben Haß gegen das eigene Volk hervorruft und diesen Haß alsdann zur Erweckung von Feindseligkeiten beim eigenen Volke ausnutzt. – Die Entfachung dieses furchtbaren Gefühls des Patriotismus […] erlangt gegenwärtig ihren höchsten Kulminationspunkt.“ Das Problem liegt – in Russland wie in anderen Ländern – bei den Herrschenden: „Waren früher die Regierungen dazu nötig, die eigenen Völker vor Überfällen der anderen zu verteidigen, so stören jetzt die Regierungen künstlich den Frieden, der unter ihnen herrscht, und rufen zwischen den Völkern Feindseligkeiten hervor.“ Eine andere, erfreulichere Perspektive würde nur ein „Nichtvorhandensein der Regierungen“ eröffnen: „Die Befreiung vom Patriotismus und die Aufhebung des auf demselben ruhenden Regierungsdespotismus kann den Menschen nur nützen.“
Im Jahr 1908 annektierte Österreich – nach einem zuvor beim russischen Außenminister eingeholten ‚Einverständnis‘ – Gebiete von Bosnien und Herzegowina, worauf heftige Proteste des Osmanischen Reiches und Serbiens folgten. Die ‚Bosnische Annexionskrise‘ gilt als ein nicht unbedeutendes Kapitel in der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges. LEO N. TOLSTOI verfasste eine eigene, ursprünglich als ‚Brief an eine Serbin‘ konzipierte Schrift „Die Annexion Bosniens und der Herzegowina“ (O prisojedinenii Bosnii I Gerzogowiny k Awstrii, 1908): „Die österreichische Regierung hat beschlossen, die Völker Bosniens und der Herzegowina […] als ihre Untertanen zu erklären, mit anderen Worten, sie nahm sich das Recht, ohne die Einwilligung dieser Völker, über die Erzeugnisse und über das Leben von einigen hunderttausend Menschen zu verfügen“ (→ VI ). Den Österreichischen Staat führt TOLSTOI als großes Räubernest vor und ruft der Gegenseite zu, ihrerseits nun nicht mit einem „Abfall vom Bewußtsein der Einheit der ganzen Menschheit“ zu antworten: „Serben! Ihr solltet nicht zum Kriege rüsten“!
Auf weiter Strecke ist die Schrift eine Rekapitulation der älteren Aufklärungstraktate über den ‚Patriotismus‘: „Wenn man mich daher um Rat fragt, was man tun soll – ob mich nun ein Indier fragt, wie er gegen die Engländer, oder ein Serbe, wie er gegen Oesterreich, oder ob mich Perser und Russen fragen, wie sie gegen ihre gewalttätigen persischen und russischen Regierungen kämpfen sollen – ich kann nur das eine antworten und kann nichts anderes glauben, als daß es heil- und segensvoll für alle ist […]: man soll sich mit aller Kraft vom verderblichen Aberglauben des Patriotismus und des Staates befreien und in jedem Menschen seine Menschenwürde erkennen, die keine Abweichung vom Gesetze der Liebe duldet, die nichts von Staat und von Sklaverei weiß, die keine besonderen Taten, sondern nur das Einstellen jener Handlungen fordert, welche das Böse stützen und unter welchen die Menschen leiden.“
Dieser Text ist kein politischer, sondern ein religiöser: „Der Wille Gottes geht auf das Wohlergehen aller Wesen und von allem, was auf der Welt ist.“ Mensch und Menschheit finden erst dann zum ‚Sinn des Lebens‘ (d. h. zu einem glücklichen Sein), wenn sie sich gleichsam in diesem grenzen- und bedingungslosen Wohlwollen einfinden und also auch selbst zugunsten des ‚Wohlergehens aller Wesen‘ agieren.
TOLSTOI, der Warner vor dem Abgrund, erliegt im Alter bisweilen gerne der Versuchung, eine nahe heilsame Wende anzukündigen. So meint er auch im ‚Bosnien‘-Traktat, die Klarheit der Erkenntnis bezogen auf die Überwindung des alten ‚Gesetzes der Gewalt‘ habe „in unserer Zeit einen Grad erreicht, daß jeder noch so kleine Anstoß das Erwachen der Völker hervorrufen kann, das Erwachen vom Patriotismus“ und von „der aus ihm fließenden Knechtschaft, in der sie leben“.
Die nicht gehaltene „Rede gegen den Krieg“ 1909
Im Sommer 1909 wird LEO N. TOLSTOI vom Organisationskomitee des 18. Friedenskongresses, der in Stockholm stattfinden soll, zu einem Vortrag eingeladen. Er antwortet mit einem Brief vom 12. Juli 1909 von Jasnaja Poljana aus: „Herr Vorsitzender, die Frage, die der Kongress zu behandeln hat, ist außerordentlich wichtig und interessiert mich schon seit vielen Jahren. Ich werde versuchen, die ehrenvolle Gelegenheit, die Sie mir durch meine Wahl geboten haben, zu nutzen, um dazulegen, was ich vor einer so auserlesenen Zuhörerschaft wie der, welche auf dem Kongreß versammelt sein wird, zu dieser Frage zu sagen habe. Wenn meine Gesundheit es erlaubt, werde ich alles in meinen Kräften Stehende tun, um mich zum angegebenen Zeitpunkt in Stockholm einzufinden, andernfalls würde ich Ihnen das, was ich sagen möchte, zusenden in der Hoffnung, daß die Kongreßmitglieder den Wunsch haben, meine Ansicht kennenzulernen. – Empfangen Sie, geehrter Herr, die Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung.“20
Geir Kjetsaa scheibt zur Einladung nach Stockholm: „Seit vielen Jahren stand“ TOLSTOI „mit westlichen Friedenskämpfern in Verbindung, unter anderem mit Bertha von Suttner, und jetzt wurde er sogar zu den Ehrenteilnehmern des Kongresses gewählt. Aufgrund seines großen Interesses für Frieden und Brüderlichkeit versprach der Schriftsteller zu kommen, wenn es seine Gesundheit zuließ. Eifrig begann er an einem Angriff gegen die Kriegsmoral zu schreiben, während Markowitzkij in Landkarten und Reiseverbindungen herumsuchte. Sonja war wegen dieser Laune ihres einundachtzigjährigen Mannes ganz verzweifelt: ‚Wer Lew Nikolajewitsch das Leben nehmen will, braucht ihn nur mit auf diese Reise zu nehmen.‘ Aufgrund des schwedischen Generalstreiks im August wurde indessen der Kongress abgesagt. Die Organisatoren haben sicher erleichtert aufgeatmet. Vielleicht hätte dieser merkwürdige Graf die Teilnehmer mit einem weiteren anarchistischen Vorstoß erschreckt? – Sein geplanter Beitrag zeigt einen kampflustigen Verfasser, der alle Pazifisten auffordert, ihre Regierungen moralisch unter Druck zu setzen. Genau wie die Kirchenväter behauptet er, der Rüstungswettstreit sei mit dem christlichen Gedankengut unvereinbar: ‚Menschen, die miteinander in Frieden leben wollen, brauchen keine Kriegsflotte. Das brauchen nur die, die plündern und töten wollen, denn Raub endet immer damit, dass Menschen sich gegenseitig das Leben nehmen‘.“21
TOLSTOIS Text für den geplanten Vortrag in Stockholm, der ursprünglich auch in Berlin in einer Großveranstaltung verlesen werden sollte, ist nebst einem Beitrag GUSTAV LANDAUERS „Zur Vorgeschichte von Leo Tolstois Rede gegen den Krieg“ im vorliegenden Band nachzulesen (→ VII ). Die Botschaft wurde vor dem Ersten Weltkrieg und dann bis in die Spätzeit der Weimarer Republik hinein im deutschen Sprachraum vor allem von ‚anarcho-sozialistischen‘ Anhängern des Ideals der Gewaltfreiheit verbreitet – und zwar sehr eifrig.22 Inhaltlich bietet sich an ein Vergleich der nicht gehaltenen „Rede“ mit TOLSTOIS ein Jahrzehnt zuvor verfasster ‚Antwort auf den Brief einer schwedischen Gesellschaft über die Haager Konferenz‘ vom Januar 1899.23 Dieser Brief zeugt wieder von größter Skepsis gegenüber Konzepten der bürgerlichen Friedensbewegung (Abrüstung, Verbot besonders grausamer bzw. verheerender Waffen, Schiedsgerichtsbarkeit), zumal unter der Voraussetzung, dass die kriegsführenden Staaten selbst als maßgebliche Akteure betrachtet werden. Wie im Jahr vor seinem Tod konzentrierte sich TOLSTOI schon 1899 ganz auf den Weg der Kriegsdienstverweigerung, welcher freilich ihm zufolge nicht Gegenstand einer ‚staatragenden Veranstaltung‘ sein konnte: „Die Konferenz wird den Zweck haben, nicht den Frieden auszurichten, sondern vor den Menschen das einzige Mittel ihrer Befreiung von dem Elend des Krieges zu verbergen: das Mittel, das darin besteht, daß die einzelnen Personen ihre Teilnahme an dem militärischen Mord verweigern, und deshalb kann die Konferenz auf keine Weise diese Frage in Erwägung ziehen.“ Adressat von Friedensaufrufen sollten demzufolge nicht die Regierungen sein, sondern die Menschen, von denen die Mächtigen bei ihren Mordplänen Gehorsam einfordern.
Kein Friedensnobelpreis für Tolstoi24
Gegen Ende seines Lebens, so meint Geir Kjetsaa , waren es „nur zwei Dinge, die Tolstoi […] fürchtete: seine Frau und den Nobelpreis. Es gelang ihm schließlich, beiden zu entwischen. Aber nicht ohne Schwierigkeiten. – Immer mehr waren jetzt der Ansicht, dieser Erzpazifist habe den Friedensnobelpreis verdient. Nachforschungen im Nobelinstitut in Oslo haben ergeben, dass er für diese Auszeichnung dreimal vorgeschlagen wurde. Die beiden ersten Vorschläge kamen von dem Schweizer Professor Karl Hilty (1901) beziehungsweise dem deutschen Professor Max Lehmann (1902), aber beide waren schlecht begründet. Dennoch ließ das norwegische Nobelkomitee ein kurzes Gutachten über Tolstojs Kandidatur erstellen. Das Resultat war allerdings negativ: Dieser Schriftsteller sei ein Gegner von Friedenskonferenzen gewesen und habe sich damit als schlechter Vorkämpfer für den Frieden erwiesen! Genau wie im Komitee für den Literaturpreis befürchtete man im Komitee für den Friedensnobelpreis zu provozieren, indem man einem ‚Anarchisten‘ wie Tolstoj den Preis zuerkannte. – Der Kampf um Tolstojs Kandidatur wurde stattdessen außerhalb des Komitees geführt. Einer der Hauptsprecher war der aus Russland gebürtige Journalist Menartz Lewin, der im Herbst 1908 die ganze damit verbundene Ungereimtheit zusammenfasste: ‚[…] dass Norwegen Tolstoj bei der Verleihung des Friedensnobelpreises übergehen konnte, ist für Russen etwas Unbegreifliches. Er alleine ist ja ein größerer Freund des Friedens als alle anderen zusammen.‘ Diese Initiative hatte Folgen.“25
Aus Norwegen ließ man MENARTZ LEWIN wissen, es habe bislang eben noch niemand TOLSTOIS Kandidatur gefördert. Es verfassten aber schließlich vier norwegische Parlamentsmitglieder ein entsprechendes Vorschlags-Schreiben: „An das Nobelkomitee! Die Unterzeichnenden erlauben sich vorzuschlagen, den diesjährigen Friedensnobelpreis Lew Tolstoj zuzuerkennen. – Dieser gewaltige Kämpfer, dessen Leben und Wirken von Freunden und Gegnern in der ganzen zivilisierten Welt mit Ehrfurcht verfolgt wird, hat in Wort und Tat mehr für die Sache des Friedens getan als irgendjemand anders, und er hat mit unermüdlicher Leidenschaft versucht, die Kriegsmoral bei den Völkern auszumerzen. Sein mutiges Auftreten während des Krieges zwischen Russland und Japan muss allen wahren Freunden des Friedens und der Humanität ein unvergessliches Verdienst sein. – Kristiania, den 1. Februar 1909. In Ehrerbietigkeit, Afred Eriksen – Eggede-Nissen – Magnus Nilssen – A. Buen.“26
Das Nobelkomitee reagierte auf diesen Vorstoß norwegischer Parlamentarier, indem es ein ‚ordentliches Gutachten‘ bei KARL VILHELM HAMMER, dem erster Archivar im Außenministerium einholte. Der Gutachter meinte, TOLSTOIS „künstlerisches Genie“ nütze wenig, denn seine philosophischen Studien zeugten von einem begrenzten Horizont. Im Nobelpreiskomitee war man der Ansicht, der Dichter „hasse ganz Europa, und mit seiner Kultivierung der einfachen, östlichen Gesellschaft mangle ihm jegliches Verständnis für das Ziel des Preises“. MENARTZ LEWIN gegenüber zeigte sich TOLSTOI bei dessen Besuch in Jasnaja Poljana im Februar 1910 „nicht im mindesten darüber verwundert oder verärgert, dass man ihn nicht des Friedenspreises für würdig gehalten hatte“. Mit Blick auf weitere Bemühungen der Anhänger um den Friedensnobelpreis erklärte der Dichter im Herbst 1910 wiederum gegenüber LEWIN: „Ich würde ihn nicht annehmen, weil ich von dem absoluten Schaden durch das Geld überzeugt bin.“
Vorahnungen des Weltkrieges?
THOMAS MANN hat wenig Gefallen gefunden an der hochmoralischen „Kunsttheorie“ und den Traktaten des späten TOLSTOI. Er bemerkte aber – mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs – 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von TOLSTOIS Geburt: „Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären.“27
Ob LEO NIKOLAJEWITSCH TOLSTOI wirklich, wie Ernst Keuchel schreibt, einen „Wahrtraum“ mit Vorausschau zu „Beginn und Verlauf des Weltkrieges“ 1914-1918 gehabt hat, bleibt zu überprüfen. Zahlreich sind in seinem Schrifttum auf jeden Fall die Verweise auf unvorstellbare Schrecken des modernen Krieges. „Man lese“, so TOLSTOI, nur „die Geschichte der christlichen europäischen Völker seit der Reformation oder denke an sie. Sie bildet eine ununterbrochene Reihe der schrecklichsten, sinnlos grausamen Verbrechen, die von Regierenden gegen ihre eignen und fremde Völker und gegeneinander verübt worden sind: Unaufhörliche Kriege, Räubereien, Vernichtung oder Bedrückung von Nationalitäten, Ausrottung ganzer Völker …“28. Im Werk „Das Reich Gottes ist in euch“ (geschrieben 1890-1893, veröffentlicht 1894) wird aus einer Abhandlung von GRAF KOMAROWSKIJ zitiert: „Die Völker können nicht lange die gesteigerten Rüstungen ertragen, und früher oder später ziehen sie den Krieg allen Lasten der augenblicklichen Lage und der beständigen Bedrohung vor, so daß die winzigste Ursache genügen wird, um in Europa die Flamme eines Weltkrieges zu entzünden.“29 In TOLSTOIS Schrift „Patriotismus oder Frieden?“ (Patriotizm ili mir?, 1896) heißt es: „In diesen Tagen gab es einen Zusammenstoss zwischen den Nord-Amerikanischen Staaten und England wegen der Grenzen Venezuelas […] Edison erklärte, er würde Geschütze erfinden, mit denen man in einer Stunde mehr Menschen töten könnte, als Attila in all' seinen Kriegen getötet hat, – und beide Völker begannen sich energisch zum Kampfe zu rüsten.“30
Aussagekräftig sind auch viele Beispiele aus TOLSTOIS „Lesezyklus für alle Tage“ (Krug čtenija, 1904-1906), dem im vorliegenden Band erneut eine Abteilung (→ V ) gewidmet ist. In den Lesetexten für den „6. Juli“ werden z. B. folgende Warnungen des Schweizers EDOUARD ROD (1857-1919) angeführt: „Es ist entsetzlich, auch nur daran zu denken, welche Katastrophe unserer unvermeidlich am Ende unseres Jahrhunderts harrt, und wir müssen auf sie vorbereitet sein. Im Laufe von zwanzig Jahren (nun sind es bereits mehr denn vierzig) gehen alle Anstrengungen des Wissens darauf hin, neue Zerstörungswerkzeuge zu erfinden, und in kurzer Zeit werden einige Kanonenschüsse genügen, um eine ganze Armee zu vernichten. Jetzt stehen unter Waffen, nicht wie ehemals, einige tausend feiler armer Schlucker, – sondern Völker, ganze Nationen stehen bereit, einander zu morden.“
Wenige Monate vor seinem Tod schrieb LEO N. TOLSTOI 1910 den Teilnehmern des slavischen Kongresses in Sofia: „Ja, in der Einigkeit – beruht der Sinn, das Ziel, und das Heil des menschlichen Lebens, aber auch Ziel und Heil werden nur dann erreicht, wenn es sich um eine Einigkeit der ganzen Menschheit handelt, im Namen der Grundlage, die der ganzen Menschheit eigen ist, nicht aber um eine Vereinigung kleinerer oder grösserer Teile der Menschheit im Namen beschränkter Teilziele. Mag diese Gemeinschaft eine Familie sein, eine Räuberbande, eine Landgemeinde, ein Staat, einzelne Völker oder der heilige Bund der Staaten – solche Vereinigungen fördern nicht nur keineswegs den wahren Fortschritt der Menschheit, sie hemmen ihn vielmehr mehr wie alles andere; will man daher mit Bewusstsein dem wahren Fortschritt dienen, so darf man […] keine derartige teilweise Vereinigung fördern, man muss ihr vielmehr stets entgegenhandeln. Die Eintracht ist der Schlüssel, welcher die Menschen vom Übel befreit. Damit aber dieser Schlüssel seine Aufgabe erfüllen kann, muss er ganz ins Schlüsselloch gesteckt sein, bis zu der Stelle, wo er das Schloss öffnet, nicht aber zerbricht und auch nicht das Schloss verdirbt. So steht es auch mit der Vereinigung von Menschen – soll sie die ihr eigenen wohltätigen Folgen zeitigen, so muss sie die Vereinigung aller Menschen zum Ziele haben im Namen der allen Menschen eignenden und von ihnen allen in gleicher Weise anerkannten Grundlage. Eine solche Vereinigung kann aber nur auf jener religiösen Grundlage des Lebens erfolgen, die einzig und allein die Menschen eint, und leider Gottes von der Mehrzahl der Leute, die heute die Völker führen, für unnötig und überlebt angesehen wird.“31
pb
1 Leo N TOLSTOI: Tagebücher 1847-1910. Aus dem Russischen übersetzt von Günter Dalitz. München: Winkler 1979, S. 714.
2 Viktor SCHKLOWSKI: Leo Tolstoi. Eine Biographie. Übersetzung aus dem Russischen von Elena Panzig [1980]. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch 1984, S. 609.
3 Ebd., S. 609.
4 Geir KJETSAA: Lew Tolstoj. Dichter und Religionsphilosoph. Gernsbach: Casimir Katz Verlag 2001, S. 341.
5 Viktor SCHKLOWSKI: Leo Tolstoi. Berlin 1984, S. 642.
6 Geir KJETSAA: Lew Tolstoj. Gernsbach 2001, S. 354-355.
7 Leo N TOLSTOI: Tagebücher 1847-1910. München 1979, S. 666-667.
8 Neu ediert in Leo N. TOLSTOI: Staat – Kirche – Krieg. Texte über den Pakt mit der Macht und das Herrschaftsinstrument Patriotismus. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe B, Band 2). Norderstedt: BoD 2023, S. 193-243.
9 Leo N TOLSTOI: Tagebücher 1847-1910. München 1979, S. 667.
10 Sozialistische Klassiker 2.0. ‚russisch-japanischer Krieg 1904/05‘ (Trotzki, Sotschinenija, 2.1). https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/glossar/russisch-japanischer-krieg (zuletzt abgerufen am 30.03.2023). – Vgl. auch eine zeitgenössische Darstellung, die im → Anhang des vorliegenden Bandes (zu IV ) dokumentiert wird: Die Ursachen des russisch-japanischen Krieges. In: Die Friedens-Warte X. Jahrgang (Juli 1908), S. 129-130.
11 Viktor SCHKLOWSKI: Leo Tolstoi. Berlin 1984, S. 634.
12 Geir KJETSAA: Lew Tolstoj. Gernsbach 2001, S. 356-357.
13 Ernst KEUCHEL: Leo Tolstoi und unsere Zeit. In: „Die Rettung wird kommen …“. 30 unveröffentlichte Briefe von Leo Tolstoi an Eugen Heinrich Schmitt. Ein Weltanschauungsbild des russischen und des deutschen Denkers. Zusammengestellt von Ernst Keuchel. Hamburg: Harder Verlag 1926, S. 9-22, hier S. 17. – Der Verfasser teilt nicht mit, auf welchen „Wahrtraum“ (Selbstzeugnis Tolstois?) kurz vor dem Tode sich seine Ausführungen beziehen.
14 Leo N TOLSTOI: Tagebücher 1847-1910. München 1979, S. 674.
15 Ebd., S. 675.
16 Vgl. ebd., S. 127-128.
17 Vgl. einen Tagebucheintrag vom 7. März 1904: „Man erkennt im Traum, daß man Schwächen hat, von denen man sich sonst frei glaubt […] Ich sehe mich häufig als Soldaten“ (Leo N TOLSTOI: Tagebücher 1847-1910. München 1979, S. 669).
18 Geir KJETSAA: Lew Tolstoj. Gernsbach 2001, S. 357.
19 Viktor SCHKLOWSKI: Leo Tolstoi. Berlin 1984, S. 647.
20 Lew TOLSTOI: Briefe. Zweiter Band: 1881-1910. Übersetzt von Günter Dalitz aus dem Russischen. (= Gesammelte Werke in zwanzig Bänden. Herausgegeben von Eberhard Dieckmann und Gerhard Dudek, Band 17). Berlin: Rütten & Loening 1971, S. 503-504 (französisches Original und deutsche Fassung).
21 Geir KJETSAA: Lew Tolstoj. Gernsbach 2001, S. 366.
22 Vgl. die ausführliche bibliographische Übersicht zu VII im → Anhang des vorliegenden Bandes.
23 Leo N. TOLSTOJ: Antwort auf den Brief einer schwedischen Gesellschaft über die Haager Konferenz. In: L. N. Tolstoj: Ausgewählte Werke, herausgegeben von W. Lüdtke. Band XII.: Weltanschauung. Auswahl von W. Lüdtke. Wien/Hamburg/Zürich: Gutenberg-Verlag Christensen & Co. 1929, S. 203-209. Nachzulesen auch in Leo N. TOLSTOI: Das Töten verweigern. Texte über die Schönheit der Menschen des Friedens und den Ungehorsam. Neu ediert von Peter Bürger und Katrin Warnatzsch. (= Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 3). Norderstedt: BoD 2023, S. 143-150. (Dort in der Fußnote zum Quellennachweis irrtümlich das Datum „4. August 1909“; richtig: Januar 1899.)
24 Grundlage der Darstellung: Geir KJETSAA: Lew Tolstoj. Gernsbach 2001, S. 376369.
25 Ebd., S. 367.
26 Zitiert nach ebd., S. 367-368. – Zum Nachfolgenden (einschließlich der Zitate) vgl. ebd. S. 369-369.
27 Rede „Tolstoi – Zur Jahrhundertfeier seiner Geburt“. In: Thomas MANN: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Band X: Reden und Aufsätze 2. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1990, S. 233-238, hier S. 233.
28„Eines ist not“ (Edinoe na potrebu, 1905); hier zitiert nach Leo N. TOLSTOI: Staat – Kirche – Krieg. Norderstedt 2023, S. 210.
29 Leo N. TOLSTOI: Das Reich Gottes ist in Euch, oder: Das Christentum als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre. (Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht). Vom Verfasser autorisierte Übersetzung von Raphael Löwenfeld 1894. (= Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe A, Band 9). Norderstedt: BoD 2023, S. 129.
30 Hier zitiert nach Leo N. TOLSTOI: Staat – Kirche – Krieg. Norderstedt 2023, S. 115.
31 Leo TOLSTOI: Religiöse Briefe. Übersetzt und herausgegeben von Karl Nötzel. Sannerz und Leipzig: Gemeinschafts-Verlag Eberhard Arnold [1923], S. 313-314: ‚Nr. 219. An den slavischen Kongress in Sofia. Otradnoje, 20. Juni 1910‘.
(1899)32
Leo N. Tolstoi
Übersetzung von Wladimir Czumikow
Das folgende Fragment ist mit Erlaubnis des Grafen Tolstoi einem Privatbrief entnommen worden, den er an einen Publizisten schrieb. Andere Stellen, die eine sehr heftige Kritik der Politik und Person des Deutschen Kaisers enthalten, mußten fortgelassen werden.