19,99 €
Tel Aviv 2008. Nach dem Tod ihrer Großmutter steht die junge Radiojournalistin Mia vor einem Wendepunkt. Von ihrem Sender wird sie nach Tel Aviv geschickt. Hier lernt sie den Kameramann David kennen, Sohn polnisch-bulgarischer Juden. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch David ist verheiratet und er hat eine Tochter, die er kurz zuvor adoptiert hat. Mit David stellt sich Mia langsam ihrer eigenen Familiengeschichte, vor allem dem Verlust ihrer Mutter, der ihr als Siebenjährige widerfuhr. Fernab der Heimat sucht Mia Antworten auf Fragen, die sie seit ihrer Kindheit begleiten, hofft auf eine Versöhnung mit der Vergangenheit. In dem stets bedrohten Land Israel und in der Liebe zu einem Mann sucht sie nach ihrem Platz, um die Leerstelle, die die Mutter hinterlassen hatte, zu schließen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tel Aviv 2008. Die junge Radiojournalistin Mia steht an einem Wendepunkt. Von ihrem Sender wird sie nach Tel Aviv geschickt. Hier lernt sie den Kameramann David kennen, Sohn polnisch-bulgarischer Juden. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch David ist verheiratet und hat eine Tochter, die er kurz zuvor adoptiert hat. Dennoch scheint die Begegnung für die beiden unausweichlich. In der Liebe zueinander sehen sie sich mit ihren Lebensthemen konfrontiert. David beschäftigt das Schicksal seines bulgarischen Großvaters im Zweiten Weltkrieg, während sich Mia mit dem frühen Tod ihrer Mutter und auch ihres Onkels auseinandersetzt. Doch nicht allein David hilft Mia, sich der Vergangenheit zu stellen. Auch in Ruth, einer Freundin der Familie, die in ihrer Jugend nach Israel ausgewandert ist, begegnet Mia einem wichtigen Menschen. Im Gespräch mit ihr nähert sich Mia ihrer Mutter – und damit sich selbst.
Der Roman von Christiane Wirtz lebt von der beeindruckenden Imaginationskraft, mit der das Leben und die Liebe einer Frau geschildert wird. Einer Frau, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren Weg geht.
© Heike Steinweg
Christiane Wirtz studierte Rechtswissenschaften in Berlin. Sie arbeitete als Journalistin für die Süddeutsche Zeitung und den Deutschlandfunk. Als freie Journalistin war sie ein Jahr in Tel Aviv tätig. 2014–2016 war sie stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung. Danach wechselte sie als Staatssekretärin ins Bundesjustizministerium. Seit 2020 ist Christiane Wirtz Schriftstellerin und lebt in Berlin.
CHRISTIANEWIRTZ
WIESCHWERWIEGTEINSCHATTEN
ROMAN
E-Book 2025
© 2025 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von §44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © Aida Salehi Art
Satz: Angelika Kudella, Köln
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1078-0
www.dumont-buchverlag.de
»Würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier weitergehen soll?«
»Das hängt im Wesentlichen davon ab, wohin Du möchtest«, sagte die Katze.
In ihrem ersten Leben hieß sie Kalina. Wer ihr diesen Namen gegeben hatte, konnte niemand sagen. Vielleicht eine Mutter, die zu jung war, um Mutter zu sein. Vielleicht eine Mutter, der es an Zuversicht fehlte, das Mädchen in Armut großzuziehen. Vielleicht waren es auch die Frauen in dem bulgarischen Waisenhaus, als sie den Säugling in ihre Obhut nahmen. Wer wusste das schon. Die Frauen sagten nicht viel, als David Kalina dort abholte. Zu viele Münder wollten gestopft werden, da blieb keine Zeit für Ahnenforschung. Nach dem Leben der Frauen fragte ja auch keiner.
Nur ein einziges Mal hat er von dieser Reise erzählt. Es war Winter gewesen, das Waisenhaus lag in einem Dorf in der Nähe von Plovdiv, die Straßen waren von Schnee bedeckt. David hatte sich von seinem Vater einen Anzug geliehen, schließlich würde er an jenem Tag selbst Vater werden. Der Anzug war zu klein und kein Schutz gegen die Kälte. Wenn er die Hände am Steuer des ramponierten Mietwagens hielt, klaffte ein breiter Streifen nackter Haut zwischen den Ärmeln und den Knöcheln seiner Handgelenke. Ich dachte an die Super-8-Filme meiner Kindheit, doch dieser hier hatte keine Farbe, niemand lachte in die Kamera. Die Aufnahme war leicht verschleiert, ein zweijähriges Mädchen auf dem Boden eines fensterlosen Gymnastiksaals, es saß mit geradem Rücken, die Beine von sich gestreckt, und sah David an.
»Sie war fast zwei und konnte noch nicht laufen.«
David nahm sie auf. Er gab ihr einen neuen Namen, Shiri, ein neues Leben. So wie man Menschen, die schwer krank waren, in Israel den Namen »Chaim« gab. Chaim wie »das Leben«. Shiri wie »mein Lied«.
1
Zwei Jahre später, als Shiri vier Jahre alt war, lernte ich David kennen.
An jenem Morgen war ich auf dem Weg ins Studio in den Tola’at Sfarim gegangen, den Bücherwurm, eine Buchhandlung mit Café am Rabin-Platz. Ich setzte mich an einen der quadratischen Tische nahe der Bar und bestellte bei Anat einen Hafouch, einen israelischen Cappuccino. Das Café erstreckte sich über einen lang gezogenen Raum, an dessen Ende Sprossenfenster den Blick auf einen kleinen schattigen Hof freigaben. Am frühen Morgen waren wenige Gäste hier, einzelne hebräische Worte erklangen, Tassen und Teller klapperten, eine Radiostimme mischte sich ein. Der Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen, gebratenen Spiegeleiern, sie kamen sunny-side-up aus der Küche.
Die englischsprachige Haaretz lag vor mir, auf dem Titel Nachrichten aus Gaza, in den vergangenen Tagen waren wieder Menschen gestorben. Die Hamas feuerte Kassams in den Süden Israels. Ein Kommentator bezeichnete die jüdische Bevölkerung in Sderot als »sitting ducks«, leicht anzugreifende Ziele. Er diskutierte die Optionen der israelischen Regierung: eine militärische Intervention, indirekte Verhandlungen mit der Hamas, und kam zu keiner eindeutigen Antwort. »There is no abracadabra«, war der Artikel überschrieben. Ich blätterte um, sah auf die Rückseite; als ich nichts von Interesse fand, riss ich die fett gedruckten Lettern heraus. Eine Angewohnheit aus jener Zeit, in der ich noch Collagen machte.
Ich legte sie auf die dicke Glasplatte über dem alten Holztisch, fuhr mit dem Daumen über die Zauberformel.
a-bra-ca-da-bra
a, b, c, d
lateinisches Alphabet
Während ich darüber nachdachte, dass die Spätantike dem Alphabet magische Kraft zugeschrieben hatte, ließen sich doch mit Buchstaben alle Dinge der sichtbaren und unsichtbaren Welt benennen, schweifte mein Blick durch das bodentiefe Fenster nach draußen.
Auf dem breiten Gehweg unter den Arkaden stand eine Frau. Sie war klein und eher mager als schlank, vielleicht Mitte fünfzig, über ihren Schultern hingen zwei große Werbetafeln, wie sie Schausteller früher auf Jahrmärkten getragen hatten. Sie bedeckten ihren Körper fast vollständig. »Dream reading« stand in großen Buchstaben darauf geschrieben.
Darunter ihre Telefonnummer.
»Das ist Nancy.« Er saß am Tisch neben mir und war meinem Blick nach draußen gefolgt, streckte mir die rechte Hand entgegen. »Ich bin David. Und wer bist du?«
»Mia.«
Er war ein groß gewachsener Mann mit breiten Schultern und einem Gesicht, das immer in Bewegung schien. In seinen hellen olivgrünen Augen lag Vertrauen, etwas Vertrautes, das ich nicht zu fassen wusste. Wenn ich später an David dachte, an meinen ersten Eindruck von ihm, fiel mir ein Wort ein, das er mir beigebracht hatte. »Ben Adam«, wörtlich »Sohn Adams«, so nannte David einen Menschen, der dem Leben mit ganzem Herzen gegenübertrat, sich nicht wegduckte, in guten und in schlechten Zeiten. Ein »Ben Adam«, das war ein Mensch.
David hatte mit Nancy, der Frau mit den großen Schildern, schon häufig gesprochen.
»Nur einer, der so verrückt ist wie ich, ruft sie tatsächlich an.«
Ihre Gespräche folgten einer eigenen Dramaturgie. David erzählte seinen Traum. Nancy konzentrierte sich auf den Affenbrotbaum an einer Klippe, die Mauersegler in einer Straßenschlucht oder den Schriftzug einer Nachricht und fragte ihn, wo ihm dieses Detail in seinem Leben schon einmal begegnet sei. Manchmal deutete sie den Traum in zwei, drei prägnanten Sätzen, einer Unke gleich, und legte auf. Manchmal schwieg sie ins Telefon, gab David Zeit, seine Frage selbst zu beantworten. Er wusste von ihr nicht mehr als ihre Nummer.
»Vor einigen Wochen habe ich geträumt, dass ich durch einen tropischen Wald irre und meinen Wagen suche. Die Blätter und Äste der Bäume versperren den Weg und die Sicht, ich irre stundenlang durch das Dickicht. Endlich finde ich meinen Wagen, öffne die Türe zum Rücksitz, und der Kindersitz ist verschwunden.«
»Und?«
»Ich denke, jemand will mir etwas nehmen, was mir wertvoll ist«, sagte er, während sich seine Stirn in Falten legte. »Die Idee für meinen Film vermutlich.«
David war überzeugt, dass das Leben voller Zeichen steckte, die es nur zu deuten galt. Und das tat er.
»Du bist Regisseur?«
»Kameramann«, sagte er, ohne von seiner Tasse aufzusehen.
Ich wartete, dass er weitersprach. »Und du willst einen eigenen Film machen?«
»Seit ich zum ersten Mal im Kino war.« Er sah mich an. »Aber Menschen wie ich, die hinter der Kamera stehen, haben große Angst, diesen Platz zu verlassen und selbst die Regie zu übernehmen.« Er lenkte seine Aufmerksamkeit nun auf mich. »Und du? Träumst du auch?«
Ich dachte an meinen Traum der vergangenen Nacht. Er begleitete mich, seit meine Großmutter gestorben war. Darin stehe ich am Grab meiner Familie und komme dort nicht weg. Kann mich nicht bewegen, meine Füße sind wie eingewachsen in die dichte Grasnarbe, meine Beine stocksteif. Vor mir liegt der Grabstein, ein Quader aus grauem Granit, nur dass darauf keine Namen stehen, keine Daten, sondern Punkte wie bei einem Spielwürfel. Die Engelsstatue, die sich dahinter erhebt.
Auch in dieser Nacht war ich von dem Traum aufgewacht, ich hatte mich eine Weile hin und her gewälzt, war schließlich aufgestanden, um mich von dem Bild zu befreien, von diesem Gefühl der Ohnmacht, das es begleitete. Ich hatte ein Glas Wasser getrunken, mich angezogen und war rausgegangen. Raus aus dieser Wohnung, die mir auf einmal erdrückend klein erschienen war. Raus auf den Boulevard Ben Gurion, auf die menschenleere Straße. Kaum war ich am Strand angekommen, hatte ich meine Schuhe abgestreift und war über den Sand gelaufen, am Meer entlang, mit aller Wut, aller überschüssigen Energie, die sich in mir aufgestaut hatte. Als hätte ich meine ganze Kraft gegen jenen Stillstand aufbringen wollen, den mir das Bild vermittelte.
»Träumst du?«, fragte David noch einmal. Er hatte mich nicht aus den Augen gelassen.
»Gelegentlich«, sagte ich. Tatsächlich hatte ich noch nie mit jemandem über meine Träume gesprochen.
Er zuckte mit den Schultern.
»Träume können hilfreich sein«, sagte er. »Sie setzen die Logik aus. Manchmal zeigen sie Auswege, auf die man sonst nicht gekommen wäre.«
In seinem Blick lag eine solche Arglosigkeit, dass ich sicher war, er würde auch für meinen Traum eine beruhigende Erklärung finden. Zur Not würde er wohl selbst zum Spaten greifen und die Grasnarbe aufbrechen. Ich erzählte ihm von dem Spielwürfel im Friedhofsgras, dessen Augen mich anstarrten.
»Wie ist das Wetter in deinem Traum?«, fragte er nach einer Weile und mit einer solchen Ernsthaftigkeit, als beschäftigte er sich in seinem Leben mit nichts anderem.
»Das Wetter?«
»Ja, das Wetter, das Licht«, sagte er mit Nachdruck. »Du bist doch nicht von hier.«
»Nein.«
»Du bist aus Deutschland.«
Ich nickte.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte er und deutete mit seinem Kinn auf den Block, der auf dem Tisch neben der Haaretz lag. »Spiralblock«, las David langsam und sah mich fragend an. »Das klingt nach Jeckes.«
»Und was hat das mit dem Wetter zu tun?«
»Deutschland kenne ich aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg, da ist immer alles grau. Auch in deinem Traum?«
»Nein, im Gegenteil, es ist eher hell und warm.«
Tatsächlich war das Licht wie bei der Beerdigung meiner Großmutter. Die war vor sechs Monaten gewesen, im August des vergangenen Jahres. Die Sonne hatte geschienen, das Licht war schwer und wohlwollend vom Himmel gefallen. Ein Tag im Altweibersommer. Meine Großmutter hätte ihn gemocht.
»Ich denke, das ist ein gutes Zeichen«, sagte David.
»Das ist alles?«
»Langsam, langsam«, sagte er und atmete tief durch die Nase ein, wobei er den Kopf in den Nacken legte. »Ich glaube, du willst dich an etwas erinnern.« Er lächelte. »Oder etwas vergessen.«
Im Nachhinein dachte ich, häufig sind es die Tage, die so belanglos daherkommen, die das Leben verändern.
2
Mit dem Scherut, einem der gelben Kleinbusse, die als Sammeltaxi dienten, fuhr ich von Tel Aviv nach Jerusalem. Dort sollte am frühen Abend eine Pressekonferenz zum Besuch der deutschen Kanzlerin stattfinden. Sie war eine der ersten Gratulantinnen zum sechzigsten Geburtstag Israels, kam zwei Monate vor dem eigentlichen Jahrestag und noch vor dem amerikanischen Präsidenten.
Ich sah auf die goldene Uhr an meinem Handgelenk. Der kleine Zeiger kurz vor der Fünf, der große auf der Sechs. Die Sonne fiel von der Seite durchs Fenster, das Blatt glänzte, es war rund, vielleicht zwanzig Millimeter im Durchmesser. Vier schmale Ziffern markierten die Viertel. Jeden Morgen, wenn ich aus dem Bad kam, nahm ich die Uhr vom Nachttisch, legte das schmale Netzarmband um mein linkes Handgelenk, drehte die Krone zwischen meinen Fingerkuppen. So wie meine Mutter es mir gezeigt hatte. Ich erinnerte mich an ihren schlanken Zeigefinger, wie er über das Saphirglas fuhr, den schwertförmigen Zeigern folgte. Wenn der kleine Zeiger. Und wenn der große Zeiger.
Jemand tippte mir von hinten auf die Schulter. Ein älterer Herr mit einer beigen Schirmmütze reichte mir zwei Zehn-Scheckel-Münzen, deutete mit dem Kinn nach vorne, auf dass ich das Geld an den Fahrer weiterreichte.
Am Zions-Tor stieg ich aus, lief zum King David Hotel. Am Nachmittag hatte die Kanzlerin in der Knesset gesprochen. Dieses Privileg war bislang Staatspräsidenten vorbehalten, die Geschäftsordnung des Parlaments eigens für diesen Anlass geändert worden.
Martin, der das Studio in Israel leitete, war dort gewesen. Er schrieb eine SMS, die Pressekonferenz beginne in einer Stunde, er sei auf dem Weg ins King David, bat mich, den Beitrag für die Sendung um 23.10Uhr zu machen. Er werde kommentieren. Ich ging durch die Hotellobby, an deren Ende ich durch das große Panoramafenster auf die Kalksteinmauer der Altstadt sehen konnte. Umrahmt von den schweren hellbeigen Vorhängen wirkte der Ausblick wie eine Theaterkulisse. Davor, auf einem niedrigen Tisch, stand ein üppiges Bouquet weißer Lilien, das einen vanillesüßen Duft verströmte. Den Presseraum fand ich im Gang hinter dem Sabbat-Aufzug. Er fuhr unablässig auf und ab, ohne auf einen Knopfdruck angewiesen zu sein. Ich suchte mir einen freien Platz an einem der langen Tische, klappte meinen Laptop auf, in den Agenturen fand ich erste Meldungen zur Rede der Kanzlerin. Sie sprach vom Zivilisationsbruch der Shoah, der historischen Verantwortung Deutschlands, die Teil der Staatsräson sei. Aus diesem Verständnis für die Vergangenheit sei die gemeinsame Zukunft zu gestalten. Mit Blick auf die nukleare Bedrohung aus dem Iran setzte sie sich für UN-Sanktionen ein, verurteilte die Kassams aus Gaza als Verbrechen. Zwanzig Minuten hatte sie gesprochen, die Rede stand schon im Aufnahmespeicher. Ich setzte die Kopfhörer auf, ging mit dem Cursor an den Anfang der Tonspur, die Kanzlerin hatte sich zunächst auf Hebräisch an das Parlament gewandt, den O-Ton stellte ich für meinen Beitrag bereit.
Später kam die Delegation über den roten Teppich, und die Journalisten standen Spalier. Ich entdeckte Martin auf der anderen Seite. Aus Berlin waren einige Minister mitgekommen, bei der Pressekonferenz saßen sie dicht nebeneinander in der ersten Reihe, als seien sie auf einem Klassenausflug. Kaum war das letzte Wort gesprochen, Kanzlerin und Ministerpräsident vom Podium gestiegen, lief die Zeit. O-Töne abhören, schneiden, den Kollegen von der Haaretz um einen Kommentar bitten, ihn zu den bilateralen Beziehungen befragen. »A special normality« sei die Headline für den nächsten Tag, sagte er in mein Mikrofon. Dass sie nicht auf die Eins komme – das sei die eigentliche Nachricht. Kaum hatte ich meinen Text geschrieben, ging ich in den Ü-Wagen der israelischen Kollegen, nahm den Beitrag auf und überspielte ihn nach Berlin.
Martin fand ich im Presseraum, er arbeitete an seinem Kommentar, wir verabredeten, uns später an der Hotelbar zu treffen.
»Eine gute halbe Stunde«, sagte er. »Dann bin ich hier durch.«
Ich setzte mich auf einen der hohen Stühle, mein Spiegelbild hinter drei Reihen von Wodka-, Gin-, und Whiskeyflaschen, bestellte ein Goldstar-Bier. An einem Tisch hinten in der Ecke erkannte ich zwei Minister des israelischen Kabinetts, von einigen wenigen Journalisten umgeben, die ich nicht kannte. Am Abend beim Bier wurden Informationen gehandelt, die es auf keiner Pressekonferenz gab. »Unter drei«, im vertraulichen Hintergrund, wie es im Jargon hieß.
Der Barkeeper stellte Goldstar und Rauchmandeln auf den Tresen. Ich nahm einen Schluck, genoss das Gefühl, keinen Redaktionsschluss und damit die Zeit nicht länger gegen mich zu haben. Für einen Augenblick gab das Leben Ruhe. Die gedämpfte Atmosphäre, die leisen Gespräche an den niedrigen Tischen ließen mich an Adele denken. Sie moderierte Hör-Bar, unser Nachtprogramm, das ich in Berlin hörte, wenn ich nicht schlafen konnte. Nach dem Tod meiner Großmutter hatte ich nachts häufig in meiner Küche gesessen, durch das Fenster in den weitläufigen Park gesehen, dahinter die Lichter der ersten U-Bahn. Adeles Stimme hatte mich beruhigt. Sie war tief, ein wenig verraucht, öffnete Raum, spendete Trost. Assistenzärzte hatten im Studio angerufen, Assistenzärzte im Bereitschaftsdienst, alte Damen mit chronischen Schmerzen, junge Mütter und Väter, Taxifahrer, Nachtreisende. Es waren keine Interviews, es waren Gespräche zwischen zwei Menschen, die am Telefon die Nacht miteinander verbrachten. Sie hatten mich an meine Interrail-Reisen nach dem Abitur erinnert, die Gespräche mit Fremden im selben Abteil. Manchen gegenüber war ich offener gewesen als Menschen gegenüber, die ich lange kannte. Vielleicht war es dieses Gefühl von Freiheit, das mich auch jetzt hatte aufbrechen lassen, das mich dazu bewogen hatte, die Stelle in Israel anzunehmen. Die Freiheit, eine andere sein zu dürfen, alles hinter mir zu lassen, was mich daran erinnerte, wer ich war, wer ich anderen zufolge war.
»Die Regie hat angerufen, alles in Berlin angekommen.« Martins Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Er setzte sich auf den Barhocker neben mir, bestellte ebenfalls ein Goldstar. Drei Tage war er mit der Delegation unterwegs gewesen, mit dem abgesetzten Kommentar waren die Regierungskonsultationen auch für ihn abgeschlossen.
»Wie hieß noch mal die Tochter König Davids?«, fragte er, trank einen Schluck Bier.
»Tamar«, sagte ich. »Warum?«
»Vor Kurzem saß ich mit einem Kollegen von der Berliner Zeitung hier. Wir hatten ein Hintergrundgespräch mit dem israelischen Regierungssprecher, er wollte uns vor dem Besuch der Kanzlerin treffen, es ging um die Lieferung deutscher U-Boote«, sagte Martin. »Jedenfalls saß ich mit dem Kollegen noch hier an der Bar. Auf einmal wurde es unruhig, in der Halle war irgendetwas los. Wir gingen an die Tür und sahen diese Frau. Sie war groß, hatte lange blonde Haare, sie hätte auch Schauspielerin sein können, jedenfalls schritt sie aus dem ersten Stock die Treppe herunter und behauptete, die Tochter Davids zu sein. Dem Akzent nach vermutlich eine Amerikanerin.« Er lachte. »Sie war splitternackt und ging Richtung Ausgang. Der Manager on Duty konnte sie gerade noch in die israelische Flagge wickeln.«
»Wow.«
»Jerusalem-Syndrom«, sagte er. »Zu viel Religion in dieser Stadt, das tut den Menschen nicht gut. Sie geraten in einen Rausch, werden von Allmachtsphantasien ergriffen, von Schuldgefühlen überwältigt, oder sie erkennen, wie bedeutungslos sie sind angesichts von so viel Heiligkeit.«
»Hatten wir dazu schon was im Programm?«
»Nur zu«, sagte er. »Soweit ich weiß, gibt es im Kfar-Shaul-Krankenhaus eine spezielle Abteilung dafür.«
Martin brachte mich nach Hause. Ich ging in den schmalen Wintergarten meiner Wohnung, schob das Fenster zur Seite, sah auf das Nachbarhaus und setzte mich in einen der beiden senfgelben Sessel. Wie viele andere Möbel stammte er aus dem Nachlass meines Vormieters Ionel Corpus, dessen Name noch an meinem Klingelschild stand. Ich nahm meinen Laptop auf die Knie und googelte das Jerusalem-Syndrom. Davon betroffen waren Menschen, die das religiöse Erleben in der Stadt überwältigte, die sich für eine Figur aus der Bibel hielten oder Engel zu sich sprechen hörten. Im Netz fand ich Bilder, die mich an Freilichttheater denken ließen, Männer mit langen Haaren, in bodenlangen weißen Gewändern auf der Via Dolorosa, Harfe spielend vor der Grabeskirche, einer schleppte ein übermannsgroßes Holzkreuz über das Kopfsteinpflaster der Altstadt.
Ich kopierte einige Links zum Thema, legte sie auf meinem Laptop in einem neuen Ordner ab, den ich »Archiv von Möglichkeiten« nannte.
3
Gelegentlich dachte ich an David. Wir waren vor zwei Wochen auseinandergegangen, ohne Telefonnummern auszutauschen. Zum Abschied hatte er mir einen Kuss auf die Stirn gegeben. Beide waren wir wohl davon ausgegangen, dass wir uns wiedersehen würden. Das Leben war voller Zeichen, die es nur zu deuten galt.
Morgens ging ich jetzt häufiger bei Anat einen Hafouch trinken. Während ich beobachtete, wie sie den Siebträger in die Espressomaschine spannte, dachte ich darüber nach, selbst ein Zeichen zu setzen, bei ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Ich nahm die Postkarte aus meinem Tagebuch, die ich im Freud-Museum in Hampstead gekauft hatte, sie zeigte die berühmte Couch. Bevor ich nach Tel Aviv aufgebrochen war, hatte ich mit meinem Vater ein Wochenende in London verbracht. Er lebte inzwischen in Oxford, war Professor für Psychiatrie und Neurologie. Vor einigen Jahren war er an das College gegangen, zunächst für ein Semester, dann hatte er Heather kennengelernt, eine Kollegin. Sie hatten noch zwei Kinder bekommen, Spencer und John.
Die Couch auf der Karte war bedeckt von einem Orientteppich, genauso wie die Wand dahinter und der Boden davor. Überhaupt schien der ganze Raum mit schwerem Teppich ausgelegt.
Anat sah mir über die Schulter, stellte den Hafouch neben das Bild.
»Auch im Shrink-Business?« Mit kurzen, energischen Schritten verschwand sie hinter der Bar. »Kennst du BeTipul, die Serie? Jede Folge erzählt eine Sitzung, eine halbe Stunde, Sonntag bis Donnerstag. Seit ich eingestiegen bin, langweilen mich meine eigenen Probleme. Wenn ich dienstags wieder zu meinem Therapeuten gehe, eine Stunde lang im Korbsessel neben der traurigen Grünpflanze sitze, suche ich nach der Fernbedienung, will meine Endlosschleife ausschalten.«
»Und was sagt dein Therapeut?«
»Das es ein gutes Zeichen sei.« Sie hielt das Milchkännchen unter die Düse, ließ den Wasserdruck entweichen, fragte über das Zischen hinweg: »Wusstest du, dass Tanzen Endorphine freisetzt?«
***
Einige Tage später saß David an einem der hinteren Tische. Kaum sah er mich, schlug er ein paarmal mit der flachen Hand auf die Sitzfläche des Stuhls, der neben ihm stand. »Wie meine Tochter im Kindergarten.« Er lachte. »Wo warst du nur? Ich habe schon auf dich gewartet.«
Dieses Mal sah ich ihn mir genauer an, sein offenes Gesicht, die klaren Züge, die sorgfältig rasierte Haut. Seine dunkelblonden Haare trug er kurz geschnitten, an den Konturen waren sie leicht meliert. An seinem rechten Ohrläppchen entdeckte ich ein kleines Muttermal.
Vor ihm lag ein Foto, das einen altmodischen Fernseher zeigte, auf dem Bildschirm ein brennender Jeep. Daneben ein abgebrochenes Hochhaus, Schutt und Asche, im Hintergrund wehte die libanesische Fahne. Rote und weiße Balken, eine grüne Zeder in der Mitte.
Er drehte gerade einen Dokumentarfilm über den Libanonkrieg, in einer knappen halben Stunde wollte er mit seiner Crew in Richtung Norden aufbrechen.
Für diesen Krieg waren Regierung und Militär massiv kritisiert worden. Vor einigen Wochen hatte die Winograd-Kommission ihren Report vorgelegt. Kopflos und unvorbereitet habe Israel seine Soldaten an die Front geschickt. Und das in einem Land, in dem jeder darauf vertrauen musste, dass es auch am nächsten Tag noch auf der Landkarte war. Regierung und Militär genau dafür zu sorgen hatten.
»Wir haben mit einem Reservisten gesprochen«, sagte David. »Nimrod ist sein Name. Er wurde einberufen, und sie haben ihm gesagt, er solle sein eigenes Handtuch zum Duschen mitbringen. Und das in einer Kampfeinheit, das musst du dir vorstellen, das sind die harten Jungs, die gehen hinter die Linie. Nimrod packte also sein Handtuch und kämpfte im Libanon. Als sie sich zurückzogen, zurück über die Grenze, um eine Pause zu machen, gab es Bamba zu essen.«
»Bamba?«
»Aus Erdnuss … Wie nennt man die, Erdnussflips?«
Ich nickte.
»Er hat uns gefragt: ›Kennt ihr das Tor? Das Tor bei Metulla?‹. Und ja, das Tor kannten einige von uns vom Ersten Libanonkrieg. Es ist ein bekannter Grenzübergang, ein großer Baum steht da, dorthin zogen sich Nimrod und seine Kameraden zurück«, sagte er. »Das ist das Bild, das ich von diesem Krieg habe: Soldaten sitzen in einer Kampfpause unter diesem Baum und essen Bamba. Nicht eine Tüte, ganze Säcke.«
Damit war der Zweite Libanonkrieg auch bei mir unter Erdnussflips gespeichert.
»Und was machst du hier?«, fragte David.
Ich erzählte ihm, dass ich fürs deutsche Radio arbeitete, bis zum Herbst eine Vertretung im Studio Tel Aviv machte. Ein Kollege war in Elternzeit gegangen.
Sein Telefon klingelte, er sah auf das Display, nahm den Anruf entgegen. Seine Crew wartete bereits an dem verabredeten Treffpunkt, er sei auf dem Weg, sagte er, während er mich ansah, die Stirn in Falten legte. Schon im Aufstehen zog er einen zerknüllten Zwanzig-Scheckel-Schein aus der vorderen Tasche seiner Jeans, legte ihn auf den Tisch.
»Darf ich dich anrufen?«, fragte er.
»Warum nicht.«
»Weil ich deine Nummer nicht habe.«
Ich suchte in meiner Handtasche einen Zettel, nahm schließlich mein Tagebuch und riss die letzte Seite heraus, schrieb die Zahlen darauf.
»Gestern habe ich von dir geträumt«, sagte er schon im Hinausgehen, zeigte auf das Fenster zum Rabin-Platz, wandte sich noch einmal mir zu. »Ich stehe da draußen, schreibe dir eine SMS: ›Bist du zu Hause?‹ Dann fällt mir ein, dass ich deine Nummer nicht habe. Und dann bin ich nicht sicher, ob du hebräische Buchstaben lesen kannst.«
»Was hat Nancy dazu gesagt?«
»Nichts.«
»Warum?«
»Sie spricht nicht mehr mit mir«, sagte er. »Ich habe von der roten Taste eines Telefons geträumt.«
»Und?«
»›Damit sind wir gemeint‹, hat Nancy zu mir gesagt. Und unsere Zusammenarbeit für beendet erklärt.«
4
Am Morgen erwachte ich von den Stimmen, die durch das offene Fenster aus dem Haus gegenüber zu mir drangen. Das alte Ehepaar stritt, wer an diesem Morgen sauber machen sollte. Wobei: Im Grunde stritt nur sie. Ihr akzentfreies britisches Englisch füllte tagein, tagaus den Streifen zwischen unseren beiden Häusern. Sie stand in der Küche, an dem Fenster über der Spüle, ihr robuster Oberkörper ließ sich durch die Spalten der Blendläden erkennen. Er saß auf der Terrasse hinter den Blumenkästen, sein Gesicht, von Falten zerfurcht, erinnerte mich an das von Samuel Beckett.
Ich hatte die beiden noch kein einziges Mal auf der Straße gesehen, immer nur im Haus gegenüber, er auf der Terrasse, sie in der Küche. Nie hatte ich sie miteinander oder nebeneinandergehen gesehen, aber ich stellte es mir vor, dieses ungleiche Paar. Sie doppelt so kräftig wie er.
»Du kannst froh sein, dass du den Schmutz nicht siehst«, hörte ich sie in der Küche sagen. »Du siehst überhaupt nie irgendetwas.«
***
Ich lief über den Boulevard Rothschild, als ich eine SMS bekam.
Wann sehen wir uns? D.
Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten. Auf die Stopp-Taste gedrückt. Jetzt, genau in diesem Moment. Dass wir uns wiedersehen würden, damit hatte ich gerechnet, aber dass es so bald sein würde, das kam unverhofft.
Den Vormittag ließ ich verstreichen, während ich mein Telefon immer wieder aus der Tasche nahm, die Kurzmitteilung auf dem Display öffnete, mich seiner Nachricht versicherte. Nach ziemlich genau dreieinhalb Stunden schrieb ich zurück.
Morgen? M.
Wir verabredeten uns für den frühen Donnerstagabend in seinem Büro – seinem Kloster, wie er es nannte, weil er sich dorthin zum ungestörten Arbeiten zurückzog.
Das Bürogebäude befand sich jenseits des Dizengoff-Platzes. Unten, im Foyer, saß ein Mann hinter einem abgestoßenen Tresen aus Holz, er trug eine blau getönte Brille und löste Kreuzworträtsel. Von mir schien er kaum Notiz zu nehmen. Was mir nur recht war. Mit dem Aufzug fuhr ich in den zweiten Stock.
Raum 232, hatte David geschrieben.
Ich klopfte.
Er öffnete die Tür aus dünnem Holz und ließ mich eintreten, machte dazu mit seinem rechten Arm eine ausladende Geste. Er trug ein blau-grün kariertes Hemd, das gebügelt über seiner Jeans hing. Seine Füße waren nackt. Das Kloster war eher eine Klosterzelle, ein schmaler Raum, vielleicht fünfzehn Quadratmeter, gerade groß genug für einen Schreibtisch neben der Tür und einen Sessel unter dem Fenster. Der Sessel hatte eine orangene Schale, die auf einem Metallgestell auflag. David hatte ihn von der Straße geholt, war den Trödlern zuvorgekommen, die mit ihren Pferdekarren durch die Stadt fuhren und schon früh am Morgen »alte Sachen, alte Sachen« riefen. Er bat mich, Platz zu nehmen, setzte sich im Schneidersitz auf den hellgrauen Teppich vor mir.
»Sieh dich an«, sagte er und zeigte mit beiden Händen anerkennend auf mich, als würde er mich auf einer Bühne präsentieren. »Tel Aviv steht dir gut.«
»Danke.«
»Hast du die Haaretz inzwischen in Stücke gerissen?«
Ich lachte. »So eine Angewohnheit von mir.«
»Gibt es mehr davon?«
»Lass mich nachdenken«, sagte ich. »Manchmal hüpfe ich über den Gehweg, hoffe, dass es keiner sieht. Der Stift, mit dem ich Tagebuch schreibe, muss azurblau sein, die Seiten blank. An meinem Geburtstag kann ich nicht arbeiten. Nachts stehe ich auf, um die Zähne zu putzen, so wie andere Menschen auf die Toilette gehen. Ich bin fünf Minuten zu früh, immer, aber das sind alle Radiomenschen. Wenn ich eine Sendung moderiere, lege ich ein Foto meiner Großmutter neben das Mikrofon«, sagte ich. »Links neben das Mikrofon.«
Inzwischen hatte ich meine Flipflops abgestreift, mich in der orangenen Schale in den Schneidersitz gesetzt.
»Das wars?«
»Den Lautstärkeregler meines Radios stelle ich auf Zahlen, die durch zwei teilbar sind.«
»Oiwawoi.«
Ich sah ihn fragend an.
»Der bestürzte Ruf alter Frauen«, sagte er, hielt die Hände an die Wangen, den Mund geöffnet, »oiwawoi, eine lange Schlange vor der Kasse im Supermarkt, ein Jahr ohne Regen, eine unverheiratete Tochter. Überhaupt: der Zustand der Welt.«
Sein Blick ruhte auf mir, er schien alles in sich aufzunehmen, zugleich lag darin nichts Besitzergreifendes.
Hinter ihm an der Wand hing ein Foto in Schwarz-Weiß, ein Mann hinter einer Ladentheke, er trug ein weißes Hemd und eine schmale Fliege, darüber eine lange Schürze mit Latz.
David folgte meinem Blick, drehte sich um. »Mein Großvater«, sagte er. »Meine Eltern haben mich nach ihm benannt. David und David’le.«
»Ihr seht euch ähnlich.«
»Nur dass er in einer anderen Zeit lebte, in einem anderen Land«, er drehte sich wieder mir zu. »Er ist gestorben, da war ich fünf Jahre alt.«
Ich betrachtete das Foto. »Was hat er in seinem Laden verkauft?«
»Käse. Damals, vor dem Zweiten Weltkrieg, lebte er in Dupniza, einer kleinen Stadt südlich von Sofia«, sagte David. »Manchmal sitze ich in dem Stuhl«, er zeigte auf die orangene Schale unter mir, »sehe auf das Foto, betrete den Laden und schaue mich dort um. Zu Gast in meinem eigenen Traum – um es mit Fellini zu sagen.«
»Nimm mich mit.«
»Die Tür geht, vielleicht ein Glöckchen, jedenfalls das vollmundige Aroma von Käse.«
»Bulgarischer Hartkäse?«
»Kaschkawal und Bagazi, in der Auslage liegen nur zwei Sorten. Der Laden ist voll, dienstags ist Markttag, da kommen die Leute aus den umliegenden Dörfern. ›Dobro utro‹, guten Morgen, ich verstehe nur wenige Worte, ›blagodarya‹, danke, ›dovizhdane‹, auf Wiedersehen. Aber ich kann sehen, dass sie freundlich miteinander sprechen, über die ersten Frühlingstage vielleicht, die anstehenden Feiertage oder das nächste Fußballspiel.«
»Wie im Tola’at.«
»Anat hat allerdings keine Ahnung von Fußball«, sagte er. »Sie hat sich nach dir erkundigt.«
»Warum?«
»Sie hat gesagt: ›Du scheinst sie zu mögen.‹«
»Und was hast du gesagt?«
»Das kann schon sein.«
Ich strich meine Haare zurück, fasste sie in meiner rechten Hand zu einem Zopf, knotete sie locker im Nacken zusammen. Von draußen drangen gedämpft Stimmen herein, mit dem frühen Abend schien sich die Bar an der Ecke zu füllen, vielmehr der kleine Platz davor. Ich nahm meine Füße aus der Schale, streckte meine Beine und trat ans Fenster, das über die ganze Breite seiner Klosterzelle verlief.
»Darf ich?«, drehte mich zu ihm. Öffnete das Fenster.
Von draußen strömte warme Luft herein. Worte und Lachen wurden lauter, irgendwo in der Nachbarschaft spielte ein Saxophon. Ich spürte, dass David hinter mir aufstand, neben mich trat. Die Baumwolle seines Hemdes streifte meinen Unterarm. Von oben sahen wir auf den Platz, bunte Girlanden waren einem breiten Fächer gleich von einer Laterne zur Hauswand gespannt. Unter den dichten roten, gelben und grünen Wimpeln standen Menschen auf dem Straßenpflaster, saßen auf Bänken im Gespräch, auf einem Podest rund um die Laterne, ließen die milde Abendsonne auf sich fallen.
5
Inzwischen hatte ich den massiven Esszimmertisch an die Wand unter das Fenster geschoben, Lexika und hebräische Grammatik daraufgestellt, meinen Laptop daneben. Während ich ihn an diesem Samstagmorgen hochfuhr, durch die Nachrichten der Agenturen scrollte, dachte ich daran, was Martin vor einigen Tagen gesagt hatte. Mit Dienstantritt in Tel Aviv habe er beschlossen, nicht auf Wochenenden zu vertrauen. So sei jeder freie Tag geschenkt, an dem kein Soldat entführt, kein Einkaufszentrum von einer Kassam getroffen, nicht gegen die Regierung demonstriert werde.
Der Tag schien ein solches Geschenk zu sein. Auch haaretz.com und ynetnews.com meldeten keine beunruhigenden Nachrichten. Ich wechselte in mein Postfach, fand eine Nachricht von Paul. Er war der jüngste Bruder meiner Mutter, das Nesthäkchen, hatte in Amerika Geschichte studiert, inzwischen lebte er mit seiner Frau in Bochum. Seit dem Tod meiner Großmutter hatten wir häufig telefoniert, gemeinsam die Beerdigung organisiert, zur Testamentseröffnung nebeneinander vor dem schweren Schreibtisch des Notars gesessen. Ich ging davon aus, dass es nun mit dem Verkauf des Hauses in der Mendelstraße voranging. Stattdessen schickte er mir Ruths Mailadresse und richtete aus, ich sei bei ihr in Ein Harod, einem Kibbuz im Norden Israels, herzlich willkommen.
Paul hatte ihr offenbar eine Todesanzeige meiner Großmutter geschickt.
Im vergangenen Herbst hatte ich mit Paul die Mendelstraße ausgeräumt, in einer alten Holzschachtel die Familienchronik und Ruths Briefe gefunden – einen Stapel Luftpost, von einer Kordel zusammengehalten. Meine Großmutter hatte sie zwischen ihren Kleidern verwahrt, unten in dem türkisfarbenen Wandschrank. Die Briefe waren an meine Mutter adressiert, einige wenige später an meine Großmutter.
Ich hatte die Schachtel genommen, war die Treppe hinuntergegangen und hatte Paul im Keller bei den Stahlschränken mit den Akten gefunden. Er saß auf einer alten Truhe, in die Lektüre eines Leitz-Ordners vertieft.
»Kanntest du Ruth?«, fragte ich.
»Wenn wir so weitermachen, werden wir nie fertig.« Er lachte, hob den Ordner an den beiden Metallringen von seinen Knien. »Ruth war eine Freundin deiner Mutter, die letzte Zeugin, wenn du so willst«, sagte er. »Zeit für eine Pause, findest du nicht?« Er stand auf, nahm seine Brille ab. »Lass uns in den Garten gehen.«
Auf dem Weg nach oben holte Paul eine Flasche Fendant aus dem Kühlschrank im Getränkekeller. In der Küche fand ich eine Packung Sesamcracker, meine Großmutter hatte sie zeitlebens im Reformhaus gekauft. Wir setzten uns auf die bemoosten Stufen hinterm Haus, draußen war es noch mild. Ich sah auf den Rosengarten, die ersten Blüten zerfallen, rosa, rote, orange Blätter verstreut in den Beeten, in einigen Wochen mussten die Stöcke zurückgeschnitten werden.
Ich blätterte durch die Briefe, zwischen den Umschlägen fand ich eine Skizze, mit rotem Stift auf das zartblaue Papier gezeichnet. Oben rechts ein Stern. *
Ein Harod stand darunter.
»Soviel ich weiß, ist Ruth nach dem Abitur mit der Aktion Sühnezeichen nach Israel gegangen, hat dort einen Mann kennengelernt«, sagte Paul. »Vorher, während der Schulzeit, kam sie häufig mit Charlotte zum Mittagessen, sie saßen auf diesen Stufen so wie wir jetzt, steckten die Köpfe zusammen, hatten ständig etwas zu bereden. Wenn Mutter zur Kur war, holten sie den Plattenspieler auf die Terrasse, rauchten Ernte 23 und versuchten, Konrad zum Tanzen zu bewegen. Doch der saß lieber mit einem Buch im Schatten unter der Markise.«
Seine Erzählung öffnete ein neues Reich. Das Haus, in dem ich groß geworden war, stand auf einmal in einer anderen Landschaft. Paul war schon früher hier gewesen, so wie meine Mutter und Konrad. Die Vorstellung, dass auch sie hier gesessen, geredet und gelacht hatten, den Blick auf die offene Wiese, die Rosenstöcke beruhigte mich. Vielleicht weil ich mir meiner eigenen Wurzeln bewusst wurde, erkannte, dass sie tief in die Erde reichten.
»Und wo warst du?«
»Auf der Ruhr«, sagte er. »Ich bin rudern gegangen, habe jede freie Minute im Boot verbracht. Als Jüngster hatte ich meine Freiheiten. Konrad war der Stammhalter, er sollte Medizin studieren wie unser Vater, deine Mutter sollte Krankenschwester werden. Hätte Konrad sich nicht für sie eingesetzt, wäre aus ihrem Studium nichts geworden. Er war der große Bruder, er gab auf sie acht.«
Ich nahm die Chronik aus der Schachtel, blätterte darin, auf der ersten Seite waren meine Großeltern zu sehen, es schien ein offizielles Bild, anlässlich ihrer standesamtlichen Hochzeit vielleicht, meine Großmutter Neni mit glattem Haar, das ihr über die Schultern fiel, und hochgeschlossenem Kleid. Die Hand meines Großvaters auf ihrem Unterarm. Ich hielt das Bild in die Sonne, entdeckte den Ehering an seinem Finger, strich mit dem Daumen darüber. Das feierliche Lächeln, mit dem sie einander ansahen. Mein Großvater musste im Zweiten Weltkrieg als Arzt an die Front, war in Frankreich und Russland, kehrte mit kurzem Atem nach Hause zurück. Er starb wenig später an einer Lungenentzündung, vermutlich eine Folge der Typhuserkrankung, die er sich im Krieg zugezogen hatte.
»Wenn ich Neni zu Terminen im Marienhospital begleitete, erinnerten sich viele an ihn, kannten ihn zumindest aus Erzählungen«, sagte ich. »Und Neni war ›Frau Doktor‹ wie eh und je. Unten hinter der Pforte, im Foyer, hängt noch sein Porträt.«
Die Seiten, die in der Chronik folgten, konnte ich nicht lesen. Sie waren in Sütterlin geschrieben. Erst mit der Geburt der Kinder wurde die Schrift leserlich. Ich blätterte vor bis zu Pauls Taufe.
»Gesund und ohne das Heulen der Alarmsirenen kam unser 4.Kind, dem wir den Rufnamen Paul gaben, im Marienhospital zur Welt«, hatte mein Großvater geschrieben. »Charlotte hatte allen das Kommen unseres Jüngsten verkündet, ihren kleinen Freundinnen die Anlegung der Sonntagskleider anbefohlen.«
Eine Walnuss fiel mit dumpfem Schlag auf den Rasen, lenkte meine Aufmerksamkeit auf die vielen anderen, die schon im Gras lagen. Ich stand auf, zog den Saum meines T-Shirts aus der Jeans, sammelte einige Nüsse darin.
»Als ich klein war, kam mir der Baum viel größer vor«, sagte Paul.
»Mir auch«, sagte ich. »Kinderaugen vergrößern.«
»Ich bin oft raufgeklettert, sehr zu Mutters Leidwesen, einmal …«
»… hast du dort oben gesessen, und ihr habt über die Zahl der Schläge verhandelt. Neni konnte dich kaum sehen, die Krone stand in voller weißer Blüte.«
»Das weißt du?«
»Sie hat oft davon erzählt, immer mit einem gewissen Stolz.« Ich setzte mich wieder zu ihm auf die Stufen, er nahm zwei Nüsse, legte die Nähte der Schalen aneinander, knackte sie in seiner rechten Hand. Reichte mir die Kerne. »Es ist eigenartig«, sagte ich. »Lange habe ich die Anekdote so gehört, wie Neni sie erzählte. Du warst sportlich, kühner und schlagfertiger als die anderen. Das war die Moral von der Geschichte. Erst später wurde mir klar, dass sie dich geschlagen hat. Für mich war das undenkbar.«
»So war das damals.«
»Das hat sie auch gesagt«, sagte ich. »Und dass euer Vater früh gestorben sei. Da musste sie durchgreifen.«
6
Kurz vor Pessach fand in Aschdod eine Solidaritätskonferenz für Gilad Shalit statt. Er war Soldat der israelischen Armee. Im Sommer 2006, wenige Wochen vor seinem zwanzigsten Geburtstag, war er von seinem Grenzposten in den Gazastreifen entführt worden. Man vermutete die Hamas dahinter.
Martin hatte mich gefragt, ob ich den Termin wahrnehmen wolle, und ich hatte sofort zugesagt. Das Bild des jungen Soldaten war präsent in Tel Aviv, Transparente hingen in meiner Bankfiliale der Hapoalim und an den Gittern von Balkonen. Er hatte kurzes schwarzes Haar, eine dunkle Brille und ein optimistisches Lächeln. In einem Land, in dem die Wehrpflicht eine Frage der Existenz war, konnte sich jeder mit ihm und seiner Familie identifizieren. Israel setzte alles daran, ihn lebendig zu befreien.
»Du bist ziemlich unerschrocken«, sagte Martin, »dafür, dass du gerade erst angekommen bist.«
Seine Bemerkung verunsicherte mich. Angst konnte ein guter Wegweiser sein. Tatsächlich hatte sich mein Gefühl verändert, seit ich in Israel war. Die Furcht war mir nicht abhandengekommen, aber sie wurde von Tag zu Tag kleiner. In Deutschland hatte ich in unserem Programm von Selbstmordattentaten in Einkaufszentren gehört, im Fernsehen Kassams gesehen, die vom Gazastreifen über die Grenze flogen. Hier gab es noch so viel mehr. Hier war jetzt mein Alltag, der meine Aufmerksamkeit auf anderes lenkte. Als würde mit einem größeren Blickwinkel die Gefahr kleiner. Ob das gut war, wusste ich noch nicht.
Bei Saul Friedländer hatte ich von einer Studie gelesen, sie behandelte die Wahrnehmung von Kindern aus der Schweiz und aus Israel. Man zeigte den Kindern Bilder von Tieren, die mit weit aufgerissenen Augen aus einem Feuer flohen. Und Bilder von einem Friedhof. Die Schweizer Kinder erkannten tödliche Gefahr und einen Friedhof. Die israelischen Kinder behaupteten, die Tiere würden spielen. Auf dem anderen Bild sahen sie einen Park.