Wie Blei, auf meinen Flügeln - Katharina XXX - E-Book

Wie Blei, auf meinen Flügeln E-Book

Katharina Xxx

4,4

Beschreibung

Wie sehr schädigt Mobbing eine Kinderseele, selbst wenn sie längst erwachsen geworden ist? Mein Buch gibt einen offenen, ehrlichen und schonungslosen Einblick auf diese Frage und soll damit die Menschen wachrütteln!

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Für alle Opfer von Mobbing, für alle die sich gegen Mobbing einsetzen - und nicht zuletzt für MICH!

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Reise in die Vergangenheit

Die Gewitterfront

Der Fratzenmob

Schulorchester

Orchesterfreizeit

Schreiende Ungerechtigkeit (1. /2. Klasse)

Im Sport

Im Schwimmunterricht

Eingesperrt (ca. 6. Klasse)

Eine Klasse- zwei Welten

Telefonterror (ca. 7. Klasse)

Vorlesen!

Rechtschreibung

Hilflose Lehrer

Feiger Weggenosse

Der Horror vor dem Schullandheim!

Überraschende Verbündete

Unsichtbarer Begleiter!

Jetzt erst recht!

Zwei Fratzen - vier Gesichter

Blinde Zerstörungswut

Ein weiterer armer, feiger Weggenosse

Mein Glück - ihr Unglück!

Ein Hauch von Selbsterkenntnis

Stumm- schreiende Zeugen

Geteiltes Leid- halbes Leid!?

Ein kleiner Trost für alle Geächteten

Die letzten Tage

Die Prüfungen

Ein Klick - ein großer Schritt

Freunde - zwischen Fratzen

Purer Spaß!?! (7. Klasse)

Mitten drin - zu zweit - allein

Durch andere Augen

Vom Stadion zurück in die Hölle

Ein Tag Schullandheim als Mama

Schachmatt?!

Die Geschichten von anderen Personen

Nur geträumt?!?

Verschwunden

U-Bahn Flashback

Zum Schluss

Am Ziel?

Vorwort

Mobbing!

Ein Wort, das ich vor 25 Jahren noch nicht kannte. Aber seine Bedeutung habe ich jeden einzelnen Schultag zu spüren bekommen.

Die Definition:

Mobbing ist schlicht ein anderes Wort für Psychoterror. Diesem wird ein Mensch gezielt ausgesetzt, um ihn aus einer Gemeinschaft zu ekeln. Er wird ständig seelisch und/ oder körperlich verletzt, schikaniert und gequält. Dazu kommen die Verbreitungen falscher Tatsachen und die soziale Isolation.

Die nüchternen Zahlen:

Als ich das Wort „Mobbing“ Anfang 2015 in eine Internetsuchmaschine eingebe, erhalte ich 12.400.000 Treffer in 0,24 Sekunden.

Mobbing am Arbeitsplatz, in der Schule, im Sportverein, im Internet, …

Dann gebe ich die Wortkombination „Selbstmord wegen Mobbing“ ein und stoße auf unzählige, erschütternde Geschichten.

Unfassbar! Ich ahnte zwar, dass ich mit diesem Thema nicht alleine bin, als ich mich vor fast vier Jahren auf diesen langen, schweren aber überlebenswichtigen Weg machte, aber dass es so viele Menschen betrifft, macht mich sprachlos. Gleichzeitig aber scheinen mich all diese „Treffer“ anzufeuern, alle

Geschichten, Gedanken und Worte, die ich auf dieser Reise aufgesammelt habe, endgültig preiszugeben.

In diesem Buch erzähle ich meine Geschichte. Meine Erinnerungen aus 11 Jahren Schulzeit. Aus 11 Jahren Mobbinghölle.

Hätte ich meine Geschichte nicht aufgeschrieben, hätte ich mich nicht auf diese Reise gemacht, wäre ich heute nicht frei, von der tonnenschweren Last, die Jahrzehnte wie Blei auf meinen Flügeln lag und meine Seele am lebendigen fliegen hinderte.

Aus DatenSchutzgründen, weil es mir hierbei keinesfalls um Rache geht und dich niemanden bloßstellen möchte sind die Namen aller Personen geändert.

Auch die Namen der anderen Menschen, deren Geschichten ich in diesem Buch erzählen werde, sind geändert, weil ich niemanden bloßstellen möchte.

Aber warum möchte ich dieses Buch veröffentlichen?

Ich möchte DIR, TÄTER, klarmachen, was Mobbing mit einer Kinderseele anstellt, auch wenn sie längst Erwachsen geworden ist.

Ich möchte, dass DU erkennst, „so ein bisschen mobben“ ist kein Spaß, sondern Psychoterror.

Ich möchte, dass DU, MITLÄUFER, verstehst, wie wichtig und richtig es ist, DICH gegen Mobbing einzusetzen. Ich möchte, dass DU in solchen Situationen nicht mehr mitläufst oder wegsiehst, sondern aufstehst, DEINE Stimme erhebst und den Schwachen beistehst.

Und Dir, OPFER eines gehässigen Mobb` s, rufe ich zu: Halte durch! Die Hölle geht vorbei! Du bist stärker. Gönne Ihnen nicht den Sieg über Dich und wirf Dein Leben nicht weg! Und sein Dir gewiss, Du bist nicht allein!

Reise in die Vergangenheit

Endlich sitze ich im Zug. Seit Wochen ersehne ich diesen Moment und freue mich darauf, morgen bei der Geburt meines ersten Neffen dabei zu sein.

Die Pfeife des Schaffners ertönt. Hinter mir krachen die Türen. Ich blicke aus dem Fenster und winke meinen Lieben. Dann verschwinden die vertrauten Gesichter und der Bahnsteig rast mit zunehmender Geschwindigkeit an mir vorbei.

Ich lehne mich zurück. Trotz der Vorfreude auf das neu ankommende Leben quälen mich Erinnerungen aus meiner Vergangenheit.

Endlich kann ich all diese wirren Gedanken, die grässlichen Bilder und die quälenden Gefühle sortieren, die mir seit Wochen den Schlaf stehlen und die ich längst vergessen glaubte.

>Ich muss sie aufschreiben, so wie früher…! < denke ich. Also krame ich Stift und Schreibbuch aus der Tasche und beginne zu schreiben. Ich suche nach schönen Worten, blumigen Bildern und zierenden Reimen. Versuche mein Kopfchaos schön zu verpacken, wie Weihnachtsgeschenke in glänzendes Papier mit glitzernden Schleifen und goldenen Sternen.

Doch die Zeilen füllen sich nur langsam und jeder Buchstabe quält sich in Zeitlupe aus meinem Gehirn. Irgendwann halte ich inne.

>Nein! Das ist falsch! Das stimmt doch alles nicht! Schöne, blumige Bilder, - Gedichte mit Reimen, Rüschen und Schleifen…? Nein!<

Also eine neue Seite- und noch mal ganz von vorn. >Vielleicht entsteht ein ganz neues Kapitel in meinem Leben.

Ich beschönige nichts mehr, keine Blumen, kein Glimmer und kein Glitzer! Nur meine Erinnerungen. Meine Geschichte. Die ungeschönte Wahrheit. Offen, ehrlich und schonungslos. < Aber dann beginne ich doch wieder zu zweifeln: >Wohin wird mich diese schriftliche Reise führen? Und schaffe ich es, der schonungslosen Wahrheit ins Gesicht zu blicken? Halte ich es aus, wenn all diese grauen, steifen Schatten meiner Vergangenheit wieder farbig und lebendig werden?

Außerdem- ich will doch gar nicht hinsehen! Ich will das alles vergessen! Verschwindet doch endlich aus meinem Leben!< Doch die andere, stärkere, mutige Stimme in mir ist lauter: >Die Frage ist nicht, was ich will. Ich muss! Ich muss hinsehen, damit sie ihren Schrecken verlieren und ich muss hingehen, damit der Schmerz nachlässt. Nur so kann ich diese Bilder vielleicht irgendwann hinter mir lassen.

Ich muss!

Was daraus wird? Ob es funktioniert?

Ich weiß es nicht! Aber ich muss es versuchen!

Denn die Türen sind längst verschlossen, mein Motor rattertich bin bereits unterwegs.

Der Zug wird sein Ziel in gut zwei Stunden erreichen. Wie lange ich für meine innere Reise brauche, kann ich nicht ahnen.

Aber ich werde diese Gelegenheit, auf die ich seit Wochen warte, nutzen. Ich kann nicht davon laufen, habe nichts anders zu tun und finde keine Ausrede mehr.

Jetzt beginne ich all diese Bilder genau zu betrachten und aufzuschreiben.

Die Gewitterfront

Die Erinnerungen, die mich bis heute wütend, traurig und hilflos machen sind wie Blitze am nächtlichen, wolkenlosen Himmel, die in meinen Kopf einschlagen und meinen ganzen Körper durchjagen.

Bei jedem Einschlag reißt es mir die Arme nach oben, und meine Hände ballen sich zu Fäusten.

Mein Magen krampft und dreht sich, aber ich verwehre ihm das Erbrechen.

Ich will davonrennen, aber meine Beine sind gelähmt und meine Füße unter dieser Last mehrfach gebrochen.

Meine Ohren schmerzen vom Lärm des Donners und dem kreischen des Windes der die Regentropfen wie Hagelkörner gegen meine Haut peitscht.

Während sich meine Augen mit Tränen füllen, suche ich verzweifelt den Schlaf - und finde doch keine Ruhe.

Irgendwann kämpfe ich nicht mehr gegen diese, mir nur allzu gut vertraute Schlaflosigkeit. Ja, ich kenne diese Situation: Dieses hin- und her wälzen und die stummen Schreie. Diese Sehnsucht nach dem Morgengrauen, das mir die Erlösung der nächtlichen Qualen verheißt. Gleichzeitig aber die Angst vor dem nächsten Tag, der neues Futter für die kommende schlaflose Nacht bringt.

Vor gut 20 Jahren lag ich so in meinem Kinderzimmer, heute liege ich von meinen Kindern umringt hier im Bett.

Aber warum kommen sie wieder? Warum nach all diesen Jahren? Warum liege ich vom Blitz erschlagen, vom Donner erschüttert und nass bis ins Mark aus heiterem Himmel plötzlich wieder mitten in diesem tosenden Unwetter? Meine Gedanken stocken:> Plötzlich? Aus heiterem Himmel? Stimmt das wirklich?

Ok, ich habe die Wolken am Horizont immer gesehen, dunkle, hässliche Flecken. Aber sie waren doch längst vorbeigezogen und der Sturm hatte sich längst gelegt!

Die Spuren der Verwüstung, die tiefen Narben und die Risse in meinem Fundament. Die Schmerzen, die Tränen und die Hilflosigkeit. Die Trauer und die Wut, ja, all dies kann ich, im hintersten Eck meiner Seele, all die Jahre hindurch immer wieder erblicken.

Wie hätte ich sie auch je vergessen können?! Haben diese Ereignisse mich doch zu der individuellen Person gemacht, die ich heute bin. Mit all meinen Stärken und Schwächen. Und vielleicht habe ich auch, irgendwo tief in mir drin, geahnt, dass es eines Tages so kommen wird. Dass der Wind sich noch einmal dreht und die schrecklichen Blitze eines Nachts zurückkommen.

Selbst der Zeitpunkt ist bei genauer Betrachtung nicht überraschend.

OK! Ich muss zugeben, ich habe es kommen sehen. Ich habe das Gewitter -mitten in der Nacht - ganz langsam heran rollen sehen.

Aber mit dieser Heftigkeit konnte ich nicht rechnen. < Da fällt mir auf, ich schreibe schon wieder in (viel zu schönen) Bildern.

>Ich muss genau hinsehen.

Ich muss sie schärfen, belichten und färben, um klar zu sehen. Ich muss die Dinge beim Namen nennen damit die Angst mich nicht auffrisst und ich endlich Ruhe finde. <

Die „Wolken“- sind keine „Wolken“. Sie waren meine Schulzeit.

Das Gefühl meiner „durchnässten Haut“ ist das Gefühl alleine im „Regen“ zu stehen.

Die „Blitzeinschläge“ sind die Erinnerung an 11 Jahre Mobbinghölle.

Warum gerade jetzt der Zeitpunkt ist, an dem mich die Erinnerungen wieder treffen wie Blitzeinschläge?

Nun, in drei Monaten kommt mein großer Sohn in die Schule. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke, dass ich nächste Woche zum ersten Elternabend wieder in die Schule gehen muss!

Die Information kam vor zwei Wochen mit einem Brief seiner Lehrerin.

„Lieber zukünftiger Erstklässler! … Ich freu mich schon auf Dich! …… Hier ist eine Liste mit Dingen, die Du in die Schule mitbringen sollst…

…Am dritten Juliwochenende ist unser Sommerfest, zu dem wir Dich und Deine Familie schon mal ganz herzlich Einladen wollen…“

Dieses Fest ist Morgen. > Und ich fahre davon! Lass ich mein Kind gerade im Stich? Oder ist es besser so, damit er nicht spürt, wie sehr mich sein neuer Lebensabschnitt ins Chaos reißt- falls er das nicht längst schon bemerkt hat…Nein, ich denke, es soll genau so sein. Sein Papa und seine Schwester sind ja dabei, es wir sicher ein schöner Tag für ihn. < Außerdem habe ich meiner Schwester schon vor der Schwangerschaft Versprochen, ihr bei der Geburt des Kindes beizustehen.

Höchste Zeit also, die Notbremse zu ziehen, mich der Vergangenheit zu stellen und dem Orkan direkt in die Augen zu blicken.

Also schließe ich meine Augen und sehe genau hin…

Der Fratzenmob

Ich sitze zusammengekauert in einer Ecke auf dem Schulflur. Dann erkenne ich hässliche Fratzen die mich teuflisch anlächeln.

Ich höre ihr hämisches Geschrei.

Ich spüre, wie ich versuche, mich ganz in mein Innerstes zurückzuziehen. Aber ich entkomme ihren bösartigen Chorgesängen nicht.

Eine Hand greift nach mir, bevor ihr Besitzer seine Stimme erhebt:

„Hier weitergeben!“ Dann überschlagen sich die kreischenden Stimmen: „IIIHH –IHRE Schlonze!“ „Wäää! Nimm das weg!“ „DIE ist so eklig! Hörst du- du bist eklig!“ „Du bist so dumm!“„Du bist hässlich!“ „Du bist doof!“ „Du bist so Scheiße!“ „Puh! Puh Puhhhh!“ „He Du, hörst du was wir sagen?!“„Ha! schaut mal, jetzt weint SIE gleich!“

Jedes einzelne Wort trifft mich direkt ins Mark und schnürt mir die Kehle zu.

Ich erhebe mich und versuche zu entkommen, wegzulaufen, einfach nur raus aus dieser Hölle!

Ich - alleine, gegen 20, 30 kreischende Fratzen.

„Ja, hau doch ab!“ „Ha ha, versuch es doch!“ „Du kannst nicht weg!“ „ Du kommst hier nicht durch!“ „Du entkommst uns nie!!!“

Ich bin umzingelt. Und während mich ihre Worte mit 1000-facher Voltstärke durchfahren, schubsen sie mich von einem zum andern.

Tränen niederkämpfend ziehe ich mich wieder in die Ecke vor dem Klassenzimmer zurück und überlege, wie es so weit kommen konnte?

>Ich hatte mich vorhin doch extra hier nach oben verdrückt, damit sie mich nicht finden. Ich wollte ein paar Minuten in Ruhe durchatmen. Wollte eine Pause von meinem alltäglichen Krieg hier in der Schule. Eine Pause zwischen all ihren Attacken, diesen Sticheleien während des Unterrichts, diesen winzigen Nadelpiekser! Diesem ständigen Mobbing von hinten, von vorne und von der Seite. So zart geflüstert, dass kein Lehrer es wahrnimmt, sondern nur ich es höre. Ja, das machen sie echt gut. Ihre Quälereien hinterlassen meist keine sichtbaren Spuren und somit keine Beweise. Aber sie hinterlassen unsichtbare und unbeschreiblich tiefe Wunden auf meiner Kinderseele.

Ich dachte, wenn die Religionslehrerin etwas früher kommt, könnte ich schon mal ins Klassenzimmer sitzen und wäre für kurze Zeit erlöst.

Weiß der Himmel, wie sie mich entdeckt haben. Womöglich hat mich doch einer hochgehen sehen!?

Weiß der Teufel, warum es immer mehr Fratzen werden. Längst sind Kinder aus anderen Klassen dazugekommen. Und alle, alle machen mit.

Die verzweifelte Suche nach Schutz trieb mich in diese Sackgasse. Jetzt sitze ich hier wie ein gejagtes Tier in der Falle.

Aber wenn mein Körper schon nicht entkommen kann, meine Gedanken fangen sie nicht. Ich mach mich ganz klein und halte ganz still! Der Himmel und alle Engel mögen unerreichbar sein, um mich zu erlösen. Aber es kann nicht mehr lange dauern. Ich halte durch!!!< Also spanne ich meine Gedankenflügel und fliege...

Geraume Zeit später merke ich, dass das Geschrei langsam leiser wird.

Das Gedränge löst sich auf. Ich sehe vom Boden auf und erblicke durch meine Tränenwand, wie sich die Menge teilt. Auch die letzten Schreie verstummen. Jetzt sind es die Fratzen, die zu Boden blicken.

Manche scheinen ertappt- andere grinsen verlegen.

Inmitten der Meute erkenne ich erleichtert meine Lehrerin. Aber etwas an ihr ist anders. Ihr sonst so liebevolles, freundliches und sanftmütiges Gesicht starrt die Meute voller Entsetzen, voller Wut und voller Hilflosigkeit an.

Unsere Blicke treffen sich und mir strömt warmes Mitgefühl entgegen. Doch ich kann den Blick nicht halten- ich schäme mich. Die Tränen in ihren Augen machen mir ein schlechtes Gewissen.

>Wegen mir! Sie hat Tränen in den Augen- WEGEN MIR! < Wortlos öffnet sie die Tür. Die Schüler, die nun bei ihr Unterricht haben und ich folgen ihr, während andere Lehrer den restlichen Mob die Treppe hinunter scheuchen.

Im Zimmer herrscht schreiende Stille.

Minuten vergehen.

Irgendwann traue ich mich erneut, die zierliche Frau vor mir anzusehen.

Ihr Körper bebt. Sie ringt um Fassung. Ihre Stimme zittert, als sie das laute Schweigen bricht: „…da hat es vorhin plötzlich heftig am Lehrerzimmer geklopft…Zwei Mädchen aus der Oberstufe standen da und sagten, es muss mal schnell jemand kommen! ... Da steht das ganze Treppenhaus voller Schüler aus mehreren Klassen…und die machen alle EINE fertig…! …Was seid ihr für Menschen…Wie könnt ihr nur… alle gegen eine…. Wie soll ich mit euch jetzt Religionsunterricht machen…Schämt euch! ...Geht jetzt und denk darüber nach!“

Keiner lacht mehr! Keiner schreit mehr! Verärgerte Köpfe ziehen beim rausgehen an mir vorbei.

Als ich an meiner Lehrerin vorbei gehe fühle ich mich immer noch schuldig an ihrem Schmerz. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, aber ganz, ganz leise flüstere ich „DANKE!“

Ich lege den Stift aus meiner verkrampften Hand, trockne mein feuchtes Gesicht und gönne mir den nötigen Abstand.

Mein Magen entspannt sich langsam und meine Atmung wird ruhiger.

>Ich hoffe die Lehrerin hat meinen Dank damals gehört?! Mehr noch, ich wünschte, sie könnte das hier lesen. Sie und alle anderen Lehrer/innen. Müssten sie doch erkennen, wie wichtig es ist, dass SIE immer für die Opfer einstehen. Ich wünschte, auch die beiden namenlosen Mädchen könnten meinen Dank an sie lesen. Diese mutigen Engel ohne Gesicht die Alarm geschlagen haben.

Ich wünschte, jedes Kind könnte diese Geschichte lesen und begreifen, dass es in so einer Situation hässliche Fratze oder rettender Engel sein kann.

Ich wünschte, alle feigen Fratzen, die sich täglich zu einem dummen Mob verschmelzen, um sich auf ein am Boden liegendes Opfer zu stürzen, könnten das lesen. Müssten sie dann nicht verstehen, was sie mit solchen Attacken bei einem Menschen, -sogar noch nach über 20 Jahren, - anrichten!? Ich wünschte, alle Opfer, könnten das lesen. Ich wünschte es würde ihnen helfen, immer wieder neuen Mut zu fassen, solche Orkane durchzustehen und zu erkennen: sie sind nicht allein…. Und manchmal schickt der Himmel eben doch Engel zur Hilfe in der Hölle.

Und dann wünsche ich mir, die Fratzen könnten diese Momente durch meine Augen sehen.

Was würden sie heute wohl dazu sagen?

Würden sie mich immer noch so hassen und fertig machen? Oder würde es ihnen leid tun und würden sie sich vielleicht sogar entschuldigen?

Während ich das hier schreibe, frage ich mich, warum eigentlich ausgerechnet diese Erinnerung als erste von so vielen in meinem Kopf aufblitzt? <

Noch einmal blicke ich auf diese schreckliche Szenerie zurück. Ich sehe die grell funkelnden Augen der Fratzen und das gebrochene Häufchen Elend.

> Bin ich damals wirklich jemals aufgestanden? Kauere ich jetzt, wenn die Blitze kommen, nicht immer noch genauso auf dem Boden?

Liegt ein Teil von mir nicht vielleicht immer noch dort in der Ecke?

Und wenn das so ist, wird es dann nicht höchste Zeit mich zu erheben, meine gelähmten Flügel zu entstauben und los zu fliegen?!

Aber- kann ich das noch –fliegen…? <

Egal wie heftig der nächste Sturm ist.

Egal wie lange er dauert, ich stelle mich mitten hinein. Egal, wo ich bin, wenn er einschlägt, im Zug, im Auto, im Urlaub in den Bergen, am Stand mit Blick aufs Meer oder am Pool.

Zu Hause in der Hängematte, im Büro, auf dem Bett oder auf der Couch ich bleibe dran, schaue genau hin und schreibe. Dann wird sich zeigen, ob sie mich mein ganzes weiteres Leben lähmen, diese Fratzen!

In einer dieser schlaflosen Nächte erinnere ich mich an das Mittel, das mir vor Jahrzehnten schon geholfen hat, diese Blitze, diese Angst und das Donnergrollen zu übertönen. Musik, die in meinen Ohren dröhnt. Also aktiviere ich meinen mp3 Player. Denn ich liebe Musik seit ich denken kann. Sie verleiht meiner Seele Flügel, und die Bilder, die sie malt tragen mich sanft ins Land der Träume. Leider funktioniert das nicht immer, aber die heilende, tröstende und tragende Kraft der Musik ist für mich in den quälend langen Nächten unverzichtbar.

Schon mit drei Jahren habe ich gesagt: „Is will Deide bielen!“ (= Ich will Geige spielen!) Warum ich mir ausgerechnet dieses Instrument ausgesucht habe? Ich weiß es nicht genau, aber es scheint mir als könnte die Geige immer dann weiterreden, wenn ich keine Worte mehr finde, immer dann weitersingen, wenn ich keine Stimme mehr habe, und immer das nach außen tragen, was meine Seele fühlt.

Wenige Tage später fasse ich mir ein Herz und hohle meine Geige nach langen Jahren aus der Wohnzimmerecke zurück in mein Leben.

Weil mir dieser Neuanfang nicht ganz leicht fällt, frage ich eines Tages eine Freundin, die ebenfalls Geige spielt, um Rat. Sie kommt vorbei und ich spiele ihr voller Scham ein paar Stücke vor. „Du bist aber doch ganz gut.“ sagt sie Überrascht. „Du hast gesagt, du kannst nur ein paar Weihnachtslieder! Spiel doch in meinem Orchester mit!“

„Danke! Aber, darüber muss ich erst mal gut nachdenken!“ stottere ich überfordert und überlege, was genau mich gerade so Nervös macht.

Als sie weg ist betrachte ich mein Instrument und lass die einschlagenden Blitze in meinen Kopf gewähren…

Schulorchester

Mit ca. 8. Jahren bekomme ich meine erste Geige. Nach ein paar Jahren Privatunterricht, freue ich mich an diesem Tag der Erinnerung, ins Schulorchester aufgenommen zu werden.

>Ja, ich will das! Ja, auch wenn mich in der Klasse alle hassen! Wahrscheinlich wird meine Situation dadurch nicht besser, aber schlimmer kann es ja auch nicht werden. < Ich nehme all das bisschen Mut, was ich in mir finden kann und gehe nach dem Unterricht zum Probenraum. Zögernd klopfe ich an und öffne die Tür.

Unglücklicherweise sitzen die anderen Kinder bereits auf ihre Plätzen. Noch bevor ich den Raum betrete, höre ich das Getuschel, das Gelächter und das Geläster.

„WÄÄÄ, was will DIE denn hier?!!!“ „Verschwinde, du hast hier nichts verloren!“ „Oh nee, DIE kommt jetzt nicht zu uns ins Orchester oder?“ „Wenn DIE ins Orchester kommt- gehe ich!!!“ „Ich auch!“ „Ja, ich auch!“

„Hi hi, dann gehen wir alle und DIE kann allein hier spielen, ha, ha, ha!“

Wieder fühle ich mich wie vom Blitz getroffen. Aber es ist nicht der Hass gegen mich, der mich schaudern lässt, sondern diese gnadenlose Lieblosigkeit zur Musik und zu diesem Instrument, das mir so viel bedeutet.

>Jetzt haben sie es geschafft. Sie haben den einen, winzigen, gut beschützten und bislang unversehrten Teil meiner Seele, mein Licht, mein Anker, meine Kraftquelle, meine Hoffnung - meine Musik, mit ihrem Hass beschmutzt und bespuckt. Aber ich lasse mir das nicht verderben! <

Mit meinem Instrument in der Hand stehe ich vor diesen Fratzen und schaue mich schüchtern um. Der freundliche Lehrer schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln und weist mir mit einer Handbewegung den Platz, an dem ich die Geige auspacken kann, während die anderen mit der Probe beginnen. Als sie fertig sind, will der Lehrer mein gutes Stück stimmen. Schweiß gebadet vor Aufregung möchte ich sie ihm mit zitternden Händen reichen, aber- sie fällt scheppernd zu Boden.

Das schallende Gelächter der anderen höre ich kaum, denn meine Gedanken schreien durcheinander:

> Na toll- das war‘s! Die teure Geige- kaputt! Der Traumzerplatzt! Alles aus! Und die Fratzen haben auch noch gewonnen, denn ohne Geige- kein Orchester!!!< Meine Augen füllen sich mit Tränen.

Aber dann erkenne ich, dass mein Lehrer die Geige schon aufgehoben hat, sie genau mustert und zufrieden nickt. Er stimmt das unversehrte Instrument und drückt es mir fest in die Hand.

„Spiel uns was vor“, sagt er freundlich.

Also spiele ich! All diesen Widrigkeiten zum Trotz! Ich spiele!

Von diesem Tag an bin ich im Schulorchester.

Für eine der Fratzen ist dies tatsächlich der letzte Tag. Die anderen müssen sich fortan damit abfinden mit mir in einer Stimme zu spielen oder gar neben mir sitzen zu müssen. Irgendwann erweist mir der Lehrer eine große Ehre. Ich bin für ein paar Wochen die erste Geige.

Doch so groß meine Freude darüber ist, so sehr hassen mich die anderen dafür. Ständig spüre ich ihre eifersüchtigen Mobbingattacken, was mir nun auch noch im Orchester die Konzentration auf das Wesentliche raubt.

Eine besonders gute Gelegenheit mich zu quälen finden sie, als wir wie Vieh zusammengepfercht in einem Kleinbus auf dem Weg zur Orchesterfreizeit sitzen...

Orchesterfreizeit

Im Schulorchester sind wir Schüler aus mehreren Klassen der Mittel und Oberstufe. Zwar proben die Stufen meist getrennt, aber auf die Orchesterfreizeit fahren wir alle zusammen. Wir werden auf mehrere kleine Busse verteilt.

Ich steige in den Bus, in dem zum Schluss eben noch der letzte Platzt frei ist. Die Fahrt geht eigentlich nicht allzu weit, aber die Zeit kann lang werden, in der Hölle-, eingequetscht zwischen lauter Fratzen aus meiner Klasse.

Denn das ist ein idealer Ort, sein Opfer mit blöden, kleinen, leisen, miesen Sticheleien zu quälen.