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Die neue Faszienarbeit für Rücken und Seele.
Körper und Psyche sind eng vernetzt: Jede körperliche Aktivität und Belastung hinterlässt ihre Spuren im Kopf, genauso wie Emotionen und Gefühle auf den Körper »abfärben«. So verkörpern unsere Haltung und unsere muskulären Bewegungsmuster das seelische und geistige Befinden. Ist dieses aus dem Lot geraten, etwa durch Depression, Trauma oder Angst, kann das für Rücken-, Nacken und Schulterschmerzen sorgen.
Kurt und Reiner Mosetter erklären anhand verschiedener höchst spannender Fallbeispiele aus dem Praxisalltag, wie man die eigenen Schmerzmuster entschlüsseln kann. Dabei vereinen sich umfassendes medizinisches Wissen, Philosophie und praktische Erfahrung zu einem ganzheitlichen Ansatz der Schmerz- und Traumatherapie. Mithilfe eines ausgefeilten Tests kann der Leser persönliche »Stolperschwellen« aufdecken und so selbst regulierend auf das körperlich-seelische Befinden einwirken. Spezielle Bewegungsübungen, welche Muskeln und Faszien befreien, helfen dabei.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 241
Kurt Mosetter
Reiner Mosetter
Wie der Rücken die Seeleund die Seele den Rücken heilt
In Zusammenarbeit mitSylvie Hinderberger
Inhalt
Geleitwort von Jürgen Klinsmann
Teil 1: Grundlagen
Die verschlüsselten Botschaften unseres Körpers
Das Muskelgedächtnis
Spannung und Entspannung
Knotenpunkt Halswirbelsäule
Spuren im Körper
Was ist eigentlich Schmerz?
Hilfe durch Myoreflextherapie
KiD oder Wie wir uns mit uns selbst verbinden
Wie wir die Welt erleben
Wir sind bewegte Körper
Vom Körpersinn
Der Körper im Kopf
Zu- und Abwendung
Worauf Symptome gründen
Die Welt in uns
Frau M. oder Überlastung durch mangelnde Anerkennung
Die Architektur der Wirbelsäule
Das Prinzip der gelingenden Beziehung
Frau I. oder Der Körpersinn in den Muskeln
Die Bangigkeit des Herzens
Empfindliche Körpersensoren
Brücke zur Innenwelt
Frau A. oder Wenn Angst unser Leben bestimmt
Erinnerungen des Körpergedächtnisses
Dynamik der Angst
Wege aus der Stressstarre
Frau W. oder Wie sich verschüttete Ängste ihren Weg bahnen
Bahnen im Körper
Herr P. oder Wenn Lifestyle-Stress unter die Haut geht
Wie sich das Herz beruhigen lässt
Frau R. oder Wenn der Kopf verrücktspielt
Das Nacken-Zungen-Syndrom
Herr S. oder Wie der Stoffwechsel die Stimmung beherrscht
Energie für die Zellen
Wenn die Hormone aus dem Takt sind
Das Gleichgewicht wiederherstellen
Frau D. oder Was Essen in uns auslösen kann
Gesundheitsrisiko Nahrungsmittelunverträglichkeiten
Wege aus der Krankheit
Teil 2: Praxis
Meine Gesundheit, das bin ich!
Entdecken Sie Ihre persönlichen »Stolperschwellen«
»Typgerechte« KiD-Übungen
Das Übungs-Einmaleins
Flügelschlag I
Die Arme wandern
Flügelschlag II
Flügelschlag III
Hand in Hand
Arm und Ohr
Am Unterarm
Der Kranich
Der tanzende Kiefer
Der kleine Drache
Der Sonnengruß
Der stolze Hahn
Der Baum im Wind
Der Schritt
Ich bin, was ich esse, oder Wie die Nahrung unsere Gesundheit beeinflusst
Ein Blick über den Tellerrand – im doppelten Wortsinn
Die Kraft der Nahrung
Der Glykoplan: Gesunde Ernährung nach dem Ampelprinzip
Anhang
Die Meridiane
Die fünf Elemente
Service
ZiT – Zentrum für interdisziplinäre Therapien
Werner Mosetter Stiftung
Literatur
Anmerkungen
Register
Geleitwort von Jürgen Klinsmann
In allen wichtigen Bereichen unseres Lebens denken wir heutzutage weitaus vernetzter und komplexer als früher. Sich nur auf einen Bereich zu fokussieren führt in den seltensten Fällen zum Erfolg, und das gilt sowohl für das Berufs- als auch für das Privatleben.
Man kann dies auch ohne weiteres mit dem Fußball vergleichen: Früher gab es Mannschaften, die sich fast ausschließlich auf die Defensive konzentrierten. Andere wollten vornehmlich mit ihrer Offensive gewinnen. Aber selbst wenn man diese beiden Bereiche miteinander kombiniert, führt dies in der heutigen Zeit nicht zum gewünschten Erfolg. Wir haben in den vergangenen Jahren gelernt, dass weitaus mehr dazugehört, um seine Leistung abzurufen: nicht nur körperliche Fitness, sondern auch Spaß, Energie, Kontinuität, Wohlbefinden, Persönlichkeit und Selbstbewusstsein.
Ich bin froh, dass dieses vernetzte Denken und die Bedeutung verschiedener Einflüsse endlich auch im Bereich der Medizin Einzug gehalten haben. Denn vor allem für unsere Gesundheit, unser wichtigstes Gut, brauchen wir verschiedene Sichtweisen, die wir kombinieren müssen. Wir brauchen eine umfassende Analyse und eine komplexe Behandlung. Ich bin der Meinung, dass gerade unsere Gesundheit viel zu lange vernachlässigt und auch viel zu einseitig betrachtet wurde. Vor allem unser körperliches, mentales und seelisches Befinden hängen stark voneinander ab.
Konzepten wie der Myoreflextherapie und der Schule von Kurt Mosetter ist es zu verdanken, dass wir uns heutzutage mehr Gedanken machen um unser Wohlbefinden und wissen, dass es sich hier um ein sehr komplexes Thema handelt, das dann auch vielschichtig behandelt werden will. Es ist zu wenig, wenn wir unsere Gesundheit nur wie unser Tor im Fußball verteidigen. Wir müssen offensiver rangehen, mit mehr Energie und auch mit viel mehr Wissen und Informationen.
Die Basis unseres Lebens ist die Gesundheit – und eigentlich ist es selbsterklärend, dass wir dafür nie genug Informationen haben und kaum genug tun können.
Jürgen Klinsmann
Teil 1: Grundlagen
Die verschlüsselten Botschaften unseres Körpers
Die Mail von Herrn S. erreichte mich an einem Montagmorgen – als Vorabinformation. Sie enthielt eine Auflistung von sage und schreibe vierzehn Diagnosen: endogene Depression, Panikstörung, Fatiguesyndrom, chronisches Schmerzsyndrom, Lumboischialgie, Schreibkrampf, Rigor (Muskelsteifigkeit, wie beim Parkinson-Syndrom), Reizdarm, Okklusionsstörung, Bruxismus, Angina Pectoris unklarer Genese, Hypertonie, Hypercholesterinämie, Prostatitis, Burn-out-Syndrom. Entsprechend lang war die Liste der aktuell verschriebenen Medikamente, sie reichte von zwei verschiedenen Antidepressiva, zwei Muskelrelaxanzien und zwei Antibiotika über ein Schlafmittel, ein Sedativum, je einen Cholesterin- und Blutdrucksenker bis zu drei unterschiedlichen Schmerzmitteln, einem Magenschutz und schließlich einem Mittel gegen Hormonmangel. Fünfzehn Medikamente!
Der Patient, gerade mal 51 Jahre alt und damit kaum älter als ich selbst oder mein Bruder Reiner, erschien am Nachmittag desselben Tages in meiner Praxis. Verschiedene Fachärzte (Psychiater, Neurologe, Internist, Kardiologe, Orthopäde, Urologe, Gastroenterologe und Zahnarzt) hatten ihn bereits untersucht. In zwei radiologischen Fachpraxen, drei verschiedenen Abteilungen einer Universitätsklinik, einer Fachklinik für Burn-out und Depression sowie einem Kompetenzzentrum für psychosomatische Erkrankungen hatte Herr S. Hilfe gesucht. Jetzt saß er neben mir, und die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich leide unter Aussetzern, bleierner Müdigkeit, Sprechschwierigkeiten, Schwindelgefühlen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Wadenkrämpfen, furchtbarer innerer Unruhe, Enge in der Brust, Gedächtnisschwierigkeiten, kann nicht mehr richtig schlafen, habe Durchfälle, Blähungen und muss etliche Male auf die Toilette, um Wasser zu lassen. Ich leide an Prostataentzündungen und kann nicht mehr richtig schreiben. Es ist, als hätte einfach jemand den Stecker rausgezogen. Es geht gar nichts mehr! Bitte helfen Sie mir.« Resigniert öffnet der Mann eine Tasche und legt seine Plastiktüte voller Medikamente vor mich auf den Schreibtisch.
»Glauben Sie, Sie sind so krank, dass Sie die alle brauchen? Und haben diese Sachen Ihnen bisher irgendwie geholfen?«, so meine mitfühlenden und doch provokanten Fragen.
»Ich weiß auch nicht«, antwortete Herr S. »Ich kenne mich selbst nicht wieder. Besser geht’s mir mit diesem Zeug auf keinen Fall. Von Hilfe kann man da sicher nicht sprechen.«
Ich bat meinen Patienten, mir erst einmal in groben Zügen zu erzählen, was sich in der Vergangenheit so alles zugetragen habe und wie er überhaupt in diese Misere hatte geraten können. Schnell wurde klar, dass Herr S. ein außergewöhnlich leistungsstarker Mensch war – immer voller Energie und im Berufsleben ein absoluter Perfektionist. Als Führungspersönlichkeit war er es über Jahre gewohnt, rund um die Uhr zu arbeiten, zu organisieren, zu planen und zu koordinieren. Dadurch blieb immer weniger Zeit für die Familie und Freunde, für Sport, freie Wochenenden oder Urlaub, zum Essen und Schlafen. Drei Mobiltelefone, ein Laptop, unzählige Mails und Telefongespräche zu allen Tages- und Nachtzeiten, endlose Stunden im Auto, Flüge, Besprechungen, Termine ohne Ende … All das verselbstständigte sich offenbar in einem immer schneller werdenden Strudel.
Je mehr wir gemeinsam seinen Alltag besprachen, umso deutlicher wurde uns, dass nicht unbedingt Herr S. selbst krank war, sondern eher seine Lebensumstände. Hier war auf mehreren Ebenen einiges aus dem Lot geraten. Aus dieser Perspektive erschienen die vielen Symptome plötzlich als Warnsignale und natürliche Reaktionen eines gesunden Organismus auf einen völligen Rhythmusverlust beziehungsweise entgleiste und krankmachende Verhaltensmuster.
Wenn solche sinnvollen Warnsignale falsch oder gar nicht verstanden werden und man noch dazu versucht, sie oberflächlich »wegzudrücken«, sind ernstere und gravierendere Störungen und Krankheiten die natürliche biologische Folge. Richtig verstanden jedoch verbirgt sich hinter dem Auftreten der einzelnen Symptome ein gemeinsamer Nenner – oder mit anderen Worten: die Wurzel allen Übels. Und gleichzeitig das Fundament für die mögliche Wiedergesundung an Körper, Psyche und Geist.
Bei Herrn S. hatten die Ärzte bisher immer nur versucht, die verschiedenen Symptome und Reaktionen des Organismus für sich zu beschreiben und dingfest zu machen, um anschließend entsprechend dem Pharmalehrbuch gegen jede einzelne Erkrankung vorzugehen. Doch weil sie weder die Entstehung noch die Entwicklung der Krankheiten berücksichtigten, hatten sie den Kampf schon verloren. Die Behandlungen griffen viel zu kurz und konnten daher nicht zu einer echten Verbesserung führen. Im Gegenteil: Sie wirkten sich sogar zusätzlich schädigend auf die Gesundheit des Patienten aus.
Das Muskelgedächtnis
Es klingelt, wir drücken auf einen Knopf, und die Tür öffnet sich: Die Therapie kranker Menschen wäre vermutlich um ein Vielfaches leichter, wenn unser Körper auch nach solch einfachen Prinzipien liefe. Doch leider – oder zum Glück – folgen wir keinen simplen Automatismen. Und daher braucht man bei der Behandlung von Krankheiten neben modernen Medikamenten vor allem auch viel Fingerspitzengefühl und ein umfassendes Wissen über die Strukturen im Körper. In sehr vielen Fällen sind die Stelle, wo es wehtut, und der Bereich, der den Schmerz verursacht, nämlich nicht identisch; sie müssen noch nicht einmal in unmittelbarer Nähe beieinanderliegen. Genau deshalb hilft es meist nichts, den schmerzenden Bereich isoliert zu behandeln.
Das gilt, auch wenn es einige verwundern mag, ebenfalls für seelische Tiefs. Sehr häufig sind nicht psychische Probleme hierfür verantwortlich. Stattdessen lässt sich der Ursprung der Symptome in vielen Fällen über körperliche Wege zurückverfolgen – zu einem Organsystem, das vermutlich nur die wenigsten mit unserem geistigen Befinden in Zusammenhang bringen: die Muskulatur. Die Muskelsinnessysteme sind das größte Wahrnehmungsorgan des Menschen und gleichzeitig sein entscheidendes Handlungs- und Ausdrucksorgan. Unser Muskelsystem trägt alles, was wir erlebt und erfahren haben, in sich und beherbergt einen wesentlichen Anteil des Körpergedächtnisses. Sehr viele Verspannungen, Muskel- und Gelenkbeschwerden und verfestigte Körperhaltungen tragen somit seelische Konflikte und psychomotorischen Stress in sich – und drücken diesen aus. Über die Muskulatur können Ärzte und Therapeuten in die Erfahrungs- und Empfindungswelt ihrer Patienten einsteigen und sie »von innen heraus« verstehen.
Für Psychotherapeuten und Psychiater bedeutet dies, dass die Fülle an Muskelwissen und Körpergedächtnis nicht vernachlässigt werden sollte. Sehr viele vorsprachliche Erfahrungen und unbewusste Verhaltensmuster lassen sich über Sprache und kognitive Konzepte nur sehr schlecht erfassen. Speziell traumatische Erfahrungen sind häufig durch Sprachlosigkeit und die Entkopplung der Vernunft gekennzeichnet. Effiziente Psychotherapie verlangt unter diesen Umständen die Integration der Muskeln.
Gut geschulte Physiotherapeuten und Ärzte können über die Systemebene des Muskelwissens und die Regulation neuromuskulärer Spannungen die Gefühlswelt und das psychomentale Erleben sehr günstig beeinflussen und so häufig entscheidend zur Lösung seelischer Konflikt- und Spannungsmuster beitragen.
Spannung und Entspannung
So vielfältig die Muskelgruppen in unserem Körper auch scheinen mögen: In Aufbau und Funktionsweise unterscheiden sie sich nicht. Jeder Muskel besteht aus aktivem Muskelgewebe, das sich zusammenziehen kann (kontraktiles Gewebe). An seinem Ursprung und Ansatz besteht er aus passiveren, sehnigen Faseranteilen, über die seine Kraft auf die Knochen übertragen wird. Die einzelnen Muskeln und Muskelgruppen sind von Faszien umgeben, die sich an ihren Enden mit der Muskelsehne vereinen.
Vereinfacht dargestellt beginnt ein Muskel von einer knöchernen Struktur aus zunächst dünn und sehnig, geht dann in aktives, kontraktiles Gewebe über und wird zur Mitte hin immer dicker. Ab der dicksten Stelle, dem sogenannten Muskelbauch, wird er dann wieder dünner, bis er schließlich erneut sehnig an einer knöchernen Struktur endet.
Die tatsächliche Anordnung des Muskelbauchs ist je nach Lage des Muskels unterschiedlich. So haben zum Beispiel die Muskeln der Finger sehr lange Sehnen, wodurch sich die Kraft in den Fingern entfalten kann. Die Muskelbäuche befinden sich jedoch im Unterarm. Bei jedem Muskel lässt sich so die Gesamtlänge aufteilen in die Längenanteile der sehnigen, passiven Abschnitte und den Bereich der aktiven, dynamischen Fasern (relative aktive Muskellänge). Relativ sind diese Muskellängen nicht nur in Bezug auf die jeweilige Gesamtlänge, sondern auch im Hinblick auf das Funktionieren eines Gesamtsystems verschiedener Muskeln. Denn in unserem Körper tritt kein Muskel als Solist auf. An jeder Bewegung und jeder Körperhaltung sind stets mehrere Protagonisten beteiligt.
Wenn die Relation der beiden Längen zugunsten der passiven und zum Nachteil der aktiven Muskellänge verschoben ist, was eine Einbuße an Flexibilität, Beweglichkeit, Schnelligkeit und Ausdauer mit sich bringt, spricht man von einer relativen Muskelverkürzung – und damit einhergehend von einer relativen Dauerkontraktion mit erhöhter Ruhespannung. Beides wird vor allem durch eine dauerhaft einseitige Beanspruchung oder Überbelastung des Muskelsystems verursacht, wie sie im heutigen Alltag, den wir größtenteils im Sitzen verbringen, keine Seltenheit ist.
Doch zurück zur Muskellänge: Je weniger verkürzt die Aktionsbasis eines Muskels ist, desto besser ist seine Flexibilität und Integration in einem Gesamtmuskelnetz. Wird der gesamte, aufgedehnte Muskel aktiviert und wirklich genutzt, stellt sich der Organismus nämlich darauf ein. Dort, wo Muskeln benutzt und beansprucht werden, bildet der Körper feinste Blutgefäße (Kapillaren) aus, organisiert die Sauerstoffversorgung, erhöht die Anzahl der Mikrostrukturen in jeder Zelle, die für die Energiegewinnung zuständig sind (Mitochondrien), und produziert den biologischen Grundbrennstoff Adenosintriphosphat (ATP).
Wird ein Bereich des Körpers nicht (mehr) gefordert, die Muskulatur also nicht benutzt beziehungsweise beansprucht, ist es nicht notwendig, den Stoffwechsel auf hohen Touren laufen zu lassen. Der Organismus drosselt und spart seine Leistungsmöglichkeiten ein: Dadurch entsteht passives, sehniges Material anstelle von kontraktilen, arbeitsfähigen Muskelfasern – also ein relativ kurzer Muskel mit erhöhter Grundspannung.
Solch ein verkürzter Muskel ist aber natürlich weiterhin in ein größeres System eingebettet, das durch das Defizit entsprechend beeinträchtigt wird. So verlangt beispielsweise ein Sichstrecken und -aufrichten aus der sitzenden (Beuge)haltung, dass der Beuger nachgibt und sich entspannt. Sind etwa die Bauchmuskeln relativ verkürzt und in ihren Möglichkeiten fixiert, entsteht in der Aufrichtung im Rücken ein Schmerz, weil beide Muskelsysteme nicht miteinander, sondern gegeneinander arbeiten, indem sie sich gegenseitig bremsen.
Statt zu einer Aktivierung der aufrichtenden Rückenmuskulatur bei gleichzeitigem Loslassen und Entspannen der Bauchmuskulatur kommt es zu einer Aktivierung der Rückenmuskulatur, ohne dass die Bauchmuskulatur, also die Gegenspieler, loslassen.
Würde man die Bewegung dennoch ausführen, könnte dies Weichteilstrukturen, Gelenke und Nerven beschädigen. Daher sendet der Körper ein Signal: Schmerz. Er wird in den Bereich projiziert, der aktiv eine Bewegung ausführen will (hier die Strecker im Rücken). Das eigentliche Problem liegt jedoch an einer anderen Stelle: in der verkürzten Bauchmuskulatur.
Nach demselben Prinzip kann sich zum Beispiel auch eine Verspannung des Zwerchfells in Symptomen wie Kurzatmigkeit oder Magenproblemen äußern. Genauso können eine erhöhte Herzfrequenz und erhöhter Blutdruck hier ihre Ursache haben, weil das Herz, genauer gesagt der Herzsattel, direkt auf dem Zwerchfell ruht. Ist dieses nicht flexibel genug, hat das Herz weniger funktionelle Freiheit; es muss schneller schlagen und stärker arbeiten. Ein anderes Beispiel: Eine Verkürzung und Verspannung des Hüftbeugers (M. iliopsoas) führt zu Rückenschmerzen und Schmerzen in der Leistengegend. Sie beeinträchtigen den Harnleiter und verursachen Harnwegsinfekte.
***
Trotz alledem hält die Bedeutsamkeit des Muskel- und Fasziensystems für die Gesundheit sowie das körperliche und seelische Wohlbefinden in den akademischen Lehrsystemen der westlichen Hochschulmedizin bis heute einen Dornröschenschlaf. Zwar werden während der ärztlichen Ausbildung im Rahmen der deskriptiven Anatomie Faszien abgeschnitten und Muskeln präpariert, um ihren Verlauf vom Ursprung zum Ansatz zu studieren. Doch ohne das Zusammenspiel und die Synchronisierungsprozesse dieser Gewebe mit der neuromuskulären Steuerung und der Rückkopplungsschleifen mit dem Gehirn bleiben die wesentlichen Geheimnisse der Muskelwelten hinter einem Schleier verborgen. Nur langsam erkennt man die weitreichenden Bedeutungen dieses riesigen Organsystems und vor allem die Bedeutung der Faszien.
Gesunde und leistungsfähige Faszien müssen mit Flüssigkeit durchtränkt, also elastisch und geschmeidig sein. Immobilisation – auch partielle –, einseitige Alltagsmuster und Training in die Verkürzung sowie eine schlechte Ernährung dieses Gewebes ziehen Probleme auf mehreren Ebenen nach sich. Zu hohe fasziale Adhäsionskräfte, entsprechende Verdickungen, Elastizitäts- und Spannkraftverluste sowie Energiemangel im System können mehrschichtige Schwachstellen, Verletzungsanfälligkeit, Verletzungen und Schmerzsyndrome mit verursachen und unterhalten.
Die Bindegewebshülle ist eben keine passive Struktur, die nur dafür da ist, die einzelnen Muskeln zusammenzuhalten und voneinander abzugrenzen. Die Faszien stellen vielmehr unser wichtigstes Wahrnehmungsorgan dar.1 Die Kenntnis um ihr molekulares Innenleben sowie das der Muskeln hilft, viele Prozesse noch besser zu verstehen und die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Behandlungen wie Übungen weiter zu verbessern.
Knotenpunkt Halswirbelsäule
Eine besonders wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Rücken – und dort im Speziellen die Halswirbelsäule und der Nacken. Verspannungen in diesem Bereich können zu vielfältigen Beschwerden führen, denn die obere Halswirbelsäule ist bei sehr vielen körperlichen Funktionen beteiligt und nimmt auf zahlreiche Aspekte unseres Verhaltens Einfluss.
Die regelgerechte Funktion des Bereichs zwischen Hals und Kopf (craniocervicaler Übergang) ist unter anderem Voraussetzung für die freie Funktion und Innervation verschiedener Hirnnerven sowie Nerven für die Steuerung der Kopfdrehung und -neigung. Auch die Koordination von Blick- und Mundmotorik wird hier vernetzt. In der Region der Halswirbelsäule ist also nicht nur eine Vielzahl wichtiger anatomischer Strukturen eingebettet. Hier wird auch eine große Zahl bedeutender Leistungen vom Körper zum Gehirn (von peripher nach zentral) verschaltet und koordiniert – und umgekehrt.
Die Druck- und Spannungsverhältnisse der führenden Muskulatur der Halswirbelsäule haben entscheidende Auswirkungen auf unser Befinden:
Wichtige Blutgefäße für die Versorgung von Rückenmark und Gehirn sind die Arteria vertebralis (die Wirbelarterie, ein Ast der Schlüsselbeinarterie) und die Arteria carotis interna (die große Hauptschlagader des Halses). Sie sind quasi eingebettet und behütet von den Muskeln des Halses. Sie können aber durch ihre Lage auch unter Druck kommen und regelrecht stranguliert werden. Dann ist das Gehirn nicht mehr optimal versorgt.Der Vagus (zehnter Hirnnerv) ist der größte Nerv des Parasympathikus, des Ruhesystems. Er reguliert die Aktivität der inneren Organe und sorgt für Ruhe und Entspannung im Organismus. Seitlich am Hals (unter anderem zusammen mit der Arteria carotis) zieht dieser Nerv in Richtung Brusthöhle. Wird es für ihn eng und kommt er unter muskulären Druck, generiert dies Unruhe und bremst die körperliche und seelische Entspannung.Ein entscheidender Außenreiz für die Produktion des Ruhehormons Melatonin ist das Tageslicht. Neue Forschungen haben gezeigt, dass außer Licht alle Informationen des Körpers und insbesondere der oberen Halswirbelsäule auf dem Weg zur Zirbeldrüse (Epiphyse), dem Produktionsort des Melatonins, den Rhythmus mitbestimmen. Neuroanatomisch wird die Zirbeldrüse nicht direkt angesteuert; vielmehr erhält sie ihre Stimuli zur Melatoninproduktion indirekt über einen Umweg und Verschaltungen der oberen Halswirbelsäule. Hohe Spannungen und Fehlstellungen der oberen Halswirbelsäule führen so zu einer Irritation des Melatoninweges und damit zu Störungen des Schlaf-wach-Rhythmus und des inneren Zeittakts.Die Zungen- und Mundbodenfunktion, die Skelettmuskulatur unterhalb des Zungenbeins (infrahyoidale Muskulatur), die Stellung des Zungenbeins selbst, die Stimmbänder und die Schlund- und Sprechmuskulatur werden ebenfalls von der Muskulatur der Halswirbelsäule mitbestimmt. Genauso unterliegen die Zwerchfell- und Herz-Kreislauf-Funktionen diesen muskulären Kräften und neuroanatomischen Verschaltungen. Auch für eine reibungslose Steuerung des Sehens und einen Feinabgleich des Gleichgewichtssystems sind die muskulären Strukturen der Halswirbelsäule entscheidend.Der Nervus phrenicus (Zwerchfellnerv) entspringt dem Bereich der Halswirbelsäule und reguliert (innerviert) das Zwerchfell. Kommt er unter Druck und wird er irritiert, wird das Zwerchfell durcheinandergebracht. Die Atmung wird schwerer, das Herz hat weniger Freiheit …Von grundlegender Bedeutung für die komplexe Sinneswahrnehmung (Propriozeption oder Tiefensensibilität) ist in diesem Gesamtzusammenhang die Rolle der Muskel-, Faszien- und Gelenkrezeptoren. Sie melden Informationen über den Zustand und die Aktivität des Körpers an das zentrale Nervensystem, wo sie weiterverarbeitet werden können. Zwar tragen auch Sensoren in anderen Körperbereichen zur Tiefensensibilität bei. Doch die Dichte an dazu notwendigen Rezeptoren in der oberen Halswirbelsäule ist unvergleichlich. An diesem Knotenpunkt treffen Informationen aus dem ganzen Körper auf solche aus Hirnstamm, Basalganglien, Blickmotorik und Gleichgewichtssystem. Das visuelle, das Gleichgewichts- und das Bewegungssystem sind hier aufs engste ineinander verschaltet und funktionsgekoppelt. Hinsichtlich des Aufmerksamkeits- und Orientierungsverhaltens sowie der Handlungsmuster in eine vorweggenommene (antizipierte) Zukunft sind sie sehr fein aufeinander abgestimmt.
Bewegung, Ausrichtung und Erkennen von Bewegung stellen eine wichtige Grundlage aller weiteren Prozesse im Organismus dar. Für diese Grundlagenleistungen sind die Körperwahrnehmung (Somatosensorik) und das Gleichgewichtssystem von wesentlicher Bedeutung. Der eigene Körper kann dadurch als Bezugs- und Ausgangspunkt im Raum geortet, stabil gehalten und empfunden werden.
Wenn die Halswirbelsäule aus dem Lot ist
Spuren im Körper
Wenn bestimmte Körperregionen wie zum Beispiel der Bauch- und Nackenbereich verspannt und verengt sind, kann uns das auf vielen Wegen krank machen – bis hin zu psychischen Beschwerden. Genauso kann aber auch die Körperhaltung die innere Haltung sehr eindrücklich widerspiegeln. Muskulatur und Geist sind generell eng vernetzt, weshalb jede körperliche Aktivität und Belastung genauso ihre Spuren im Kopf hinterlässt, wie Emotionen und Gefühle auf den Körper »abfärben« – im Positiven und im Negativen.
Dabei ist es ein Stück weit egal, ob eine falsche Haltung von einer langen Autofahrt herrührt, vom vielen Sitzen am Computer oder von einer seelischen Belastung. Das Körperbild ist nahezu dasselbe: Der Körper ist gebeugt, das Genick ist verspannt, das Zwerchfell und der Brustkorb sind verschlossen. Jedes der genannten Körperbilder sorgt für Rücken-, Nacken- und Schulterschmerzen, verursacht Herzrasen und Kurzatmigkeit, ist verantwortlich für Druck und Enge in Bauch und Brustkorb. Und alle wirken sich auf die Seele aus: Abwendung, Verschlossenheit, ein kurzer Atem, »Schwere« oder ein »verschlossenes Herz« haben ihre Basis und ihre bahnenden Wege wesentlich im Körper.
***
Bei meinem Patienten Herrn S. war dies sehr augenscheinlich. Er war von Kopf bis Fuß verspannt, seine Beugemuskeln waren eingefroren und erstarrt. Ich begann daher mit der Behandlung der führenden Muskeln der Halswirbelsäule, der festgefahrenen Kaumuskeln und der eingefrorenen Atemmuskeln. Das tat weh, brachte aber umgehend Linderung. Die Entlastung des Bauches, der sogenannten vegetativen Bauchganglien und der Hüftbeugemuskulatur führte nicht nur zu einer »Aufrichtung« im Becken und Entstressung der Rückenmuskeln, sondern erzeugte auch ein Wärmegefühl in den Beinen und eine spontane Schmerzfreiheit im Rücken.
»Unglaublich, wie sich das so schnell wieder besser anfühlt«, freute sich Herr S. »Und mein Kopf lässt sich wieder drehen. Das ist Zauberei.«
Dabei hat nichts weniger mit irgendeiner Art von Hokuspokus zu tun als das, was soeben bei ihm geschehen war. Es ist vielmehr so, dass unser Körpersinn all unsere Körperbewegungen registriert, sie hinsichtlich ihrer Ausführung abschätzt und so hilft, sie zu regulieren und anzupassen. Arbeitet der Körper unökonomisch, also in sich muskulär gehemmt und unharmonisch, haben wir Schmerzen. Das bedeutet aber genauso, dass auch das gegenteilige Befinden seinen Ursprung in der Körperhaltung haben kann: Zuwendung, Offenheit, ein langer Atem, Leichtigkeit und ein offenes Herz. Wenn man dies berücksichtigt, wird die oft vage Rede von der Psychosomatik aus dem nebulösen Bereich herausgeführt und konkret nachvollziehbar. Symptome werden körperlich klar ableitbar – und lassen sich genauso auch konkret beeinflussen.
Was ist eigentlich Schmerz?
Am Thema Schmerz scheiden sich die Geister. Die eine Seite, die Medizin, führt Schmerzempfindungen auf objektive Vorgänge im Nervensystem sowie auf seine Verschaltungen, damit verbundene Fehlmeldungen und Störungen des Schmerzgedächtnisses zurück. Die andere Seite, die Psychologie beziehungsweise Psychosomatik, beschreibt Schmerzempfindungen als Ausdrucksweise und Symbolisierung der Seele und des Bewusstseins. Schmerz wäre damit entweder Informationsfluss in einem Schaltsystem, einem entseelten, mechanisierten Körper – also etwas rein Äußerliches. Oder er wäre Signal eines entkörperten, intellektualisierten Geistes – und somit etwas Innerliches, reine Information.
Das menschliche Gehirn ist zwar ein zentrales Organ, es leistet und verschaltet unendlich viel. Es ist jedoch immer »nur« ein Organ, das im Dienste für einen engagierten, wahrnehmenden und handelnden Menschen steht. Es ist ein Beziehungsorgan und schwebt keinesfalls in einer Nährlösung mit In- und Output – eine Idee, mit der viele Science-Fiction-Filme wie zum Beispiel »Matrix« spielen. Das Gleiche gilt für alle anderen Strukturen und Organe des Körpers. Sie stehen immer in gelingenden, reibungsfreien, ökonomischen oder eben nicht gelingenden, schmerzhaften und unökonomischen Beziehungen zu sich selbst und zur Umwelt. Vor allem das Muskel-Faszien-System ist eine wichtige und (im Wortsinn) tragende Transformations- beziehungsweise Schnittstelle zwischen objektiven Strukturen (dem Bewegungsapparat) und den Leistungen des Körpersinns, also der subjektiven Anatomie.
Diese subjektive Anatomie ist auch dann im Gange, wenn wir »Haltung zeigen« und »aufrecht bleiben«, wenn wir »Rückgrat haben« und einem anderen »den Rücken stärken«. Wenn wir uns »aufrichten« und »geradlinig« durch die Welt gehen – genauso aber auch, wenn uns jemand »in den Rücken fällt«, wenn wir »geknickt« sind und uns das Schicksal »beugt«. Sprachwendungen wie diese zeigen, dass die Wirbelsäule immer auch Ausdruck der inneren Haltung, der Stabilität und des Selbstwertgefühls ist.2 Der Körpersinn vermittelt Haltungsbotschaften– für sich und für die anderen. Weil die Wirbelsäule selbst jedoch nicht gerade wie ein Lineal ist, sondern mehrfach leicht geschwungen und elastisch– von der Seite betrachtet zeigt sie eine sanfte Doppel-S-Form–, kann eine aufrechte Haltung zugleich Ausdruck einer steifen und verkrampften Wirbelsäule sein. Der Betroffene wirkt stocksteif, starr, halsstarrig und verhärtet. Es ist immer eine Frage des inneren und äußeren Gleichgewichts, der körperlichen und seelischen Beweglichkeit, wie es uns selbst und wie es anderen mit uns geht.
Dass körperliche Verspannung und seelische Anspannung durchaus Schnittpunkte haben, konnte mittlerweile auch wissenschaftlich nachgewiesen werden. Eine Studie mit einhundert Teilnehmern ergab, dass sich durch die Untersuchung der seelischen Verfassung (psychometrische Tests) deutlich bessere Voraussagen hinsichtlich der Rückengesundheit in den nächsten vier Jahren treffen lassen als zum Beispiel anhand einer spezifischen Röntgenuntersuchung der Bandscheiben (Diskografie).3
***
Schmerzen und Beschwerden entspringen häufig einer Störung oder Dysbalance der Bewegungsgeometrie. Man kann sie quasi als das Ergebnis einer Analyse derjenigen Signale verstehen, die der Körper, genauer gesagt sein peripheres Nervensystem, zum Gehirn sendet. Wesentliche Informationen kommen dabei vom Stellungs-, Bewegungs- und Kraftsinn der Muskel-, Faszien- und Gelenksensoren. Durch Schmerz signalisiert der Körper, dass irgendetwas in ihm schiefläuft, dass die Beziehung seiner Strukturen und Organe nicht harmonisch verläuft.4
Schmerz ist in diesem Fall ein »selbstgemachtes« Phänomen des Körpers, »ein hochkomplexes Konstrukt der Gehirnarbeit«5. Diese Sichtweise unterscheidet sich grundlegend von dem hochschulmedizinischen Modell, das Schmerz auf lokalisierbare physiologische Strukturen und bestimmbare Funktionen zurückführt. Um bestimmen zu können, was Gehirn und Nervensystem leisten, wenn sie Schmerzen »formulieren«, braucht es den Bezug auf die Phänomenebene (das zu Erklärende): Was »realisiert« und »berichtet« das Gehirn? Warum und wozu kommt es in unseren Handlungen zu Schmerzen? Wie sind Schmerzsymptome organisiert? Und wie spiegelt das Gehirn dies wider?
Als lebendige, aktive Lebewesen füllen wir anders als leblose Körper nicht einfach einen bestimmten geometrischen Raum aus, sondern bewegen uns in diesem. In unserem Handlungs- und Aktionsraum gibt es ein Vorn und Hinten, ein Oben und Unten. Im phänomenalen Raum gibt es Ziele, die wir erreichen wollen, Dinge, die uns abschrecken oder erstrebenswert erscheinen. Es gibt ein Hin und ein Weg. Unser Körper ist »werdender, gerichteter Raum«6. Und genauso verhält es sich auch mit unserem Schmerzraum: Schmerz brennt, zieht, engt uns ein. Er beugt uns und macht uns klein. Er hindert, lähmt, bedrückt, macht rasend– kurzum: Er bewegt uns.
Die Medizin führt unsere körperliche Ausrichtung und Bewegung gern auf objektive, physiologische Funktionen in Gehirn und Nervensystem zurück und ersetzt dabei die konkrete, praktisch engagierte Körperlichkeit durch neurowissenschaftlich zu erklärende Vorgänge. Entsprechend betrachtet sie Schmerz– wie alle Empfindungen und Sinneswahrnehmungen– als bloßes neuronales Abbild der objektiv vorhandenen Außenwelt im Gehirn. Die körperlose »Innenwelt« füllt sich demnach allein über Information von außen– wie beim Gedankenexperiment »Gehirn im Tank«. Schmerzen sind lediglich Zeichen der Realität. Sie zeigen zwar an, dass mit dem Körper irgendetwas nicht stimmt, existieren jedoch selbst nicht außerhalb des Gehirns und des Bewusstseins. 7Das, was im oder am Körper nicht stimmt, ist dagegen eine rein objektive, physiologische Tatsache. Und lässt sich partout nichts finden, deutet man den negativen Zustand des Körpers als seelisches Problem. Doch ist das richtig?
Wir spüren und erleben Schmerz nicht als Abbild eines bestimmten »Störungsbereichs« des Körpers im Gehirn. Er ist mehr als der Repräsentant einer bestimmten Schwachstelle in einem objektiv vorhandenen Körper.
Wer zum Beispiel beim Greifen Schmerzen in der Hand hat, spürt und erfährt diesen Schmerz genau im Moment der Aktivität– in seiner Hand. Wenn der Rücken beim Aufrichten wehtut, ist dieser Schmerz Teil der konkreten Aktivität, durchdringt und färbt die Bewegung. Wir erleiden Schmerz nicht wie ein Roboter als reine Datenverarbeitung. Wir erleiden ihn als Menschen.
Dass und wie unser körperlicher Handlungsraum eine greifbare, eigene, quasi dritte Realität darstellt, die keineswegs nur auf einem Gedankenspiel basiert, lässt sich sehr gut am Beispiel von Phantomschmerzen verdeutlichen. Die Hochschulmedizin führt diese Empfindungen gemeinhin auf objektive Vorgänge in den Nervenendigungen und auf damit verbundene Fehlmeldungen zurück. Die Psychologie jedoch beschreibt sie als Verdrängung und Leugnung des Bewusstseins.
Doch unser Körper und unsere Schmerzen sind nicht nur im Raum, sie verräumlichen sich in unserem Tun. Sie erzeugen ihren eigenen Handlungs- und Empfindungsraum, der sich über die physischen Grenzen des Körpers erstrecken kann, wie zum Beispiel nach einer Amputation. Bewegen Amputierte ihren Stumpf auf eine Wand zu, erleben sie mit Bestürzung, wie ihr Phantomglied diese mühelos und gleichsam geisterhaft durchdringt.8 Die Empfindung desselben ist dabei keineswegs Illusion. Sie ist vielmehr Teil des realen Eigen- und Handlungsraums, der sich in diesem Fall mit dem objektiven Raum der Wand überschneidet. Der Betroffene entfaltet eine eigene Räumlichkeit und Körperlichkeit, in der sein fehlendes Körperglied real vorhanden und aktiv ist und mit dem er konkrete Handlungen vollzieht. In diesem Körperraum ist das schmerzende Körperglied wirklich und wahr– und damit auch der Schmerz in ihm. Er entstammt weder einer Fehlmeldung, noch gründet er auf Leugnung. Er basiert auf dem Körpersinn und hat damit eine dritte Realität.9
Obwohl Schmerzen also Ausdruck eines gestörten körperlichen Gesamtgleichgewichts sind und– da die meisten Muskeln und Faszien zum Bewegungsapparat gehören– eine gestörte, unharmonische Bewegungsgeometrie signalisieren, wird die Muskulatur in der angewandten Medizin heutzutage kaum berücksichtigt. Allenfalls werden einzelne Muskeln oder Muskelpartien mit Einreibungen, Massagen, durch Dehnen oder gezieltes Krafttraining behandelt und notfalls auch operiert. Die tatsächliche Ursache für Beschwerden wird dadurch kaum gelöst. Ein Konzept, das Schmerz durch den Körpersinn erklärt, erfordert die Behandlung und die Prävention von Schmerzen über genau diesen Körpersinn– so, wie es die Myoreflextherapie macht.
Hilfe durch Myoreflextherapie