Wie wir die Welt sehen - Ronja Wurmb-Seibel - E-Book
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Wie wir die Welt sehen E-Book

Ronja Wurmb-Seibel

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Beschreibung

Der Bestseller jetzt als Taschenbuch!

Tägliche Krisenmeldungen drücken nicht nur unsere Stimmung, sie verzerren unseren Blick auf die Welt. Wie entkommen wir dieser Negativ-Spirale? Indem wir Nachrichten anders konsumieren. Und indem wir anfangen, einander eine neue Art von Geschichten zu erzählen. Ronja von Wurmb-Seibel zeigt, warum es sich lohnt, einen gesünderen Umgang mit Nachrichten zu finden und wie es gelingt, die Welt auch im Alltag mit anderen Augen zu sehen. Mit vielen praktischen Tipps und konkreten Vorschlägen, um unseren Medienkonsum von ausschließlich negativ zu überwiegend kritisch-konstruktiv zu lenken. Es ist möglich, politisch informiert zu bleiben, ohne ständig niedergeschlagen zu sein. Der SPIEGEL-Bestseller jetzt im Taschenbuch!

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Seitenzahl: 273

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Über das Buch:

Nachrichten verfolgen uns immer und überall: Morgens im Radio, abends im Fernsehen und zwischendrin als Push-Nachricht auf dem Handy. Sie prägen unser Leben – viel mehr, als wir es ahnen. Nachrichten beeinflussen wen wir wählen, wofür wir unser Geld ausgeben oder wie wir unsere Kinder erziehen. Sie bestimmen, wie wir uns fühlen, wenn wir morgens aufwachen und worüber wir nachdenken, wenn wir abends ins Bett gehen.

Tägliche Krisenmeldungen drücken nicht nur unsere Stimmung, sie verzerren unseren Blick auf die Welt. Wie entkommen wir dieser Negativ-Spirale? Indem wir Nachrichten anders konsumieren. Und indem wir anfangen, einander eine neue Art von Geschichten zu erzählen. Ronja von Wurmb-Seibel zeigt, wie es gelingt, die Welt auch im Alltag mit anderen Augen zu sehen.

Über die Autorin:

Ronja von Wurmb-Seibel hat knapp zwei Jahre als Reporterin in Kabul gelebt. Dort hat sie – umgeben von schlechten Nachrichten – gelernt, Geschichten so zu erzählen, dass sie Mut machen. Inzwischen lebt die mehrfach ausgezeichnete Journalistin, Autorin und Filmemacherin im bayerischen Dünzelbach. Vor ihrer Zeit in Kabul war sie Politik-Redakteurin bei der ZEIT. Wie wir die Welt sehen ist ihr zweites Buch.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2022 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Cover: zero-media.net, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28274-5V004

www.koesel.de

Inhalt

EINS: WIE WIR DIE WELT SEHEN

ZWEI: ONLY BAD NEWS IS GOOD NEWS? VON WEGEN!

DREI: WIE WIR GELERNT HABEN, UNS HILFLOS ZU FÜHLEN — UND WIE WIR ES ENTLERNEN KÖNNEN

VIER: SCHEIßE PLUS X — DIE NEUE ZAUBERFORMEL

FÜNF: UND JETZT? AUF DER SUCHE NACH DEM X

SECHS: NEUE GESCHICHTEN, NEUE WEGE

SIEBEN: GESCHÄRFTER BLICK

ACHT: WARUM WIR UNSER GEHIRN MANCHMAL AUSTRICKSEN MÜSSEN

NEUN: ZUKUNFT WIRD AUS MUT GEMACHT

NACHWORT: NUR MUT!

Stories bring us together,

untold stories keep us apart.

We are made of stories

ELIFŞAFAK

EINS: WIE WIR DIE WELT SEHEN

Ich weiß nicht mehr, wie der Moment aussah, in dem ich aufhörte, Nachrichten zu lesen. Ich weiß nur noch, dass er plötzlich kam, dass er aus einer bewussten Entscheidung heraus entstanden war und dass seit diesem Moment die Welt um mich herum begann, besser zu werden.

Ich bin Journalistin. Ich liebe Geschichten. Und ich liebe Zeitungen. Ich liebe es, beim Lesen von einem Artikel zum anderen zu springen, nicht wissend, wo ich mit dem nächsten Text landen werde. Ich liebe es, in eine Geschichte einzutauchen, in ihr herumzuspazieren, mich umzusehen, alles aus einem anderen Blickwinkel zu entdecken, so lange bis ich irgendwann wieder an Land gehen und zurück in die Gegenwart kommen will – jedes Mal verwandelt, auf eine mir unerklärliche, nahezu magische Weise: Als würde ich die Welt und meinen Platz darin mit neuen Augen sehen.

Trotzdem habe ich seit Jahren keine Zeitung mehr gelesen. Ich schaue keine Nachrichten, keine Talkshows, keinen Brennpunkt. Ich habe keine News-App auf meinem Handy und wenn ich beim Autofahren Radio höre und Nachrichten beginnen, schalte ich noch vor der ersten Meldung weg. Hin und wieder komme ich nicht drum herum, für meine Arbeit Nachrichten zu lesen. Ansonsten meide ich es, wann immer es geht.

Dieses Buch handelt nicht von mir. Es handelt davon, was ich in den letzten Jahren darüber gelernt habe, was Nachrichten mit uns machen. Mit uns, unserem Denken, unserer Wahrnehmung und unserem Leben.

Jede Geschichte, die wir lesen, hören, sehen oder anderen erzählen, beeinflusst, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen. Geschichten bestimmen unser Leben – viel mehr, als wir es ahnen. Ihr Inhalt und die Art, wie sie erzählt werden, beeinflussen die Frage, wen wir wählen, wofür wir unser Geld ausgeben, wohin wir in den Urlaub fahren und wohin nicht. Sie beeinflussen, wie wir den Menschen begegnen, die wir auf der Straße, in der U-Bahn oder beim Einkaufen sehen; wem von ihnen wir vertrauen und wem nicht; vor wem wir Angst haben. Sie beeinflussen, an welche Dinge wir uns erinnern und welche wir wieder vergessen. Sie beeinflussen, wonach wir unsere Kinder fragen, was wir ihnen erlauben, was wir ihnen verbieten. Sie beeinflussen, wie wir unsere Kinder erziehen – und ob wir überhaupt welche bekommen.

Wir Menschen brauchen Geschichten. Wir brauchen sie, um unsere Erlebnisse als Erinnerungen abzuspeichern. Wir brauchen sie, um Mitgefühl zu entwickeln; um die Welt und das Leben mit den Augen anderer zu sehen. Geschichten können Sinn stiften und Gemeinschaft. Sie sind der Kleber, der Communitys, Familien, Freundeskreise und sogar ganze Gesellschaften zusammenhält. Geschichten können Halt geben. Indem sie Situationen außerhalb unseres eigenen Lebens simulieren, helfen sie uns, bestimmte Verhaltensweisen zu trainieren. Wir entwickeln unsere Persönlichkeit anhand von Geschichten: Sie können unsere Sicht auf die Welt und uns selbst bestätigen, genau wie sie alles in Frage stellen können, woran wir bisher geglaubt haben. Sie prägen unsere Identität.

Fast jede Entscheidung, die wir treffen, von oberflächlichen, nicht sehr weitreichenden Abwägungen bis hin zu tiefgreifenden Umwälzungen, die unser ganzes Leben auf den Kopf stellen, hat damit zu tun, welche Nachrichten und welche Geschichten wir konsumieren. Welche Art von Nachrichten, welche Art von Geschichten wollen wir also sehen, hören, lesen? Es ist Zeit, dass wir darüber nachdenken.

~

Überschwemmungen, Waldbrände, Erdbeben, Verkehrsunfälle, Terroranschläge, Kriege, Pandemie: Schlechte Nachrichten dominieren die Medien, und sie begegnen uns überall. Morgens im Autoradio auf dem Weg zur Arbeit, oder auf Monitoren in S- und U-Bahn. In der Mittagspause beim Smalltalk mit Familie oder Kolleg*innen, Schlagzeilen am Zeitungsstand im Supermarkt und immer wieder zwischendrin, über Social Media, direkt auf unsere Handys. Egal, welchen Beruf wir ausüben, welchen Alltag wir haben, wie wir leben: Nachrichten sind ständig an unserer Seite. Und in den meisten Fällen sind sie negativ.

Was macht es mit uns, wenn wir uns ohne Unterlass mit Katastrophen, Gewalt und Zerstörung konfrontieren?

Es beeinflusst, wen wir hassen, wen wir lieben. Es beeinflusst, welche Kommentare wir in sozialen Medien schreiben; ob sie höflich sind oder beleidigend. Es beeinflusst, wie wir uns fühlen, wenn wir morgens aufwachen, und worüber wir nachdenken, wenn wir abends ins Bett gehen. Es beeinflusst, ob wir Angst haben vor einer uns düster erscheinenden Zukunft oder ob wir uns auf sie freuen – weil wir wissen, dass wir selbst und unser Verhalten darüber mitentscheiden, wie düster diese Zukunft überhaupt sein wird. Nur ein Viertel aller Menschen in Deutschland glaubt daran, dass sich die Lebensbedingungen ihrer Familie in den nächsten 15 Jahren verbessern werden.1 Weniger als zehn Prozent aller Menschen in Deutschland haben das Gefühl, dass sich unsere Welt zum Positiven verändert.2

Nachrichten beeinflussen, welche Versicherungen wir abschließen, und wie viel wir für sie bezahlen. Sie beeinflussen sogar, wie groß unser Risiko ist, einen Herzinfarkt zu erleiden. Sie können sich das alles nicht vorstellen? Ging mir genauso. Bis ich in meinem eigenen Leben gemerkt habe, wie sehr die Erzählungen um mich herum meine Sicht auf die Welt und meinen Alltag prägen.

Geschichten, die wir uns erzählen

Vor ein paar Jahren im Sommer ist meine Oma gestorben. Vier Tage lang saß ich zusammen mit meinen Geschwistern, meiner Tante, meinem Onkel und meiner Mutter an ihrem Bett. Während wir auf den Tod warteten, dachte ich über das Leben nach. Das Leben meiner Großmutter – und was es mit meinem zu tun hatte. Ob es überhaupt etwas mit meinem zu tun hatte.

Meine Oma wurde 91 Jahre alt. Sie hat ihr Leben lang in einem kleinen Städtchen verbracht, Haltern am See. Haltern ist ein beschaulicher Ort. Heute leben dort etwas mehr als 37.000 Menschen, es gibt Kirchen, Altersheime, ein Krankenhaus, eine Polizeiwache, Supermärkte, eine Altstadt mit Springbrunnen, Eisdielen und Pizzerien, einen Stausee, ein Römermuseum, einen Kletterwald, ein paar Bauernhöfe, ein paar Kneipen, eine Disko. Von dort, wo ich aufgewachsen bin, in einem Vorort westlich von München, bis nach Haltern waren es acht Stunden. Als Kind habe ich meine Oma also vor allem in den Ferien gesehen und von einem Treffen bis zum nächsten vergingen oft Monate. Jedes Mal, wenn wir sie besuchten, berichtete meine Oma, was in der Zwischenzeit passiert war: in der Großfamilie, in ihrem Bekanntenkreis, in dem kleinen Städtchen, in dem sie lebte. Und jedes Mal waren die Neuigkeiten schrecklich: Jemand war ausgeraubt worden, an Krebs erkrankt, hatte eine Fehlgeburt erlitten, einen Job verloren, war spielsüchtig geworden oder viel zu früh gestorben. Obwohl es mehr als zwei Jahrzehnte her ist, kann ich mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich dachte: die armen Menschen in Haltern. Ständig passiert irgendein Unglück! Das Leben dort ist viel gefährlicher als bei uns zu Hause. Was haben die nur für ein Pech!

Erst viele Jahre später verstand ich, dass das nicht stimmte. Denn neben den beunruhigenden Neuigkeiten, die meine Oma zu berichten hatte, gab es natürlich auch andere. Bloß erschienen ihr die nicht berichtenswert, oder vielleicht: nicht spannend genug, nicht außergewöhnlich.

Als ich diese Tatsache verstand, arbeitete ich bereits seit einiger Zeit als Journalistin und mein Blick, vor allem mein beruflicher, hatte sich dem meiner Oma angenähert. Mein Job war es, nach Neuigkeiten zu suchen, und weil ich hoffte, die Welt mit meiner Arbeit ein bisschen besser machen zu können, waren die Neuigkeiten oft: Ungerechtigkeiten, Missstände, Dinge, die eigentlich anders laufen sollten.

Ich berichtete über den katastrophalen Zustand des griechischen Gesundheitssystems während der Finanzkrise 2012. Ich besuchte Apotheken in Athen, die kaum noch Medikamente zu verkaufen hatten, sprach mit Wartenden in Arztpraxen, die Angst hatten, nicht mehr behandelt zu werden, und besuchte ein Krankenhaus, in dem Patient*innen auf den Fluren aneinandergereiht in ihren Betten lagen.

Ich schrieb über die mangelnde Versorgung traumatisierter Bundeswehrsoldaten, ließ mir die Bilder zeigen, die sich in ihre Herzen eingebrannt hatten – blutige Körper, abgerissene Beine, ein von einer Bombe zerfetzter Bus –, und las die Beurteilungen vonseiten der Regierung, denen zufolge die Traumata der Soldaten nicht auf den Afghanistaneinsatz zurückzuführen waren, sondern auf eine schwierige Kindheit.

Ich recherchierte zu Kinderarmut in Hamburg, traf Schüler*innen, die zu Hause weder Frühstück noch Mittagessen bekamen, und sprach mit einem Sozialarbeiter, der erzählte, dass viele Jugendliche außer »arbeitslos« und »Superstar« keine Visionen für ihre Zukunft kennen würden. Probleme suchen und finden: Das war nicht nur etwas, das zu meinem Beruf gehörte. Es war das, was meinen Beruf ausmachte. Jedenfalls so, wie ich ihn damals verstand.

Das änderte sich im Herbst 2013, als ich nach Kabul zog. Ich war damals 27, hatte kein finanzielles Polster und keine Vorstellung davon, wie ich für meine Sicherheit sorgen würde. Aber ich wusste auch: Wenn ich das wirklich will – in Afghanistan leben –, dann werde ich es schon hinkriegen.

Vor meiner Abreise hatte ich in Gedanken einige Worst-Case-Szenarien durchgespielt: Wenn ich mich nicht wohlfühlen würde oder unsicher, würde ich sofort wieder abreisen – ich versprach mir selbst, nicht unnötig Heldinnenmut zu beweisen. Wenn ich verletzt oder angeschossen würde, wüsste ich, wie ich mich selbst erstversorgen könnte. Wenn ich entführt werden sollte, würde meine Familie schnell davon erfahren, weil ich mich alle paar Stunden bei meinem Bruder meldete. Er hatte eine Liste von Personen, die er kontaktieren und die alles Notwendige in die Wege leiten würden, sollte er länger nicht von mir hören. Ich hatte eine Versicherung, die Lösegeld bis zu einer halben Million Euro bezahlen würde. Und auch für den Fall, dass ich sterben sollte, war alles geregelt. Ich hatte ein Testament geschrieben und meine Beerdigung geplant. Sogar die Einladung hatte ich vorbereitet. »Meine allerletzte Party« stand vorne drauf. Ich hatte an alles gedacht. Jedenfalls glaubte ich das.

Die erste Geschichte, die ich in Kabul recherchierte, handelte von drogensüchtigen Kindern. Ich fuhr in eines der vielen Armenviertel in der Stadt und besuchte eine Familie, in der zuerst der Vater, dann die Mutter drogensüchtig geworden waren und deren vier Kinder nun auch alle abhängig waren. Eine andere Frau, die ich im Büro einer NGO traf, hatte acht Kinder. Sie alle waren abhängig, auch der Jüngste, ein Baby, gerade mal ein Jahr alt.

Als mir die älteste Tochter die Geschichte ihrer Familie erzählte, fühlte es sich an, als zerbräche mein Herz in tausend Stücke.

»Ich heiße Faima und bin vierzehn Jahre alt. Ich nehme vier oder fünf Mal am Tag Drogen: Marihuana, Opium, Heroin. Meine Geschwister auch. Unsere Eltern sind abhängig, meine Mutter bettelt, mein Vater ist den ganzen Tag zu Hause und raucht. Gerade hat er geschlafen, wir haben ihn eingesperrt und uns weggeschlichen. Wenn er bemerkt, dass wir hier sind, verprügelt er uns.«

»Bist du gerade high?«

»Ja. Als die Frau von der NGO uns fragte, ob wir mitkommen können, war ich dabei, Heroin zu nehmen.«

»Was hältst du von den Drogen?«

»Sie sind gut.«

»Warum?«

»Ich fühle mich ruhig, wenn ich sie nehme. Ich habe keine Schmerzen mehr.«

»Weißt du, wann du angefangen hast?«

»Ich war hungrig und wir hatten nichts zu essen. Da hat mein Vater mir Opium gegeben und gesagt: Hier, danach wirst du dich besser fühlen. Meine Geschwister und ich verkaufen Plastiktüten in der Stadt, um Geld für meinen Vater zu verdienen. Dann kaufen wir Drogen und bringen sie nach Hause. Ich bin verlobt. Mein Vater hat gesagt: Wir haben kein Geld, du solltest heiraten.«

»Wie findest du das?«

»Ich hoffe, ich kann nach der Hochzeit aufhören. Ich werde nicht mehr daheim wohnen und nicht mehr so arm sein, das macht es leichter. Aber ich werde meine Geschwister vermissen.«

»Fühlst du dich für sie verantwortlich?«

»Klar, ich bin die Älteste. Ich kümmere mich um sie. Bald muss meine Schwester Shila das machen, sie ist zwölf Jahre alt. Ich bringe ihr schon alles bei, was wichtig ist.«

»Was heißt alles?«

»Wie man Drogen zubereitet. Das mache sonst immer ich.«

»Und was denkst du über deinen Vater?«

»Ich bin wütend auf ihn. Wegen der Drogen. Und weil er uns nicht zur Schule gehen lässt. Wir müssen jetzt gehen. Ich will zu Hause sein, bevor er aufwacht.«

Ihre Mutter saß während des Gesprächs daneben. Sie sagte mir, es mache sie traurig, wenn sie ihre Kinder so sähe. »Es erinnert mich an die Zeit, als ich so alt war wie sie. Daran, wie ich angefangen habe.«

Als ich der Tochter dabei zuhörte, wie sie über ihre Zukunft sprach, fühlte ich eine Ohnmacht, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte.

Am Abend nach diesem Gespräch konnte ich nicht aufhören zu denken. Egal, in welche Richtung ich mir das Schicksal dieser Familie ausmalte, ich sah keinen Ausweg. Mir wurde schlecht, ich bekam Kopfweh und ich merkte, dass ich irgendetwas Positives an dieser Geschichte finden musste, damit ich es überhaupt schaffen würde, weiter an ihr zu arbeiten. Aussichten auf Besserung gab es im Grunde nicht. Die Helfer*innen, die versuchten, den Familien zur Seite zu stehen, waren vollkommen unterfinanziert und Drogensüchtige wurden in der Gesellschaft extrem stigmatisiert. Ein Mitarbeiter der UN hatte mir erzählt, dass in vielen Orten die Leichen der Süchtigen nicht mal auf dem Friedhof begraben werden dürfen. Und die Drogen waren nur eins von vielen Problemen – vielleicht sogar nur: das Symptom. Armut, Gewalt, Hunger, Krieg. Alles Dinge, die sich nicht einfach so ändern ließen.

Ich fand bei meiner Suche nach etwas Gutem also nur etwas Winziges, noch kleiner als ein Hoffnungsschimmer: Die Liebe, die die Familien trotz allem verband.

Als ich eine der Mütter fragte, wie sie begonnen hatte, Drogen zu nehmen, erzählte sie, dass ihr Mann ihr das erste Mal Opium gegeben habe, als sie starke Schmerzen hatte. Und dass auch sie selbst angefangen habe, ihrer Tochter Drogen zu geben, um deren Schmerz zu stillen.

Am Ende schrieb ich:

Es gibt in dieser Geschichte wenig, was Mut macht. Vielleicht sind es die beiden Töchter, die versuchen, sich gegen das Erbe ihrer Eltern zu wehren. Faima, die wütend ist auf ihren Vater, weil er ihr verbietet, sich behandeln zu lassen. Die zur Schule gehen will und sich um ihre Geschwister kümmert. Und Sorman, die versucht, sich der Droge zu verweigern, die seit acht Jahren ihr Leben bestimmt. Indem sie immer wieder sagt, sie will kein Opium nehmen. »Wie stellst du dir deine Zukunft vor?« »Ich will nicht als Junkie enden. Ich will die Schule fertig machen und Ärztin werden. Ich will den Leuten in unserem Viertel helfen.« »Redest du mit deinen Eltern über die Drogen?« »Ich sage meiner Mutter, dass sie aufhören soll. Sie verspricht, mit meinem Vater zu reden. Aber das bringt nichts. Dann sage ich meinem Vater, dass er aufhören soll. Wenn er aufhört, Drogen zu nehmen, kann er nicht arbeiten, meint er. Nur wenn er Drogen nimmt, sei er stark genug, um Geld zu verdienen. Manchmal, wenn ich die Kinder in der Schule sehe, denke ich: Warum kann meine Familie nicht so sein? Warum sind wir alle abhängig?«

Die Antwort darauf ist so brutal, dass man sie eigentlich niemandem zumuten kann, erst recht keinem Kind: Weil deine Eltern Schmerzen hatten, die sie nicht ertragen konnten. Und weil sie auch deinen Schmerz nicht ertragen konnten. Weil sie dich lieben.

Viele der Menschen, die in Afghanistan süchtig werden, nehmen die Drogen als selbst verordnete Medikamente gegen die Härten des Lebens, heißt es in einem UN-Bericht von 2009. Opium als Antwort auf den Schmerz einer ganzen Nation. An dem, was es betäuben hilft, kann man ablesen, worunter die Menschen leiden: zu wenige Jobs, zu wenig Essen, zu wenige Ärzte, zu viel harte Arbeit, zu viele Krankheiten, zu viel Angst.

Nadia verteufelt ihren Mann dafür, dass er ihr Opium gegeben hat, aber bei ihren Kindern macht sie dasselbe. Die vierzehnjährige Faima verflucht ihre Eltern für ihre Sucht, aber wenn sie an ihre bevorstehende Hochzeit denkt, ist ihre größte Sorge, wer danach den Geschwistern die Drogen zubereiten soll.

Alle wollen den Schmerz der anderen betäuben. Und verstärken ihn nur.3

Nachdem ich den Text abgeschickt hatte, fühlte ich mich erschöpft, vollkommen ausgelaugt und leer. Ich dachte, es läge an meinem Arbeitspensum, am Schlafmangel und am Kulturschock – schließlich war ich erst zwei Wochen zuvor überhaupt in Kabul angekommen. Aber es war etwas anderes: Ich fühlte mich leer, weil die Geschichten mir jegliche Lebenskraft entzogen hatten.

Während der nächsten eineinhalb Jahre, die ich in Kabul verbrachte, erlebte ich das immer wieder: Wenn um mich herum zu viel Negatives passierte, wenn ich zu viele aussichtslose Geschichten hörte, zog es mir den Boden unter den Füßen weg.

Mit der Zeit gewöhnte ich mir an, in solchen Momenten eine Vollbremsung zu machen. Ich sagte alle Termine ab, ging für ein paar Tage nicht aus dem Haus, spielte Brettspiele, schaute Naturdokus, so lange bis es mir besser ging und ich wieder für eine Weile an das Gute in der Welt glauben konnte.

Nach einigen Monaten begann ich gezielt nach Geschichten zu suchen, die Mut machten – nicht aus einer politischen oder journalistischen Agenda heraus, sondern weil ich Angst hatte, sonst komplett durchzudrehen. Ich brauchte die Geschichten. Ich brauchte den Mut und die Zuversicht, die sie mir gaben.

Was ich fand, waren nicht: Geschichten ohne Probleme. Es waren Geschichten, in denen es um mehr ging als nur um ein Problem. Problem plus X. Im besten (und im seltensten) Fall war das X die Lösung des Problems. Deutlich öfter war es eine Person, die alles dafür gab, damit sich Dinge ändern, und die damit anderen Zuversicht schenkte; eine Idee, die das Problem lösen könnte – auch wenn die Lösung selbst noch weit weg erschien; Menschen, die nicht aufgaben, auch wenn das Leben sich ihnen hoffnungslos präsentierte. Ich wollte zeigen, dass es für jeden Missstand einen Ausweg gibt. Dass wir jede, wirklich jede Geschichte so erzählen können, dass sie uns Mut macht. Daran glaube ich bis heute, aus ganzem Herzen: Es gibt in jeder Situation einen Lichtblick. Manchmal müssen wir nur sehr lange, und sehr genau, danach suchen.

Verzweiflung ist unrealistisch

Als ich nach knapp eineinhalb Jahren Afghanistan zurück nach Deutschland zog, begannen mein Partner und ich, einen Dokumentarfilm zu planen. Wir wollten mit Überlebenden eines Selbstmordanschlags in Kabul sprechen. Wir dachten, es würde ein Film über die Folgen des Kriegs werden; das Trauma, das die, die ihn erleben müssen, noch jahrzehntelang begleitet. Doch am Ende wurde True Warriors ein Film über das Weitermachen, das Nicht-Aufgeben; nicht nur eine Geschichte über das Überleben, sondern über das Leben selbst. Die Protagonist*innen in unserem Film sprachen nicht nur über die lähmende Angst, die der Anschlag bei ihnen ausgelöst hatte. Sie erzählten auch, wie sie es geschafft hatten, zurück ins Leben zu finden. Wie sie am Ende stärker geworden waren durch das, was ihnen passiert war.

Für den Film beschäftigte ich mich, über die konkrete Geschichte hinaus, mit Terror und mit der Angst, die er auslöst.

Dabei stieß ich auf das Buch The Psychology of Terrorism Fears der beiden Wissenschaftler Samuel Justin Sinclair und Daniel Antonius. Sie haben erforscht, wie sich die Angst vor Terroranschlägen auf unsere Gesellschaft auswirkt: Auch Jahre nach einem Attentat werden Menschen noch von ihren Ängsten beeinträchtigt. Diese Ängste beeinflussen Menschen bei der Frage, wo sie leben und arbeiten, wen sie wählen und wie sie sich in politischen Diskursen positionieren, mit welchen Leuten sie sich umgeben und wie sie sich auf die Zukunft vorbereiten.4 Die Autoren beschreiben, dass die andauernden Nachrichten über mögliche Bedrohungen nach den Anschlägen vom 11. September den gleichen Effekt gehabt hätten, »wie wenn dir jemand entgegenschreien würde, dass du nur zeitlich begrenzt und vergänglich bist«.5Mit der Zeit könne dieses Dauerfeuer an Warnungen zu Apathie, dem Gefühl emotionaler Gelähmtheit, führen.

Was mich am meisten überraschte: Die Forscher hatten herausgefunden, dass davon nicht nur diejenigen betroffen waren, die Terrorismus tatsächlich erlebt hatten, sondern auch diejenigen, die ständig Berichte über Terrorismus hörten oder sahen. Mit anderen Worten: Nachrichtenkonsum kann dazu führen, dass wir uns ähnlich fühlen und verhalten wie Menschen, die tatsächlich einen Terroranschlag erlebt haben.

Der Traumaforscher Dr. Philip Zimbardo hat in diesem Zusammenhang sogar einen neuen Begriff geprägt. Er spricht von »Prätraumatischer Belastung«.6 Anders als bei Posttraumatischer Belastung entsteht der Stress nicht, nachdem das traumatische Ereignis passiert ist, sondern bevor es passiert. In vielen Fällen sogar: ohne, dass es überhaupt jemals passiert. Das gilt nicht nur für Terror, sondern für alles, was uns in Angst versetzen kann. Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen, Flugzeugabstürze, Krebserkrankungen, eine Pandemie. Je mehr Warnungen wir über eine Bedrohung hören, desto mehr Angst haben wir, dass wir selbst davon betroffen sein könnten. Das, was uns eigentlich schützen soll – Informationen, Warnungen, Sicherheitshinweise –, macht uns kaputt, wenn wir es zu oft hören.

~

So drastisch die Ergebnisse der Forscher waren, sie erleichterten mich dennoch. Bis dahin hatte ich angenommen, dass meine Reaktion auf Nachrichten mein persönliches Problem war. Ein Knacks, den ich akzeptieren und dem ich mein Leben entsprechend anpassen wollte, aber dennoch: ein Knacks. Obwohl ich damals schon mehr als zwei Jahre lang die Erfahrung gemacht hatte, dass es mir guttat, keine Nachrichten mehr zu konsumieren; dass ich den Menschen in meinem Umfeld mehr Mut und Zuversicht geben konnte und dass auch meine Geschichten aussagekräftiger und stärker geworden waren, seitdem ich begonnen hatte, darin nicht mehr nur ausschließlich Negatives zu beschreiben, sah ich das Ganze immer noch als eine Art Fehler von mir. Eine Charakterschwäche, die nichts mit der Welt um mich herum zu tun hatte. Ich dachte, ich muss so schreiben, damit ich überhaupt noch schreiben kann. Damit ich es aushalte.

Die Ergebnisse der Angstforscher halfen mir, die Dinge anders zu sehen: Meine Schwäche war keine Schwäche. Sie war eine ziemlich durchschnittliche Reaktion für jemanden, die Tag für Tag mit Ungerechtigkeit und Gewalt konfrontiert ist. Und das sind wir alle. Nachrichten erreichen uns überall. Woche für Woche erfahren wir von Dutzenden Unglücken, die auf der ganzen Welt passiert sind.

Zahlreiche Studien haben inzwischen gezeigt, welche Effekte der dauerhafte Konsum von negativen Nachrichten auf uns hat. Wir bekommen Angst. Wir schämen uns. Wir entwickeln Schuldgefühle, weil wir nicht noch mehr tun, um die Welt zu verbessern. Wir verlieren Antriebskraft, wir werden zynisch, gestresst, verhalten uns passiv. Wir sind weniger motiviert, Dinge zu verändern. Wir betrachten Missstände als unveränderlich und nicht als zeitlich begrenzte, änderbare Zustände.

In ihrem Buch Hoffnung in der Dunkelheit beschreibt die Historikerin Rebecca Solnit, dass Verzweiflung ein bestimmender – und lähmender – Faktor politischer Debatten geworden ist. Manche begriffen ihre Verzweiflung als einen Akt der Solidarität mit den Unterdrückten, unabhängig davon, ob die Unterdrückten sich selbst überhaupt als solche betrachten, aus dem einfachen Grund, dass sie schon ein Leben hatten, bevor sie zu Opfern wurden – und auch noch auf ein Leben danach hoffen. Außerdem gäbe es diejenigen, die aus persönlichen Gründen verzweifelt sind, ihre Verzweiflung nach außen hin aber in Form politischer Analysen zeigen, oft gepaart mit der Behauptung, früher sei alles besser gewesen als heute. Als Drittes diejenigen, die ihre Verzweiflung nutzen, um sich aufzuspielen. Laut Solnit schreiben wir dem Überbringer schlechter Nachrichten häufig eine Autorität zu, die wir denen nicht zugestehen, die einen Sachverhalt in seiner Vielschichtigkeit abbilden. Es sei immer leichter, sich den Weltuntergang vorzustellen als die verworrenen Pfade, auf denen wir in Richtung Zukunft stolpern. Und schließlich diejenigen, die schlichtweg ausgebrannt sind. Die sich beim ehrlichen Versuch, etwas zu verändern, zu sehr verausgabt haben und nun von ihrem Scheitern frustriert sind.7

In ihrer Analyse bezieht sich Solnit auch auf die Feministin Susan Griffin. Sie ist 1943 geboren und als Adoptivkind einer jüdischen Familie in den USA aufgewachsen. Von ihr stammt das Zitat: »Ich habe in meinem Leben genug Veränderung gesehen, um zu wissen, dass Verzweiflung nicht nur selbstzerstörerisch ist, sondern auch unrealistisch.«8

Verzweiflung ist unrealistisch. Und ehrlich gesagt auch etwas bequem. Wenn sowieso alles den Bach runtergeht, warum sollten wir uns dann überhaupt noch darum bemühen, dass sich die Dinge ändern? Das gilt auch für meinen Beruf. Selbst bei investigativen Recherchen: ausschließlich Missstände aufzudecken ist deutlich einfacher, als zusätzlich Lösungswege zu beschreiben. Und trotzdem machen viele Journalist*innen genau das: In der festen Überzeugung, so am meisten Betroffenheit und Aufmerksamkeit auszulösen, beschreiben sie jede Krise so drastisch wie möglich. Lösungen sollen andere finden. Doch je drastischer und negativer ein Problem beschrieben wird, umso weniger setzen wir uns dafür ein, dass es gelöst wird – ganz einfach, weil wir nicht mehr daran glauben, dass Wandel überhaupt noch möglich ist. Und so glauben, Nachricht für Nachricht, immer weniger Menschen daran, dass sie einen Einfluss auf Politik und Gesellschaft haben.

»Sich ständig auf das Schlimmste vorzubereiten ist eine ungesunde und kontraproduktive Art zu leben. Es bedeutet, mit dem ständigen Fokus auf den eigenen bevorstehenden Tod zu leben«, heißt es in The Psychology of Terrorism Fears.9

Je mehr ich mich mit Angst und ihren Folgen beschäftigte, desto besser verstand ich, warum sich meine Art, Geschichten zu erzählen, so grundlegend verändert hatte: Ich sah einfach keinen Grund dafür, die Welt noch negativer darzustellen, als sie ohnehin schon war. Noch negativer, als wir sie ohnehin schon sehen. Bis heute schreibe ich meine Texte in dieser Haltung. Und ich habe angefangen, anderen davon zu erzählen, in Seminaren für konstruktiven Journalismus in Redaktionen und an Journalist*innenschulen, in Vorträgen – und jetzt in diesem Buch.

Geschichten anders erzählen

Kurz nachdem ich als Kind damit begonnen hatte, Zeitung zu lesen, blieb ich an einem Artikel hängen über eine Frau, die auf ihrem Heimweg von einer Gruppe Jugendlicher angegriffen, mit Steinen beworfen und dann verprügelt worden war. In dem Text wurde ihr Schmerz beschrieben, ihr Gefühl von Ohnmacht und ihre Angst, die sie seither begleitete, sobald sie alleine unterwegs war. Die Geschichte war packend geschrieben. Beim Lesen hatte ich die Szene des Angriffs bildlich vor Augen, fast so, als wäre ich tatsächlich dabei gewesen. Auch die Angst der Frau konnte ich nachfühlen. Noch mehr: sie blieb. Über Jahre hinweg dachte ich daran, wenn ich irgendwo alleine unterwegs war. Über Jahre hinweg hatte ich in diesen Momenten Angst, und das, obwohl mir selbst nie etwas Derartiges passiert war. Der Artikel über die Frau ist nur ein besonders einprägsames Beispiel dafür, wie langfristig ausschließlich negativ erzählte Geschichten unser Leben beeinflussen. Ich habe hunderte solcher Texte gelesen. Und in vielen von ihnen wurde mehr Gewalt beschrieben, als die meisten von uns in ihrem ganzen Leben erfahren.

Natürlich ist nichts falsch daran, über Gewalt und ihre Folgen zu berichten. Sie existiert. Sie ist Teil unserer Realität. Aber wenn wir nur über sie berichten – und nicht auch über Wege, sie zu überwinden –, tragen wir ungewollt dazu bei, dass sich Angst und Schmerz weiter verbreiten. Wir verankern Glaubenssätze, die über Jahre das Handeln derjenigen beeinflussen können, die unsere Geschichten hören, lesen oder sehen. Wir geben der Gewalt eine neue Bühne. Wir verhelfen ihr zu mehr Macht, selbst wenn wir eigentlich genau das Gegenteil erreichen wollen.

Es geht nicht darum, die Geschichte der Frau, die angegriffen worden ist, nicht zu erzählen. Es geht darum, sie anders zu erzählen. Was, wenn die Autorin miterzählt hätte, wie die Frau es irgendwann geschafft hat, ihre Angst zu überwinden? Oder, falls das in diesem Fall nie passiert ist, wie eine andere Frau, die etwas Ähnliches erlebt hat, ihre Angst überwinden konnte, und wer oder was ihr dabei geholfen hat. Was, wenn sie von einer Frau erzählt hätte, der es gelungen war, sich zu wehren; was ihr dabei geholfen hat und was andere Frauen tun können, um sich in einer solchen Situation zu verteidigen? Was sie im Nachhinein tun können, um sich nach so einem Angriff wieder stark zu fühlen.

Wie hätte ich mich gefühlt, beim Lesen eines solchen Textes und in den vielen Momenten danach, in denen ich alleine unterwegs war? Wie hätte das mein Leben verändert?

Und noch viel wichtiger: Wie hätte es das Leben der Frau verändert, von der die Geschichte handelte? Auch sie hat den Text ja vermutlich gelesen.

Die Schwarze Politikerin Aminata Touré beschreibt, wie sich diese einseitige Art zu erzählen für Betroffene von Gewalt oder Diskriminierung anfühlen kann:

Wenn man aber dazu übergeht, von schönen Erlebnissen zu berichten, weil es diese zeitgleich geben kann, weil man auch Solidarität oder Empathie erlebt hat, passiert Folgendes: Jede schöne Erzählung aus dem eigenen Leben wird als Waffe gegen einen verwendet, um die Forderungen zu delegitimieren und die Existenz von Phänomenen wie Rassismus oder Sexismus infrage zu stellen.10

Menschen mit schlimmen Erfahrungen würden gezwungen, Freude und Leichtigkeit zu rechtfertigen. Obwohl es genau diese Freude sei, die zeige, wie das Leben sein sollte.

Wir schmälern das Leid nicht, indem wir neben ihm auch Lösungsansätze erzählen. Wir nehmen die sogenannten Opfer nicht weniger ernst, wenn wir sie nicht nur als hilflos und ausgeliefert darstellen. Im Gegenteil: Erst wenn wir sie nicht mehr ausschließlich als »Opfer« betrachten, begegnen wir uns auf Augenhöhe. Warum sollten wir nichts lernen können von einer Person, der etwas Schlimmes widerfahren ist?

Es geht nicht darum, Negatives auszusparen, nur noch Wohlfühlgeschichten zu erzählen oder Recherchen auf irgendeine Weise »weicher« zu machen. Im Gegenteil: Gerade politische, kritische, hart recherchierte und investigative Geschichten profitieren davon, wenn Journalist*innen auch mögliche Auswege berichten. Die Psychologin Jodie Jackson bringt es in einem Interview auf den Punkt: »Wer aufzeigt, dass ein als unlösbar geltendes Problem lösbar ist, übt Druck aus auf Regierung und Opposition – und hinterfragt so die Machtverhältnisse.« 11

Und es geht nicht nur um Nachrichten. Der Fokus aufs Negative bestimmt eine ganze Kultur des Erzählens. Wir hangeln uns von Problem zu Problem, von Herausforderung zu Herausforderung, von einer Krise zur nächsten. Egal, ob Journalist*in oder nicht: Wir alle senden Tag für Tag Botschaften und Nachrichten, mit denen wir die Menschen um uns herum beeinflussen.

Bei den meisten von uns ist der Negativ-Filter zum Standard geworden. So sehr, dass wir oft gar nicht merken, dass wir ihn benutzen; dass es ihn überhaupt gibt. Denken wir einmal kurz nach: Wovon erzählen wir unseren Kolleg*innen, unseren Freund*innen, unseren Partner*innen, unseren Kindern? Von den guten, schönen, überraschenden Momenten in unserem Leben? Oder von dem, was schiefläuft? Von Stress und Streit, von Pannen, Ärgernissen, Schwierigkeiten, Problemen?

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Indem wir die Art verändern, mit der wir unsere Geschichten erzählen, können wir nicht nur unser eigenes, sondern auch das Leben der Menschen um uns verändern. Wie das geht? Das werden wir gemeinsam herausfinden. Dieses Buch wird unseren Weg begleiten. Wir werden erforschen, inwiefern Geschichten unser Denken beeinflussen. Wir werden verstehen, welche Vorgänge in unserem Gehirn passieren, bevor wir uns entscheiden, ob wir unseren Freund*innen lieber die eine oder die andere Sache erzählen wollen. Wir werden merken, welche Erzählmuster sich in unseren Alltag geschlichen haben, und wir werden lernen, uns von ihnen zu befreien. Wir werden trainieren, Nachrichten so zu lesen, dass sie uns nicht länger kaputt machen, sondern uns tatsächlich informieren. Schritt für Schritt werden wir begreifen, wie wir Geschichten so erzählen können, dass sie uns guttun, anstatt uns zu schaden.

Nach jedem Kapitel finden Sie eine Handvoll Experimente, mit denen Sie die Geschichten in Ihrem Umfeld, Ihrem Leben und in Ihrem Kopf erforschen können. Sie können alle Experimente am Stück angehen oder hin und wieder einzelne ausprobieren. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Je mehr Sie experimentieren, desto bereichernder wird die Erfahrung sein. Desto einfacher wird es Ihnen fallen, konkrete Dinge in Ihrem Alltag zu verändern.