Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Julia Palmer hat alles erreicht, was sich eine Frau wünschen kann: Sie ist glücklich verheiratet und beruflich erfolgreich. Sie freut sich auf einen unbeschwerten Sonntag, ohne zu ahnen, dass sich an diesem Tag alles ändern wird. Zufällig erfährt sie nämlich, dass ihr Mann Robert ein Kind mit einer anderen Frau hat. Doch Julia versteht zu kämpfen, sie verlässt ihren Mann und konzentriert sich ganz auf ihren Beruf in der Modebranche. Mit dem galanten Grafen Pierre de Cateuaunac verbringt sie wunderbare Tage in Paris. Das Leben zeigt sich ihr wieder von der schönen Seite. Als sie jedoch erfährt, dass Roberts kleine Tochter dringend Hilfe braucht, wird ihr klar, dass es Wichtigeres im Leben gibt als Glanz und Luxus. Sie muss über ihren Schatten springen und wieder auf Robert zugehen.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 344
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Marie Louise Fischer
Saga Egmont
Wie neu geboren
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1993 by Lübbe Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711740132
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Als sie erwachte, wußte sie nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ein Traum hielt sie umfangen, der sie zutiefst erschreckt hatte. Ihr Herz klopfte heftig, aber immerhin erkannte sie nun, daß es nur ein Traum gewesen war.
Er hatte fröhlich begonnen. Sie war ein kleines Mädchen gewesen, schöngemacht, in einem weißen, reich gesmokten Kleidchen. Glänzende braune Locken waren auf ihre Schultern gefallen. Sie hatte sich wie eine Prinzessin gefühlt inmitten anderer, ebenfalls herausgeputzter Kinder. Ein Fest wurde gefeiert. Was für ein Fest?
Julia konnte sich nicht mehr erinnern. Aber es hatte im Freien stattgefunden. In einem Garten? Einem Park? Einem Hinterhof?
Waren Erwachsene dabeigewesen? Sicher nicht. Ein Erwachsener wäre ihr bestimmt zu Hilfe gekommen.
Julia lag mit geschlossenen Augen da, angestrengt bemüht, den bösen Traum zu bannen.
Jemand hatte ihr im Traum ein Tuch vor das Gesicht gebunden. Kräftige kleine Hände stießen sie um sich selbst herum, bis ihr schwindelig wurde und sie ins Taumeln geriet.
Noch war alles zum Lachen, ein Spiel. Blinde Kuh. Sie wußte, sie mußte nun versuchen, die anderen zu fangen.
Alle waren zum Greifen nahe. Sie zupften sie an ihrem schönen Kleid und an den Locken. Jemand stupste sie sogar mit dem Finger auf die Nasenspitze. Aber wenn sie jemanden erhaschen wollte, streifte sie immer nur vorbei.
Doch plötzlich hatte sich die Szene geändert, ohne daß sie es sogleich gemerkt hätte. Sie war fortgefahren, die Hände auszustrecken, sich um sich selbst zu drehen, hierhin und dorthin ein paar Ausfallschritte zu machen, bis sie endlich begriff, daß niemand mehr da war. Alle hatten sie verlassen. Sie war ganz allein. Und die Binde um ihren Kopf war wie ein eiserner Ring.
Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor. Entsetzen packte sie. Ihr war, als wäre sie ausgestoßen und geächtet — für immer.
Julias Herzschlag beruhigte sich. Es war nur ein Traum gewesen, ein ganz dummer Traum, der nichts zu bedeuten hatte.
Oder doch? Die Augenbinde trug sie noch immer. Julia faßte sich an die Stirn.
»Nein«, ertönte eine kühle, helle Stimme, »Frau Palmer, das dürfen Sie nicht. Der Herr Professor hat es Ihnen doch erklärt, nicht wahr?« Julia fühlte, wie jemand ihr Handgelenk umfaßte und ihren Arm sanft, aber energisch hinunterdrückte. »Haben Sie das ganz vergessen?«
Julia versuchte, die Augen zu öffnen, aber es gelang ihr nicht. »Ich weiß gar nicht, wo ich hier bin«, erwiderte sie.
»Tatsächlich nicht?« Die kühle Stimme klang erstaunt.
»Nein, Schwester, ich …« Julia brach ab, weil ihr etwas an ihren eigenen Worten sonderbar erschien.
»Also doch. Sie sind ganz nahe dran, Frau Palmer. Ich bin Schwester Heidrun, und Sie liegen hier in der chirurgischen Klinik von Professor Kellermann.«
»Ich hatte einen Unfall?«
»Aber nicht doch. Ganz im Gegenteil! Sie haben sich einer Schönheitsoperation unterzogen.«
Allmählich, ganz allmählich kam die Erinnerung zurück. »Ich habe es also wirklich gewagt?« fragte sie ungläubige.
»Ja, das haben Sie, Frau Palmer.«
Sie hatte sich also freiwillig operieren lassen. Plötzlich überkam sie Angst. Wenn sie nun entstellt war? Sie hatte von solchen Fällen gehört und gelesen. Die Furcht setzte sich wie ein Alp auf ihre Brust, so daß sie kaum noch atmen konnte.
Es schien, als könnte Schwester Heidrun ihre Gedanken lesen. »Und es ist alles gutgegangen«, erklärte sie beruhigend. »Der Herr Professor war sehr, sehr zufrieden. Jetzt müssen Sie aber brav mithelfen, damit alles gut verheilen kann.«
Julia spürte, wie ihr ein Röhrchen in den Mund geschoben wurde.
»Nehmen Sie einen Schluck, das wird Ihnen guttun. Keine Angst, in ein paar Tagen können Sie wieder aus der Tasse trinken.«
Gehorsam saugte Julia und kam sich dabei ein wenig wie ein Baby vor. Das Getränk schmeckte ihr köstlich, obwohl sie nicht recht definieren konnte, was es war. Frisch gepreßter Apfelsinensaft? Vielleicht.
»So, jetzt ist’s genug.« Das Röhrchen wurde ihr wieder entzogen. »Jetzt sollten Sie noch ein bißchen schlaffen.«
»Aber ich bin gar nicht mehr müde.«
»Das werden Sie gleich wieder sein, Frau Palmer.«
»Wieviel Uhr ist es denn?«
»Halb zwei.«
»Und heute früh bin ich operiert worden?«
»Nein. Gestern. Aber hören Sie auf zu fragen. Sprechen ist nicht gut für Sie. Entspannen Sie sich lieber.«
»Ich werde es versuchen, Schwester.«
»Recht so. Ich bleibe bei Ihnen.«
Mit einem Seufzer streckte Julia die Glieder. Ich liege also hier in der Klinik von Professor Kellermann im schönen Allgäu. Umsorgt und behütet. Kein Grund zur Panik also.
Während die Minuten, die Stunden, die Tage vergingen, döste Julia vor sich hin. Manchmal schlief sie auch tief und fest ein. Wenn sie schließlich erwachte, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Und dann überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf: Was hatte sie hierher gebracht? Wie war sie zu dem Entschluß gekommen, sich liften zu lassen?
Wenn Professor Kellermann kam, wurden die Verbände gewechselt, ohne daß man ihr erlaubte, in den Spiegel zu sehen oder ihr Gesicht auch nur zu betasten.
»Geduld, meine Liebe!« forderte der Professor immer wieder. »Folgen Sie meinem Rat: um mit den Problemen des Lebens fertig zu werden, braucht es in erster Linie Geduld. Knifflige Fragen lassen sich nicht übers Knie brechen.«
Schwester Heidrun oder eine ihrer Kolleginnen gaben ihr zu trinken, bald schon nicht mehr aus dem Röhrchen, sondern aus einer Schnabeltasse. Man führte sie zur Toilette und wusch sie mit lauwarmem Wasser von Kopf bis Fuß.
Es kam kein Besuch für sie, nicht einmal ein Anruf; sie hatte niemandem anvertraut, wohin sie sich zur »Erholung« begeben hatte. Das Radio einzustellen reizte sie nicht. Es quäkte, so fand sie, zu aufdringlich nahe an ihrem Ohr. Zudem war sie nicht in der Lage, einen Sender zu bestimmen, sondern hätte sich damit begnügen müssen, was der Leiter der Klinikzentrale für gut und richtig befand. So verziehtete sie lieber.
Julia hatte Zeit, viel Zeit. Sie konnte sich nicht erinnern, je eine solche Muße gehabt zu haben. Sie war durch ihr Leben gesaust, so jedenfalls kam es ihr vor, ohne auch nur einmal zu verschnaufen. In den letzten Jahren hatte sie sogar das Kunststück fertiggebracht, sich zu schminken, ohne sich dabei wirklich anzusehen. Sie wußte, der Anblick würde ihr nicht gefallen, und so kniff sie dabei innerlich die Augen zu.
Wann hatte es angefangen? Sie war ein so schönes Mädchen gewesen. Nein, darin täuschte sie sich nicht. Sie sah sich noch vor sich: langbeinig, braun gelockt, mit diesen tiefblauen Augen, die Robert »Veilchenaugen« genannt hatte. Ach ja, wie lange das her war!
Aber schon viel früher, als sie noch das kleine Julchen Heinkes gewesen war, hatten alle sie vergöttert: der Vater, ein einfacher Mann, der ihr keinen Wunsch abschlagen konnte, und die Mutter, die stundenlang an der Nähmaschine gesessen hatte, um ihr die schicksten Modelle zu schneidern, die sie im Laden nicht erstehen konnte. Immer war sie wie ein Püppchen gekleidet gewesen. Selbst in Jeans oder Overalls sah sie adrett und hübsch aus, als ginge es nicht zum Spielplatz oder zur Schule, sondern geradewegs zum Laufsteg.
Es gab Kinder, die sie deswegen gehänselt oder sogar mit Dreck beschmissen hatten. Aber sie hatte sich nichts daraus gemacht.
»Ihr seid ja nur neidisch!« hatte sie zurückgegeben und den Kopf in den Nacken geworfen, daß ihre glänzenden Locken nur so flogen.
Das war tatsächlich ihre feste Überzeugung gewesen, die sie gegen Pöbeleien gänzlich unverletzlich machte. Sie war immer die Schönste von allen gewesen, in jeder Klasse und in jeder Gruppe. Sehr viel eleganter als die rundliche Annelore, die sich als Tochter eines Fabrikbesitzers alles leisten konnte, aber es einfach nicht verstand, sich richtig zu kleiden.
Es war jedoch nicht so gewesen, als hätte Julia nur Neider und Spötter um sich gehabt. Im Gegenteil! Sie war beliebt gewesen. Sie hatte sich ja auch niemals aufgespielt. Schön zu sein war für sie eine Selbstverständlichkeit, und sich so hübsch wie möglich anzuziehen, gehörte einfach dazu. Sie hatte nie begriffen, daß es Menschen gab, die sich nicht darum bemühten. Ein Kleid in der richtigen Form, eine Jacke in der passenden Farbe konnte doch sogar aus dem unansehnlichsten Mädchen etwas machen. Was konnte man doch nicht schon allein mit einem schönen Seidentuch zaubern!
Bei den Lehrern hatte sie durch die Bank mit ihrem gepflegten Auftreten Mißtrauen erregt. Ihre Schulleistungen waren schlecht beurteilt worden — schlechter, als sie es verdient hatte, denn sie war alles andere als eine dumme Gans. Aber das gesamte Lehrerkollegium war sich darin einig gewesen: von einem Mädchen, das nur Kleider im Kopf hatte, war nichts Gutes zu erwarten.
Ihr hatte auch das nichts ausgemacht, denn sie hatte nur den einen Wunsch gehabt: so schnell wie möglich die Schule hinter sich zu bringen. Für sie waren ModezeitSchriften von jeher sehr viel interessanter gewesen als ein Gesehichts-oder gar ein Algebrabuch.
Schon als kleines Kind hatte Julia mit einer vorn abgerundeten Schere bunte Modelle ausgeschnitten und, auf Packpapier, ganze Szenen mit ihnen geklebt und arrangiert, Später hatten sie und ihre Mutter die neuesten Trends mit heißen Wangen studiert: Welche Richtung würde sich durchsetzen und welche im Sand verlaufen? Vor allem aber: Wie konnte man mit einfachen Mitteln ein teures Modell imitieren?
Ja, es war ihre Mutter gewesen, Johanna Heinkes, die ihr den Sinn für Mode vererbt, anerzogen und gefördert hatte.
Der große Kummer, der sie beide verband: Wo und wann hätte Julia die umwerfenden Abendroben, das raffinierte Cocktailkleid oder den verwegenen Strandanzug tragen können? Sie zu schneidern, hätte die Mutter sich durchaus zugetraut, doch es bot sich einfach keine Gelegenheit, diese Modelle auch zu tragen.
Dann kam die Tanzstundenzeit und damit die Versuchung, den vorgegebenen kleinbürgerlichen Rahmen zu sprengen. Julia widerstand, wenn auch nur schweren Herzens. Sie war schon modebewußt genug, um zu erkennen, daß overdressed genauso ein Fehler war, wie schlecht angezogen zu sein. So wurden ihre Tanzstundenkleidchen nur ein wenig raffinierter als die der anderen. Und ihre Abendkleider für den Mittel- und den Abschlußball blieben, so elegant sie auch waren, doch immer noch jungmädehenhaft.
Nur in ihren Tagträumen — und denen hing sie häufig nach — kam Julia ganz groß heraus. Da war sie ein paar Jahre älter, mindestens zwanzig, trug lange Kleider, die tief ausgeschnitten waren, kühne Minis, die ihre langen Beine zur Geltung brachten, und strenge, fast maskuline Reitanzüge. Reiterdreß — warum? Als kleines Mädchen wäre sie gern geritten, aber nie hatte das Geld dafür gereicht. Doch in ihren Träumen konnte sie reiten, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes gemacht. Sie trug die Breeches und die Lederstiefel, die Peitsche mit dem silbernen Knauf unter dem Arm, mit einer Anmut und Selbstverständlichkeit, die ihresgleichen suchte. Und das bedeutete ihr mehr, als in Jeans und Pulli auf einem richtigen Pferd zu sitzen.
Als Kind hatte Julia sich gewünscht, wie die Mutter zu werden, die immer so glücklich war, wenn sie mit der großen Schere Stoffe zuschnitt oder ihre altmodische Nähmaschine rattern ließ. Johanna Heinkes bestärkte sie darin, das Schneiderhandwerk von Grund auf zu erlernen — was ihr selbst nicht vergönnt gewesen war. Sie hatte sich alles selbst beigebracht.
Doch machte es sie nervös, wenn die Tochter ihr helfen wollte; kein Stich war ihr fein, keine Naht akkurat genug. Es war bitter für das kleine Mädchen zu erleben, daß alles, was sie mühevoll und mit immer feuchter werdenden Händen erarbeitet hatte, spätestens am nächsten Tag wieder aufgetrennt wurde. Zuerst geschah das heimlich, und es dauerte lange, bis Julchen dahinterkam. Es gab einen bösen Streit, und beide, Mutter und Tochter, vergossen Tränen. Sie versöhnten sich aber bald wieder. Sie hatten es ja beide nur gut gemeint. Aber Julchen hatte die Lust an Nadel und Faden verloren.
»Macht nichts!« tröstete die Mutter sie. »Warum sollst du dich auch jetzt schon damit plagen? Warte, bis du in die Lehre kommst!«
Von der Mutter angespornt, blieb das Schneiderhandwerk nach wie vor bis in die Teenagerzeit das Ziel der kleinen Julia. Das jedenfalls erzählte sie ihren Freundinnen und den Lehrern. Ihre Träume und Hoffnungen gingen jedoch weit darüber hinaus. Sie wollte Designerin werden, selbst Mode machen und entwerfen.
Aber dann starb die Mütter, und in Julias Leben tat sich ein tiefer Abgrund auf. Plötzlich — sie wußte selbst nicht, warum — war ihr die Schneiderei verhaßt. Für die Mutter — Johanna hatte auch für fremde Leute genäht — war es doch eine Fron gewesen. Stunde um Stunde hatte sie an ihrer Maschine gesessen, über die Stoffbahnen gebeugt, und hatte den feinen Staub der zerschnittenen Gewebe eingeatmet. Womöglich hatte sie dadurch ihre Lunge ruiniert, da sie, trotz der Mahnungen des Doktors, von dieser Arbeit nicht lassen wollte.
Mit ihren sechzehn Jahren fühlte Julia sich alt. Eine Schneiderlehre würde drei Jahre dauern, bis zur Meisterprüfung noch mindestens weitere vier, rechnete sie sich aus. Der Weg über eine Modeakademie kam schon aus finanziellen Gründen für sie nicht in Frage. Sieben Jahre harter und — wie sie sich eingeständ — ungeliebter Arbeit, das war für sie zu viel. Es mußte einen leichteren Weg zur Mode geben.
Der Spiegel zeigte ihr diesen Weg. Sie war hoch gewachsen, hatte schmale Hüften, eine schlanke Taille und einen festen Busen. Alles, was sie trug, kam bei ihr bestens zur Geltung. Und so reifte in ihr der Entschluß heran, Mannequin zu werden.
Sie erbettelte vom Vater die Erlaubnis, eine Mannequinschule besuchen zu dürfen. Sie wohnten damals in Ratingen, und zum Unterricht mußte sie täglich nach Düsseldorf fahren. Schon das allein erfüllte ihn mit Sorge. Aber bei all ihrer Schönheit war Julia so frisch, so unbefangen, so unschuldig, daß er schließlich doch nachgab. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen hatte sie noch nichts mit Jungen im Sinn — es gab einfach niemanden, der ihr gefiel. Julia wartete auf ihren Traumprinzen. Sie rauchte nicht, noch trank sie, und Drogen kamen für sie überhaupt nicht in Frage.
Es erstaunte sie nicht, daß in die Schule auch Mädchen und junge Frauen aufgenommen worden waren, die kaum die Voraussetzungen für den angestrebten Beruf erfüllten. Sie dachte nie über die anderen nach, nur über sich selbst.
Erst die Leiterin, eine Frau von Kreuth, machte ihr diese Tatsache bewußt. »Meine Damen, wer in diesen Unterricht kommt«, pflegte sie zu sagen, »hat damit nicht die Garantie in der Tasche, Karriere als Mannequin oder als Model zu machen. Es wäre verantwortungslos von uns, Sie das glauben zu lassen. Aber keiner Frau kann es schaden, wenn sie das Beste aus sich herauszuholen gelernt hat.«
Die Schülerinnen, ob dünn oder mollig, klein oder groß, waren jedenfalls alle mit Feuereifer bei der Sache. Sie bemühten sich, ihre Haltung zu verbessern, lernten Schritte, Wendungen, Bewegungen und Posen, die Kunst des Schminkens und Frisierens.
Aber nur einer von ihnen, nämlich Julia, konnte Frau von Kreuth nach dem Abschluß ein ernsthaftes Angebot machen; ein Pariser Couturier suchte ein neues Gesicht für seine nächste Kollektion.
Julia würde nie vergessen, was für widersprüchliche Gefühle in jenem Augenblick auf sie eingestürmt waren: irrsinniges Glück, es so rasch geschafft zu haben; Erstaunen, daß wirklich ihr das passierte; Angst, der Vater könnte es verbieten; ein schlechtes Gewissen, ihn allein zu lassen, und Unsicherheit, weil sie kein Französisch konnte.
Frau von Kreuth begriff, wie überwältigt das junge Mädchen war. »Ich kann Ihnen natürlich nichts garantieren«, sagte sie einschränkend. »Sie müssen sich erst einmal vorstellen. Bisher hat man nur Ihre Mappe begutachtet. Aber immerhin ist man bereit, Ihnen die Fahrt zu finanzieren, und das bedeutet, unserer Erfahrung nach, schon sehr viel.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Julia leise.
Frau von Kreuth hob fragend die schön geschwungenen Augenbrauen.
»Mein Vater würde mir das nie erlauben.«
»Und wenn ich mit ihm spräche?«
»Ich könnte ihn auch nicht so einfach verlassen. Es ist noch kein Jahr her, daß meine Mutter gestorben ist.«
Damit war die Entscheidung gefallen. War sie richtig gewesen? Wäre ihr Leben nicht in ganz anderen Bahnen verlaufen, wenn sie ihren Vater angefleht hätte, sie doch reisen zu lassen? Ganz gewiß. Aber sie war nicht der Typ, der über Leichen ging, weder damals noch jetzt. Doch immer wieder hatte es in ihrem Leben Momente gegeben, in denen sie bereute, der schillernden Versuchung nicht nachgegeben zu haben. Inzwischen sah sie ein, daß sie der großen Freiheit damals noch nicht gewachsen gewesen wäre. Denn so reif sie sich auch gefühlt hatte, den Freundinnen mit ihren albernen Liebschaften weit überlegen, sie war doch zu jung gewesen.
Frau von Kreuth schien derselben Ansicht zu sein, denn sie drängte nicht weiter in sie. »Schade«, meinte sie nur, »aber ich kann es verstehen. Wenn Sie denn unbedingt in Ratingen bleiben wollen …«
Julia hätte beinahe erwidert, daß es ihr genügen würde, wenn sie abends oder vielleicht auch nur am Wochenende nach Hause kommen könnte. Doch rechtzeitig begriff sie, daß es höflicher und auch klüger war, Frau von Kreuth nicht ins Wort zu fallen.
» … dann wäre wohl eine Anstellung bei der Firma ›Pro vobis‹ für Sie das richtige. Die Firma ist noch jung, drängt mit hochwertiger Mode auf den Markt. Das könnte sehr interessant für Sie werden.«
Vom Pariser Starmodel, denn als solches hatte sie sich schon gesehen, zum Hausmannequin in der Provinz, das war eine bittere Enttäuschung, und entsprechend hatte sich wohl auch ihre Miene verzogen. Was ein Hausmannequin war, wußte sie nur zu gut: ein Mädchen, das dem Modeschöpfer für Anproben zur Verfügung zu stehen hatte, nebenbei aber allerlei Bürokram erledigen mußte. Mit dem Glanz des Laufstegs hatte das nichts mehr zu tun.
Frau von Kreuth schien ihre Gedanken zu erraten. »Ich weiß, viele von euch jungen Damen scheuen die Arbeit im Büro«, sagte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. »Ich habe das immer für einen Fehler oder auch ein bemerkenswertes Stückchen Faulheit gehalten. Im Herzen einer Firma tätig zu sein, verschafft einem Einblicke in das Innerste des Betriebes, in die Mechanismen von Einkauf, Fertigung und Verkauf, die Sie als Außenseiter nie bekommen würden. Halten Sie sich vor Augen, Julia: Mannequin kann man nicht ewig bleiben. Es ist deshalb viel klüger, von Anfang an zweigleisig zu fahren.«
Julia war vernünftig genug gewesen, das zu begreifen. Wenn sie auch nicht gerade einen Luftsprung machte, als sie die Stellung bei »Pro vobis« tatsächlich bekam, war sie doch recht froh darüber gewesen. Es bedeutete für sie, daß sie bei dem Vater und in der vertrauten Umgebung bleiben, den Kontakt mit ihren Freundinnen aufrechterhalten konnte, nicht mehr auf Taschengeld angewiesen war, sondern von nun an ein festes Gehalt bezog.
Im übrigen behielt Frau von Kreuth recht: Was sie über die Probleme der Damenmode und ihre Herstellung lernte, sollte Julia für ihr ganzes späteres Leben von Nutzen sein.
Bei diesem Gedanken glitt Julia, ohne es zu merken, ins Land der Träume hinüber.
Als sie erwachte, wußte sie nicht, für wie lange sie eingeschlafen war. Stunden? Oder hatte sie nur ein kurzes Nickerchen gemacht? Das Licht im Zimmer, das sie durch die dünne Mullbinde hindurch wahrnahm, hatte sich jedenfalls kaum verändert.
Sie hatte nichts geträumt — zumindest nichts, was ihr im Gedächtnis geblieben wäre. Aber sie erinnerte sich noch gut daran, was ihr vor dem Einschlafen durch den Kopf gegangen war, und knüpfte daran an.
Ihr Eintritt bei »Pro vobis«, eine imposante alte Villa am Stadtpark mit hohen Räumen und stuckverzierten Decken. Ihr Büro unterhalb der breiten Marmoftreppe, das früher wohl ein Diensthotenzimmer gewesen war. Dazu gehörten ein Kabinett mit Toilette und Waschbecken, in dem sie ihren Mantel aufhängen und ihre Tasche lassen konnte. Ein vergittertes Fenster zum Hof hinaus. Ihr Stuhl mit dem Rücken dazu, ein einfacher Tisch, eine Schreibmaschine, Karteikästen — Computer waren zu der Zeit noch nicht so verbreitet —, Regale mit Ordnern an der Wand zum Aufgang hin, an der freien Wand ein Modeposter, farbenfroh und elegant. Sie sah das alles noch genau vor sich.
Und ihre Vorgesetzten und Mitarbeiter? Wie sie heute waren, hätte sie genau beschreiben können: Elvira Hagen, die Seele des Unternehmens; Dr. Hagen, ihr Mann; Roland Marquard, der Couturier; Ilse-Lore Schneider, seine Gehilfin, die ständig mit einem besteckten Nadelkissen hinter ihm herscharwenzelt war, beflissen und voller Bewunderung. Inzwischen hatte sie längst seine Stellung eingenommen, war hart und selbstsicher geworden, eine Frau, die sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen ließ.
Aber wie waren sie damals gewesen? Damals — vor gut fünfundzwanzig Jahren. Sosehr Julia sie jetzt auch haßte, sich von ihnen betrogen, belogen und gedemütigt fühlte, sie mußte sie einmal sehr sympathisch gefunden und ihnen vertraut haben, besonders der Chefin. Ansonsten wäre sie sicher nicht so lange bei der Firma geblieben, und »Pro vobis« hätte nicht eine so große Rolle in ihrem Leben gespielt. Inzwischen wußte sie, daß Elvira ein rücksichtsloses Biest war. Wäre ihr das damals schon bewußt gewesen, hätte sie die Stelle gewechselt. Aber sie war der Firma treu geblieben. Demnach mußte sie Elvira wirklich gemocht haben.
Quälend langsam stieg das Bild der jungen Elvira Hagen vor ihrem geistigen Auge auf.
Ja, Elvira war jung gewesen, als Julia ihre Stellung bei »Pro vobis« angetreten hatte, obwohl sie es damals nicht so empfunden hatte. Sie selbst, ein halbes Kind noch, hatte in der Chefin, die Mitte zwanzig gewesen sein mochte, eine reife, überlegene Frau gesehen. Sie war hübsch gewesen, schlank und zierlich, mit ihrem damals noch naturblonden Haar. Sie war ständig in Bewegung gewesen, sprunghaft wie eine Katze, sprühte voller Ideen, mit unruhigen braunen Augen.
Ihr Mann, der mehr als sie von Finanzen und Buchführung verstand, schien sich in erster Linie der Aufgabe zu widmen, ihre rasch aufflammende Begeisterung zu dämpfen und ihr Tempo zu mäßigen. Er war schon in jungen Jahren ein schwerfällig wirkender Mann mit einem braunen Hundeblick gewesen.
Julia hatte von Anfang an den Eindruck gehabt, daß er sie mochte und daß er, wenn die Chefin mit ihr unzufrieden war, ein gutes Wort für sie einlegte. Dabei war er allerdings sehr vorsichtig und diplomatisch vorgegangen. Wenn sie allein waren, lächelte er ihr freundlich zu, hatte hin und wieder ein aufmunterndes Wort für sie und erlaubte sich sogar auch schon einmal einen Scherz, um sie zum Lachen zu bringen. In Gegenwart seiner Frau beachtete er sie jedoch überhaupt nicht. Obwohl der Aufbau von »Pro vobis« ohne ihn nicht denkbar gewesen wäre, stand er bei Elvira unter dem Pantoffel.
Mit Roland Marquard hatte Elvira es nicht so leicht. Er war der einzige in der Firma, der ihr Widerstand entgegenbrachte. Er war sehr schweigsam, ein kultivierter blasser Mensch mit auffallend schönen langen Händen, verlor nie ein unnötiges Wort, konnte sich aber ausgesprochen stur stellen, wenn es um Materialien, Stoffe, Schnitte und Trends ging. Obwohl Elvira das Sagen hatte, setzte er sich meistens durch. War dies nicht der Fall, stellte sich in der Regel im nachhinein heraus, daß er recht gehabt hatte. Elvira schenkte dem keine Beachtung, und er versagte es sich, bei der nächsten Auseinandersetzung darauf anzuspielen.
Ilse-Lore hingegen vergötterte den Meister. Jede seiner Ideen und seiner Anweisungen saugte sie in sich auf. Nur selten wagte sie selbst einen Vorschlag.
Wenn Julia, das Ende eines Seidenballens locker um sich drapiert, dastand — Marquard liebte es, die Wirkung eines Stoffes auf diese Weise abzuschätzen und sich davon inspirieren zu lassen — sagte Ilse-Lore zuweilen: »Man sollte ihn vielleicht bauschig verarbeiten!« oder »Ich stelle mir die Taille leicht gerafft vor!«
Aber keine ihrer Anregungen wurde von Marquard je aufgegriffen; selten gab er zu erkennen, daß er sie auch nur gehört hatte.
Julia schwieg. Sie war um eine anmutige Haltung bemüht, stellte ein Bein leicht vor und drehte sich in den Schultern, wenn der Designer es von ihr erwartete.
Natürlich hatte sie eigene Ideen, was aus diesem oder jenem Stoff am besten zu machen wäre. Nicht umsonst hatte sie sich jahrelang mit der Mutter über modische Effekte unterhalten und ihr beim Zuschneiden und Verarbeiten der Stoffe zugesehen. Aber sie wußte, daß ihre Ansichten hier, unter Fachleuten, nicht gewünscht waren. Jedoch empfand sie sehr stark den Reiz, der von einem ganz neuen, noch unversehrten Stoff ausging, und genoß es, ihn auf der Haut, seinen kostbaren Geruch in der Nase zu spüren.
Wenn er erst einmal zugeschnitten und zusammengeheftet war, verlor sich dieses Gefühl. Es war anstrengend, leblos wie eine Puppe dazustehen, während Marquard hier einen Kreidestrich anbrachte, dort eine Naht löste oder eine Nadel steckte. Sie konnte sich dabei selbst im Spiegel beobachten, aber selten erkannte sie, was diese kaum merklichen Änderungen bewirkten. Sie war dann froh, wenn sie endlich entlassen wurde und in ihr Büro zurückkehren durfte, wo sich, wie ihr schien, die Arbeit inzwischen angehäuft hatte.
Bei der zweiten und dritten Anprobe, wenn man das Kleid, die Jacke, die Hose oder den Mantel schon durchaus im Ansatz erkennen konnte, wurde es für sie interessanter. Sie durfte sich bewegen, um das gute Stück voll zur Geltung zu bringen, merkte auch selbst, wenn die Taille nicht saß, die Schultern zu breit geschnitten waren oder die Rocklänge nicht stimmte. Aber sie verkniff sich jede Bemerkung darüber, wenn sie nicht direkt gefragt wurde.
Einmal sagte der Meister, während er eine Naht aufriß: »Hören Sie, warum haben Sie sich nicht beklagt? Der Bund muß doch gekniffen haben.«
»Das schon. Aber ich war sicher, Sie würden es selbst bemerken.«
Es war einer der ganz seltenen Augenblicke, wo Marquard ihr freundlich in die Augen sah. »Gutes Mädchen«, lobte er sie lächelnd.
Diese Anerkennung gab ihr die Sicherheit, daß sie mit ihrer passiven Haltung richtig lag.
Die Anproben waren mühevoll, aber das Wissen darum, daß alle Modelle von »Pro vobis« ihr auf den Leib geschneidert wurden, gab ihr auch eine angenehme Genugtuung. Andererseits wurde sie dadurch auch gezwungen, ihre Linie auf den Millimeter genau zu halten. Einmal hatte sie, ohne sich etwas dabei zu denken, zu viele Weintrauben gegessen, und ihr Bauch hatte sich gebläht.
Das hatte bei dem stillen, ausgeglichenen Marquard fast zu einem Nervenzusammenbruch geführt.
»Was ist mit Ihnen?« hatte er geschrien. »Was ist passiert? Sagen Sie mir nicht, Sie erwarten ein Baby. Das dürfen Sie nicht! Das wäre eine Katastrophe!«
Julia war über seine Reaktion erschrocken gewesen, gleichzeitig aber auch geschmeichelt. Ihr Verstand sagte ihr, daß sich notfalls auch ein anderes Mädchen mit einer guten Figur finden lassen würde. Aber sie hielt es doch auch für möglich, daß gerade sie den Designer inspirierte. Jedenfalls war sie froh, ihn beruhigen zu können.
Er nahm ihre Erklärung gnädig an, grollte aber doch noch, als sie sich entschuldigt hatte: »Machen Sie das nie wieder, Julia.«
Während Julia im Bett lag und die Vergangenheit aufleben ließ, überkam sie das Gefühl, damals herumgeschubst worden zu sein. Seinerzeit hatte sie das jedoch nicht so empfunden, dessen war sie sicher. Die Julia von damals hatte mit der heutigen Julia kaum etwas Zu tun.
Sie war so ausgesprochen passiv gewesen. Wann hatte sich herausgestellt, daß sie Verantwortung übernehmen und organisieren konnte? Als sie noch ein junges Mädchen war, hatte sich nicht eine Spur dieser Fähigkeiten gezeigt. Sie hatte immer nur das, was ihr gesagt worden war, getan und war dabei ganz zufrieden gewesen.
Die Firma steckte noch in den Anfängen. Elvira Hagen hatte gerade erst begonnen, Modenschauen zu organisieren, vorwiegend im Rhein-Ruhr-Gebiet und in Norddeutschland. Immerhin war der Ruf von »Pro vobis« so gut, daß hin und wieder Einkäufer aus den umliegenden Städten nach Ratingen kamen und sehen wollten, was von der neuen Kollektion schon vorzeigbar war. Das waren Julias große Stunden.
Sie durfte die neuen Modelle vorführen, und sie tat es mit Begeisterung. Der große Flur im ersten Stock wurde bis auf die nötigen Sitzgelegenheiten an den Wänden geräumt. Es gab noch ein paar niedrige Tische vor den Sesseln und Sofas, auf denen für die Besucher Gläser, Getränke und Aschenbecher standen.
Hinter einer verglasten Schiebetür zog sich Julia blitzschnell um, und Ilse-Lore half ihr dabei. Dann schritt sie gelassen und anmutig durch den Flur. Sie wurde für diese Auftritte nicht besonders geschminkt, denn niemand hatte Interesse an ihrer Person oder ihrem Gesicht. Alle Augen waren nur auf Sitz und Schnitt der einzelnen Modelle gerichtet.
Auf ihrem Rückweg zur Schiebetür wurde sie häufig von der Chefin umgeschickt, weil sie den Kunden — meist waren es Frauen — Gelegenheit geben wollte, die Stoffe genauer zu prüfen. Das war für Julia keine angenehme Aufgabe. Obwohl ihr klar war, daß es gar nicht um sie selbst ging, fühlte sie sich doch wie eine Sklavin, die auf dem Markt feilgeboten wurde. Wenn Elvira Hagen, die ihre Schwäche kannte, ihr nicht hie und da einen mahnenden oder aufmunternden Blick zugeworfen hätte, wäre ihr Lächeln gefroren und hätte sich zu einer Maske verzerrt.
Davon abgesehen machte ihr das Vorführen der exquisiten Modelle Spaß, die ihr wie angegossen paßten und tatsächlich auch ihrem eigenen modischen Empfinden entsprachen. Darüber hinaus wertete sie es als persönlichen Erfolg, obwohl niemand aus dem Haus ihr das zugestand, wenn die Kunden großzügig orderten. Sie wußte, daß niemand die Kleidungsstücke besser zur Geltung bringen konnte als sie selbst.
Als die Chefin eine große öffentliche Modenschau in der Stadthalle plante, war Julia Feuer und Flamme, während die anderen Bedenken hatten. Dr. Hagen schreckten die Kosten, Marquard zweifelte an dem Erfolg, und Ilse-Lore, die sich weder mit der Chefin noch mit dem Couturier anlegen wollte, hielt sich bedeckt.
Aber auch diesmal setzte Elvira Hagen ihren Willen durch. Die Miete für die Halle, rechnete sie ihrem Mann vor, würde durch die Einnahmen voll gedeckt sein. Sie war sicher, daß das Ratinger Publikum modebewußt und neugierig genug auf die Erzeugnisse der ortsansässigen Firma war, um für die Eintrittskarten gesalzene Preise zu zahlen. Ausgewählte Modehäuser im näheren Umkreis sollten Ehreneinladungen erhalten; für sie würden die vorderen Reihen reserviert sein. So würde man drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: den Bekanntheitsgrad der Firma steigern, die Presse auf sich aufmerksam machen und Kunden ködern.
Nachdem das Stadium der Planung überwunden war und Dr. Hagen sein Einverständnis gegeben hatte, begannen die Vorbereitungen für den großen Tag. Verträge mit der Stadtverwaltung mußten geschlossen, Einladungen entworfen und gedruckt und Mannequins engagiert werden. Elvira Hagen entwickelte ein grandioses Organisationstalent, und Julia war eine so gelehrige Schülerin und Assistentin, wie man sie sich nur wünschen konnte.
Doch als sie erfuhr, daß sie nicht vorführen, sondern nur hinter den Kulissen helfen sollte, war sie zutiefst enttäuscht. Sie verstand die Welt nicht mehr.
»Sie sind bei uns als Hausmannequin engagiert«, erinnerte die Chefin sie kühl.
»Aber das schließt doch nicht aus …«
»Unserer Meinung nach schon«, unterbrach Elvira Hagen sie.
»Aber ich habe doch gelernt, Kleidung zu präsentieren, und ich habe auch schon bewiesen, daß ich es kann.«
»Darum geht es ja gar nicht, Julia.«
»Nennen Sie mir einen Grund, nur einen einzigen Grund, warum es schaden würde, wenn ich auf den Laufsteg gehe!«
Elvira wurde ein wenig verlegen. »Nun, um die Wahrheit zu sagen, Marquard fürchtet, Sie könnten verdorben werden.«
»Verdorben?« schrie Julia. »Wie das?«
»Sie könnten Ihre natürliche Anmut verlieren«, sagte die Chefin und zuckte die Schultern.
»Er hat Angst, ich könnte nicht mehr das brave Schäfchen bleiben, mit dem er umspringen kann, wie er will.«
»Das ist zwar ein bißchen drastisch ausgedrückt, aber so ähnlich sieht er es wohl. Nehmen Sie es ihm nicht übel. Wir alles wissen, daß er seine Marotten hat. Aber er ist unser wichtigster Mitarbeiter. Ein Künstler. Wir müssen ihn bei Laune halten.«
»Und ich bin also ganz und gar unwichtig?«
»Nein, sind Sie nicht. Er sagt, Sie inspirieren ihn so, wie Sie sind, und gerade deshalb …«
»Nein«, sagte Julia mit einer Entschiedenheit, die sie selbst überraschte. »Das lasse ich mir nicht bieten! Ich bin nicht Mannequin geworden, um mir in einem lausigen Atelier die Beine in den Leib zu stehen! Wenn ich in der Stadthalle nicht mit auftreten darf, kündige ich!«
Elvira Hagen war sich darüber im klaren, daß Julia es ernst meinte. Sie war inzwischen volljährig und somit nicht mehr an den Vater und die Heimatstadt gebunden. Mit ihrem Aussehen würde sie anderswo leicht eine neue Stellung finden. Somit wäre es sinnlos gewesen, die Auseinandersetzung weiterzuführen. Und wenn Elvira Hagen etwas haßte, dann war es Energieverschwendung.
»Sie setzen mir die Pistole auf die Brust«, sagte sie und seufzte tief.
»Sie haben mich dazu gezwungen«, verteidigte sich Julia.
»Also schön, mein Einverständnis haben Sie. Aber tun Sie mir den Gefallen und versuchen Sie, es Herrn Marquard so schonend wie möglich beizubringen.«
Der Wunsch, die Modelle, die ihr auf den Leib geschneidert waren und die sie liebte, nun selbst einem großen Publikum vorführen zu dürfen, war so verständlich, daß der Couturier außerstande war, ihn abzuschlagen. Die offene Bewunderung, mit der Julia sich über seine Kreationen ausließ, konnte ihn nur freuen. Da ihr sehr viel daran lag, ihn freundlich zu stimmen, schreckte sie nicht einmal davor zurück, ihm zu schmeicheln. Er ergab sich gnädig.
Da die sechs anderen Mannequins von auswärts kamen und sehr teuer waren, wurden für die Proben, die ein Ballettmeister leitete, nur drei Tage angesetzt, aber diese drei Tage hatten es in sich. Die jungen Frauen tanzte und wiegten sich zum Rhythmus der Musik, bis ihnen jeder einzelne Muskel weh tat. In den Pausen mußten Julias Kolleginnen immer wieder einzelne Modelle anprobieren. Hier mußte eine Falte beseitigt, dort eine Nadel gesteckt werden, damit bei der Modenschau dann auch wirklich alles perfekt war.
Die Vorführung sollte am Samstag abend um zwanzig Uhr beginnen. Zwei Stunden vorher mußten sich die Mannequins in die »Maske« begeben, um geschminkt zu werden. Julia erkannte sich danach kaum wieder. Die Augen waren mit starken Lidschatten bedeckt, umrahmt von langen künstlichen Wimpern, und ihre Lippen leuchteten in grellem Rot. Am liebsten hätte sie sich die Schminke wieder abgewischt.
»Nein, nein, Mädchen, das muß so sein!« beschwichtigte sie die Maskenbildnerin, die Elvira Hagen eigens zu diesem Anlaß engagiert hatte. »Bedenken Sie, die Zuschauer in der ersten Reihe sitzen doch mindestens drei Meter von der Bühne entfernt, von den hinteren Plätzen ganz zu schweigen. Wir müssen schon ganz tief in den Farbtopf greifen, wenn Sie nicht wie ein unscheinbares Nichts wirken wollen.«
Trotzdem machte Julia ein unglückliches Gesicht.
Elvira Hagen steckte den Kopf durch die Tür. »Fertig, Julia? Gleich kann’s losgehen. Wir sind ausverkauft!«
Schon war sie wieder verschwunden, und Julia hörte, wie in der Garderobe nebenan ihre Kolleginnen begeisterte Rufe ausstießen, als Elvira Hagen ihnen die gleiche Nachricht verkündete.
Plötzlich stieg in ihr ein seltsames Gefühl auf, das ihr die Glieder schwer wie Blei machte. »Ich kann nicht«, stammelte sie, »ich kann es nicht … so auftreten.«
»Auch das noch! Reißen Sie sich um Himmels willen zusammen!«
»Aber wenn ich doch nicht kann.«
»Mädchen, Mädchen, das ist doch nur das Lampenfieber. Das ist ganz normal.«
»Ich habe noch nie Lampenfieber gehabt.«
»Dann ist es heute eben das erste Mal. Sie werden sich schon noch daran gewöhnen.« Die Maskenbildnerin gab ihr einen gutgemeinten, aber durchaus nicht sanften Stoß in die Rippen. »Jetzt stehen Sie auf und sehen Sie zu, daß Sie hinter die Bühne kommen.«
Julia taumelte gehorsam zur Tür.
»Hals- und Beinbruch, Kindchen!« rief ihr die Maskenbildnerin hoch nach.
Hinter dem Vorhang drängten sich die Mannequins. Die meisten waren nervös, wenn auch nicht so sehr wie Julia; einige wenige blieben ganz ruhig und gelassen.
»Nehmt eure Ausgangsposition ein!« befahl der Ballettmeister. »Und los geht’s!«
Musik ertönte, und der Vorhang wurde geöffnet. Die Mannequins tanzten, alle sieben auf einmal, hintereinander auf die Bühne, Sie wurden beklatscht und waren sich bewußt, reizend auszusehen in ihren knappen MiniShorts und den farbenfrohen Miedern.
Julia, die ernstlich geglaubt hatte, zu keiner Bewegung fähig zu sein oder — schlimmer noch — beim ersten Schritt zu stolpern, fühlte sich von einer Sekunde zur anderen von allen Ängsten befreit. Ihr war, als wäre ihr ganzer Lebensweg auf dieses eine Ziel ausgerichtet: sie auf die Bühne zu bringen. Sie fühlte sich ausgesprochen gut, und das strahlende Lächeln, das ihren Mund umspielte, war nicht aufgesetzt, sondern es kam aus ihrem Innersten. Sie war glücklich wie noch nie.
Dieses Hochgefühl hielt auch während des Umziehens an, als sie in die Tageskleider schlüpften. Dabei mußten sie sehr vorsichtig sein, um nichts durch Schminke zu verderben oder die kunstvollen Frisuren zu zerstören. Ungeduldig ließ Julia sich die Haare richten und die Nase pudern; sie brannte darauf, wieder im Rampenlicht zu stehen.
Die Modenschau dauerte fast zwei Stunden. Die gesamte Kollektion wurde vorgeführt: Strandgarderobe, lange Hosen, Jacken, Röcke und Blusen, Cocktailkleider und schließlich die anspruchsvollen Abendroben. Die Mannequins erschienen in immer neuen Formationen, mal einzeln, mal in kleinen Gruppen oder auch alle zusammen. Nicht der kleinste Zwischenfall störte den Ablauf. Julia war die Zeit noch nie im Leben so schnell vergangen. Ihr war, als hätte sie endlos so weitermachen können.
Viel zu schnell kam für sie das Schußbild, in dem sie ganz allein auf der Bühne erscheinen sollte, in einem traumhaft schönen Brautkleid.
Marquard selbst ließ es sich nicht nehmen, ihr beim Umziehen zu helfen. Er zupfte ihr den Rock zurecht, obwohl das ganz unnötig war. »Jetzt tun Sie, bitte, gar nichts«, mahnte er sie, »keine Mimik, keine Bewegung, keinen Tanzschritt, bitte! Tun Sie einfach so, als wäre das Publikum Ihr Bräutigam.«
»Ja, ja, ich weiß«, sagte Julia, denn auch das hatte sie schon mehrfach zu hören bekommen.
Jemand kämmte ihr das Haar zurück und setzte ihr einen Myrthenkranz auf, ein anderer drückte ihr ein Blumenbukett in die Hand und richtete die Schleppe.
Als der Vorhang aufgezogen wurde, empfing sie Applaus, der sich zu einer wahren Ovation steigerte. Die Zuschauer standen auf und warfen ihr bewundernde Blicke zu. Flüchtig bemerkte Julia einen jungen Mann in dunklem Anzug, blond und hochgewachsen, der ihr geradezu frenetisch applaudierte.
Sie war von ihrem eigenen Erfolg berauscht.
Ihre Hochstimmung hielt noch an, als die Mädchen sich nach der Schau gegenseitig und besonders ihr gratulierten. Auch Bemerkungen wie: »Kunststück! In einem Brautkleid hat noch jede Erfolg gehabt!« konnten sie nicht trüben. Sie schloß daraus auf nichts weiter als blanken Neid.
Marquard nahm sie, was sie nie erwartet hätte, in die Arme und küßte sie auf beide Wangen; Tränen schimmerten in seinen Augen.
Dr. Hagen klopfte ihr väterlich auf die Schulter. »Gut gemacht, Julia!«
Daß die Chefin sich gar nicht äußerte, fiel Julia nicht auf. Elvira Hagen schien sehr beschäftigt, jedes Stück der Kollektion auf eventuelle Schäden zu prüfen und auf den Kleiderständern aufzureihen. Inge-Lore half ihr dabei. Für die Einkäufer sollte es noch eine Fachvorführung am nächsten Morgen geben.
Auch diese Modenschau stand Julia noch durch, ohne daß ein Tröpfchen Wermut in die Süße ihres Erfolgs fiel. Es machte ihr nichts aus, daß Sonntag war und sie — sie hatte am Abend zuvor sehr lange mit ihrem Vater gesprochen — nicht ausgeschlafen und Muskelkater hatte. Unermüdlich, strahlend und beschwingt schritt sie auf und ab. Sie blieb auch stehen, wenn es gewünscht wurde. Ohne mit der Wimper zu zucken, ließ sie es über sich ergehen, daß die Stoffe, die sie trug, zwischen Daumen und Zeigefinger geprüft wurden.
Als der Tag vorbei war, hatte sie immer noch so viel Elan, im Dauerlauf nach Hause zu rennen.
»Du bist überdreht«, sagte der Vater und goß ihr einen Baldriantee auf.
Sie trank ihn, nicht weil sie ihn benötigte, sondern um den Vater nicht zu kränken. Seine Fürsorge rührte sie. Aber essen mochte sie nicht, und er drängte sie auch nicht dazu. Sie ging früh zu Bett, aber sie konnte nicht einschlafen. Am liebsten wäre sie wieder aufgestanden, unterließ es aber, um den Vater nicht zu beunruhigen, und glitt schließlich doch ins Reich der Träume hinüber.
Am nächsten Morgen erwachte Julia, ohne daß der Wecker geklingelt hatte. Sie hatte ihn nicht gestellt, weil man ihr einen freien Tag gegeben hatte. Das fiel ihr aber erst nach einigem Überlegen wieder ein.
In der Wohnung war es sehr still, der Vater war längst zur Arbeit gefahren, und plötzlich überkam sie ein Gefühl der Verlassenheit.
Es war ihr bewußt, daß sie Grund genug hatte, glücklich zu sein. Aber sie war es nicht. Warum nicht? Die Modenschau war doch ein Erfolg gewesen. Sie war gefeiert worden. Warum also war sie jetzt so niedergeschlagen?
Niedergeschlagen war für Julias Zustand gar kein Ausdruck; es war ihr, als wäre sie aus schwindelnder Höhe in einen gähnenden Abgrund gestürzt. Sie war ausgesprochen deprimiert.
Es dauerte lange, bis sie sich dazu aufraffte, ihr Bett zu verlassen. In der Küche goß sie sich eine Tasse Kaffee auf. Sie trank im Stehen und bekam kalte Füße. Sie hatte vergessen, in ihre Hausschuhe zu schlüpfen, brachte aber nicht einmal die Energie auf, das riachzuholen. Sie empfand den zu heißen Kaffee und die kalten Füße als eine gerechte Strafe. Für was? Was hatte sie denn verbrochen?
Am liebsten hätte Julia sich wieder in ihrem Bett verkrochen und den Kopf unter die Decke gesteckt. Aber es war schon elf Uhr vorbei, sie wußte, sie würde nicht wieder einschlafen können. Sie mußte jetzt irgend etwas tun und durfte sich nicht so gehenlassen.
Julia beschloß schließlich, die Wohnung aufzuräumen und zu putzen. Dazu war sie am vergangenen Wochenende nicht gekommen. Hausfrauenarbeit machte ihr keine Freude. Gewöhnlich pflegte sie sich dabei mit einem Liedchen zu ermuntern. Doch heute kam kein Ton über ihre Lippen.
Als endlich das letzte Staubkörnchen entfernt, die letzte Kachel abgewischt war, fühlte sie sich besser — aber immer noch schlecht genug. Sie ließ sich ein Bad einlaufen und lag lange im heißen Wasser, ohne die Glieder entspannen zu können. Dann tauchte sie unter und wusch sich das Haar — ein probates Mittel gegen Anfälle von leichten Depressionen, unter denen sie gelegentlich litt. An diesem Tag half es jedoch wenig.
Immerhin konnte sie den Vater später adrett und gepflegt, den Anflug eines Lächelns um die Lippen, empfangen.