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Ronja Wurmb-Seibel

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Beschreibung

Seit es Menschen gibt, sichert uns das Prinzip von Gemeinschaft und Zusammenhalt wortwörtlich das Überleben. Entdecken wir es neu!

Es ist das Paradox unserer Zeit: Wir fühlen uns so vernetzt wie nie, aber gleichzeitig steigt die Sehnsucht nach echter Verbundenheit. Kein Wunder, denn das ist evolutionär in uns angelegt: Menschen brauchen Menschen.

In ihrem neuen Buch beschreibt Bestsellerautorin Ronja von Wurmb-Seibel, warum Verbundenheit nicht nur auf individueller Ebene – gute soziale Beziehungen sind ein maßgeblicher Faktor für unsere Gesundheits- und Altersvorsorge –, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene wichtiger ist denn je.

Zusammenhalten können ist das, was uns Menschen ausmacht. Hier erfahren wir, wie es gelingt.

»Dieses Buch macht Mut und steckt an. Zusammen können wir die Probleme unserer Zeit angehen - und tatsächlich etwas bewirken! Ein kluger, lebensfroher Wegweiser raus aus der Dauerkrise.« Carolin Kebekus

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Seitenzahl: 247

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Über das Buch:

Es ist das Paradox unserer Zeit: Wir fühlen uns so vernetzt wie nie, aber gleichzeitig steigt die Sehnsucht nach echter Verbundenheit. Kein Wunder, denn das ist evolutionär in uns angelegt: Menschen brauchen Menschen. In ihrem neuen Buch beschreibt Bestsellerautorin Ronja von Wurmb-Seibel, warum echte Verbundenheit nicht nur auf individueller Ebene (gute soziale Beziehungen sind ein maßgeblicher Faktor für unsere Gesundheits- und Altersvorsorge), sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene wichtiger ist denn je. Viele der Herausforderungen, mit denen wir heutzutage konfrontiert sind, werden sich schwer lösen lassen, wenn wir nicht versuchen, uns miteinander zu verbünden, wo immer es möglich ist.

Zusammenhalten können ist das, was uns Menschen im Kern ausmacht. Dieses Buch zeigt, wie es gelingt. Es gibt eine Menge Orte, an denen wir loslegen können – und zwar: gemeinsam!

Über die Autorin:

Ronja von Wurmb-Seibel ist mehrfach ausgezeichnete Journalistin, Autorin und Filmemacherin. Knapp zwei Jahre hat sie als Reporterin in Kabul gelebt und dort – umgeben von schlechten Nachrichten – gelernt, Geschichten so zu erzählen, dass sie Mut machen. Darüber hat sie mit »Wie wir die Welt sehen« einen Bestseller geschrieben. Inzwischen hat sie im bayerischen Dünzelbach gemeinsam mit ihrem Partner ein Gästehaus für Künstler*innen gegründet, in dem sie mal mit Kreativen zusammenlebt, mal mit Freiwilligen. »Zusammen« ist ihr drittes Buch.

Ronjavon Wurmb-Seibel

Warum wir für ein gutes Leben Verbündete brauchen — und wie wir sie finden

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Julia Sterthoff, Kathrin Sabeth Ohl, Hamburg

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN978-3-641-31831-4V002

www.koesel.de

Inhalt

Eins: Zusammen! Nur eine Utopie?

Zwei:Warum wir Verbündete brauchen — und Einsamkeit kaputt macht

Drei:Allein, allein. Wie einsam sind wir eigentlich?

Vier:Das Geheimnis des gesunden Älterwerdens

Fünf:Warum es uns (manchmal) schwerfällt, neue Menschen in unser Leben zu lassen — und wie wir das ändern können

Sechs:Die Kunst, Verbündete zu finden

Sieben:Wie wir eine Community starten

Acht:In Zukunft zusammen — unser neues Leben als Verbündete

Dank

Literatur

Quellen

FÜR Y

May you never walk alone.

Perhaps we don’t know ourselves unless we know others.

Rebecca Solnit

Eins:Zusammen! Nur eine Utopie?

Die Einladung kam überraschend. Irgendwann letzten Winter rief eine Bekannte aus unserem Dorf an und fragte, ob wir Lust hätten, an einem besonderen Abendessen teilzunehmen: Ein Sechs-Gänge-Menü, zubereitet von einem jungen Koch, der einige Zeit in einem Sterne-Restaurant in Kolumbien gearbeitet hatte. Er war seit ein paar Wochen zu Besuch bei unserer Bekannten und half auf ihrem Hof aus. Zusammen mit seiner Partnerin würde er alles frisch zubereiten, das Essen wäre vegetarisch-mexikanisch. Als Gäste wären ausschließlich Personen eingeladen, die sich jeweils noch nie zuvor begegnet waren, darunter mein Partner Nik und ich.

In unserem Dorf leben 470 Menschen. Es gibt kein Wirtshaus, kein Restaurant, keine Bar, kein Café. (Nur eine Bäckerei mit Tante-Emma-Laden, aber das ist eine andere Geschichte. Ich erzähle sie später im Buch.) Von dort, wo wir leben, bis zum nächsten Restaurant sind es mehrere Kilometer. Im näheren Umkreis gibt es Indisch, Bayerisch und Pizza. Sonst nichts. Nik und ich lieben Essen – wir mussten also nicht lange überlegen, als unsere Bekannte anrief, und sagten zu.

Ein paar Tage später machten wir uns auf den Weg. Obwohl der Abend gerade erst begonnen hatte, war es draußen längst dunkel. Februar, die Zeit der langen Nächte. Unsere Bekannte wohnt am anderen Ende des Dorfes. Wir waren zuvor erst zwei Mal bei ihr gewesen. Es lag nicht daran, dass wir uns nicht sympathisch waren. Irgendwie war nur immer viel los gewesen, seit Nik und ich vor zweieinhalb Jahren aus Hamburg hierher gezogen waren.

Unterwegs durch die Dunkelheit bemerkten wir eine gewisse Aufregung. Wir freuten uns nicht nur auf das Essen, wir waren auch gespannt auf die anderen Menschen. Und so ganz verstanden hatten wir immer noch nicht, was es mit dem Abend eigentlich auf sich hatte.

Das Erste, was wir vom Haus unserer Bekannten sahen, war die hell erleuchtete Küche, die mit dem Esszimmer verbunden ist. Noch von draußen beobachteten wir durchs Fenster mehrere Personen geschäftig hin und her laufen, Geschirr verteilen, Töpfe öffnen, dann wieder schließen. Die Scheiben waren vom Dampf angelaufen. Wir klingelten, begrüßten unsere Gastgeberin und wollten direkt in die Küche. Der Geruch, der zu uns in den Flur drang, war einfach zu gut. »Halt«, sagte sie, »da geht es heute nicht lang. Wir essen woanders.« Dann lotste sie uns und die übrigen Gäste – insgesamt waren wir zehn Personen – in einen anderen Teil des Hauses, eine alte Scheune, die zu einem riesigen Loft im Industriestil ausgebaut war und normalerweise als Meditations- und Yoga-Raum diente.

Wo sonst Matten und Sitzkissen lagen, stand heute eine lange Tafel, festlich gedeckt und mit Menükarten bestückt. Darauf standen Gerichte wie »Gebratenes Gemüse auf Romesco-Sauce, Perl-Tapioka-Cracker und schwarzer Olivenasche«. Oder »Kokos-Kürbiseis mit Sonnenblumenkernpraline und Minze«. Unsere Gastgeberin erzählte, dass der Koch in letzter Minute ein paar der Gänge noch einmal ausgetauscht hatte, weil er mit der Kombination nicht zufrieden war. Mehr als eine Woche lang habe er sich vorbereitet. Begonnen habe er damit, die einzelnen Zutaten und Gänge auf Papier zu zeichnen. (Als wir den Koch später kurz kennenlernten, sahen wir, dass er sogar Zeichnungen von Essen auf seinem Körper tätowiert hatte.) Das eigentliche Kochen habe dann etwa drei Tage lang gedauert.

Schließlich erklärte unsere Gastgeberin noch einige Regeln für unseren Abend: Keine Handys am Tisch. Alle sollten gemeinsam ein Gespräch führen – und nicht wie sonst oft mehrere einzelne nebeneinanderher. Und es gab ein fixes Thema, um das sich unsere Unterhaltung drehen sollte: »Eine bessere Zukunft!«, sagte unsere Gastgeberin. »Egal, was ihr euch darunter vorstellt oder was es für euch bedeutet.« Dann kam auch schon der erste Gang: »Süßkartoffel-Cracker an Kaffee mit Orange und Süßkartoffelasche«.

Die nächsten fünf Stunden verbrachten wir damit, das Essen zu bewundern, die Art, wie es präsentiert wurde, zu bestaunen – mal auf bei Flohmärkten zusammengesammelten Vintage-Bilderrahmen, die mit Moos ausgelegt waren, mal auf schwarz verkohlten (noch warmen!) Stücken Brennholz – und »hmm« und »ohhh« und »wow« zu sagen, weil es uns mehrfach so vorkam, als hätten wir diesen einen konkreten Geschmack noch nie zuvor in unserem Leben gekostet. Ehrlich, das Essen war fantastisch!

Das wirklich Besondere an dem Abend, das, was mir bis heute in Erinnerung geblieben ist, war aber etwas anderes: unser Gespräch. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde hatten wir begonnen, eine nach dem anderen, Ideen, Fragen oder Wünsche zu erzählen, die wir jeweils mit einer besseren Zukunft verbanden. Schnell wurde klar, dass unsere Biografien, unsere Berufe, unser Alter und sogar unsere politischen Ansichten sich im Grunde fast nirgendwo trafen. Dennoch führte unser Gespräch ziemlich geradlinig und ohne Umwege zu einer gemeinsamen Frage. Wie kann es gelingen, mehr Community aufzubauen, mehr Gemeinschaft zu erleben, mehr Zusammenhalt? Trotz aller Unterschiede war das die eine Sache, die uns alle beschäftigte, wenn wir in Richtung Zukunft dachten.

Das Gespräch war nicht sehr theoretisch. Wir suchten – und fanden – konkrete Ideen. Jemand redete davon, wie sehr Essen verbinden kann, jemand anders erzählte von der Erfahrung, dass um Hilfe zu bitten, und sei es bei Kleinigkeiten, ein guter Weg sei, um erste Kontakte aufzubauen – egal ob zu Nachbar*innen oder Kolleg*innen. Jemand anders wiederum stellte fest, dass sie Lust hätte, in einem Café zu arbeiten, weil auch das ein Ort sei, an dem Leute zusammenkommen und sich verbunden fühlen. Ein paar Sätze später waren wir gemeinsam bei der Idee eines Sonntags-Cafés gelandet, in dem jede Woche eine andere Person aus einem jeweiligen Dorf oder Stadtteil freiwillig kocht. Auf diese Weise würden, so war unser Gedanke, nicht nur immer unterschiedliche Gerichte auf den Tischen landen, sondern auch unterschiedliche Menschen an ihnen Platz nehmen.

So ging es den ganzen Abend. Wir waren uns nicht immer einig. Ich glaube nicht einmal, dass wir uns gegenseitig ausschließlich sympathisch fanden. Ich habe in der Zeit, die seit diesem Abend vergangen ist, außer der Gastgeberin keine der Personen wiedergesehen, und ich glaube nicht, dass jemand von ihnen unsere gemeinsame Idee vom Sonntags-Café umgesetzt hat.

Trotzdem ist bei mir an diesem Winterabend etwas entstanden, das bleibt. Die Frage, wie es sein kann, dass wir alle an diesem Abend auf Gemeinschaft und Zusammenhalt kamen, als wir anfingen, darüber nachzudenken, wie wir uns eine schönere Zukunft vorstellen.

Konnte es vielleicht sein, dass die Eingeladenen aus einem unwahrscheinlichen Zufall heraus überdurchschnittlich sozial vereinsamt waren? Ich glaube nicht. Alle, die an dem Abend mit am Tisch saßen, gingen einem geschäftigen Leben nach, pflegten Freundschaften, hatten Berufe, die sie, zumindest halbwegs, mit Sinn erfüllten.

Woran also lag es?

~

Wir alle leben heutzutage in einer Welt, die verbundener ist als je zuvor. Dennoch fühlen sich viele Menschen im Alltag einsam und sehnen sich nach neuen oder tieferen Verbindungen zu anderen Menschen. Bereits vor Beginn der Pandemie beschrieben etwa 14 Prozent der Menschen in Deutschland, dass sie sich einsam fühlten. Im Jahr 2021 verdreifachte sich dieser Wert. Fast die Hälfte aller Menschen, die in Deutschland leben, waren damals also von Einsamkeit betroffen.

Und auch nach der Pandemie hat sich das leider nicht grundlegend geändert. Laut dem Deutschland-Barometer Depression, einer jährlich durchgeführten repräsentativen Befragung, fühlte sich 2023 noch jeder vierte Mensch in Deutschland einsam. Oft sei das Gefühl sogar unabhängig von der Zahl der tatsächlichen Sozialkontakte. 86 Prozent der Befragten glaubten, dass sich heute mehr Menschen einsam fühlen als noch vor zehn Jahren.1

Bei der Telefonseelsorge, die jährlich mehr als 1 Million Anrufe erhält, stand das Thema Einsamkeit 2023 an erster Stelle.2 Und die Stiftung Patientenschutz nennt Einsamkeit sogar »die größte Volkskrankheit in Deutschland«.3

»Wir alle wurden in unterschiedliche Communitys hineingeboren und sind in unterschiedlichen Communitys aufgewachsen«, schreibt die Autorin Radha Agrawal.

Wir sind Rudeltiere, und wir können nur in solchen Gemeinschaften voll aufblühen, denen wir uns wirklich zugehörig fühlen. Trotz dieses Bedürfnisses und unserer Sehnsucht nach authentischer Gemeinschaft, erfahren viele von uns sie heutzutage nicht mehr in ihrem Leben.4

Fragen wir einmal uns selbst: Wie ist es in unserem eigenen Leben? Wie viele Leute haben wir in unserem Umfeld, die wir regelmäßig sehen – abgesehen von unseren Arbeitskolleg*innen? In der Schulzeit war es noch ganz normal, jeden Tag stundenlang zusammen abzuhängen. Viele von uns haben diese Routine im Erwachsenenleben verloren. Wir verabreden uns manchmal Wochen im Voraus, wir planen, wir erwarten. Wir bauen Slots in unseren Alltag, in denen Freundschaften stattfinden. Aber wirklicher Teil des Alltags sind sie nur selten.

In den USA sagt jeder vierte Mensch von sich, dass er oder sie keine Person habe, der sie sich anvertrauen könne. Vor dreißig Jahren war diese Zahl nur ein Drittel so hoch. »Wir feiern unverwüstlichen Individualismus, Wettbewerb, Unabhängigkeit und gegen den Strom schwimmen schon so lange«, schreibt Radha Agrawal, »dass wir vergessen haben, wie wichtig ein kollektives ›Wir‹ ist – und wie gut es sich anfühlt.«5

Wozu das führt, erklärt die Sozialforscherin Brené Brown:

»Dass wir untrennbar miteinander verbunden sind, wird im Moment von uns weder anerkannt noch gefeiert. Vielmehr sind wir in fast allen Lebensbereichen von anderen getrennt.«6 Brown erforscht seit Jahren, unter welchen Umständen Menschen sich zugehörig fühlen. Immer wieder hätten Teilnehmende ihrer Studien die Sorge geäußert, dass das Einzige, was die Gesellschaft verbinde, geteilte Angst und Verachtung sei und nicht Menschlichkeit, Respekt, Vertrauen oder Liebe, so Brown.7

Vivek H. Murthy, der oberste Leiter der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde, geht sogar so weit, Einsamkeit als eines der größten gesundheitlichen Probleme unserer Zeit zu betrachten. Und als »beinahe universal-menschlichen Zustand«. Er beschreibt Einsamkeit wie einen Reflex, der uns zeigt, dass unser Bedürfnis nach menschlicher Verbindung nicht in dem Maße erfüllt wird, wie wir es brauchen: »Genau wie Hunger und Durst die Art unseres Körpers ist, uns zu sagen, dass wir essen und trinken müssen, ist Einsamkeit ein natürliches Signal, das uns daran erinnert, dass wir uns mit anderen Menschen verbünden müssen.«

Viele Menschen versuchen laut Murphy jedoch, dieses Gefühl zu unterdrücken, was sicher auch damit zu tun hat, dass Einsamkeit mit Scham behaftet ist. Den meisten fällt es schon schwer, überhaupt davon zu erzählen – geschweige denn, sich Hilfe zu holen, um etwas an ihrer Situation zu verändern.

Und das ist fatal.

Forschende der Universität Harvard untersuchen seit mehr als 80 Jahren, welche Faktoren dazu beitragen, wie alt wir werden. Die Studie begann im Jahre 1938 und läuft immer noch, es ist die weltweit längste und tiefgreifendste Studie überhaupt. Und sie zeigt seit Jahrzehnten ein eindeutiges Ergebnis: körperliche Gesundheit, finanzielle Sicherheit, soziale Schicht, Bildungsgrad, Gene, Status – alles schön und gut. Was wirklich zählt und vorauszusagen hilft, wie alt wir werden, ist allein die Qualität unserer sozialen Beziehungen.

»Einsamkeit tötet«, sagte Robert Waldinger, der Direktor der Studie. »Sie wirkt sich genauso heftig aus wie Rauchen oder Alkoholismus.«8

Inzwischen ist auch in anderen Studien breit erforscht: Menschen, die sich einsam fühlen, haben eine höheres Risiko, an Bluthochdruck zu erkranken, an Depressionen, Angststörungen, Lungenkrankheiten, Stoffwechselstörungen, Gefäßleiden. Sie schlafen schlechter, fühlen körperlichen Schmerz stärker und begehen häufiger Suizid.

Im Gegensatz dazu machen uns erfüllte und verlässliche Beziehungen gesünder und in Krisen belastbarer. Je stärker wir mit anderen Leuten verbunden sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir an Krisen und traumatischen Erfahrungen wachsen, anstatt an ihnen zu zerbrechen oder vor Angst zu verzweifeln. Traumatic growth, also traumabedingtes Wachstum, nennen Wissenschaftler dieses Phänomen.

Wenn Menschen das Gefühl haben, dazuzugehören, leben sie nicht nur länger, sondern auch erfüllter, glücklicher und stabiler. In soziale Bindungen zu investieren – zum Beispiel in Form von Zeit oder Geduld – ist also das Beste, was wir für unsere Gesundheit tun können. Es ist die Vorsorge Nummer eins. »Freunde zu haben, einer Gruppe anzugehören, steigert die Überlebenswahrscheinlichkeit«, schreiben die Forschenden der Harvard-Studie.9 »Schlägt das Schicksal zu – und das tut es früher oder später –, sind es häufig unsere Freunde, die uns zur Seite stehen, die uns in stürmischen Zeiten helfen.«10

Seit es uns Menschen gibt, sichert uns das Prinzip von Gemeinschaft und Zusammenhalt, wortwörtlich das Überleben. Wir Menschen brauchen Menschen.

»Unsere Instinkte für Gemeinschaft sind nach wie vor intakt und am Leben«, schreibt Murthy.

»Wenn wir eine gemeinsame Sache verfolgen, wenn wir eine gewisse Dringlichkeit verspüren, wenn wir bei einer Angelegenheit um Hilfe gebeten werden, bei der wir tatsächlich helfen können, werden die meisten von uns über sich hinauswachsen und zusammenhalten.«11

Schon zum Zeitpunkt unserer Geburt sind wir mit gewissen Fähigkeiten ausgestattet, die uns soziales Handeln ermöglichen. Bereits als Babys, in den ersten Monaten unseres Lebens gelingt es uns, verlässliche soziale Beziehungen aufzubauen. Wir können Körpersprache deuten, gewisse Handlungsabfolgen vorhersehen, wahrscheinliche Reaktionen abschätzen und sie provozieren. Wir sind fähig zu Mitgefühl und Humor und verspüren bereits in unserem zweiten Lebensjahr einen nicht von außen beigebrachten Drang, anderen Menschen zu helfen, wenn sie Unterstützung brauchen. Unser Bedürfnis nach sozialen Beziehungen und Zusammenhalt prägt unser Leben von Anfang an.

Was also macht es mit uns, wenn dieses Bedürfnis nicht ausreichend erfüllt wird? Von den gesundheitlichen Folgen haben wir schon gesprochen. Aber es gibt auch gesellschaftliche.

~

Hannah Arendt beschrieb in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Einsamkeit, Isolation und das Fehlen tragfähiger Beziehungen als entscheidende Wegbereiter des Nationalsozialismus in Deutschland. Auch aktuelle Studien zeigen, dass Einsamkeit dazu führt, dass Menschen sich weniger stark gesellschaftlich engagieren und weniger am politischen Prozess teilnehmen.

»Einsamkeitsbelastungen [schädigen] das stabile Funktionieren einer der wichtigsten Säulen der liberalen Demokratie in Deutschland«, heißt es in diesem Zusammenhang in einer Studie aus dem Jahr 2023. Die Prävention und Linderung von Einsamkeit sollten daher auch als Demokratieförderung verstanden werden, weil sie das demokratische System stabilisieren, so die Forschenden.12

»Viele der Themen, die wir heute auf den Titelblättern unserer Zeitungen sehen, verschlimmern sich durch fehlenden Zusammenhalt«, schreibt Vivek H. Murthy. In manchen Fällen sei unsere Nicht-Verbundenheit sogar Ursache des Problems. Klimakrise, Rassismus, Armut, Krieg: »Viele dieser Herausforderungen sind die Folge von individueller und kollektiver Einsamkeit, die zu lange in zu vielen Menschen gebrodelt hat.«

Wundert es da immer noch, dass wir bei unserem Sechs-Gänge-Gespräch über Zukunft bei dem Wunsch nach mehr Zusammenhalt gelandet sind? Ein bisschen vielleicht, weil wir zu diesem Zeitpunkt weder Fakten noch Studien kannten. Aber das Signal, das Einsamkeit sein kann – das haben wir alle an diesem Abend wohl gespürt.

Und das war erst der Anfang.

Die gute Nachricht ist: Wir können daran arbeiten, uns weniger einsam zu fühlen. Die Zukunft, wie wir sie uns wünschen, kann dabei unser Kompass werden. Ob wir sie jemals erreichen werden, eines fernen Tages? Wer weiß? Ich glaube, die Antwort ist gar nicht so wichtig. Wenn wir unsere Visionen vor Augen haben, liegt die Zukunft immer auch ein bisschen in der Gegenwart.

In meinem letzten Buch Wie wir die Welt sehen bin ich der Frage gefolgt, was negative Nachrichten mit unserem Denken machen, was uns dabei helfen kann, einen anderen Umgang mit unseren Problemen zu trainieren, und wie wir schließlich einen neuen Blick auf unsere Welt gewinnen können. Die Formel Scheiße plus X war dabei ganz entscheidend. Sie meint: Egal, mit welchem Problem wir in unserem Leben konfrontiert sind, wir können immer nach dem suchen, was ich »X« nenne – einem ersten Schritt, der das Problem ein bisschen besser macht, manchmal auch nur: ein bisschen weniger schlimm. Es geht nicht darum, eine endgültige Lösung für das jeweilige Problem zu finden, in vielen Fällen ist das auf Anhieb gar nicht möglich.

Entscheidend ist vielmehr, dass wir losgehen, dass wir uns auf den Weg machen und uns daran erinnern, dass wir nicht hilflos und ohnmächtig sind, sondern konkrete Dinge tun können, um unsere jeweilige Situation – oder ein bestimmtes Problem – zu verbessern.

In diesem Buch will ich meine Formel auf das anwenden, was ich momentan für eines der größten Grundprobleme unserer Gesellschaft halte: den Mangel an Verbundenheit. Ich will Antworten suchen auf die Frage, was uns dabei hilft, verlässliche Verbündete zu finden: Menschen, mit denen wir uns tatsächlich verbunden fühlen. Was uns hilft, nicht gegen das Gefühl von Einsamkeit anzukämpfen – sei es gesellschaftlich oder individuell –, sondern ihm tatsächlich etwas entgegenzusetzen.

Mir ist klar, dass ein einzelnes Buch ein so gravierendes Problem wie Einsamkeit und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen nicht lösen kann; genauso wenig wie mein letztes Buch die ganze Medienlandschaft in Deutschland aufwirbeln und umkrempeln konnte. Aber vielleicht kann es Anstöße geben und hier und da Veränderungen in Gang bringen.

Bei meinem letzten Buch wurden diese Veränderungen nicht nur in medialen Debatten deutlich, die nach der Veröffentlichung folgten. Die Veränderungen, die mich am meisten bewegt haben, waren kleiner: Einzelne Journalist*innen, die mir schrieben, dass sie jetzt anders berichteten und immer auf der Suche nach dem X seien, eine Leserin, die mir schrieb, dass ihr das Buch dabei geholfen habe, während der Krebsbehandlung ihrer kleinen Tochter nicht den Mut zu verlieren. Und eine andere Leserin, die mir erzählte, sie suche seit der Lektüre meines Buches nun jeden Tag nach Highlights – kleinen Xen in ihrem eigenen Leben.

In der Tradition der Aktionskünstlerin Jenny Odell und mit einem kleinen Augenzwinkern verstehe ich dieses Buch deshalb als aktivistisches Buch, verkleidet im Mantel eines Selbsthilfe-Ratgebers. Denn davon bin ich, egal bei welchem Thema, überzeugt: Wenn wir unsere Gesellschaft verändern wollen, müssen wir bei uns – den kleinsten Bausteinen dieser Gesellschaft – anfangen.

Dieses Buch ist daher sowohl gedacht für Menschen, in deren Leben Gemeinschaft und Community bereits einen großen Platz haben, als auch für diejenigen, die bislang nur den Wunsch danach verspüren, aber noch nicht wissen, wo sie beginnen sollen. Es ist gedacht für Menschen, die an politischen Tatsachen verzweifeln und Angst haben, und für diejenigen, die hoffnungsvoll und zuversichtlich in die Zukunft schauen.

Auf unserer Suche werden wir Menschen treffen, die die Frage, was wir gegen Einsamkeit tun können, für sich schon beantwortet haben. Wir werden an Orte reisen, an denen die Utopie unseres Abendessens längst Wirklichkeit geworden ist. Und wir werden dahin schauen, wo jede Veränderung beginnt: auf uns selbst, in den Spiegel, in unser eigenes Leben.

Was können wir tun, um uns nicht nur verbündeter zu fühlen, sondern es tatsächlich zu sein? Wie finden wir Communitys, Freundeskreise, Ersatzfamilien, in denen wir uns sicher und zu Hause fühlen? Wie erschaffen wir verlässliche, stabile Beziehungen – jenseits von romantischen – auch noch im Erwachsenenalter? Wie schaffen wir es, trotz Alltagsstress, geografischen Entfernungen und kapitalistischen Zwängen, in unserem Leben Zeit freizuschaufeln für andere Menschen? Und was können wir selbst tun, um dem kollektiven Gefühl von Entfremdung etwas entgegenzusetzen?

Viele der Herausforderungen, mit denen wir heutzutage konfrontiert sind, werden sich schwer lösen lassen, wenn wir uns nicht darum bemühen, entlang der Risse in unserer Gesellschaft zusammenzuwachsen. Wenn wir nicht versuchen, Gemeinschaft und Zusammenhalt zu fördern, wo immer wir es können. Eine Demokratie ist umso stabiler, je stabiler die Mini-Demokratien in ihr sind: Familien, Communitys, Unternehmen, Schulen, Glaubensgemeinschaften, Vereine.

Es gibt eine Menge Orte, an denen wir loslegen können – und zwar: Gemeinsam! Mir hilft der Gedanke, dass ich Tag für Tag, in kleinen Schritten, beeinflussen kann, wie die Zukunft aussieht, in der wir einmal leben werden. Und mir hilft zu wissen, dass ich damit nicht allein bin. Wenn wir uns zusammentun, verändern wir mehr als unser eigenes Leben. Die Zukunft beginnt mit dir. Mit mir. Mit uns.

~

Mai 2022. Einer der ersten warmen Sommertage im Jahr. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, aber die Hitze des Tages lässt langsam nach. Zu der kurzen Hose, die ich tagsüber getragen habe, ziehe ich mir einen Pullover über, dann setze ich mich zu den anderen ans Lagerfeuer. Wir sind in unserem Garten – seit fast zwei Jahren leben mein Partner und ich nun schon auf dem Land. Wir mieten ein mehr als 300 Jahre altes, gründlich renoviertes und denkmalgeschütztes Bauernhaus. Als wir es das erste Mal gesehen haben, waren wir eigentlich auf der Suche nach einer Zweizimmerwohnung. Wir lebten in Hamburg, und unser erwachsener Pflegesohn war gerade ausgezogen. Da weder mein Partner noch ich viel Platz benötigen, erschien es uns logisch, uns räumlich zu verkleinern. Doch dann standen wir im Garten unseres jetzigen Hauses – es war Frühling, und ein Dutzend Rosensorten blühten gleichzeitig – und wussten, dass wir einziehen würden. Der Garten war einfach zu schön.

Unser einziges »Problem« damals: Was machen wir mit dem vielen Platz? Wirklich WG-geeignet war das Haus nicht. Nach einigem Hin-und-her-Überlegen beschlossen wir, ein Gästehaus für Künstler*innen und Menschen, die eine kreative Pause brauchen, ins Leben zu rufen. Alle Zimmer, die wir selbst nicht benötigten, richteten wir als Gästezimmer ein – und dann ging es los. Mal lebte eine Regisseurin mit uns, mal eine Autorin, ein Fotograf, eine Künstlerin, eine Illustratorin, ein Schreiner. Ab und zu auch Freiwillige, die für Kost und Logis bei der Gartenarbeit halfen. Wirklich kommerziell war das Ganze nicht. Es ging uns mehr um die gute Gesellschaft und um Inspiration.

Wir waren zuerst nicht ganz sicher, wie wir den Umzug aufs Land in dieser Hinsicht überstehen würden, schließlich hatten wir mehr als zehn Jahre lang nur in Großstädten gelebt. Würde es uns zu einsam werden? Zum Glück trafen unsere Befürchtungen nicht zu. Als etwas unerwartete Dreingabe bekamen wir zu unserem neuen Community-Hausleben noch fantastisches Essen mit dazu: Die meisten unserer Mitbewohner*innen auf Zeit kochten irgendwann – bis heute haben wir ein Rezeptebuch statt eines Gästebuchs –, und so kamen wir im Laufe der Zeit in den Genuss von ziemlich vielfältigem, sehr gutem Essen.

An jenem Frühsommerabend mit Lagerfeuer waren gerade zwei gute Freunde zu Besuch: ein ehemaliger Lehrer aus New York, der momentan als Bäcker arbeitete, und ein Künstler aus Andalusien. Zum Essen gab es Popcorn, frisch von überm Feuer, leicht geräuchert. Auf den obersten Holzscheiten stand eine alte Pfanne, darin Maiskörner, die in einer großen Portion Butter brutzelten. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte sich die obere Hälfte Maiskörner in leckerstes Popcorn verwandelt. Die untere Hälfte war jedoch komplett verbrannt, die Hitze war zu groß gewesen. Wir verbuchten das Experiment trotzdem als geglückt, nahmen uns vor, den Abstand zum Feuer beim nächsten Mal zu perfektionieren, und baten unseren Freund Stewart, den Bäcker, das Rezept samt Verbesserungsvorschlag in unser Gästebuch zu schreiben.

Nach dem Essen schauten wir eine Weile ins Feuer, dann holte Stewart ohne große Ankündigung ein Buch hervor und begann daraus vorzulesen: Winnie Puuh. Als wir die Geschichte das letzte Mal zusammen gehört haben, hatte uns Caroline daraus vorgelesen, die Mutter von Gaby, unseres Gastes aus Andalusien. Wir anderen drei waren seit Langem eng befreundet gewesen mit Caroline. Über die Jahre war sie für uns alle zu einer Art Kompass geworden dafür, wie es vielleicht gehen kann, das gute Leben. Im Sommer zuvor, wenige Wochen nachdem Caroline uns aus Winnie Puuh vorgelesen hatte, war sie an Krebs gestorben.

Als klar gewesen war, dass Caroline nicht mehr lange leben würde, hatte sie uns zu einer Abschiedsfeier eingeladen. Menschen aus aller Welt, darunter Stewart, der Bäcker aus New York, und wir, kamen in das kleine Dorf in Spanien, in dem Caroline seit mehr als 30 Jahren lebte, um sich von ihr zu verabschieden. Drei Mal am Tag hatten wir zum Essen zusammengesessen, nach dem Abendessen draußen auf der Terrasse hatten wir uns oft bis spät nach Mitternacht verquatscht, unter Lichterketten, umgeben von zirpenden Grillen. Caroline war fast immer bis zum Schluss mit dabei – so ruhig und ausgeglichen, dass es uns angesichts ihrer niederschmetternden Situation fast ungeheuerlich erschien.

Während dieser Zeit hatte ich Stewart und Gaby kennengelernt. Seither einen uns Erinnerungen – und eine Freundschaft, die es ohne Carolines Abschiedsparty so nicht gegeben hätte. Ich weiß nicht, woran die anderen dachten, als Stewart nun aus Winnie Puuh vorlas. Meine Gedanken wanderten zurück nach Spanien, zu diesen außergewöhnlichen Wochen, und schließlich zu einem der letzten Gespräche, das ich mit Caroline geführt habe. Damals hatte ich mich bei ihr dafür bedankt, dass sie uns alle noch einmal zusammengebracht hatte, und für das Gefühl von Verbundenheit, das dabei entstanden war. »Für euch«, hatte sie damals gesagt, »war das nur das erste von vielen Treffen. Merk dir, was dir hier gefallen hat, und bau dir dein Leben. Oder besser gesagt: Bau es dir um.« 

Ein gutes Jahr später sitzen wir vier zusammen am Lagerfeuer. Und für einen kurzen Moment fühlt es sich so an, als könnte man ihn doch ein wenig austricksen, den Tod.

Was ich damals, im Mai 2022, nicht wusste: Tiefgründige Beziehungen sind mit das beste Mittel, um Trauer zu verarbeiten. Um an Erfahrungen des Verlusts nicht zu zerbrechen, sondern entlang der Spuren, die sie hinterlassen, zu wachsen. 

~

Dezember 2022. Ein gutes Dutzend Leute sitzen bei uns auf dem Sofa, auf Stühlen, auf Bettdecken und Kissen, die quer über den Boden verteilt sind. Die meisten von ihnen kenne ich seit meiner Kindheit, ein paar seit meiner Jugend, ein paar so lange, wie ich auf der Welt bin. Mit einigen war ich in der Schule, andere sind im gleichen Ort aufgewachsen. Früher haben wir fast jeden Nachmittag zusammen verbracht. Gemeinsam erlebten wir, wie sich die erste Liebe anfühlt, der erste Rausch, der erste große Krach mit den Eltern. Wir teilten alles, was uns damals wichtig erschien, und kannten uns in- und auswendig. An den wenigen Tagen im Jahr, an denen wir uns nicht zu Gesicht bekamen, schrieben wir uns lange Briefe oder telefonierten stundenlang. Aus Sommerurlauben schickten wir uns Postkarten, in denen wir beschworen, wie sehr wir uns vermissten und uns auf unser Wiedersehen freuten. Wenn ich an meine Jugend denke, denke ich an diese Menschen.

Jetzt sind wir alle in ganz Deutschland verstreut. Mit manchen von ihnen spreche ich fast jede Woche, manche von ihnen sehe ich nur einmal im Jahr, zum sogenannten Weihnachtskino – eine Tradition, die wir seit mehr als 20 Jahren pflegen. Angefangen hatte es im Teenageralter: Jeden 23. Dezember trafen wir uns abends in München, aus dem einfachen Grund, weil wir an diesem Tag sowieso alle in der Stadt waren, um schnell noch Last-minute-Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Der Ablauf unserer Treffen war strikt: Erst tranken wir Glühwein auf einem der vielen Weihnachtsmärkte, dann gingen wir ins Kino. So läuft es bis heute. Sogar als ich nach dem Abitur eine Zeit lang auf Reisen und an Weihnachten mit zwei Freundinnen aus dieser Clique in Australien war, saß ich am 23. Dezember im Kino.

In diesem Jahr ist das Kino bei uns zu Hause, und mehr als die Hälfte der Anwesenden hat ein Kind auf dem Arm. Statt großer Leinwand gibt es einen Beamer, und wir schauen einen Kinderfilm. Ich bin eine der wenigen, die kein kleines Kind hat – und die Einzige, die den Film noch nicht gesehen hat. Schon nach ein paar Minuten merke ich, dass ich kein Fan der Geschichte bin, aber das ist ohnehin nicht das Wichtige. Das Wichtige ist, dass wir zusammenkommen, verlässlich, Jahr für Jahr, egal was in den 365 Tagen davor passiert ist, ob sie gut oder schlecht, überwältigend aufregend oder erschlagend monoton waren. Zum Reden, zu echten Gesprächen kommen wir an diesen Abenden kaum, aber allein uns zu sehen und zu wissen, dass wir uns im darauffolgenden Jahr wiedersehen werden und wieder und wieder, fühlt sich gut an und gibt Halt.

Als ich mit einem der Freunde später bei einem Spaziergang über unsere frühere Clique spreche, sagt er: »Das ist eben wie Familie: Wir werden einander nicht mehr los.« Eine andere Freundin beschreibt es ein paar Tage später so: »Wenn wir uns einmal im Jahr updaten darüber, was in der Zwischenzeit passiert ist, hilft mir das, mich daran zu erinnern, dass alles, was sich gerade dringend und schwierig anfühlt, bei den Gesprächen im nächsten Weihnachtskino schon wieder veraltet sein wird.«