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»Eine herzerwärmende Geschichte über Liebeskummer« The Globe and Mail. Glenn Dixon lebt als Highschool-Lehrer in Kanada und nimmt jedes Jahr in der Abschlussklasse »Romeo und Julia« durch. Als er sich von Claire, seiner großen Liebe, betrogen sieht, verlässt er das Land und geht auf Reisen. Im italienischen Verona, vor dem berühmten Balkon, stößt er auf den Club der Julias: eine Gruppe von Frauen, die Tausende von Briefen beantworten, die jedes Jahr dort ankommen. Er wird der erste Mann in der langen Geschichte des Clubs der Julias. Durch die Auseinandersetzung mit all den Geschichten und Fragen erkennt er, dass die Briefe Leben verändern können – auch sein eigenes … Diese große wahre Geschichte hat Leser auf der ganzen Welt begeistert – sie ist eine Hommage an Shakespeare, Verona und die Kunst des Briefeschreibens.
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Seitenzahl: 341
Glenn Dixon
Wie ich dank Shakespeare in Verona die große Liebe fand
Eine wahre Geschichte
Aus dem Englischen von Lars Bauer
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In einem winzigen Büro in Verona, Italien, kommen jedes Jahr mehr als 10000 Briefe an. Sie alle sind adressiert an Julia, die Figur aus Shakespeares Drama Romeo und Julia. Sie handeln von gebrochenen Herzen und der endlosen Suche nach Liebe, kommen aus der ganzen Welt – und werden seit Jahrzehnten von einer Gruppe Frauen beantwortet, die sich »Julias Sekretärinnen« nennen.
Einige Menschen glauben, Romeo und Julia sei die wahre Geschichte zweier Liebender, die im Jahr 1302 in Verona lebten und deren Glück unter einem schlechten Stern stand. Wir werden die Wahrheit wohl niemals erfahren, doch die Figur der jungen Julia lebt weiter als Symbol einer einst perfekten Liebe.
Liebe Julia,
ich bin nicht mehr jung, aber es gab eine Zeit, ja, es gab eine Zeit, als ich an die Liebe glaubte. Ich erinnere mich an die Namen meiner Geliebten und sehe ihre Gesichter vor mir, jedes einzelne, ganz klar. Und dann sind sie weg. Warum kommt die Liebe zu einigen so leicht und weigert sich bei anderen, zu bleiben? Warum muss das so sein? Warum verwirrt uns das so schmerzhaft?
Ich las den Brief bis zum Ende. Er sah aus wie all die anderen auf dem Stapel, da war nichts wirklich Besonderes an ihm. Sie alle waren handgeschrieben – was so sehr von Herzen kommt, kann man nicht tippen. Man hatte sie gefaltet, voller Hoffnung in Umschläge gesteckt und zu Julia geschickt, wohnhaft in Verona.
Giovanna erschien in der Tür. »Ciao«, sagte sie. »Hast du Lust auf einen Kaffee?«
»Nein, ich … Danke, mir geht’s gut.«
Giovanna trug sogar nachmittags Perlen. Sie kam näher, blickte auf den Brief, der vor mir lag, und las meine Gedanken. »Manche sind sehr berührend, oder?«
»Ich weiß nicht, wie ich den hier beantworten soll.«
»Ah«, sagte sie, zog einen Holzstuhl heran und setzte sich neben mich. Sie beugte sich über den Brief und rückte die Lesebrille zurecht. »Viele der Briefe sind voller Traurigkeit. Und manchmal sind sie auch sehr poetisch.«
»Aber was soll ich nur antworten?«
Sie sah mich an. »Manchmal reicht es den Leuten einfach nur, geschrieben zu haben.«
»Diese Frau schreibt so schön. Ich bin nicht sicher, ob ich – «
»Die Antwort«, fuhr sie den Brief tätschelnd fort, »findet sich oft in ihren Worten.«
»Aber – «
»Du musst wie ein Wahrsager sein, nach Zeichen suchen. Die Verfasser der Briefe werden dir sagen, was sie hören wollen.«
»Ich weiß nicht.«
Giovanna sah mich an, als sei ich schwer von Begriff. »Sie will wissen, dass ihr Leben gut ist, dass sie wertvoll ist, wichtig. Das will sie wissen. Und das musst du schreiben.«
»Und dann unterschreibe ich mit ›Julia‹?«
»Wenn du willst. Oder du unterschreibst mit ›Julias Sekretär‹.«
»Okay.«
Giovanna stand auf und strich ihr Kleid glatt. »Wir nehmen diese Verantwortung sehr ernst.« Sie drehte sich und ging zur Tür, wo sie innehielt, ihre schlanke Hand am Türrahmen.
»Ja, natürlich«, sagte ich.
»Also keinen Kaffee?« Sie warf mir einen letzten Blick zu.
»Nein, danke. Ich mache mich einfach an die Arbeit.«
»Va bene.« Sie sah mich einen Moment an, dann verschwand sie in den Flur.
Es gibt keine Julia, natürlich nicht, auch wenn das Fremdenverkehrsamt von Verona nichts dagegen hätte, wenn wir daran glaubten. Verona ist eine alte Stadt. Sie ist umgeben von den Feldern Valpolicellas, dem Tal der Kellereien einiger der ältesten Weingüter der Welt. Julius Caesar hat hier seine Sommer verbracht, Dante kam während seines Exils vorbei, um hier seine »Göttliche Komödie« zu beenden, aber nichts macht diese Stadt so einzigartig wie die Legende von Romeo und Julia.
Als ich das erste Mal die Altstadt erkundete, ging ich durch ein Tor, das sich in der hohen mittelalterlichen Stadtmauer befand. Auf einer Bronzetafel standen die Worte: »Die Welt ist nirgends außer diesen Mauern; nur Fegefeuer, Qual, die Hölle selbst.«
Das war Romeos Satz. Auch er hat nie existiert, zumindest nicht im engeren Sinne.
Tafeln wie diese finden sich überall in Verona, sie markieren die wichtigsten Ereignisse aus Shakespeares Stück – einer Geschichte, die nicht hier geschrieben wurde, die vor Jahrhunderten in einer anderen Sprache und einem anderen Land berühmt geworden ist.
Ich kam Ende Juli in Verona an, vor zwei Jahren, mit einem Sack voller Fragen. Ich kam hierher, um etwas zu lernen. Etwas über die Liebe, und vielleicht auch über Shakespeare. Als Erstes sah ich die Menschenmassen, die sich laut redend durch die Straßen schoben, Kameras im Anschlag. Ich wusste sofort, wohin sie gingen. Der Pulk schob sich vorbei an schimmernden Schaufenstern, an Kaschmirpullovern und 500-Euro-Schuhen – ich wurde mitgespült. Zu unserer Linken weitete sich die Straße zu einem Platz, aber die Menge bog nach rechts ab, und dann, plötzlich, befanden wir uns vor einem Durchgang und einem Schild, auf dem stand: Casa di Giulietta – Julias Haus. Da waren wir also. Wir wurden still und ehrfürchtig. Ich gestehe, ich war zynisch. Viele der jüngeren Frauen hier waren wie verzaubert und zogen ihre Männer hinter sich her, die verzweifelt Interesse heuchelten. »Es ist nicht real!«, wollte ich ihnen zurufen. »Es ist nur eine Geschichte!«
Wir schoben uns durch den Torbogen und kamen in einen Innenhof. Und da war er: der berühmte Balkon. Er ragte drei Meter über uns aus der Wand. Reben rankten die alten Mauern empor. Es war alles ein bisschen zu perfekt. Der Balkon selbst ist ein alter römischer Steinsarg, der 1937 in die Wand eingelassen wurde, um Touristen anzulocken, die so leichtgläubig waren wie wir. Man kann auch in das Haus hineingehen – es ist eine Art Museum –, und viele junge Paare treten raus auf den Balkon und lassen sich fotografieren. Wenn sie sich küssen, jubelt unten die Menge. Kameras klicken. Textmitteilungen werden verschickt.
An den Stufen am Eingang erzählt ein Aushang die Geschichte des Hauses. Ich quetschte mich durch die Menge, um lesen zu können: »Dieses Haus«, stand da, »befand sich seit dem 13. Jahrhundert im Besitz einer Familie.« Über dem Türbogen hing ihr Emblem, die Insignien der Familie Cappello: ein runder Hut, wie eine Melone – die Cappellos waren Hutmacher gewesen.
Aber etwas anderes überraschte mich: Der Name Capulet war offenbar von Cappello abgeleitet worden, nur wie hatte Shakespeare das wissen können? Ich sah mich um. War er hier gewesen? Es gibt Jahre in seinem Leben, über die wir nichts wissen – Jahre, in denen er vielleicht auf Reisen war, aber es wird nicht angenommen, dass er sich je in Verona aufgehalten hat. Die Antwort ist einfach, so wie es meistens ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Shakespeares Romeo und Julia die Adaption eines epischen Gedichts, und das wiederum war von einer italienischen Geschichte inspiriert, die sich in etwa auf das Jahr 1530 zurückdatieren lässt.
Seit mindestens 200 Jahren war dieser alte Innenhof nun eine Pilgerstätte. Charles Dickens war hier gewesen und hatte darüber geschrieben – es hat ihm hier nicht besonders gefallen. Zu seiner Zeit war das Haus zu einem tristen, kleinen Gasthof verkommen, mit einem fiesen Hund an der Tür und Gänsen, die durch den Innenhof watschelten. Heute ist er voller aufgeregter Touristen, auch das hätte Dickens wohl nicht gefallen. In einer Ecke steht eine Bronzestatue von Julia, ihr Blick ist sittsam gesenkt, mit langen Fingern greift sie verlegen in die Falten ihres transparent erscheinenden Gewands.
Aus Gründen, die ich nicht richtig verstehe, soll man vorsichtig die Hand auf ihre rechte Brust legen und sich dabei etwas von den Göttern der Liebe wünschen. Einer nach dem anderen treten die Pilger hervor, um Julias Brust zu streicheln. Die Bronze ist an dieser Stelle blank poliert zu einem goldenen Schimmer, Julias Gesicht hingegen ist von der Patina holzkohlenschwarz.
Ich beobachtete die Menge eine Weile, bis ich eine ältere Frau bemerkte, die in Gedanken versunken durch den Innenhof schlenderte. Sie bewegte sich von einem Punkt zum nächsten, an jedem verweilend, die Plaketten lesend, die Statue betrachtend, und dann, kurz bevor sie ging, zögerte sie, drehte sich ein letztes Mal um zum Balkon, nickte und verschwand im steinernen Torbogen. Dort, wo die Frau eben noch gestanden hatte, sah ich einen roten hölzernen Briefkasten, den ich bis dahin noch nicht bemerkt hatte. Er hing an der Mauer neben dem Hauseingang, war von Hand gefertigt, aufwändig geschreinert und blutrot bemalt. Dort ging ich hin. Posta di Giulietta stand auf dem Kasten – Briefe an Julia.
Als im Jahr 1937 die ersten Briefe an Julia in Verona ankamen, wusste niemand, was man mit ihnen machen sollte. Sie stapelten sich vor den Grabsteinen des Klosters San Francesco, wo man lange Julias Gruft vermutete. Zunächst beantwortete der Hausmeister des Klosters die Briefe, in den Fünfzigerjahren übernahm ein Dichter die Aufgabe, und 1989 begann ein Bäcker namens Giulio Tamassia, sich um den steten Strom der Briefe zu kümmern. Irgendwann gab Giulio seinen Backwarenberuf auf und eröffnete das erste offizielle Büro für die an Julia geschickten Schreiben. Zu dieser Zeit kamen Hunderte Briefe in Verona an, und Giulio machte es sich zum Anliegen, sie alle zu beantworten – 25 Jahre lang.
Giovanna, Giulio Tamassias Tochter, übernahm die Berufung ihres Vaters und leitet heute den Club di Giulietta, der die eingehenden Briefe nach Sprachen sortiert, das Briefpapier bereitstellt und die Schreiben sogar katalogisiert. Giovanna klagt darüber, dass ihnen die Stadt nicht mal genug zahle, um Porto und die Miete des Büros zu begleichen. Der Strom der Briefe wird immer größer, er verstopft die Briefkästen und überflutet die Schreibtische.
Ich hatte Giovanna vor Monaten eine E-Mail geschrieben und sie gefragt, ob ich nach Verona komme könne, um dabei zu helfen, die Briefe an Julia zu beantworten. Meine Gründe waren komplex. Ich wollte mir über meine eigene Situation klar werden, aber das erzählte ich Giovanna nicht. Ich schrieb ihr, dass ich Schriftsteller sei und schon lange als Lehrer arbeiten würde. Ich hatte Romeo und Julia an der Highschool unterrichtet, und vielleicht könnte ich ihr mit den Briefen helfen – zumindest mit den englischen.
Am Tag, als ich ankam, holte sie mich an meinem Hotel ab – kaum eine Stunde, nachdem ich aus dem Bahnhof gestolpert war. Sie hatte gleich in der Nähe geparkt und kam zum Gehsteig, wo ich stand und auf sie wartete.
»Bist du Glenn Dixon?«
»Giovanna?«
»Ja. Komm, ich bin gerade auf dem Weg ins Büro.«
Sie hat nicht viel geredet. Ich fragte mich, wie oft sie all das schon erlebt hatte, und ob es immer so lief: Ein ausländischer Freiwilliger kam an, ernsthaft und beflissen, aber der Aufgabe nicht wirklich gewachsen. Ich fragte mich, ob ihr das alles nicht eher lästig war.
»Hier ist die römische Arena«, sagte sie plötzlich, die Stille brechend. Sie zeigte durch die Windschutzscheibe auf den großen Platz, der vor uns lag.
»Okay«, sagte ich, aber ich war gerade erst angekommen und wusste nichts über die Stadt. Wir bogen rechts ab, fuhren durch eine mittelalterliche Festungsmauer, die die Farbe verbrannter Umbra hatte. Wir überquerten eine Brücke, den Ponte Nuovo, fuhren an einem Friedhof vorbei und weiter in ein Industriegebiet voller Büros und Lagerhallen. In der Via Galileo Galilei Nummer drei hielten wir an. Ein blaues Fahrrad lehnte an der Wand, die Haustür stand offen. Drinnen sah es aus wie in jedem anderen Bürovorraum, mit einer Topfpflanze und einem Empfangstresen gegenüber der Eingangstür.
Giovanna deutete auf Stühle an einem runden Tisch, der vor dem Tresen stand. Wir setzten uns und fingen an zu reden. Zuerst sprach sie über ihren Vater – er lebt immer noch –, und ich fragte sie ein wenig über die Historie des Clubs aus.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie und blickte sich um.
»Aber das hier ist der Ort, oder? Hier werden all die Briefe beantwortet?«, hakte ich nach.
»Ja, hier arbeiten wir. Und wir haben viel zu tun.«
Es herrschte geordnetes Chaos. An den Wänden hingen Opernplakate und gerahmte Fotografien, Stapel von Büchern und Papier türmten sich auf dem Tresen, manche sahen aus, als könnten sie jeden Moment umfallen. »Wie viele Briefe kriegt ihr denn so im Monat?«
»Komm mal mit«, sagte sie und stand auf. Ich folgte ihr durch einen Flur zu einem kleinen Büro am Ende des Ganges. »Büro« ist eine beschönigende Beschreibung. Das Zimmer sah eher aus wie ein Lagerraum. Zwei der Wände verschwanden hinter Regalen, die sich unter dem Gewicht Dutzender Kartons bogen – alle randvoll mit Briefen und beschriftet mit der jeweiligen Sprache der Schreiben: Russisch, Chinesisch, Schwedisch, Französisch. An der dritten Wand stand ein Tresen mit Stühlen, der zu einer Art Schreibtisch umfunktioniert worden war. Darauf befand sich ein Karton, auf dem ›Englisch‹ stand. Jemand hatte bereits meinen Arbeitsplatz vorbereitet und Briefpapier und Umschläge bereitgelegt – und sogar einen Stift.
»Du wirst einige Zeit brauchen, die alle zu lesen«, sagte Giovanna und deutete auf den Karton, in dem sich Hunderte Briefe befanden, vielleicht sogar tausend. Mein Lächeln verflog.
Ich nahm ein paar heraus. Viele der Briefumschläge waren blassrosa oder cremefarben, als seien es Hochzeitseinladungen. Aber es gab auch lose Blätter, hastig geschrieben und – so stellte ich es mir vor – im letzten Moment eingeworfen in den Briefkasten vor Julias Haus. Ich betrachtete ein Zugticket, auf dessen Rückseite ein paar hingekritzelte Worte standen. Der Absender: Brasilien. Ich legte es zurück in den Karton.
»Willst du gleich anfangen?«, fragte Giovanna. »Du kannst dich hier hinsetzen.«
Das tat ich. Es würde ein langer Nachmittag werden.
»Schreib deine Antworten hier drauf«, sagte sie und deutete auf den Stapel A6-Blätter, den man mir hingelegt hatte. »Dann stecke sie in die Briefumschläge – aber klebe sie noch nicht zu.«
Ich blickte auf die Briefumschläge. Sie waren bedruckt mit einer Zeichnung: Julia auf dem Balkon. Ihr Haar wehend im Wind, ihre Hand flehentlich ausgestreckt – sie sah eher aus wie ein Pin-up-Girl aus den Fünfzigern denn wie irgendwas von Shakespeare.
»Ich bin vorn, wenn du Fragen haben solltest.« Giovanna sah mich einen Moment an und ging dann schneller aus dem Zimmer, als mir lieb sein konnte. Ich hätte gern noch ein paar Tipps bekommen, ein bisschen Training. Ich war mir nicht sicher, ob ich schon bereit war.
Ich zog den Karton heran, auf dem »Englisch« stand, die Briefe darin rutschten hin und her. Einige fielen auf die Arbeitsplatte, ich nahm mir einfach einen. Er kam aus den Vereinigten Staaten, aus Colorado. Ich öffnete den Briefumschlag und begann zu lesen: »Stan hat uns am 13. Juni 2013 verlassen. Wir waren 25 Jahre verheiratet gewesen.«
Aha, eine tragische Geschichte von Trauer und Verlust. Aber dann las ich weiter.
»Ich habe mich letztens mit einer alten Liebe von mir getroffen, Larry. Ist es zu früh? Ist es zu früh, wieder diese Gefühle zu fühlen?«
Was sollte ich darauf antworten? Ich kannte doch noch nicht mal diesen Larry.
Ich schob meinen Stuhl zurück, wollte Giovanna rufen, überlegte es mir dann aber anders. Sollte ich wirklich schon vor meinem ersten Brief kapitulieren? Ich las ihn bis zum Ende, hielt inne und griff nach einem Blatt Papier und dem Stift.
»Liebe Jean«, schrieb ich, »Du wirst die Antwort in Deinem Herzen finden.«
Ich blickte vor mir auf das Blatt. Was für ein Quatsch. Ich zerknüllte das Papier und fing noch mal von vorne an, schrieb ein anderes abgedroschenes Klischee, las es – und zerknüllte auch diese Antwort. Ich legte Jeans Brief zurück in den Karton.
Vielleicht war er einfach ein bisschen zu schwierig. Vielleicht musste ich mit etwas Einfacherem beginnen, mit etwas, das nicht so kompliziert war. Ich zog einen anderen Brief hervor.
»Liebe Julia,
ich wurde an einer Universität angenommen, weit weg von zu Hause. Es ist eine sehr gute Universität und eine tolle Chance für mich. Doch die Sache ist die, dass ich einen Mann kennengelernt habe. Und der lebt hier. Bitte sage mir – was soll ich tun?«
Ha, dachte ich, das kann ich beantworten. Ich dankte ihr für ihren Brief und drängte sie, an die Universität zu gehen. Ich schrieb, dass der Mann auf sie warten würde, wenn er ihrer Liebe wert wäre. Ich fügte noch ein Zitat von Polonius hinzu, aus Hamlet: »Sei dir selber treu.« Ich fand, das klang gut. Ich steckte meine Antwort in den Umschlag und nahm den nächsten Brief.
»Liebe Julia«, las ich, »ich bin 16 Jahre alt. Ich warte schon so lange auf meinen Romeo. Wann wird er kommen?« Oh, Kleine, du bist 16. Du hast noch ein ganzes Leben voller Schmerzen vor dir! Nein, keine Sorge, das habe ich natürlich nicht geschrieben. Stattdessen bat ich sie, Geduld zu haben. Ich schrieb, dass sie hinausgehen solle in die Welt, um all die Dinge zu machen, die sie liebt, und dass sie dabei vielleicht ihren Romeo finden wird, weil er ähnliche Dinge mag – und wäre das nicht perfekt?
Ich schrieb Antwort um Antwort und verfiel in einen Rhythmus. Jede Antwort war zwei oder drei Absätze lang. Ich versicherte jedes Mal aufs Neue, dass die Liebe kommen würde, auch wenn sie vielleicht gerade verloren gegangen war. Ich benutzte das »Sei dir selber treu«-Zitat zum Schämen oft. Und ich stellte mir vor, ich würde meinem jüngeren Ich schreiben. Das half mir mit den Antworten, aber um ehrlich zu sein, fühlte ich mich die meiste Zeit wie ein Beratungslehrer aus dem Gymnasium, der Ratschläge von sich gibt, die höchstwahrscheinlich vollkommen irrelevant waren.
Den Rest des Vormittags beantwortete ich also Briefe – ungefähr 30 –, und las viele mehr. Die meisten kamen aus England, den USA und meinem Heimatland Kanada. Ich beantwortete aber auch Briefe aus China, Indien, Mexiko und Polen. Zuweilen war das Englisch gebrochen und schlicht, aber das Thema war immer dasselbe: Alle Absender suchten nach Liebe. Sie alle sehnten sich nach dieser an der Seele zerrenden Erfahrung, die uns tiefste Trauer beschert und größte Freude.
Ich hatte meine eigenen Probleme mit der Liebe. Einer der Gründe für meine Reise nach Verona war, dass ich mehr über diese allumfassende Kraft in unser aller Leben lernen wollte. Ich wollte etwas begreifen, irgendwas, das mir helfen würde, meinen eigenen Herzschmerz zu verstehen. Und vielleicht würde es mir auch helfen, einmal mehr an die Liebe zu glauben.
Bis vor relativ kurzer Zeit ging man davon aus, dass die romantische Liebe nichts weiter ist als ein kulturelles Konstrukt. Die Idee der romantischen Liebe kam angeblich das erste Mal im Mittelalter auf, wahrscheinlich in Frankreich. Sie kam zu uns durch die Etikette der höfischen Liebe, unsterblich gemacht in den Liedern der Troubadoure und den Sitten des Rittertums.
Natürlich stimmt das nicht so ganz. Die Liebe gibt es viel länger, als wir es uns vorstellen können. Und sie ist nicht ausschließlich Teil einer bestimmten Kultur. Jeder erfährt Liebe, überall. Niemand musste sie erfinden. Nach einer aktuellen Studie mit 15000 Menschen aus 48 Ländern ist die romantische Liebe Teil jeder Kultur. Man geht davon aus, dass sie zu den 200 universellen menschlichen Eigenschaften gehört – wie die Fähigkeit, Sprache zur Kommunikation zu benutzen, Musik zu machen und zu genießen oder auch zu lachen. Lieben zu können scheint also etwas essenziell Menschliches zu sein.
Wir alle fühlen uns zu anderen hingezogen, und das geht weit über sexuelles Verlangen hinaus. Einer Studie zufolge verlieben sich Fünfjährige genauso oft wie Achtzehnjährige. Die Kinder hatten die gleichen Symptome wie die Erwachsenen – Schmetterlinge im Bauch, eine hilflose Sehnsucht und das überwältigende Verlangen, vom Objekt ihrer Begierde wahrgenommen zu werden.
Natürlich erinnere ich mich noch an meine erste Liebe. Als Shannon Mahoney in den Raum kam, in dem Mrs. Action in der siebten Klasse Mathematik unterrichtete, war ich vollkommen hin und weg. Warum, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es wie ein Blitz war. Sie war 13, ich war 12, und in den folgenden beiden Jahren war ich wie verrückt verliebt in sie – auch wenn ich nicht glaube, dass ich jemals mehr zu diesem irdischen Engel gesagt habe als: »Könntest du mir bitte mal die Buntstifte geben?« Ich hatte alle möglichen Fantasien, in denen sie immer die Hauptrolle spielte. Meistens waren es sorgfältig durchkomponierte Abenteuer, in denen ich sie aus einer Gefahr befreite, und die meisten dieser Szenarien hatten etwas mit Wasser zu tun, denn ich war ein sehr guter Schwimmer.
Und dann, eines Tages, verflogen meine Gefühle so plötzlich, wie sie gekommen waren.
Es ist unklar, warum all das geschah. Warum verliebte ich mich ausgerechnet in dieses Mädchen? Warum Shannon Mahoney? Warum war ich so auf sie fixiert, und nicht auf eines der anderen Mädchen in meiner Schule? Waren es die Pheromone? Lag es daran, wie sie aussah? War es irgendwas in ihrem Erbgut? Was zur Hölle war es?
Und nun saß ich da also an meinem Arbeitsplatz in Verona, las einen Brief nach dem anderen, Jahrzehnte und zahlreiche gebrochene Herzen nach der unvergesslichen Shannon Mahoney – und war erstaunt, dass so viele Leute Varianten derselben Frage stellten. Sie alle wollten von »Julia«, diesem angeblichen Vorbild romantischer Weisheit, wissen, wie die Liebe funktioniert. Einige Briefe handelten von den Gipfeln der Glückseligkeit und Freude, den Höhepunkten der Liebe. Eine Frau schrieb, dass sie ihre Flitterwochen in Verona verbracht habe. »Danke, Julia«, schwärmte sie. »Danke, danke, danke!« Andere Briefe jedoch – ich würde sagen, die Mehrzahl – waren voller Verzweiflung über erlittene Zurückweisungen. »Warum?«, fragten sie. »Warum geschieht mir das?«
»Deine Zeit wird kommen«, schrieb ich wieder und wieder. Aber ich war mir nicht sicher, ob das stimmte. Meine Zeit war noch nie gekommen. Zuweilen fühlte ich mich wie ein Hochstapler und Betrüger, während ich »Julias« Antworten schrieb. Wenn ich über mein eigenes Leben nachdachte, wurde mir nur allzu bewusst, dass ich im Spiel der Liebe noch keine große Rolle innegehabt hatte. Ich war genauso verloren wie alle diese traurigen Herzen. Wer war ich also, dass ich ihnen Ratschläge erteilte? Wer war ich, dass ich ihnen auch nur irgendwas von der Liebe erzählte?
Vorne am Empfang des Büros klingelte das Telefon. Giovanna ging ran und sprach auf Italienisch. Ich verstand nichts von dem, was sie sagte. Sie klang ein wenig außer sich, kurz darauf stand sie in meiner Tür.
»Der Koreanische Rundfunk hat angerufen.«
»Der koreanische … was?«
»Sie kommen mit einem Kamerateam vorbei.«
»Was? Jetzt?« Ich legte meinen Stift weg.
»Ja, in 15 Minuten. Sie wollen filmen, was wir hier machen.«
»Okay.«
»Va bene«, sagte sie. »Du wirst im Film sein.« Sie wirbelte herum und verschwand im Flur.
Bevor das Kamerateam kam, wurde ich in den Empfangsraum beordert. Giovanna rief die beiden anderen Mitarbeiter herbei – beides junge Frauen – und platzierte uns um den Tisch, sodass wir aussahen wie die Mitglieder eines spontan einberufenen Buchklubs. Als dann der Koreanische Rundfunk schließlich eintraf, bestand er lediglich aus zwei Leuten, die eine kleine Kamera dabeihatten. Ich wurde sofort misstrauisch: Koreanischer Rundfunk, ach wirklich? Die Typen sahen aus, als würden sie ein Youtube-Video drehen.
Der Größere der beiden schien das Sagen zu haben. Er sprach fließend Italienisch, was uns alle überraschte. Er hielt die Kamera in einer Hand, schwirrte um den Tisch und machte ein paar Aufnahmen, beugte sich über uns, während wir mit zittriger Hand unsere Briefe schrieben. Der zweite Mann blieb im Hintergrund und sagte nicht viel. Ich glaube nicht, dass er Italienisch sprach. Er summte vor sich hin und redete in kurzen Sätzen – auf Koreanisch – mit dem Typen mit der Kamera.
»Hm«, sagte der Kurze und sah mich an, als hätte er eine Idee. Er sagte etwas zu dem Langen, und die Kamera schwenkte herum und verharrte genau vor meinem Gesicht.
»Was du hier machen?«, sagte der Lange hinter seiner winzigen Kameralinse.
Giovanna hatte ihnen bereits erklärt, dass ich ein Freiwilliger aus Kanada war. Das rote Licht der Kamera blinkte erwartungsvoll in mein Gesicht.
»Sie meinen, warum ich nach Verona gekommen bin?«
»Ja, warum?«
»Um die englischen Briefe an Julia zu beantworten. Ich war mal Lehrer, habe Romeo und Julia unterrichtet, und …«
»Lehrer. Ja, du bist Lehrer?«
»Ja, und jetzt bin ich hier und will … nun ja, etwas über die Liebe lernen.«
»Du kennen Liebe?«
»Ähm, ich weiß ein bisschen was darüber. Hoffe ich.«
»Du mögen Liebe?«
Das führte zu nichts. Ich blickte zu Giovanna. Sie sprach mit dem Mann auf Italienisch. Die Kamera schwenkte in ihre Richtung und die beiden begannen ein ausführlicheres Interview. Mittendrin schickte uns Giovanna wieder weg, und ich flüchtete in mein kleines Hinterbüro mit den Regalmetern voller Kartons.
Eine halbe Stunde später steckte der Kleinere der beiden Männer seinen Kopf herein und sah mich an.
»Hallo«, sagte ich.
»Wenn ich das richtig verstanden habe, willst du etwas über die Liebe lernen«, sagte er. Er sprach beinahe perfektes Englisch.
»Ähm, ja«, ich schob meinen Stuhl zurück. »Das ist die Idee.«
»Sehr interessant.«
Es entstand eine Pause. Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte. »Sag mal, seid ihr wirklich vom Koreanischen Rundfunk?«
»Ja«, antwortete er summend. »Ich bin der Produzent der Sendung. Und der Moderator. Jede Woche stellen wir eine andere Stadt vor, auf der ganzen Welt. Jetzt machen wir Verona.«
»Und du bist der Moderator?«
»Ja. Ich spreche kein Italienisch, also übernimmt Hyun-ki das Reden. Meine Sendung heißt Rucksackreisen. Diese Folge hier wird Ende September ausgestrahlt.«
»Im ganzen Land?«
»Ja.« Er blickte zu den Briefen, die über meinen Tisch verstreut lagen. »Hmm. Habt ihr auch Briefe aus Südkorea?«
»Ich glaube schon«, sagte ich. »Aber der Brief wäre dann auf Englisch.«
»Viele Koreaner sprechen Englisch«, sagte er.
Ich wühlte mich durch die Haufen. Ich hatte die Briefe stapelweise aus dem Karton genommen, immer zehn auf einmal. Und ich hatte mir ein paar Notizen gemacht. Überall lagen Papiere herum. »Hier«, sagte ich und hielt ihm einen Brief hin. Er legte ihn auf die Arbeitsplatte und strich ihn raschelnd glatt. Vorne im Eingangsbereich plauderte sein Kollege weiter mit Giovanna.
»Und, was steht da drin?«, fragte ich.
»Es ist ein typisch koreanisches Problem.«
»Was ist ein ›typisch koreanisches Problem‹?«
Er blickte auf. »Ein Generationsproblem. Sie streitet sich mit ihrem Vater darüber, wen sie heiraten soll. Die junge Generation will so sein wie Ihr Amerikaner.«
»Kanadier.«
»Ist doch das Gleiche.«
»Eigentlich nicht –, aber okay.«
»Die jungen Leute in meinem Land wollen aus Liebe heiraten. Aber der Vater will eine Hochzeit zwischen zwei Familien.«
»Eine arrangierte Ehe?«
»Nein, das ist es nicht. Aber auch keine Heirat aus Liebe. Eine Heirat der Familie zuliebe. Dem Geschäft zuliebe. Es gibt viele Gründe.«
»Oh«, sagte ich.
»Hör zu.« Er las laut vor: »Ich habe ihm einmal versucht zu sagen, dass ich ihn liebe, und mein Vater hat geantwortet: ›Bist du jetzt Amerikanerin, oder was? Denkst du, das ist hier Drei Mädchen und drei Jungen? Du zeigst, dass du mich liebst, wenn du mich finanzieren kannst.‹«
»Kennst du die Fernsehserie Drei Mädchen und drei Jungen?«, fragte ich.
»Jeder in Korea kennt Drei Mädchen und drei Jungen.« Er fing an, die Titelmelodie zu singen: »It’s the story of a lovely lady …«
»Ja«, sagte ich ihn schnell unterbrechend, »das habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Hast du den Film gesehen?«
»Den Film? Drei Mädchen und drei Jungen?«
»Nein. Briefe an Julia«, sagte er. »Hast du den gesehen?«
»Ja, bevor ich hergekommen bin.«
Er nickte.
In dem Film schreibt eine Frau einen Brief an Julia, aber er geht verloren und taucht erst viele Jahre später wieder auf. Eine der Sekretärinnen besteht darauf, ihn trotzdem zu beantworten, und dann finden sich die beiden Liebenden, die jetzt alt sind, natürlich wieder, nach all den Jahren.
»So ist euer Hollywood«, sagte er, »immer ein Happy End.«
»Ich glaube da auch nicht dran«, sagte ich. »So einfach ist das Leben nicht.«
Hyun-ki erschien in der Tür, die Kamera baumelte an seiner Hand. Die beiden Koreaner redeten miteinander und filmten dann den Drei Mädchen und drei Jungen-Brief, den der Moderator in seinen Händen hielt, als würde er ihn lesen.
Dann, so plötzlich, wie sie erschienen waren, kündigten die Koreaner ihren Aufbruch an. Ich folgte ihnen in den Eingangsbereich, wo sie allen überschwänglich für ihre Zeit dankten und zur Tür gingen, summend und nickend. Giovanna führte sie mit einem knappen Lächeln nach draußen. »Ciao«, sagte sie, und dann noch mal »Ciao«, als sie am Eingang stehen blieben, sich umdrehten und sich vor jedem von uns verbeugten. Als sie draußen waren, warf Giovanna mir einen Blick zu, und ich flüchtete zurück in mein Büro.
Etwa eine Stunde später war ich erledigt. Die unzähligen Briefe verschwammen vor meinen Augen. Ich ging zum Empfangstresen, wo Giovanna allein an dem runden Tisch saß. Vor ihr lag ein kleiner Stapel Briefe.
»Beantwortest du immer noch Briefe?«, fragte ich.
»Zwanzig bis dreißig Briefe pro Tag, jeden Tag.«
Sie machte das jetzt schon seit zwei Jahrzehnten. Ich stellte im Kopf schnell ein paar Berechnungen an – das machte also etwa 5000 Briefe im Jahr und über 100000 Briefe in einem Zeitraum von zwanzig Jahren. Mein armseliges Tageswerk erschien mir wie ein Flüstern in einem Hurrikan, wie ein Kieselstein auf einem Berggipfel.
»Arrivederci«, rief ich, als ich auf dem Weg nach draußen war. Giovanna hielt mit dem Schreiben inne, blickte auf und warf mir ein echtes Lächeln zu, das erste, das ich von ihr den ganzen Tag gesehen hatte.
»Werde ich dich morgen sehen?«, fragte sie und legte den Brief beiseite.
»Das wirst du«, antwortete ich. »Das wirst du.«
Am nächsten Morgen machte ich mich allein auf den Weg ins Büro. Die Altstadt befindet sich in einer Windung des Flusses Adige. Über mir ragten Kirchtürme und mit roten Ziegeln bedeckte Hausdächer in den Himmel. Ich ging durch ein Tor in der Stadtmauer, vor mir öffnete sich eine weite Piazza. In einiger Entfernung ragte das antike römische Kolosseum empor wie eine zerbröckelte Krone. Ich ging gen Osten auf die Brücke und rüber auf die andere Seite, duckte mich unter einer steinernen Überführung und erreichte die Via Galileo, einen langen, geraden Boulevard, der mich schließlich zu den Büros des Club di Giulietta führte.
Giovanna stand hinter dem Empfangstresen. »Ah«, sagte sie, als ich die knarzende Tür öffnete. »Buon giorno.«
»Hi.«
Sie deutete mit dem Kopf den Gang runter. »Dein Büro wartet auf dich.«
Ich verstand das als Aufforderung, mit der Arbeit zu beginnen. Ich lächelte sie an und ging den Flur entlang nach hinten in meinen kleinen Raum. Fast den ganzen Vormittag beantwortete ich ungestört Briefe.
Es war mein zweiter Arbeitstag, und ich begann Muster in den Briefen zu erkennen. Die meisten stammten von jungen Frauen, aber es gab Ausnahmen. Eine ältere Frau schrieb, dass sie nicht um Rat für sich selbst bat. Sie habe drei Töchter, zwei davon waren glücklich verheiratet, aber die Älteste war allein. Ob Julia ihr helfen könne.
»Jede Tochter und auch jeder Sohn«, antwortete ich, »kann sich nur wünschen, eine so fürsorgliche Mutter zu haben wie Sie.«
Nur selten stammte ein Brief von einem Mann, und beinahe sofort erkannte ich den Unterschied im Ton und der Grundstimmung. Sergei aus Russland schrieb: »Frauen mögen mich nicht. Ich kriege sie einfach nicht in eine enge Beziehung und dann zu sexuellen Handlungen.« Oh Sergei, ich glaube, ich erkenne dein Problem. Ich antwortete ihm, dass er allein dadurch, dass er an Julia schrieb, eine weichere und sensiblere Seite an sich zeige, und dass er vielleicht daran arbeiten müsse, diese auch den Frauen zu zeigen.
»Liebe Julia«, schrieb ein Junge. »Es tut mir so leid, dass jeder seine Hand auf deine Brust legt. Das ist wirklich dumm. Du bist echt süß, und du lässt die Leute an die wahre Liebe glauben. Danke.«
Charmanter konnte ein junger Mann nun wirklich nicht sein.
Zuweilen ging es auch um Übersetzungsprobleme. Ein chinesisches Mädchen schrieb über ihren englischen Freund und die Schwierigkeiten, mit ihm zu kommunizieren. Sie sprach fließend Englisch, hatte aber Probleme, Zwischentöne zu verstehen. »Englisch zu sprechen«, schrieb sie, »ist, wie unter Wasser zu sein. Wenn ich Mandarin spreche, ist es, als würde ich auftauchen und Luft holen.«
Gegen Ende des Vormittags erschien Giovanna in der Tür. Sie musterte mich schweigend.
Schließlich sagte sie: »Glenn, mit dem hier habe ich ein paar Probleme.« Sie legte einen Brief vor mich auf den Tisch. Ich sah mit Stolz, dass er aus Kanada kam. »Ich bin mit einem Mann verheiratet, der manchmal ein ganz schöner Dämlack sein kann.«
»Dieses Wort«, sagte Giovanna, auf »Dämlack« deutend, »ich verstehe es nicht.«
»Das ist Umgangssprache«, sagte ich und grinste sie an. Sie blieb ungerührt. »Es ist eine Art, also …«, stammelte ich. »Ich kann ihn beantworten, wenn du willst, und vielleicht kannst du dafür diesen hier übernehmen?«
Ich kramte durch einen Stapel und fand meinen allerersten Brief, den von der Frau, deren Mann gestorben war, der Brief über Larry. Giovanna überflog ihn. »Ja«, sagte sie, »den kann ich beantworten.« Sie verschwand mit dem Brief in der Hand im Gang, und ich hörte, wie sie das Wort »Dämlack« vor sich hin murmelte und es sich in ihren Sprachschatz einverleibte.
Ich arbeitete fast den ganzen Nachmittag durch und fühlte mich überwältigt von all dem Herzschmerz in den meisten der Briefe. Das hier sollte eigentlich Spaß machen und etwas sein, von dem ich meinen Schülern erzählen könnte, wenn ich wieder zurück nach Kanada ging. Aber es ging um mehr. Ich suchte nach Mustern in meinem eigenen Denken. Ich wollte von diesen Briefen lernen. Ich suchte nach Hinweisen darauf, wie ich mich in meiner eigenen Situation verhalten sollte und musste mir eingestehen, dass ich der Sache noch nicht näher gekommen war.
Gegen vier Uhr hatte ich genug. Ich packte meine Sachen und ging nach vorne. Im Eingangsbereich blickte Giovanna von ihrem Tisch auf. Wieder hatte sie dort allein gesessen und Briefe beantwortet.
»Oh«, sagte sie aufstehend, »du bist ja noch da. Kannst du mir mit etwas helfen?«
»Klar.«
Sie ging hinter den Empfangstresen. »Hier«, sagte sie, auf einen Karton deutend, »könntest du den für mich raustragen?«
Der Karton war wie all die anderen mit Briefen gefüllt. Oben war er offen, auf der Seite stand mit schwarzem Filzstift geschrieben: SENZA INDIRIZZO. Ich zwängte meine Finger unter den Karton, um ihn anzuheben – das Ding wog sicherlich an die 50 Kilo.
»Wo soll ich den denn hintragen?«
»In mein Auto. Warte, lass mich schnell die Schlüssel suchen«, sagte sie und kramte in ihrer Handtasche herum.
Ich kämpfte mich nach draußen und versuchte zu verhindern, dass einer der Briefe herausfiel. Vor dem Haus öffnete Giovanna die Beifahrertür ihres Autos. »Hier, rein damit.«
Ich ließ den Karton auf den Sitz fallen. »Was bedeutet senza?«, fragte ich, richtete mich auf und streckte meine schmerzenden Finger. »Senza soundso?«
»Senza indirizzo. Das bedeutet, dass es keinen Absender gibt. Diese Briefe können wir nicht beantworten.«
»Aber«, sagte ich und folgte ihr zurück ins Büro, »wo bringst du die denn jetzt hin?«
»Ins Fegefeuer«, sagte sie.
»In die Hölle? Du bringst sie in die Hölle?«
Giovanna schüttelte den Kopf. »Nein nein, wie heißt doch gleich dieses Wort … Feueranlage?«
»Verbrennungsanlage?«
»Ja, das ist es. Wir schmeißen sie nicht einfach auf den Müll. Dafür sind sie zu … wichtig.«
»Aber da gibt es doch sicherlich noch einen anderen …«
Giovanna starrte mich an, und ich verstummte für einen Moment. Dann erinnerte ich mich. »In Romeo und Julia«, sagte ich, »gibt es einen Brief, der nicht zugestellt wird. Er ist das Einzige, das diese ganze Tragödie hätte verhindern können.«
Ihr Blick wurde weicher. »Setz dich«, sagte sie. »Ich will dir etwas erzählen.«
Ich sank auf einen der Stühle, die um den runden Tisch standen.
»Es ist traurig«, begann sie, »dass all diese Leute das Gefühl haben, der Person, die sie lieben, nichts von ihren Gedanken erzählen zu können. Stattdessen schreiben sie an Julia.«
»Julia ist nicht real«, sagte ich.
»Nein, das ist sie nicht. Aber sie ist ein Symbol.«
»Das verstehe ich.«
»Weißt du noch, was ich dir an deinem ersten Tag gesagt habe?«
»Dass ich ein Wahrsager sein soll?«
»Nein, davor.«
»Du sagtest, dass es den Leuten oft schon reicht, einfach nur zu schreiben.«
Sie nickte. »Wir sind alle Menschen. Wir alle spüren Liebe. Vielleicht haben die Absender das Gefühl, dass sie ihre Nachrichten nicht an jene Leute schicken können, die sie am meisten hören sollten, aber es ist ihnen genug, dass jemand, irgendjemand, ihre Sorgen hört.«
»Aber sie brauchen eine Antwort. Gibt es nicht irgendwas, das wir tun können?«
»Wenn es keinen Absender gibt, können wir ihnen nicht antworten. Aber wenn es einen gibt, können wir ihnen eine Bestätigung für ihre Gefühle geben.«
»Aber ist Bestätigung genug?«
»Fürs Erste schon. Sie sind überwältigt, verstehst du? Sie alle fühlen Liebe, und es ist an uns, ihnen unsere Aufmerksamkeit zu schenken.«
»Das stimmt wohl.«
»Was wir hier machen, ist eine ehrenvolle Sache.«
Ich wusste, was sie versuchte mir zu sagen. Trotzdem erschien mir diese ganze Sache auch ein bisschen wie eine trostlose Schufterei. »Ja«, antwortete ich und hatte das Gefühl, noch ein »gnädige Frau« hinzufügen zu müssen, tat das aber nicht.
»Und jetzt«, sagte sie und deutete auf den Stapel Briefe, der vor ihr lag, »habe ich Arbeit zu erledigen. Ja?«
»Okay.«
»Va bene.« Giovanna schürzte ihre Lippen, rückte ihre Brille zurecht und widmete sich dem nächsten Brief. Ich ging zur Tür.
»Werden wir dich morgen wiedersehen?«, fragte sie, mich ansehend, kurz bevor ich ging.
»Natürlich«, sagte ich. »Ich werde da sein.«
Mehr als zwanzig Jahre lang habe ich (meistens) willigen Schülern Shakespeare nähergebracht. Am Anfang hatten sie immer alle diese Bringen-wir’s-hinter-uns-Haltung, aber nach ein paar Zeilen waren sie meistens total begeistert – vor allem von Romeo und Julia. Das lag auch daran, dass ich ihnen stets zu Beginn sagte, noch vor der ersten Kampfszene, dass es ein paar sehr schmutzige Witze geben würde.
Ich verriet ihnen natürlich nicht, wo die Witze waren, aber bei Zeile 26 senkte ich meine Stimme, hob meine Augenbrauen ein wenig, und ein oder zwei Schüler kapierten, was los war. Ich hörte merkwürdig schüchternes, unterdrücktes Gekicher und sah, wie sich die anderen Zehntklässler umsahen, um zu kapieren, was sie verpasst hatten. Danach saßen sie alle kerzengerade und hörten aufmerksam zu.
Ich habe meinen Schülern immer gesagt, dass Shakespeare diese wiederkehrenden Witze absichtlich eingebaut hatte, so, wie ich es nun auch tat. Im London des späten sechzehnten Jahrhunderts war alles südlich der Themse eine übel beleumdete Gegend. Dort befanden sich die Tavernen und Bärenkampfarenen und die – lasst es mich nicht aussprechen, Kids – Frauen der Nacht. Die Prostituierten. Viele der Schüler sahen mich mit schreckgeweiteten Augen an. Lustig, man würde erwarten, dass Teenager rebellischer wären oder zumindest mit nonchalanter Coolness reagieren würden, aber diese Erfahrung habe ich nie gemacht. Sie waren fast alle strenge Moralisten.
Die Jungs waren am schwersten zu begeistern, aber ich hatte meine Tricks. Am Anfang von Romeo und Julia gibt es diesen Straßenkampf zwischen den Montagues und den Capulets. »Devin«, rief ich. Devin war der laute Junge, der ganz hinten in der Mitte saß, in der Reihe gleich an der Tür. Bei den Diskussionen in der Klasse übernahm er meistens die Führung und debattierte wie ein Politiker, dabei sah er aus wie Woody, der Cowboy aus Toy Story.
»Devin«, sagte ich, »komm mal bitte nach vorne!«
Devin sah mich an, als wittere er eine Falle. Sein Gesicht war ein See aus Sommersprossen, und er befand sich in jenem Stadium der Adoleszenz, in dem er sich viel erwachsener fühlte, als er war. Er starrte mich an wie ein Revolverheld. Er wusste, dass in einem Klassenzimmer der Platz vor der Tafel die Bühne des Lehrers war. Die Schüler waren das Publikum, das passiv hinter Tischen saß. Ich nahm einen hölzernen Zeigestock von der Kreideablage der Tafel, hob ihn hoch und ließ ihn ein paarmal durch die Luft sausen, als sei er ein Schwert. »Na los, komm her«, sagte ich.
Devin trottete misstrauisch nach vorne. »Lass uns die Kampfszene nachspielen«, sagte ich und richtete den Zeigestock auf ihn.
Seine Augen leuchteten. »Wirklich?«
»Klar, los geht’s.«
Ich reichte ihm den Zeigestock, während sich unter den anderen Jungs der Klasse zustimmendes Gemurmel erhob. Dann schleuderte ich ihm die Beleidigung entgegen, die den Kampf beginnen lässt: »Bohrt Ihr uns einen Esel, mein Herr?«
»Was?«, fragte Devin.
Ich nahm ein Lineal von meinem Tisch, das sehr viel kürzer war als Devins Zeigestock. »Ich sagte: Bohrt Ihr uns einen Esel, mein Herr?«
Devin stand da und ließ den Zeigestock hängen.
»Sag Ja«, flüsterte ich.
»Ja?«
»Dann nehmt dies!« Ich sprang ihm entgegen, einen Hieb andeutend. Die Schüler brachen in Jubel und Gelächter aus. Wir parierten ein paarmal vor und zurück, das hölzerne Lineal klickte und klackerte. Dann rief ich Sadia auf.