Wie Freiheit schmeckt - Nils Koerber - E-Book

Wie Freiheit schmeckt E-Book

Nils Koerber

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Beschreibung

Schon immer sind Familienunternehmen der Treiber für Innovationen und Veränderungen. Unternehmen im Mittelstand als konkretes Vorbild für einen Wertewandel. Für ein neues Denken und Handeln ohne Abhängigkeiten. Wie kann das Prinzip der Eigenverantwortung auf Mit- arbeiter, Organisationen und Gesellschaft übertragen werden? Ein Appetit-Macher für Unternehmertum!

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Wie Freiheit schmeckt

Unternehmertum als Motor für eine selbstbestimmte Gesellschaft

Nils Koerber

Schon immer sind Familienunternehmen der Treiber für Innovationen und Veränderungen.

Unternehmen im Mittelstand als konkretes Vorbild für einen Wertewandel. Für ein neues Denken und Handeln ohne Abhängigkeiten.

Wie kann das Prinzip der Eigenverantwortung auf Mitarbeiter, Organisationen und Gesellschaft übertragen werden? Ein Appetit-Macher für Unternehmertum!

© 2021 Nils Koerber, KERN-System GmbH

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Umschlaggestaltung: Daniel Zenker

ISBN

Hardcover: 978-3-347-30046-0

e-Book: 978-3-347-30047-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.kern-unternehmensnachfolge.com

Vorwort

Geleitwort von Georg Tarne

Kapitel 1Wenn eines zum anderen führt. Ein Dialog über den Geschmack der Freiheit

Kapitel 2Ja! Es macht einen Unterschied. Die enorme Wirkkraft des Mittelstands

Auslaufmodell Mittelstand. Geben wir den Motor unserer Wirtschaft auf?

Das zunehmend negative Bild des Unternehmertums: Woher kommt die Problemsicht?

Der Wertewandel in der Gesellschaft: Wohin geht es?

Die Demografie: Wie schlimm ist es?

Außen vor oder mitten drin? Der elementare Wert des Mittelstands

Was geschieht, sobald der Mittelstand seine Verantwortung wahrnimmt?

Was geschieht, sobald wir Komplexität anders bewerten?

Was geschieht, sobald Politik anders agiert?

Die eingefahrenen Wege in den Stillstand. Gesellschaftliche Weichenstellungen

Ziele ohne Sinn. Die Wege der Mimimi-Gesellschaft

Erziehung ohne Beziehung. Der Weg des geringsten Widerstands

Bildung ohne Vorbilder. Der Weg des toten Wissens

Fazit: Wer nicht weiß, wie Freiheit schmeckt, wird immer den Weg der Unfreiheit wählen. Aber wir wissen es zum Glück besser.

Kapitel 3Lust auf Veränderung. Auf dem Weg zur Freiheit

Wertvoll und mutig! Die inneren Rahmenbedingungen für Veränderung

Klarheit: Die eigenen Werte kennen

Integrität: Alle Werte schätzen

Mut und Freude: Als Unternehmer Vorbild sein

Autonomie: Der Wunsch nach Selbstbestimmung

Mut. Möglich. Machen. Äußere Rahmenbedingungen für Veränderung

Strukturen für Andersmacher

Kultur als Sinnmacher

Politik als Platzmacher der Selbstständigkeit

Gesellschaft als Mutmacher

Und konkret? Veränderungspotenziale an ausgewählten Beispielen

Veränderungspotenziale. Ein Dialog mit Gerald Hüther

Am Beispiel Organisationsdesign: oose e.G.

Am Beispiel Führung: Not Knowing Leadership

Am Beispiel Entscheidungen: embarc GmbH

Am Beispiel Kommunikation: sipgate GmbH

Am Beispiel Eigentum: Arche Naturküche

Den Versuch versuchen – eine Einladung. Was machen wir jetzt mit dem neuen Wissen?

14 Einladungen zum Nachdenken

Dankeschön

Abbildungs- und Literaturverzeichnis

Vorwort

Hat Freiheit einen Geschmack? Und wenn ja, wonach schmeckt sie – nach amerikanischen Zigaretten und staubiger Landstraße oder nach Südseecocktails? Vielleicht nach den Paprikachips, die wir als Jugendliche heimlich im Bett mit schon geputzten Zähnen gefuttert haben? Schmeckt Freiheit süß oder bitter?

Als ich mich entschieden habe, dieses Buch zu schreiben, war mir nicht klar, dass es ein Buch über Freiheit werden würde, ja, dass mein Buch dieses hohe Gut sogar im Titel tragen wird. Mein Anliegen war (und ist) es vielmehr, dem Mittelstand in Deutschland und der DACH-Region bewusst zu machen, welche Macht für Veränderung in seinem Tun und in seinen Strukturen ruht. Erst im Entstehungsprozess dieses Buches wurde mir immer klarer, dass der Mut, diese Macht zu nutzen, unauflösbar an einer ganz bestimmten Fähigkeit hängt: der Fähigkeit, die aus radikaler Eigenverantwortung entstehende Freiheit zu schmecken und zu genießen.

Als ich mich entschieden habe, dieses Buch zu schreiben, war mir außerdem nicht klar, auf welch radikale Weise sich mein Anliegen anhand der Corona-Krise bestätigen würde. Die meisten der Thesen, die ich hier im Buch aufwerfe, erfahren durch Corona eine Aufwertung in ihrer Bedeutung. Die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen werden wie ein Beschleuniger auf die Prozesse wirken, die ich im Folgenden skizziere und eine Lupe auf die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Missstände halten, die ich aufzeige. So ist das Buch zwar kein Corona-Buch, davon gibt es ja schon reichlich. Aber es ist ein Buch, dessen Anliegen gerade aufgrund der Erfahrungen und Entwicklungen der letzten Monate ungleich wichtiger wird und dessen Einladung an den Mittelstand, die Dinge in die Hand zu nehmen, umso dringender und essenzieller klingen mag.

Mittelständische Unternehmer können Veränderungen anstoßen, die die gesamte Gesellschaft betreffen.

Viele Menschen spüren, dass wir uns in einer dramatischen Situation befinden. Wobei dieses „wir“ für die gesamte Menschheit stehen kann. Ebenso kann das „wir“ der Deutschen, das „wir“ der Unternehmer, sogar das „wir“ der Nachbarschaft oder der Familie gemeint sein. Für jede Gemeinschaft und für jedes Individuum wird der Druck immer größer. Die äußere und damit auch die innere Komplexität nehmen gefühlt täglich zu, Entscheidungen müssen im Sekundentakt, auf Basis von 160-Zeichen-Mitteilungen getroffen werden. Scheinbar bleibt uns gar nichts anderes übrig, als oberflächlich zu entscheiden und hektisch zu handeln – zu viel bricht jeden Tag auf uns ein. Orientierung suchen wir meist im Außen, schauen auf den Chef, die Nachbarn, die Medien. Wird schon richtig sein, denken wir.

Wird schon richtig sein? Auf wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher und individueller Ebene spitzen sich die Probleme zu, wird die Spirale immer enger. Demografie, Digitalisierung, Disruption. Rechts- und Linksruck, Politikverdrossenheit, Migration: Überall wachsen Überforderung und Hilflosigkeit auf der einen Seite, Aggression und Konflikte auf der anderen. Wobei diese zwei Seiten untrennbar zu einer Medaille gehören, wie wir später im Buch sehen werden.

Zwischen diesen Ausprägungen des komplexen Alltags verliert sich das „Wir“. Der Mensch wird zum Einzelkämpfer – meistens gegen etwas, selten dafür. Wofür entscheiden wir uns unter Entscheidungsdruck – Kampf oder Flucht? Wenn wir uns für den Kampf entscheiden, was könnten wir dem permanenten Veränderungsdruck und der Komplexität überhaupt entgegensetzen?

Es ist ein sehr negatives Bild, das ich hier zeichne und das uns so oder so ähnlich täglich in den Medien und in Gesprächen begegnet, meist verbunden mit einem Schulterzucken: „Was will man machen, es ist halt so.“

Ist es wirklich so? Stehen wir dem Druck aus Veränderung und steigender Komplexität hilflos gegenüber? Müssen wir tatsächlich kämpfen, um ihm etwas entgegenzusetzen? Brauchen wir Mauern, die unsere Welt, unsere Wirtschaft, sogar unser „Ich“ vor Veränderung schützen? Ich glaube nicht, ganz im Gegenteil: Wenn wir wollen, können wir eine Menge machen. Wir können zum Beispiel beginnen, dem Druck keinen inneren und äußeren Widerstand mehr entgegenzusetzen, ihn als Schubkraft zu benutzen. Würde er die Dinge dann nicht auf eine wunderbare Weise voranbringen? Was würde passieren, würden wir die neue Welt der Volatilität und Unsicherheit nicht mehr als Kampf- sondern als Spielfeld begreifen?

Was wir brauchen, als Gesellschaft und als Unternehmer, sind neue Rahmenbedingungen, die uns helfen, mit Veränderung umzugehen. Dann können wir lernen, ihre Potenziale aktiv für uns zu nutzen und mithilfe ihrer Wirkung auf einer Woge der Bereicherung und des Wachstums zu segeln. Das ist es, was ich unter Transformation verstehe: Wir versuchen nicht mehr angestrengt, uns Veränderungen anzupassen, mitzulaufen, mitzuhalten. Wir erkennen, dass ein Mehr an Wissen oder Können uns nicht hilft. Wir verstehen, dass wir ein neues Mindset benötigen – ein Upgrade, kein Update, sozusagen. In diesem Buch werde ich mich mit diesen Rahmenbedingungen beschäftigen und Appetit auf eine Transformation machen, die den Veränderungsdruck in Antrieb verwandelt.

Anhand der Veränderungspotenziale in den Bereichen Organisation, Führung, Entscheiden, Lernen und Kommunikation sowie anhand von neuen Eigentumsmodellen möchte ich in Kapitel 3 zeigen, wie der Mittelstand seine Macht als Motor für Veränderung entdecken und nutzen kann.

Die Macht des Mittelstands

Im Kontakt mit Unternehmern fallen mir fast täglich die Potenziale auf, die der Mittelstand hat, um die positiven Aspekte der Veränderung zu nutzen. Mittelständische Unternehmen können einen erneuernden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und damit letztlich auch politischen Prozess anstoßen und dem allgegenwärtigen reagierenden Umgang mit den Umständen einen aktiven, eigenverantwortlichen Gegenentwurf bieten.

Das enorme Potenzial des Mittelstands für eine gestaltende gesellschaftliche Rolle liegt in seiner wirtschaftlichen Macht, in seinen besonderen Strukturen, in seiner sozialen und gesellschaftlichen Rolle. Wir dürfen nicht vergessen, dass mittelständische Unternehmen einen Anteil von 99,5 Prozent an den 3,5 Millionen deutschen Unternehmen haben.1 Wenn sich nur 1 Prozent dieser Millionen organisiert und gemeinsam neue Modelle für Veränderung findet, dann werden die Auswirkungen gewaltig sein. Zumal die Größe mittelständischer Unternehmen ideal ist, um verschiedene Modelle schnell zu etablieren und wendig auszuprobieren. Die klassischen Mittelständler sind kleine oder kleinste Betriebe, die genau diese Kleinteiligkeit nutzen können. Sie haben keine großen Gremien, sondern kurze Entscheidungswege, flache Hierarchien und flexible Strukturen. Ein Fischerboot steuert sich leichter um als ein Tanker. Warum sollte das nicht ein Vorteil sein, den wir zu nutzen wissen? Sowieso ist das Engagement der mittelständischen Familienunternehmen ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie sind eingebunden in die Orts- und Gesellschaftsstruktur, in der sie existieren und formen diese. Veränderungen, die aus dem Mittelstand angestoßen werden, wirken schnell und weit über die unternehmerischen Grenzen hinaus. Das wichtigste Potenzial des mittelständischen Unternehmers, das ihn für mich zum Treiber wirksamer Veränderungsprozesse prädestiniert, ist seine Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Denn er erfährt – im wesentlichen Gegensatz zu DAX-, Banken- und Konzernchefs – ständig am eigenen Leib und Portemonnaie, was es bedeutet, Risiken einzugehen und die Konsequenzen von Entscheidungen zu tragen. Eine Eigenschaft wie gerufen für den Umgang mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (VUCA).

Komplexität verlangt Eigenverantwortung

Was können wir tun, als Unternehmer und als Menschen, habe ich mich gefragt, wenn wir die Komplexität nicht mehr abwehren oder reduzieren, sondern sie als Triebkraft nutzen wollen? Da fiel mir mein Vater ein und das schöne Sprichwort: Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt.

Wir sollten uns damit auseinandersetzen, dass es in der heutigen, herausfordernden Gesellschaft, dank der überall innewohnenden und in allen Lebensumständen steckenden Komplexität, keine einfachen Antworten mehr gibt. Mehr noch – es gibt noch nicht einmal mehr einfache Fragen. Wenn ich keine einfachen Antworten mehr geben kann, dann sollte ich bereit sein zu schwitzen und mich lustvoll an die schweren Antworten zu machen. Ich sollte die Bereitschaft haben, Anstrengung sowie Mut einzusetzen, um die Verantwortung für meine Entscheidungen zu übernehmen und kluge Wege zu finden, die zu ebenso klugen Antworten führen.

Tue ich das nicht, lehne ich meine unternehmerische und gesellschaftliche Verantwortung ab. Auch die Opferrolle ist eine Entscheidung – die da oben, die anderen, die Politik, die Erbschaftssteuer – alle sind schuld, ich selbst kann doch nichts ändern, schaut her, ich armer Wicht. Diese Haltung macht unfrei und unzufrieden.

Für mich als Unternehmer und als Mensch ist es ein universelles Lebensprinzip, dass ich nur über die Wahrnehmung meiner Verantwortlichkeit in meinen täglichen Entscheidungen und mit dem Gefühl für meine eigene Gestaltungsfähigkeit in eine Fülle komme, die Freiheit bedeutet.

Ich bin nicht abhängig von irgendwem, ich bin kein Opfer der Umstände. Ich entscheide bewusst, etwas zu tun und genauso bewusst entscheide ich, etwas zu lassen. Ich übernehme die absolute Verantwortung für meine Handlungen und meine Entscheidungen. Und für den dahinterstehenden Entscheidungsprozess. Wenn ich eine Entscheidung auf Basis eines Tweets treffe, dann tue ich es bewusst. Ebenso bewusst kann ich mich vor einer unternehmerischen Entscheidung darauf einlassen, mein eigenes Nichtwissen zu akzeptieren. Ich kann die Schwarmintelligenz meiner Mitarbeiter nutzen und Entscheidungen nicht einsam qua Amt, sondern gemeinsam qua Wissen treffen. Eigenverantwortung ist für mich Freiheit und gibt mir alles, was ich im Leben benötige, um wirksam zu sein. Und ich kann mir, ehrlich gesagt, kein besseres Gefühl vorstellen als Selbstwirksamkeit. An dieser Stelle meiner Gedankengänge angekommen, habe ich die Kernthese dieses Buches folgendermaßen formuliert:

Komplexität verlangt Eigenverantwortung als

Wegbegleiter zu Erfüllung und Freiheit.

Freiheit, die ich meine

Auf dem Weg in die Freiheit ist der Schritt in die Eigen-verantwortung der wesentliche. Fehlt dieser Schritt, dann bleibt Freiheit etwas, das sich gedanklich zwischen Feierabendbier und Abwasch abspielt. Die Freiheit, die ich meine, wird erst möglich, wenn Intellekt und Wachheit sie zu nutzen wissen. Wenn wir nicht mehr dem Glauben an die Ideen anderer folgen, sondern ausschließlich dem Glauben an uns. Wenn wir unsere eigene Wahrheit erkennen und sie ebenso hoch bewerten, wie die Wahrheit der anderen. Dabei müssen wir nicht befürchten, zu Egoisten zu werden, denn mit einer steigenden Bewusstheit für mich selbst werde ich beginnen, mein „Richtig“ und mein „Falsch“ in Frage zu stellen und mich für eine neue, intensivere Art von Begegnung auf Augenhöhe zu öffnen. „Jenseits von Richtig und Falsch gibt es einen Raum, dort möchte ich mich mit dir treffen“, so hat es der Sufi-Mystiker und persische Dichter Rumi ausgedrückt.

Warnhinweis: Diese Freiheit, die auf der eigenen Wahrheit basiert, ist mit enormer Verantwortung verbunden.

Solange ich die Umstände, die Wirtschaft, das Gesetz, die Eltern oder den Partner verantwortlich mache, ordne ich mich deren Zwängen unter. Ich gebe Verantwortung ab und wasche meine Hände in Unschuld. So kann keine Freiheit entstehen. Sie entsteht in dem Moment, in dem ich die Dinge in die ungewaschene Hand nehme und selbst entscheide. Ich bin frei, meine Handlungen bestimmt niemand außer mir und es liegt in meiner Entscheidung, ob ich etwas tue oder nicht. Mit dieser Freiheit entsteht Verantwortung, denn ich bin nicht nur für mein Tun, sondern auch für das Unterlassen verantwortlich. Das ist nicht sehr angenehm, ich weiß.

Freiheit ist Verantwortung! Verantwortung für die eigenen Taten und dafür, wie sie jeden Einzelnen in meinem Umfeld (be-)treffen. Ein freies Handeln geschieht niemals in einem luftleeren Raum. Niemand von uns existiert für sich allein, es gibt keine Freiheit ohne Gemeinschaft. Wir werden und müssen unsere Freiheit immer auch dazu nutzen, um uns um andere zu kümmern, für andere einzutreten und unser Wissen mit ihnen zu teilen. Es ist nicht absurd, sondern logisch: Freiheit entsteht, weil wir den anderen in unsere Entscheidungen mit einbeziehen, sowohl als Betroffenen als auch als Dialogpartner. Wir alle handeln in einem Wirk-Kosmos, der beachtet werden muss. Die Freiheit eines Menschen endet dort, wo sie die Freiheit eines anderen Menschen einschränkt.

So steht es sogar in unserem Grundgesetz: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Und weiter: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“

Warum also verletzen wir unsere Freiheit ständig selbst, obwohl sie von Gesetzes wegen unverletzlich ist? Warum begeben wir uns freiwillig in Unfreiheit, in Abhängigkeit? Warum beschweren wir uns tagtäglich über die Umstände, statt sie zu ändern?

Die Motivation hinter Unfreiheit ist Angst. Wir fürchten die Freiheit wie der Teufel das Weihwasser. Wir haben Angst vor dem leeren Raum, in dem uns niemand mehr sagt, was richtig oder falsch ist. Erich Fromm2 hat dem Menschen bereits 1941 die „Furcht vor der Freiheit“ attestiert und schildert das Wachstum der Freiheit als ständig bedroht. Unsere Ambivalenz gegenüber Freiheit ist naheliegend, denn wir haben zu einem sehr frühen Zeitpunkt unseres Lebens gelernt, dass es Menschen gibt, die es besser wissen als wir. Wir haben erfahren, mehr oder weniger leidvoll, was passiert, wenn wir gegen den Rat oder das Verbot der Eltern und Lehrer handeln. Wir haben gelernt, dass brave Kinder das Bonbon bekommen, neugierige Kinder einen Klaps auf den Po. Unser gesamtes Bildungssystem ist darauf ausgerichtet, dass es jemand besser weiß als wir. Wie also sollten wir keine Angst vor der Freiheit, vor der Eigenverantwortung haben? Sie wurden uns schlichtweg abtrainiert. Und jetzt wird es Zeit, sie wieder zu erlernen – zu unserem Wohl und zum Wohle aller. Deswegen wird sich dieses Buch auch damit beschäftigen, wie eine andere Art von Bildung die Eigenverantwortung in unserer Gesellschaft befeuern kann.

Wer die Wahl hat, hat die Qual

Eigenverantwortung ist ein demokratisches Prinzip. Wir haben eine Stimme und wir können sie nutzen: an der Wahlurne, im Gespräch mit Politikern, indem wir uns gesellschaftlich oder politisch engagieren. Tun wir das nicht, entsteht ein Raum, dessen Nutzung wir nicht mehr bestimmen können. Durch Unterlassung machen wir uns mitschuldig daran, dass dieser Raum dann anders genutzt wird, als wir es uns vorstellen.

Auch im politischen Handeln verbindet sich die Freiheit zu handeln mit der Eigenverantwortung, es auch zu tun. Letztlich ist der Freiheitsbegriff tief in unserer Staats- und Wirtschaftsform verankert. Wie die meisten Wirtschaftsordnungen des Nordens basiert auch unsere soziale Marktwirtschaft auf den Prinzipien des Neoliberalismus. Dieser „neue Liberalismus“ soll dort ordnend andocken, wo der Liberalismus versagte, weil der Staat die Wirtschaft komplett dem Spiel des Marktes überließ. In seinem Buch „Die Stunde der Optimisten“3 zitiert Thomas Straubhaar einen Beitrag aus der Zeitschrift The Economist zum Liberalismus, der zwei Erwartungen zu genügen habe. „Die erste ist Freiheit: Es ist nicht nur gerecht und weise, sondern auch rentabel, die Menschen tun zu lassen, was sie wollen. Die zweite ist das gemeinsame Interesse und das Wohlergehen aller.“ In diesem Spannungsfeld zwischen freiem Handeln und Gemeinwohl soll sich der Neoliberalismus ordnend bewegen. Eben dieses Spannungsfeld ist aber auch der Rahmen, in dem sich Komplexität wirksam transformieren lässt: Freiheit, Eigenverantwortung und Gemeinschaft.

Nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, mit denen wir Gedanken gemeinsam bewerten und im Team zu Ende denken, entstehen neue Modelle für die Zukunft. Wenn wir im Mittelstand Motor für Veränderung werden sollen, dann benötigen wir gute Ideen und Teams, die Lust und Gelegenheit haben, diese Ideen auszuprobieren und umzusetzen. Was wir nicht brauchen, sind stupide Brainstormings, in denen der Chef denkt und die Mitarbeiter stürmisch applaudieren.

Wir brauchen Offenheit, keine Denkverbote und wir dürfen zwar mit Begeisterung Fehler machen, einen Fehler aber dürfen wir nicht begehen: die Modelle für Veränderung aus der Vergangenheit abzuleiten. Wir benötigen im Mittelstand ein Fortschrittsdenken und Freude am Neuen. Digitalisierung ist kein Angstgegner, sondern eine riesige Chance, auf die wir neugierig sein können und der wir mutig begegnen wollen. Mut benötigen wir auch, um für unsere Ideen einzustehen. Gleichermaßen brauchen wir einen Raum, der uns dieses mutige Einstehen für Überzeugungen und füreinander ermöglicht. Dieser Raum entsteht aus einer offenen Grundhaltung heraus, die zum Beispiel die Idee der Praktikantin der des Seniorchefs gleichstellt. Nicht nur aus Vernunftgründen, weil die junge Informatikstudentin ganz nah am Puls der Technik ist, sondern einfach deswegen, weil sie Mensch unter Menschen ist und damit per se gleichberechtigter Teil einer Gemeinschaft.

Was wir – zusammenfassend – benötigen, sind Menschen, die bereit sind, die Dinge anders zu machen und für dieses „Anders“ die Verantwortung zu übernehmen. Diese Menschen werden im Mittelstand in dem Moment wirksam und sichtbar, in dem wir die Freiheit, die ganz tief in der DNA des Mittelstands verankert ist, als Handlungsmaxime jedes Einzelnen und der Gesamtheit aller etablieren. Wenn das passiert, wenn Freiheit vom abstrakten Begriff zum Wirkprinzip des mittelständischen Handelns wird, dann bekommt sie einen Geschmack. Der mag für jeden von uns anders sein, aber die Hauptsache ist, dass wir überhaupt beginnen, etwas intensiv zu schmecken, zu fühlen, zu wollen. Dann haben wir unsere Sinne wieder beieinander. Und was könnte uns besser helfen, um mit Komplexität und Veränderung umzugehen?

Eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch

Es gibt Menschen, die lesen bei einem Krimi immer zuerst die letzte Seite, genau wie es Menschen gibt, die zuerst die Quellenangaben studieren, um vielleicht zu schauen, wie wissenschaftlich ein Autor gearbeitet hat. Manch einer liest ein Buch quer, ein anderer hat immer mehrere Bücher parallel auf Nachttisch, Schreibtisch und Couchtisch verteilt. Jeder von uns kennt auch einen Büchernarren, den ein Buch oftmals so ergreift, dass er es im Bett, im Bad, im Bus und im Büro gleichermaßen griff- und lesebereit haben muss. All diese Menschen gibt es und sie alle tun etwas Wichtiges – sie lesen, um ihren Wissens- und Gefühlshorizont zu erweitern. Wie sie es tun, das Lesen, bleibt ihrem persönlichen Wohlgefühl überlassen. So ist es letztlich auch mit diesem Buch – es gibt keine richtige oder falsche Art es zu lesen.

Nichtsdestotrotz habe ich mir beim Aufbau natürlich Gedanken gemacht und möchte meinen Leserinnen und Lesern deswegen gerne darlegen, wie ich glaube, dass man es am besten liest:

Von zentraler Bedeutung ist der Dialog zwischen Vater und Sohn, der als Teil 1 dieses Buch einleitet. Anhand eines Gesprächs, wie es so oder so ähnlich schon tausendfach in deutschen Unternehmerhaushalten abgelaufen sein mag, erleben wir den einschneidenden Wandel der Werte und Einstellungen, der unsere Wirtschaft und Gesellschaft zurzeit durchdringt. Dieser Dialog ist Grundlage und Zitatgeber für den Teil 2, in dem die unterschiedlichen Komponenten, Treiber, Faktoren und Weichenstellungen der aktuellen Ist-Situation aufgezeigt werden. Wir schauen uns gemeinsam die Frage- und Aufgabenstellungen an, die mich dazu bewogen haben, dieses Buch zu schreiben. Teil 2 vermittelt, warum die Transformationskraft des Mittelstands so wichtig ist und warum Eigenverantwortung und Freiheit einen gesellschaftlichen Turnaround bewirken können. Da ich es als Unternehmer für unabdingbar halte, nicht nur zu reden, sondern zu handeln, ist Teil 3 des Buches mein Herzensanliegen: Hier geht es darum, konkrete Veränderungspotenziale aufzuzeigen. Was können wir als Einzelne und als Gesellschaft jetzt, hier und heute tun oder zumindest beginnen zu tun, wenn wir Lust auf Veränderung verspüren? Wie können wir einen Wandel bewirken, wenn wir beginnen, neue innere und äußere Rahmenbedingungen zu setzen? Für Teil 3 habe ich mit Mitarbeitern und Gestaltern verschiedener Unternehmen gesprochen, die in ihren Organisationen bereits daran arbeiten, den gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Es sind spannende Interviews, die Mut und Hoffnung machen, denn sie zeigen: Die Gesellschaft denkt um und jeder von uns kann ganz viel tun, wenn er seinen großen Spielraum für Eigenverantwortung wahrnimmt.

Abschließend noch ein Wort zur Genderkorrektheit: Wie meine Leserinnen und Leser an mehreren Stellen dieses Buches noch erfahren werden (und wie jeder weiß, der mit mir zusammenarbeitet oder zusammengearbeitet hat), glaube ich fest daran, dass wir nur mithilfe und mit der Kraft der Frauen einen gesellschaftlichen Wandel bewirken werden. Wir brauchen das weibliche ebenso wie das männliche Wirkprinzip, um echte Transformation zu erreichen. Wir benötigen ohnehin so viel Verschiedenheit wie nur irgend möglich, um neue Perspektiven auf komplexe Aufgabenstellungen zu erhalten. Deswegen freue ich mich ganz besonders über die weiblichen Leserinnen, auch wenn ich sie nicht gesondert erwähne und anspreche, sondern (mich dem allgemeinen deutschen Sprachgebrauch fügend) die männliche Schreibart nutze. Ich weiß sehr wohl, dass ich damit die männliche Dominanz in der Gesellschaft weiter befördere, habe mich aber bewusst zugunsten der Lesbarkeit dafür entschieden. Danke für Ihr Verständnis.

Wie immer Sie dieses Buch lesen werden, quer oder horizontal, schnell oder langsam, von hinten oder von vorne: Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen neue Erkenntnisse vermittelt, Freude bereitet und dass Sie viele Anreize gewinnen, Ihre unbändige Kraft für Veränderung einzubringen.

Nils Koerber

Bremen, im Januar 2021

Nils Koerber

Jahrgang 1964, Ausbildung und Studium als Kaufmann und Betriebswirt, zertifizierter Coach und Trainer für Nachfolgeprozesse sowie ausgebildeter Wirtschaftsmediator und Coach für THE WORK. Familienunternehmer seit über 30 Jahren, Gründer und Inhaber der Beratungsmarke KERN – Unternehmensnachfolge.Erfolgreicher. mit über 20 Standorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Keynotespeaker, größter Podcast- und Blogbetreiber zur Unternehmensnachfolge in der D-A-CH-Region sowie Buchautor (u. A. Die Kunst des Loslassens und Das Prozesswissen) als Experte für Unternehmensnachfolge im Mittelstand.

1 IfM Bonn (2017): Mittelstand im Überblick [URL siehe Anhang]

2 Fromm, Erich; Funk, Rainer (Hrsg.) (2019): Die Furcht vor der Freiheit, 23. Aufl., dtv Sachbuch, München

3 Straubhaar, Thomas (2019): Die Stunde der Optimisten, Edition Körber, Hamburg, S. 231

Geleitwort von Georg Tarne

Georg Tarne ist Unternehmer und Unternehmensberater. Er gründete u. a. die Firma soulbottles in Berlin mit, welche sich als Struktur den Mitarbeitern übergeben hat und erfolgreich die wohl saubersten und schönsten Trinkflaschen der Welt herstellt. Seine unternehmerische Haltung ist stark von der Gewaltfreien Kommunikation nach M. Rosenberg geprägt.

Ich habe als Unternehmer die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, sich vor einer Veränderung genug Zeit für das „Warum“ zu nehmen. Wenn Sie dieses Buch lesen, denken Sie wahrscheinlich darüber nach, Ihr Unternehmen oder Ihre Rolle im Unternehmen zu verändern. In diesem Zusammenhang ist nicht nur die Frage hilfreich, wieso Sie Ihr Unternehmen verändern möchten. Es bietet sich an, eine Ebene tiefer zu gehen und zu fragen: „ Wozu ist dieses Unternehmen überhaupt da?“ Und im Anschluss entsteht dann wahrscheinlich die Frage: „Wozu sollte es da sein?“ Da ein Unternehmen nie in einem Vakuum existiert, lässt sich diese Frage nur dann zufriedenstellend beantworten, wenn man das Umfeld betrachtet, in das ein Unternehmen eingebunden ist. Schaut man sich dieses Umfeld an, also die Welt, in der wir leben, und verschafft sich einen Überblick über unsere globale Problemlandkarte, dann wird sehr schnell klar, dass Veränderungen im Unternehmen eng mit den notwendigen Veränderungen im Außen verbunden sind.

Deswegen ist auch die Frage, was ich selbst als Unternehmer anders mache, eng verknüpft mit meinem Verständnis davon, dass sich sehr viel verändern muss. Es geht also gar nicht so sehr um das, was ich anders mache, sondern eher darum, dass ich verstehe und kommuniziere, warum wir die Dinge anders machen müssen. Unsere gesellschaftliche und unternehmerische Veränderungskapazität ist aktuell nicht besonders hoch und vor allem nicht schnell genug, um unsere Probleme zu lösen. Wir vernichten gerade mit „voller Kraft voraus“ unser CO2-Budget. Die Umwälzungen, die dadurch auf uns zukommen, werden unserer Welt und uns als Menschen deutlich mehr Veränderungsfähigkeit abverlangen. 100 oder 200 Millionen Flüchtlinge bis 2050 – diese Zahl habe ich im Kopf. Sie flüchten, weil ganze geografische Landstriche nicht mehr bewirtschaftet, nicht mehr bewohnt werden können. Dagegen wird das, was wir in den letzten Jahren an Verwerfungen erlebt haben, ein Kinderspiel gewesen sein. Wir werden aufgefordert sein, uns auf eine neue Weltordnung einzustellen. Das wird nur möglich sein, wenn wir unsere Veränderungsfähigkeit erhöhen und am besten jetzt gleich, um so viele negative Konsequenzen zu verhindern, wie wir können. Der „Pressure-to-Change“ ist da – gewaltig. Es erscheint mir logisch, richtig und nachvollziehbar, wenn Nils in diesem Buch betont, dass mittelständische Unternehmer ein wichtiger Motor für diese Veränderung sein können. Sie befinden sich an der Schnittstelle eines gesellschaftlichen Bereichs, der deutlich leichter veränderbar ist als das abstrakte „große Ganze“. Wobei mir bewusst ist, dass es immer schwieriger sein wird, etwas zu ändern, was bereits existiert, als einfach eine neue Organisation aufzubauen, die vielleicht von Anfang an eine neue DNA hat, wie ich es mit soulbottles getan habe. Aber was sollen wir sonst tun? Die meisten Unternehmen existieren schon und es ist keine theoretische, sondern eine existenzielle Frage, wie organisationale Veränderung funktioniert und was wir daraus für das Veränderungspotenzial der Gesellschaft lernen können, als nächsthöhere Instanz, als „großes Ganzes“.

Mittelständler und Familienunternehmer könnten dieser Frage nachgehen. Sie sind Personen, die Verantwortung tragen und diese persönlich wahrnehmen. Sie wissen: Wir alle haben einen Beitrag, den wir leisten können. Oder sogar müssen? Ich bin wahrlich kein Freund moralischer Keulen, aber wenn wir die Konsequenzen verhindern wollen, die in den nächsten 20 bis 30 Jahren auf uns zu warten scheinen, dann sollten wir uns ranhalten. Diese gesamtgesellschaftliche Verantwortung ist aus meiner Sicht keine Verpflichtung von außen, sondern ein Impuls von innen. Wenn Unternehmer ihren Beitrag leisten wollen, dann müssen sie zwangsläufig Dinge anders machen. Und schon sind wir wieder bei der Eingangsfrage – was könnte man denn anders machen – ganz konkret – wenn man etwas so abstraktes wie „die Dinge“ ändern wollte?

Man könnte zuallererst mal die Sicht auf Unternehmertum ändern und wäre damit sofort bei einer wichtigen Botschaft. Einer Botschaft, die Nils in diesem Buch vermittelt. Die ich mit ihm teile: Freiheit ohne Verantwortung ist undenkbar. Es gibt dieses idealisierte Bild vom Unternehmertum, das auch von vielen Beratern oder in Unternehmer-Workshops vermittelt wird. Es zeichnet Unternehmertum als das Sinnbild individueller Freiheit. Unternehmer sind unabhängig und das müssen, sollen sie auch sein. „Wo ich bin, ist vorn“ – so beschreibt Nils es hier im Buch. Ja, das ist richtig und wichtig und zeigt, dass ein Mensch sich auf seine Stärke(n) besinnt. Anderseits gibt es diese Art von individueller Freiheit überhaupt nicht. Es kann sie nicht geben, weil wir interdependente, wechselseitig abhängige Wesen sind. Jeder. Alle. Immer. Diese Sichtweise nimmt uns nicht unsere Autonomie. Wir können nach wie vor selbst entscheiden. Wir haben eine Haltung, eine Einstellung zu bestimmten Dingen. Aber dadurch, dass wir soziale Wesen sind und gelingende Beziehungen benötigen, sind wir faktisch von anderen Wesen abhängig. Und diese von uns. Dieses Eingeständnis ist ein großartiger Schritt, der vieles verändert. Es mag schmerzhaft sein, gerade wenn man vielleicht als Kind Abhängigkeit negativ erlebt hat. Aus so einer biografischen Wunde mögen viele Unternehmer ihr Selbstverständnis ziehen: Ich muss frei sein.

Aber das funktioniert nicht, denn auch wenn wir auf dem Papier der Chef sind, sind wir immer von anderen Menschen abhängig. Menschen, die für uns, für unsere finanzielle Unabhängigkeit arbeiten. Wenn diese Menschen, unsere Mitarbeiter, aufhören würden zu arbeiten, stünden wir schnell mit leeren Händen da. Das ist ein grundkapitalistisches Problem und erklärt, warum viele Unternehmer instinktiv etwas gegen Gewerkschaften und gegen Mitbeteiligung haben: Wenn Mitarbeiter sich organisieren und koordinieren, funktionieren sie vielleicht nicht mehr in meinem Sinne? Nein, vielleicht nicht. Aber sie beginnen vielleicht, in ihrem eigenen und damit in einem höheren Sinn zu funktionieren. Das Eingeständnis der Abhängigkeit macht uns in Wirklichkeit freier. (Zusammen-)Arbeit geht leichter und verbundener, denn wir sind plötzlich auf Augenhöhe und können uns gemeinsam einem Sinn verschreiben. Wir haben Zugriff auf viel mehr Kraft und Energie, wenn wir nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander agieren. Dann ist ein Unternehmen nicht mehr dazu da, die Bedürfnisse des Chefs nach finanzieller Versorgung zu befriedigen und seine biografische Wunde zu heilen. Und dann kommt die Erkenntnis, dass es unglaublich wertvoll ist, voneinander abhängig zu sein. Weil wir uns gegenseitig stützen können, aufeinander aufbauen. Weil wir eine „Community of Purpose“ sind, eine Gemeinschaft von Menschen, die eine Idee teilt, ein gemeinsames Ziel verfolgt.

Wobei Purpose ein Begriff ist, denn ich mittlerweile mit Vorsicht verwende, denn er hat auf eine Art in die Unternehmenskommunikation Einzug gehalten, die nicht meine ist. Purpose, wie ich ihn verstehe, ist kein Marketingbegriff, sondern basiert auf einer inneren Klarheit und – für mich elementar – auf der Haltung der Gewaltfreien Kommunikation (GfK).4 Hinter der Frage nach dem Sinn einer Sinngemeinschaft steht für mich die Grundannahme, dass alle Menschen positive, universelle Bedürfnisse haben: Zugehörigkeit, Akzeptanz, Autonomie, Sicherheit. Unsere Handlungen lassen sich auf den Wunsch zurückführen, ein bestimmtes Bedürfnis zu erfüllen. Leider – oder zum Glück – haben wir alle durch unsere Erfahrungen, unsere Biografie unterschiedliche Strategien erworben, unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Konflikte entstehen nicht aus den Bedürfnissen, sondern aus diesen Strategien. Wenn Herr Müller immer den Kunden zufriedenstellen will, Frau Meyer aber vor allem die Zufriedenheit des Chefs sucht, dann ist Konflikt vorprogrammiert. Es sei denn, die beiden erkennen, dass sie das Grundbedürfnis nach Anerkennung teilen. Ich bin sehr froh, dass Nils in diesem Buch immer wieder die Haltung der GfK einfließen lässt und sie für sich und sein Unternehmertum als Handlungsprinzip erkannt hat.

Wie auch Nils bin ich davon überzeugt, dass Veränderung entstehen wird, wenn wir die Bedürfnisse hinter unseren Strategien entdecken und mit diesen Bedürfnissen auch unseren Purpose. Wir können plötzlich die Frage beantworten, warum wir etwas tun und gewinnen dadurch einen inneren Antrieb. Nils schreibt davon, dass wir dem Veränderungsdruck da draußen nicht mehr mit Widerstand begegnen sollten. Wir können beginnen, den Druck als Anschub, als Kraftquelle zu nutzen, im Sinne von: Was da passiert, berührt mich. Ich möchte als fühlendes, menschliches Wesen zu einer Verbesserung der Situation beitragen. Das ist eine viel bessere Kraftquelle als: Ich möchte meine finanzielle Unabhängigkeit und, dass Papa stolz auf mich ist. Unternehmer sein ist die geilste Lebensform der Welt, sagt der Unternehmensberater Stefan Merath.5 Ja, das mag für ihn so stimmen. Für mich. Für Nils – für Sie, liebe Leser. Aber was ist mit den Leuten, die für uns arbeiten? Können die dann automatisch nicht mehr „geil“ leben? Da stimmt doch was nicht, oder?

Organisationen sind nur eine Strategie, um menschliche Bedürfnisse zu erfüllen. Sie erfüllen diesen Zweck nicht, wenn sie nur ein paar ausgewählte Bedürfnisse erfüllen und ganz viele unerfüllt lassen. In unserem Wirtschaftssystem, das sich durch kapitalistisches Profitstreben auszeichnet, erzählen wir alle eine Story: Unternehmen sind dazu da, Profite zu erwirtschaften. Aber das ist eine Verzerrung. Wenn wir so denken, treffen wir die ganze Zeit Entscheidungen, die sich am Profit von wenigen ausrichten, aber im Umkehrschluss die Bedürfnisse vieler außer Acht lassen. Damit sind wir wieder bei der Frage, was ich als Unternehmer radikal anders mache: Ich schaue mir immer wieder die Balance zwischen erfüllten und unerfüllten Bedürfnissen an. Und wenn die nicht stimmt oder Bedürfnisse sogar aktiv geschädigt werden, dann sage ich: Stopp! Sofort aufhören und erst mal schauen, wie das anders geht. Da dürfen wir radikal sein und allen anderen die Möglichkeit lassen, „geil“ zu leben. Das kann funktionieren, wenn man über seine Bedürfnisse mit anderen in Beziehung geht und die Fassade des Chefs fallen lässt. Meine Mitarbeiter kriegen mit, wenn ich einen schlechten Tag habe. Sie sehen, wenn mein Mitbegründer und ich uns nicht einig sind. Wir fragen sie, wenn wir etwas nicht wissen. Wir sind innerhalb unserer Community of Purpose auf Augenhöhe und arbeiten in einer Struktur, in der keiner eine Entscheidungsgewalt aus einer Machposition heraus ausübt. Selbstorganisation wird hier im Buch als ein Ansatz für Veränderung beschrieben. Das sehe ich genauso. Wir haben für soulbottles das Prinzip der Holacracy zu einem soulOS, einem „soulful Organisations System“ weiterentwickelt und agieren alle aus klar definierten Rollen heraus, die wir gemeinsam weiterentwickeln. Dass ich von Anfang an bei soulbottles dabei bin, ist für mich kein ausreichender Grund, Macht über jemanden auszuüben. Und es ist auch für meine Art von Purpose überhaupt nicht hilfreich. Ich möchte, dass Menschen erleben, wie erfüllend es ist, selbstverantwortlich an einer Vision zu arbeiten. Wenn sie das tun, können sie nicht für mich als Person arbeiten. Das schließt sich aus.

Letztlich gibt es noch einen wichtigen Impuls, den Menschen in Kraft umsetzen können, wenn sie die Dinge verändern wollen: Sie können Unternehmenswachstum mit persönlichem Wachstum verbinden. Die Weiterentwicklung als Person, als Persönlichkeit ist für mich untrennbar mit meiner Art von erfüllendem Unternehmertum verbunden. Wir sollten bereit sein, bei uns anzufangen, bei uns hinzuschauen und uns immer wieder zu fragen: Warum mache ich das? Welches Muster steckt dahinter, welche Automatismen? Strenge ich mich vielleicht die ganze Zeit so an, weil ich die Vision von einer besseren Welt erfüllen möchte, die meine Mutter hatte? Oder ist es wirklich meine Vision? Führe ich das Familienunternehmen, weil dieser Weg festgelegt war? Wenn ich hier lückenlos ehrlich zu mir bin, verstehe ich vielleicht, warum ich jeden Abend eine halbe Flasche Wein brauche, um einschlafen zu können. Unternehmen scheitern, weil die Menschen an der Spitze nicht bereit sind, bei sich selbst hinzuschauen. Deshalb finde ich es so wichtig, was Nils mit diesem Buch erreichen möchte: Dass Unternehmer entdecken, welche gewaltigen Veränderungspotenziale nicht nur im Außen, sondern vor allem auch im Innen verborgen sind. Bei jedem von uns.

Die eigenen Potenziale zu heben und zu entwickeln, bedeutet, sich die Zeit zu nehmen, sich mit tieferen Fragen zu beschäftigen. Dazu benötige ich emotionale Unterstützung. Viele Unternehmer fühlen sich „lonely at the top“ und glauben, das müsse so sein. Ich möchte an dieser Stelle einen Wunsch formulieren: Wenn Sie Veränderung bewirken wollen, machen Sie es nicht alleine. Gerade in stressigen Phasen denkt man oft, dass man den Karren mal wieder alleine aus dem Dreck ziehen muss. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass wir andere Menschen brauchen dürfen. Das ist eine Stärke, keine Schwäche. Wir können als Menschen und gerade als Unternehmer auf den Erfahrungen, auf der Expertise anderer Menschen aufbauen. Wir können uns wie Zwerge auf die Schultern von Riesen stellen und haben plötzlich freien Ausblick. Das zumindest ist die Theorie der internationalen Beratungsagentur dwarfs and Giants, der meine aktuelle Haupttätigkeit gilt. Wenn wir die Art und Weise verändern möchten, wie wir arbeiten, um aus den Unternehmen heraus die richtigen Impulse für eine veränderte Welt zu sehen und zu setzen, dann benötigen wir ein neues, starkes „Wir“.

Ich möchte Nils an dieser Stelle danken für den Wert und die Wertschätzung, die er meiner Meinung zuweist. Und ich danke Ihnen, liebe Leser, dass Sie sich für Veränderung interessieren. Ich möchte Sie bitten, Ihr eigenes Koordinatensystem zu nutzen, um die Veränderung einzuladen, die Sie in der Welt sehen möchten. Hinterfragen Sie, was ich hier geschrieben habe. Hinterfragen Sie die Dinge. Hinterfragen sie auch das, was Nils in diesem Buch schreibt. Sobald Sie beginnen, Fragen zu stellen, werden Sie Teil eines großen Veränderungsimpulses, der dadurch beginnt, dass immer mehr Menschen sich darauf besinnen, was unser Menschsein ausmacht: Lernfähigkeit, Wachstum und Beziehungen.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre,

herzlichst,

Ihr Georg Tarne

 

1. Die Freiheit zu sehen und zu hören, was im Moment wirklich da ist, anstatt was sein sollte, gewesen ist oder erst sein wird.

2. Die Freiheit auszusprechen, was ich wirklich fühle und denke, und nicht das, was von mir erwartet wird.

3. Die Freiheit zu meinen Gefühlen zu stehen, und Nicht etwas anderes vorzutäuschen.

4. Die Freiheit um das zu bitten, was ich brauche, anstatt immer erst auf Erlaubnis zu warten.

5. Die Freiheit in eigener Verantwortung Risiken einzugehen, anstatt immer nur auf Nummer sicher zu gehen und nichts Neues zu wagen.

Virginia SatirDie fünf Freiheiten des Menschen

4 Mehr zur Gewaltfreien Kommunikation erfahren Sie im Kapitel 3 unter »Veränderungspotenziale am Beispiel Kommunikation« und im Interview mit Georg und Christian von der sipgate GmbH

5 Merath, Stefan (11.4.2011): Unternehmer als Vorbilder [URL siehe Anhang]

Wenn eines zum anderen führt

Kapitel 1

Ein Dialog über den Geschmack der Freiheit

 

Thomas Danziger tunkt den letzten Bissen seines Abendessens sorgfältig in die Soße: „Übrigens, ich hab heute dem Müller gekündigt. Das ging gar nicht mehr, echt.“

Sein Vater Werner setzt sich abrupt auf, Gabel und Messer klirren auf den Tellerrand. „Der Müller aus der Produktion? Aber der Mann ist seit 30 Jahren bei uns, das kann man noch nicht machen.“

„Was man kann oder nicht kann, das lass mal ruhig meine Sorge sein, Papa. Personalentscheidungen liegen in meiner Verantwortung.“ Thomas kaut in gespielter Ruhe zu Ende und greift nach dem Bierglas, während Werner langsam seinen Teller von sich schiebt. Ihm ist der Appetit vergangen. „Außerdem“, Thomas lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf, „30 Jahre hin oder her. Die zwölf Monate Kündigungsfrist sind es mir wert, wenn ich dieses ewige ‚Aber Herr Danziger, das haben wir noch nie so gemacht’ nicht mehr hören muss.“

Werners Hand knallt auf den Tisch: „Es geht doch nicht um eine dämliche Kündigungsfrist. Es geht um 30 Jahre Loyalität. Der Mann gehört zur Familie, meine Güte. Du hast überhaupt keinen Sinn für Werte. Manchmal frag ich mich ehrlich, wie du die Werte erhalten willst, die ich aufgebaut habe, wenn du sie noch nicht mal verstehst.“

Elke Danziger und Sybille, Thomas jüngere Schwester, schauen sich erschrocken an. „Werner, du …“

Thomas fällt seiner Mutter ins Wort: „Werte, Werte, ich weiß nicht, was du immer hast mit deiner Treue, deiner Loyalität. Davon kauf ich keinen Blumentopf und bezahl keinen einzigen Lieferanten. Die Zeiten haben sich geändert, Papa, begreif das mal. Ihr wolltet, dass ich den Laden schmeiße, also, bitte, dann respektiert jetzt auch, wenn ich den Müller schmeiße.“

„So sprichst du nicht mit mir, dass das mal klar ist“, Werner springt auf und beginnt im Esszimmer auf und ab zu laufen. „WerRespekt einfordert, sollte ihn selbst erst mal verdienen. Nimm dir ein Beispiel am Müller, der hat sich seine Stelle als Produktionsleiter hart erarbeitet. Der hat gerade in der Anfangszeit gemeinsam mit mir …“

Thomas unterbricht schon wieder. „Ja, ja, die rosige Anfangszeit. Damals war alles besser, bla, bla. Aber wo wir gerade von früher und von Werten sprechen – wo warst du denn damals, wenn ich mal einen Vater brauchte? Wo warst du bei all meinen Fußballspielen, wo warst du, wenn …“, Thomas winkt wütend ab. „Ach, weißt du was, ich hab echt keinen Bock mehr. Immer heißt es ‚Thomas entscheide du das, du musst lernen, unternehmerische Verantwortung zu übernehmen‘. Aber wehe ich entscheide mal, dann ist es auch irgendwie immer falsch.“

Werner bleibt vor dem Stuhl seines Sohnes stehen: „Thomas, vergleich doch nicht Äpfel mit Birnen. Ich rede von Verantwortung, von gestalten und aufbauen, nicht von feuern und kaputtmachen. Wenn ich von Werten rede, dann meine ich nicht die auf dem Konto oder auf dem Parkplatz oder …“

Thomas zündet sich fahrig ein Zigarillo an.

„… im Humidor.“ Werner verzieht das Gesicht. „Du hast dich ins gemachte Nest gesetzt, dir ist alles vorgekaut worden. Was ich vermisse, ist Dankbarkeit, nicht nur mir gegenüber. Auch den Mitarbeitern gegenüber, deiner Mutter, deiner Schwester. Wir alle gemeinsam haben hart gearbeitet und du erntest jetzt die Früchte. Du bist aber auch verpflichtet, den Samen weiterzutragen, es geht um die Zukunft der Firma, nicht nur ums Abernten.“

Thomas stößt Rauch aus und hustet: „Alles schön und gut, aber warum soll ich mich für irgendeine abstrakte Zukunft anstrengen? Ich weiß doch überhaupt nicht, wo das alles hingeht mit der Digitalisierung und dem ganzen Kram. Manchmal denk ich, ich mach das noch zehn Jahre, maximal, und mit fünfzig schmeiß ich hin. Dann kannst du ja übernehmen, Schwesterchen, du weißt doch sowieso immer alles besser.“

Werner schnaubt. „Das könnte dir so passen. Mein Lebenswerk aufs Spiel setzen, weil der Herr glaubt, er wäre was Besseres. Da kann ich nur hoffen, dass ich das nicht mehr erleben muss.“

„Na ja, auf jeden Fall will ich nicht so enden wie du, Papa. Ich mein, du bist echt kein leuchtendes Beispiel. Herzprobleme, Rückenschmerzen und der letzte Urlaub war vor … Mama, wann war der letzte gemeinsame Urlaub mit Papa? Das ist doch kein Leben.“

Elke Danziger legt ihrem Mann, der auffahren will, die Hand auf den Arm: „Nein, jetzt lass mich mal, Werner. Thomas, der letzte Urlaub ist erst zwei Monate her und er war sehr schön. Ich habe deinen Vater immer unterstützt in seinem Tun, weil ich wusste, dass er es genau so haben will. Mir hat irgendein schicker Urlaub nie so viel bedeuten können wie das Leuchten in Papas Augen, wenn er eine neue Produktlinie ankündigen konnte. Das dazu. Und jetzt, ihr beiden, ist hier Schluss mit lustig.“ Elke Danziger erhebt sich und öffnet einladend die Terrassentür zum Garten. „Sybille und ich räumen ausnahmsweise den Tisch ab und ihr geht raus, damit ihr weder mit dem Zigarillo noch mit eurem Krach hierweiter die Luft verpestet. Ab mit euch und besinnt euch mal darauf, dass ihr vielleicht beide ein Stück recht haben könntet.“

Wenig später stehen Thomas und sein Vater auf der Terrasse und lassen die Blicke über den parkähnlichen, gepflegten Garten bis zum angrenzenden Wald schweifen. Thomas Zigarillo glüht in der Dämmerung auf, als er einen kräftigen Zug nimmt. „Puh, Mamas Machtworte, die wird’s wohl immer geben, egal wie alt ich bin.“ Beide müssen lachen und atmen erleichtert auf.

„Tja, manche Dinge ändern sich halt nie, und das ist ja auch gut so, bei all den schnellen Veränderungen um uns rum.“

„Hör mal …“ – beide, Thomas und Werner, beginnen gleichzeitig zu sprechen. „Nein, bitte, fang du an“, Werner lehnt sich an einen Pfeiler des Terrassendachs und schaut seinen Sohn aufmerksam an.

„Ja, gut, danke Papa“, Thomas drückt den Zigarillo am steinernen Geländer der Terrasse aus und legt ihn auf den Boden. „Also, weißt du, ich versteh schon, dass es dir wehtut, wenn ich Dinge anders mache als du, dass du dir Sorgen machst. Aber ich möchte meine eigenen Entscheidungen treffen können und ich möchte, dass du sie akzeptierst. Wenn ich mich bei allem, was ich sage und tue, immer unter Beobachtung fühlen muss, dann komme ich mir wie ein Hampelmann vor, wie deine Marionette. Und manchmal glaube ich, dass auch die Mitarbeiter mich so sehen. Speziell der Müller, der hat mich doch nie respektiert. Da muss ich auch mal klare Kante zeigen und mir Respekt erkämpfen, versteh das doch bitte.“

Werner schüttelt unwirsch den Kopf: „Ach, Thomas, wenn ich dich so höre, muss ich daran denken, was für ein Heißsporn ich früher war. Immer kämpfen, sich beweisen, immer alles alleine machen wollen. Aber was hilft es, du hast schon recht, deine Erfahrungen musst du selbst machen. Mir ist eigentlich nur wichtig, dass du diese Erfahrungen bewusst machst, dass du Entscheidungen nicht hopplahopp triffst. Ich möchte, dass du nicht nur an dich denkst, sondern an alle da draußen, die deine Entscheidungen betreffen werden.“ Werner wendet sich seinem Sohn zu. „Hast du mal überlegt, was es für den Müller bedeutet, wenn er jetzt mit 58 Jahren gehen muss? Den nimmt doch keiner mehr. Ich möchte, dass du die Verantwortung verstehst, die du als Unternehmer hast. Aber auch die Freiheit, die damit einhergeht.“

Beide beginnen in Richtung Waldrand zu gehen und Thomas blickt zu seinem Vater herüber. „Freiheit? Hm, so habe ich das noch nie gesehen. Vielleicht ist es einfach nicht meine Art von Freiheit, sie macht mir eher Angst. Ich meine, soll das jetzt alles gewesen sein? Ich hab den Laden übernommen und der klebt jetzt an mir, bis ich umfalle? Hilfe, da bleibt mir die Luft weg.“ Thomas schiebt die Hände in die Hosentaschen und zieht die Schultern hoch. „Deswegen kann ich dir nicht versprechen, dass ich das hier ewig machen werde. Ich glaube, meine Art von Freiheit ist es, öfter mal zu überprüfen, ob das, was ich tue, noch meins ist. Ob ich für mich noch auf dem richtigen Weg bin. Und momentan bin ich das sicher nicht, ich fühle mich von euch in die Enge getrieben. Ihr respektiert meine Entscheidungen nicht, also hab ich auch keine Lust zu entscheiden. So einfach ist das.“

„Na ja, so einfach ist es sicher nicht“, sagt Werner und schmunzelt. „Aber ich verstehe schon, was du meinst. Weißt du noch, damals, als die Banken uns fast den Hahn zugedreht haben? Jeden Tag stand ein anderer Finanzfuzzi oder Beraterheini bei mir in der Tür und alle wussten es besser. Ich hätte die am liebsten ständig angebrüllt, sie sollen mich in Ruhe lassen. Ich wusste ja selbst ganz genau, was zu tun war. Wenn man mich nur gelassen hätte.“ Werner ballt die Fäuste. „Ich weiß, dass ihr das ganz gewaltig mit ausgebadet habt, deine Schwester und du. Ich war eigentlich nur noch wütend, auf Gott und die Welt, und hab das auch an euch ausgelassen. Ich fühlte mich so hilflos …“

„… und das hat dich wütend gemacht“, fällt Thomas seinem Vater begeistert ins Wort. „Siehst du, genau so geht es mir jetzt. Jemand anders bestimmt über mein Leben …“

„… und das fühlt sich grauenhaft an“, setzt Werner den Gedanken fort. „Du hast recht. Aber versteh bitte auch mich. Es ist mein Lebenswerk, über das wir hier sprechen. Als ich damals angefangen habe, die Firma aufzubauen, war ich überzeugt davon, dass ich etwas besser kann als andere, dass ich der Welt etwas geben kann. Ich hatte Freude zu gestalten und aufzubauen. Genau das wünsch ich mir bei dir auch.“

Er blickt seinen Sohn prüfend an. „Das ist nicht immer einfach und bei manchen, ach, was sag ich, bei den meisten Entscheidungen weiß man erst hinterher, ob sie klug oder mies waren. Aber das gehört dazu.“

Thomas überlegt einen Moment. „Damals, als die Banken uns kein Geld mehr geben wollten, hast du entschieden, das Mietshaus zu verkaufen und alles in eine neue Produktlinie zu stecken. Warst du dir da eigentlich sicher, dass es gelingt?“

Werner lacht laut auf. „Ach, Thomas, natürlich nicht. Ich habe keine Nacht mehr geschlafen. Aber was sollte ich tun, ich stand mit dem Rücken zur Wand und hatte nur noch einen Gedanken: Ich wollte denen zeigen, dass ich nicht abhängig bin von ihrem blöden Geld, von ihren klugen Ratschlägen. Ich wollte die Verantwortung für mein Handeln zurückgewinnen. Und letztlich war es ja richtig, wasich getan habe. Die Linie Nouveau verkauft sich heute immer noch gut. Aber genauso viele meiner Entscheidungen waren krachend falsch, das kannst du mir glauben.“

Thomas bleibt mit großen Augen stehen. „Dass du das mal zugibst, wow, hätte ich nicht gedacht. Der große Werner Danziger ist nicht fehlerlos. Da bin ich schon fast froh, dass eben die Fetzen geflogen sind.“ Thomas lacht.

„Pass bloß auf!“ Werner klappst seinem Sohn liebevoll auf den Hinterkopf.

„Weißt du, Papa“, greift Thomas den Faden wieder auf, „ich glaube, ich hab eines ganz aus den Augen verloren. Als ich ins Unternehmen eingestiegen bin, habt ihr mir gesagt, ich müsse die Firma nur weiterführen, wenn ich wirklich will. Das hat mich damals sehr erleichtert. Ich weiß noch, dass ich während des Studiums ganz oft wütend war, wenn es mal wieder hieß, ‚klar, der Thomas übernimmt den Laden‘. Mich hat keiner gefragt und ich dachte immer, ich hätte keine Wahl. Sybille dagegen durfte sich ständig neu entscheiden, heute Ärztin, morgen eine Boutique in Schwabing, tralala.“

Werner zuckt mit den Achseln. „Aber letztlich haben wir dir die Wahl doch gelassen, und die hattest du eigentlich immer schon. Wir wussten nur lange nicht, dass wir es aussprechen müssen. Für uns war es selbstverständlich. Übrigens war es deine tralala-Schwester, die uns darauf aufmerksam gemacht hat.“

„Echt? Das wusste ich nicht. Na okay, so schlimm ist Sybille gar nicht.“ Thomas grinst. „Vielleicht will sie ja irgendwann wirklich mit einsteigen.“

„Ja, warum nicht“, sein Vater bleibt stehen und verschränkt die Arme. „Weißt du, Thomas, ich bin nicht von gestern, auch wenn dir das so scheint. Ich sehe schon, dass ihr jungen Leute andere Werte habt und dass ihr viel mehr hinterfragt. Die Welt ist größer geworden und ihr habt so viele Möglichkeiten. Eigentlich ist es logisch, dass die Etappen, in denen man sich neu erfindet, kürzer werden. Nur eines darf dabei nicht auf der Strecke bleiben und das sind deine Werte und deine Integrität.“

„Sagen, was ich tue, tun, was ich sage“, rattert Thomas herunter und seufzt. „Ich weiß. Aber mal ganz ehrlich, sieh und hör dich doch um. Es guckt doch jeder nur noch nach sich und nach dem schnellen Geld. Je schwieriger Entscheidungen werden, desto eher werden sie ausgesessen. Und die Politik guckt weg, denk nur an den Abgasskandal oder an die Flüchtlinge.“

Werner legt seinem Sohn die Hände auf die Schultern und schaut ihn eindringlich an. „Umso wichtiger ist es, dass ihr jungen Unternehmer eure Werte klar habt und aus ganzem Herzen die Dinge angeht.“

Thomas und sein Vater beginnen, den Weg zum Haus zurückzugehen. „Ich will es gerne versuchen, Papa. Das verspreche ich dir. Aber, weißt du, manchmal frage ich mich schon, ob wir Familienunternehmer tatsächlich etwas verändern können, wie du immer behauptest. Ein Unternehmen mehr oder weniger – macht das denn wirklich einen Unterschied?“

 

»Manchmal frage ich mich schon, ob wir Familienunternehmer tatsächlich etwas verändern können, wie du immer behauptest.

Ein Unternehmen mehr oder weniger – macht das denn wirklich einen Unterschied?«

Ja! Es macht einen Unterschied

Kapitel 2

Die enorme Wirkkraft des Mittelstands

 

Wie viel uns etwas bedeutet, erschließt sich oft erst, wenn es plötzlich fehlt. Das stellen wir gerade fest, weil uns die Corona-Pandemie wegnimmt, was selbstverständlich erschien: Kontakte, Austausch, Begegnungen, auch Umarmungen.

Deshalb lässt sich die Frage „Macht es wirklich einen Unterschied?“ am besten mit einem Gedankenexperiment beantworten: Was würde passieren, wenn der deutsche Mittelstand und die Familienunternehmen von heute auf morgen wegfallen würden? Nicht mehr viel. Was würde uns fehlen? Alles. Was bliebe? Wenig. Noch nicht einmal ein Prozent der deutschen Unternehmenslandschaft wäre noch vorhanden, der Rest mit einem Gedankenstreich verloren gegangen. Mit unserem Experiment haben wir mehr als 99 Prozent der deutschen Wirtschaft ausradiert. Das sollte man sich bildlich vorstellen. Und dann sollte man es nie wieder vergessen, auch und gerade vor dem Hintergrund der dramatischen Veränderungen, die unsere Wirtschaft und speziell die mittelständischen Unternehmen in den nächsten Jahren treffen werden.

Der Mittelstand hat eine enorme Wirkkraft. Die Kennzahlen des Instituts für Mittelstandsforschung (ifM Bonn)6 zeigen: Mittelständische Unternehmen stehen für mehr als 35 Prozent des Gesamtumsatzes und knapp 60 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland. Über 80 Prozent aller Auszubildenden werden vom Mittelstand auf ihre künftigen Berufe vorbereitet.

Je nach Zahlen- und Faktenlage gehören fast alle deutschen Unternehmen dem Mittelstand an. Der winzige, ausgeschlossene Rest, die Großunternehmen, fühlt sich, laut ifM Bonn, trotzdem dem Mittelstand zugehörig.7 Obwohl Unternehmen, wie zum Beispiel BMW mit der Eigentümerfamilie Quandt, die dem Mittelstand rein zahlenmäßig längst entwachsen sind, bleiben mittelständisch strukturiert, sie denken und fühlen mittelständisch.

Sie fühlen mittelständisch? Wie fühlt sich das an? Das führt uns zu der Frage, was den Mittelstand eigentlich ausmacht. Eine einheitliche Definition gibt es nämlich nicht. Laut KfW-Mittelstandspanel8 zählen zum Mittelstand sämtliche Unternehmen in Deutschland, deren Jahresumsatz 500 Millionen Euro nicht überschreitet. Das waren im Jahr 2018 3,81 Millionen Unternehmen oder 99,95 Prozent aller Unternehmen in Deutschland. Oft wird der Mittelstand auch anhand der Mitarbeiterzahl ausgewiesen. Alle Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern gehören laut ifM Bonn9 zu den mittelständischen Unternehmen oder werden unter dem Begriff KMU (kleine und mittelständische Unternehmen) zusammengefasst.10

Das Mittelstandsgefühl

Allerdings misst sich das typische Mittelstandsgefühl, von dem auch die mittelständisch agierenden Großunternehmer sprechen, nicht in Zahlen oder Fakten. Jenseits aller quantitativen Definitionen kennzeichnet den Mittelstand die unauflösliche Verflechtung von Eigentum, Führung und Verantwortung. Der mittelständische Unternehmer managt nicht, er verantwortet seine Entscheidungen immer auch im Hinblick auf sein Eigentum, auf den Besitz seiner Familie. Trifft er Fehlentscheidungen, kann er nicht rein verbal die Verantwortung übernehmen, wie wir das heute so oft bei Managern oder Politikern hören. Er kann auch nicht zurücktreten, nach dem Motto „nach mir die Sintflut“. Fehlentscheidungen treffen ihn unmittelbar, treffen seinen Besitz, sein Portemonnaie, vielleicht seine Familie. Dann muss er überlegen, wie er damit umgeht. Und weitermachen. Als Familienunternehmer in x-ter Generation ist er auf Beständigkeit ausgerichtet, hat gelernt, seinen Schwerpunkt nicht auf Quartalszahlen oder Fünfjahrespläne zu setzen. „Wirdenken in Generationen, nicht in Quartalen“, das ist eine typische Aussage eines mittelständischen Unternehmers.

Auch die enge Verbundenheit von Familie und Betrieb prägt den Mittelstand ganz wesentlich. In Familienunternehmen tragen verwandtschaftlich verbundene Menschen als Eigentümer über Generationen hinweg unternehmerische Verantwortung. Hier verbinden sich Systeme, die unsere Gesellschaft normalerweise trennt: private Familie, unternehmerisches Handeln, wirtschaftliches Eigentum. Diese Verbindung betrifft alle Mitglieder der Familie: Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Nicht nur durch die Nachfolgefrage hat das Unternehmen Einfluss auf die Kindheit und Jugend der Unternehmerkinder. Es sitzt, wie wir im Eingangsdialog prächtig sehen konnten, beim Abendessen mit am Tisch, hat eine laute Stimme, eine Sonderposition. Diese enge Verbundenheit von frühester Jugend an prägt die Sicht des mittelständischen Unternehmers auf sein Tun. Unternehmertum ist niemals ein Job, den man emotionslos macht und leichtfertig wechselt. Mag man das Unternehmen hassen, mag man es lieben – kalt lassen wird es uns Unternehmer niemals. Wir haben zu unserem „Baby“ – der Firma – eine ganz besondere Beziehung. Sie lässt sich mit der Liebe von Eltern zu ihrem Kind vergleichen, wie eine Studie der Universität Helsinki11 gezeigt hat: Fotos von der Firma aktivierten in Versuchen per Magnetresonanztomografie dieselben Hirnareale wie Fotos des eigenen Kindes.

Leidenschaft und Loslassen

Wo starke Emotionen im Spiel sind, sind Konflikte vorprogrammiert. Vor allem, wenn den Beteiligten nicht klar ist, ob gerade der Vater spricht oder der Geschäftsführer, die Tochter oder die Vertriebschefin. Typisch für den Mittelstand ist auch das Problem des Loslassens. Wir alle kennen Geschichten und Bilder von Patriarchen, die ihr Unternehmen mit ebensolcher Leidenschaft wie Unbelehrbarkeit führen. Die fest davon überzeugt sind, dass kein anderer ihren Platz einnehmen kann und die mit 70, 80 teilweise 90 Jahren noch fester Bestandteil des Firmenbilds sind. Sehr zum Leidwesen ihrer Söhne oder Töchter. „Wann übergibt er mir jetzt endgültig das Zepter? Wann bin ich endlich die Chefin, die Alleinverantwortliche und Ansprechpartnerin für die Mitarbeiter? Wir hatten doch vereinbart, dass er sich mit spätestens 72 Jahren aus dem Operativen zurückzieht und die Geschäftsführung niederlegt. Ich verstehe ihn nicht. Er ist jetzt 75 Jahre und kommt jeden Tag in den Betrieb, macht seine Rundgänge, macht Termine mit den Mitarbeitern, nimmt an allen Meetings teil. Nicht, dass das schon genug wäre. Er macht auch manchmal einfach meineEntscheidungen rückgängig, ohne es mit mir abzusprechen, entlässt neue Mitarbeiter wieder oder erhöht Gehälter entgegen meinen Vereinbarungen. Ich frage mich, ob er es mir am Ende nicht zutraut, den Betrieb allein zu führen?“ Diese oder ähnliche zweifelnde Fragen höre ich oft von Nachfolgern. Sie fühlen sich manchmal sogar gezwungen, die Gretchenfrage zu stellen: „Du oder ich?“, schreibt Beatrice Rodenstock, geschäftsführende Gesellschafterin der Rodenstock – Gesellschaft für Familienunternehmen mbH, im Geleitwort zu meinem Buch Unternehmensnachfolge: Die Kunst des Loslassens.12 Eng verflochten sind Mittelständler aber nicht nur im Familiären, sondern auch mit ihren Mitarbeitern und in der Region. Der klassische Mittelstand existiert nicht auf der grünen Wiese, er ist in seiner Heimat verwurzelt, übernimmt gerne und aktiv die gesellschaftliche Verantwortung, die sich ihm dort stellt. Man sieht sich, man kennt sich, ist in Vereinen, Verbänden, Parteien engagiert, kennt die Probleme, die anstehen, kann und will schnell und unbürokratisch helfen. Dabei geht es um mehr als Spenden oder Sponsoring. Der Mittelstand verbindet seine gesellschaftliche Verantwortung eng mit dem eigenen wirtschaftlichen Handeln, mit der Wertschöpfung, die seine unternehmerische Tätigkeit für die Gesellschaft erzeugt. Arbeits- und Ausbildungsplätze, Steueraufkommen – ein erfolgreicher Unternehmer nutzt der Gemeinschaft, in der (und von der) er lebt. Im Mittelstand weiß man um den Wert dieser Gemeinschaft, fördert ebenso selbstverständlich wie zurückhaltend Kultur und Sport. Und man weiß um den Wert von Ideen, schließlich ist auch das eigene Unternehmen aus einer Idee entstanden. Forschung, Entwicklung und regionale Bildungsförderung – vieles davon entsteht aus mittelständischen Initiativen. Egal ob es ein Lehrstuhl ist, eine Schule, ein Ferienprogramm für Schulkinder oder ein „Science Lab“, in dem Studenten sich ausprobieren können: Überall in Deutschland wird die Forschungs- und Bildungslandschaft wesentlich durch mittelständische Teilhabe gefördert.

Mehr als die Summe seiner Teile

Im Begriff Mittelstand schwingt eine Menge mit – Geschichten vom Erfinden, Gründen, vom Unternehmen, vom Risiko und vor allem von ganz viel Leidenschaft und Verantwortungsgefühl. Das ist er, der Mittelstand, für den Deutschland in aller Welt bewundert wird. Eine typisch deutsche Angelegenheit, für die es – ähnlich wie für „Kindergarten“ oder „Feierabend“ – keine Übersetzung gibt. Der „German Mittelstand“ gilt im Ausland als Erfolgsmotor der deutschen Wirtschaft, als Innovationstreiber.

Ob in den USA, China, Großbritannien oder Frankreich – überall versuchen Unternehmer, Manager oder Berater, die Besonderheiten und Tugenden mittelständischer Unternehmen zu studieren, zu begreifen, zu adaptieren. Oder sie per Aufkauf zu erwerben. Aber das ist nicht so einfach, denn – siehe oben – Mittelstand ist eben mehr als Zahlen und Fakten. Dahinter steckt kein Management-by-Modell, das man kopieren kann. Dahinter stecken spezielle Unternehmertypen und über mehr als 100 Jahre gewachsene Strukturen. Wir alle kennen die Geschichten, oder? Ein gesundes mittelständisches Unternehmen wird zuerst an ein ausländisches Konsortium verkauft und bekommt dann ein hervorragend ausgebildetes Management verpasst. Puff – die Luft ist raus und wir können zusehen, wie der vorab prall gefüllte Ballon langsam zu Boden sinkt. Der Evolutionsforscher würde von Emergenz sprechen: Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile.

Diese Sichtweise ist nicht neu. Ludwig Erhard verkündete schon vor 65 Jahren seine Einschätzung: „Wenn wir Mittelstand nur vom Materiellen her begreifen, wenn man Mittelstand sozusagen nur an der Steuertabelle ablesen kann […], dann ist dem Mittelstandsbegriff meiner Ansicht nach eine sehr gefährliche Wendung gegeben. Der Mittelstand kann materiell in seiner Bedeutung nicht voll ausgewogen werden, sondern er ist […] viel stärker ausgeprägt durch eine Gesinnung und eine Haltung im gesellschaftswirtschaftlichen und politischen Prozess.“13

Gesinnung und Haltung

Der deutsche Mittelstand hat der Welt also schon seit Erhards Zeiten etwas voraus. Es ist eine besondere Gesinnung, eine Haltung, die sich nicht kopieren oder adaptieren lässt. Geht es etwas genauer? Was macht die deutschen Mittelständler so erfolgreich? Wieso hat unsere Wirtschaft die Finanzkrise 2008/2009 vergleichsweise gut überstanden und wird vielleicht auch die aktuelle Corona-Krise gut überstehen? Warum sind wir – sowohl zum Neid als auch zum Leid der europäischen Nachbarn – Exportweltmeister und können trotz vergleichsweise niedriger Einwohnerzahl mit Wirtschaftsnationen wie den USA und China mithalten?

Zwei Begriffswelten tauchen im Zusammenhang mit erfolgreichen Mittelständlern immer wieder auf: Wir sprechen zum einen von Inspiration und zündenden Geschäftsideen. Zum anderen sprechen wir von einem intrinsischen – also durch einen Sinn motivierten – Verantwortungsgefühl, das eng mit Freiheit korreliert. „Es ist immer etwas anderes, ob man eine Haltung wirklich hat oder ob man vor anderen oder sogar vor sich selbst sie zu haben vorgibt“, sagte Hugo von Hofmannsthal. Inspirierte Unternehmen zeigen offensiv, woran sie glauben und warum sie tun, was sie tun. Sie realisieren einen inneren Zweck, haben klare Werte und geben ihrem unternehmerischen Wirken einen expliziten Sinn. Das ist es, was sie motiviert, tagtäglich Großartiges zu leisten. Durch diese Schaffenskraft mit Herz und Seele werden die Gefühle der Menschen angesprochen – die der Mitarbeiter, die der Kunden. Das macht den Mittelstand so erfolgreich. Während andere Unternehmen großartige Produkte herstellen können, mit perfektem Styling und coolen Gadgets, verkaufen Mittelständler ein Lebensgefühl, weil sie eine Haltung nicht nur vermarkten, sondern sie selbst leben. Durch den inneren Zweck, den Sinn, entsteht ein „Warum“,