Wiedergang - Matthias Freytag - E-Book

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Matthias Freytag

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Beschreibung

Ich befand mich damals auf dem Weg zu einer Ausstellung, in welcher Seebilder jenes Malers gezeigt wurden, der in diesen späten Arbeiten das, was dort dargestellt ist, derart als kaleidoskopisches Spiel von farbigen Lichtern und Schatten aufgefaßt hat, daß es dem Betrachter schwerfällt zu unterscheiden, wo von den Dingen das eine und wo das andre beginne; was ein Reflex der Gegenstände selbst, was Widerschein ihrer Spiegelung auf der Wasserfläche oder bloßes Funkeln und Schimmern des Wassers sei; wo man dieses Element oder vielmehr Luft und Himmel erkenne. Ich machte mich ohne besondere Reisevorbereitungen auf den Weg. Und mehr, als mir zuletzt lieb sein konnte, wurde ich in ein unvorhergesehenes Abenteuer verstrickt…

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

I

Ich befand mich damals auf dem Weg zu einer Ausstellung, in welcher Seebilder jenes Malers gezeigt wurden, der in diesen späten Arbeiten das, was dort dargestellt ist, derart als kaleidoskopisches Spiel von farbigen Lichtern und Schatten aufgefaßt hat, daß es dem Betrachter schwerfällt zu unterscheiden, wo von den Dingen das eine und wo das andre beginne; was ein Reflex der Gegenstände selbst, was Widerschein ihrer Spiegelung auf der Wasserfläche oder bloßes Funkeln und Schimmern des Wassers sei; wo man dieses Element oder vielmehr Luft und Himmel erkenne.

Ich machte mich ohne besondere Reisevorbereitungen auf den Weg, hatte weder in dem Ausstellungsort noch in der Stadt, wo ich danach einige Tage zu verbringen gedachte, noch auch für den Aufenthalt in den Bergen, der sich für zwei Wochen hieran anschließen sollte, im voraus ein Zimmer bestellt.

Warum war zu jener Zeit und ist heutzutage noch immer Abenteuerurlaub so begehrt? Weil die Menschen für ein paar Wochen im Jahr dem gleichförmigen, vorhersehbaren, durch den Arbeitstakt und die »Laufzeiten« von Maschinen jeglicher Art vom Großen bis ins Kleinste bestimmten Kreislauf ihres Alltagslebens, während zugleich der Lebensfaden unaufhaltsam abgespult wird, entfliehen wollen. Allerdings glaube ich, daß die sogenannten Abenteuerurlaube im Grunde um kein Strichelchen weniger durchgeplant und vorhersehbar sind, sondern einem Schaltplan gemäß verlaufen, als Bestandteil der gesamten Maschinerie, und daß die vollmundigen, aufgeblasenen Versprechungen von der großen Freiheit bloß in einem grellen Budenzauber enden.

Darum praktizierte ich es lieber auf ganz bescheidene Weise, wandelte zwar nicht auf der Fährte des Tigers von Eschnapur, nicht auf den mythisch-magischen Songlines der Aborigenes, nicht auf den Spuren King Kongs oder auf Geronimos einstigem Kriegspfad, buchte aber – mitten im Europa der sommerlichen Hochsaison – rein nichts und plante auch sonst so gut wie nichts, nahm mir nichts weiter vor, als jene Ausstellung und jene Stadt zu besuchen und dann, ohne mich schon für einen bestimmten Ort entschieden zu haben, in den Bergen wandernd umherzustreifen. Und mehr, als mir zuletzt lieb sein konnte, wurde ich denn auch in ein unvorhergesehenes Abenteuer verstrickt.

Angenehm war es, im Zug zu sitzen und sich fahren zu lassen. Einräumen muß ich hierbei, daß ich, so wenig zwar ein Plan meine Reise regierte, den Abteilplatz natürlich doch reserviert hatte – das zu tun versäumen, hätte in dieser Jahreszeit, die in dem Fall weniger Sommer als vielmehr Reisemonsun-Zeit oder etwas dergleichen genannt werden sollte, mit Sicherheit kein Abenteuer, das in lebenssteigernder Weise die Sinne erregt, zur Folge gehabt, sondern einzig eine nervenaufreibende Tortur, die zu ertragen völlig sinnlos gewesen wäre. Das Ende vom Lied, nach einer mehrstündigen Zugfahrt im Stehen oder auf einem Notsitz im Gang, wäre Mißklang von jammernd-nörgelnder Klage gewesen und hätte nichts anderes bedeutet als das Ende aller Vorfreude auf jeden noch so schönen Urlaub. Zumindest der erste Tag wäre all seiner Heiterkeit und frohgemuten Erwartung beraubt worden; und wenn der Beginn einer Unternehmung, auf die man sich sehr gefreut hat, mißglückt, dann droht – besonders, wenn nur eine gewisse, nicht allzu lang bemessene Frist zur Verfügung steht – leicht die Gefahr, daß ein Schatten fällt, der auch das Weitere verdüstert. Dieses unnötige Risiko mochte ich wirklich nicht eingehen.

Ich hatte einen Fensterplatz in Fahrtrichtung. Die beiden Gangplätze und den Sitz neben mir hatte eine Familie inne, die nach ebenjener Stadt fuhr, die als zweite Etappe meiner kleinen Reise vorgesehen war. Das verrieten mir einige Worte des Mannes, der unentwegt in Reiseführern blätterte, während seine Frau auf sein Diktat hin Notizen machte und ständig nachfragte: »Alles?« Ihr Sohn indessen, ich schätzte ihn auf fünfzehn, sechzehn Jahre, schien für derlei kein Interesse zu hegen, er lümmelte, den Rücken mir zugekehrt, in seinem Sitz, hatte sich die Kopfhörer eines Walkmans über die Ohren gestülpt und fand sein volles Genügen und Vergnügen darin, der Musik zuzuhören, zuweilen dabei mit den Fingern zu schnippen und zu trommeln und immerfort mit dem einen Fuß, den er auf den Boden gestellt hatte, in monoton gleichbleibender Weise zu klopfen. Was allenfalls seine Aufmerksamkeit anziehen mochte, konnte das Mädchen sein, das ihm gegenüber saß (oder eigentlich, wenn man seine Sitzhaltung berücksichtigt, mehr seitlich von ihm) und ungefähr in seinem Alter gewesen sein durfte. Doch folgerte ich dies allein aus ihren Blicken, die immer wieder verstohlen zu ihm hinübersuchten, wenn sie von ihrem Buch aufsah, und später, während sie ein Vesper verzehrte, und aus dem heimlichen Lächeln, das mehr als einmal ihr über das Gesicht huschte. Ob er sie tatsächlich beachtete und vielleicht sogar sein Gebaren als cool und imponierend verstand und extra für sie inszenierte, ob sie womöglich einem bloßen Phantasiespiel sich hingab oder ihn nur beobachtete, weil sie ihn lächerlich fand, mußte letztlich unentschieden bleiben, da eine erkennbare Reaktion seinerseits mir nicht auffiel. Er machte insgesamt auf mich den Eindruck, als habe ihn die bisherige Besichtigungstour, die vermutlich schon hinter ihm lag, bloß gelangweilt oder genervt oder total erschöpft, mag sein auch alles zusammen, so daß die einzige Aktivität, zu der sich aufzuraffen er noch fähig war, das mechanische Wippen seines Fußes und – als ein bisweilen krampfartiges Aufzucken früherer jugendlicher Lebenskraft – sein Fingerschnippen darstellte. Es verdroß mich etwas, daß ich einen wie ihn neben mir hatte. Dieses Nichtstun, das keinen Müßiggang, sondern nichts als Lethargie bedeutete, brachte einen Mißton in meine Stimmung, wie auf einem Instrument eine zu schlaff gespannte Saite. Ich bemühte mich, den Burschen nicht zu beachten. Leider bereitete das Schwierigkeiten, weil, selbst wenn ich meinen Blick abgewendet hielt, dennoch das beständige Tappen seines Fußes wie auch das Klicken und Ticken aus seinen Kopfhörern die ganze Zeit mir in den Ohren hüpfte. So gesehen, hoffte ich innig, das Mädchen möge ihn nur als Ausgangspunkt für eine Spielerei in der Vorstellung – die dazuhin vielleicht mit seiner Unart ihren Spott trieb – ins Auge gefaßt und ihn nicht als wahrhaftiges Objekt der Begierde oder gar als möglichen Rosenkavalier in Erwägung gezogen haben.

Sie dagegen sah ich mit Wohlgefallen. Sie war, wie sich im Laufe der Fahrt herausstellte, die Enkelin der liebenswürdigen älteren Dame, die den Platz mir vis-à-vis eingenommen hatte. Und ich schmeichelte mir, es gelte das eine und andre Mal ihr flüchtiges, schelmisches Lächeln auch meiner Person. Wäre ihre Großmutter nicht dabeigewesen, so hätte ich mich wohl wenig darum geschert, daß sie, wie ich damals dachte, für meine dreißig Jahre im Grunde zu jung und noch zu naiv war, und hätte versucht, mit ihr das alte Wort- und Augenspiel zu treiben und sie zu einer ungestörten Plauderei auf dem Gang zu bewegen. Ganz gewiß, ob ohne, ob mit Großmutter, hätte ich mich ihr zu nähern versucht, wenn ich dieser Junge gewesen wäre.

Indes, in meiner Lage, weil die Großmutter anwesend und das Mädchen so jung war, und schließlich auch, weil die Frau – die ich für Ende sechzig hielt – fast jedesmal, wenn ich hinübersah, mich gleichfalls anblickte, mit einem Nicken und Lächeln mich grüßte, beschränkte ich mich darauf, mit ihr mich hin und wieder zu unterhalten und dabei wie im Vorbeigehen an ihre Enkelin (auch weil mir dann nie einfiel, wie ich sie in das Gespräch ausführlicher miteinbeziehen könnte) ein paar Worte zu richten. Die beiden fuhren ebenso in jene Stadt, in die mich mein Weg als zweites führen sollte. Sie freilich wohnten dort und kamen von einem Besuch bei dem Sohn der Frau zurück, dem Vater des Mädchens, dessen Eltern geschieden waren und das deshalb bei der Großmutter lebte. Als ich erfuhr, wo sie zu Hause waren, hoffte ich im Stillen so halb und halb, ich möchte eingeladen werden, bei ihnen vorbeizuschauen, denn ich erzählte natürlich, was ich vorhatte. Der heimliche Wunsch erfüllte sich nicht.

‚Schade’, dachte ich, da wir die Station, an der ich umsteigen mußte, erreichten. Noch, das heißt besonders noch in dem Moment, als ich mich erhob, um Abteil und Zug zu verlassen, und mich verabschiedete, wartete ich darauf, daß die Frau sagen werde: »Ach, wissen Sie, wenn Sie in unsre Stadt kommen, besuchen Sie uns doch einmal ...« – Sie wünschte mir stattdessen nur, wie man’s eben so macht, eine gute Zeit. Ihre Enkelin lächelte mir flüchtig zu, senkte schnell – fast hastig, wollte es mir scheinen – den Kopf in ihr Buch und sagte gar nichts. Draußen auf dem Bahnsteig dann lagen sie meinen Gedanken aber bereits wieder fern – und erst jetzt in der Erinnerung, nachdem ich zu Anfang vorgehabt hatte, die Zugfahrt in ein paar Zeilen abzuhandeln, tauchten diese Einzelheiten mir wieder auf. Ich hätte sie trotzdem fortlassen können, mit dem Folgenden haben sie wenig zu tun. Doch glaube ich andrerseits, sie vervollständigen das Bild.

Was mich nun beschäftigte, war, wie ich die Zeit, bis mein Zug für die Weiterfahrt käme – was noch gut eine Dreiviertelstunde dauerte – überbrücken könnte. Der Bahnhof lud keineswegs zum Verweilen ein, er zeigte sich von der Art, daß man ihn entweder auf der Durchreise, weil es eben einen kurzen Halt gab, im Wagen sitzend flüchtig zur Kenntnis nahm oder ihn, wenn man durch die Notwendigkeit der Umstände auf ihm selbst sich aufhalten mußte, gleichgültig bis gerne wieder verließ. Ganz gewiß war er keiner der Orte, wo man sich das Vergnügen gönnte, die besondere Atmosphäre des Reisens auf sich wirken zu lassen. Also entschied ich mich zunächst, ihm den Rücken zu kehren und einen kleinen Bummel durch die Stadt zu unternehmen. Bevor ich den Bahnsteig verließ, trat ich indessen an den nächsten Fahrplan, da ich mich – um eine unnötige böse Überraschung zu vermeiden – vergewissern wollte, ob die Abfahrtszeit, die ich zu Hause von der Bahnauskunft erfahren hatte, tatsächlich stimmte. Ich glitt mit den Augen die Zahlen entlang und stellte fest, daß es mit der Angabe seine Richtigkeit hatte. Schon war ich im Begriff, mich abzuwenden, als ich stutzte und noch einmal hinsah. Der Zug davor fuhr nach einem Städtchen, das unmittelbar am Großen See lag – und in weniger als einer Viertelstunde führe er ab.

‚Wie lange bin ich nicht mehr am See gewesen’, dachte ich. ‚Jahre ist es her. Seit den Ferien der Kinderzeit war es bloß noch sporadisch, bloß halbtageweise, und schon so lange ... ich könnte doch – soll ich nicht ... die Ausstellung läuft mir ja nicht davon, und ich habe ja nichts irgendwie vorbestellt ... wie gut’, dachte ich, ‚...ein, zwei Tage mal wieder am See sein, richtig, einen Morgen, einen Nachmittag und Abend, eine Nacht dort wieder verbringen ...’– Den endgültigen Ausschlag gab die frühere Abfahrtszeit, was auf meine vorgesehene Reiseroute bezogen nicht gerade logisch war, denn die Orte, zwischen denen ich geschwankt hatte, lagen in recht verschiedenen Himmelsrichtungen. ‚Sei’s drum, es tut schließlich keinem weh’, sagte ich mir und merkte doch verwundert, wie verhältnismäßig schwer es mir fiel, aus dem so locker geknüpft gedachten Netz des ursprünglichen Plans mich zu lösen. Nachdem ich aber die Fahrkarte gekauft hatte, wenig später der Zug angekommen und ich eingestiegen war und wie er dann wieder abfuhr, da fühlte ich mich von dem unvermuteten Abstecher schließlich regelrecht beschwingt, als habe jetzt erst mein Urlaub wahrhaftig begonnen.

In jenem Städtchen angekommen, ging ich – weil es sich am Wege anbot – zu dem einzigen Kiosk der unscheinbaren Bahnstation, an der nur eine Handvoll Leute mit mir den Zug verließ, und fragte nach einem empfehlenswerten Gasthof oder Hotel. Der Mann, der den Kiosk oder besser den kleinen, begehbaren Verkaufspavillon betrieb, ein spärlich weißbehaarter, wohlbeleibter Geselle mit rotem Gesicht und Knopfaugen, hörte mich freundlich an und gab mir wortreich zu verstehen, daß er leider außerstande sei, mir weiterzuhelfen. Als einzige Unterkunft wußte er das Bahnhofshotel zu nennen, gleich gegenüber, doch meinte er im selben Atemzug, er könne mir weder etwas Gutes noch Schlechtes darüber sagen, da er selbst ja noch nie dort übernachtet habe. Bloß so läuten habe er hören, ja, und wenn man selber noch ein paar Jährchen jünger wäre, dann einmal ... um die Mittagszeit oder den Feierabend sich zu verschönern, mit einem lustigen, schnellen Häppchen ... ’s wär ja nicht weit, sagte er blinzelnd und lachte behäbig. Aber nicht, daß ich dächte, er wolle das Hotel schlecht machen, nein, um Gottes Willen, er wisse, wie gesagt, im Grunde ja gar nichts, könne sich ein Urteil überhaupt nicht erlauben, wiegelte er gleich darauf ab. Außerdem sei alles auch relativ, nicht wahr, des einen Freud, des andern Leid, hehehe, und wie gesagt nochmals, er selber sei noch nie dortgewesen, höre bloß dies und das und meine nur, als Gelegenheit an sich – an sich betonte er – läge es, rein hypothetisch verstehe sich – was er ebenfalls betonte – wahrhaft günstig für ihn, um eine nette Verabredung zu treffen... Schließlich sei er allein hier im Kiosk und oft käme lange Zeit keine Kundschaft, es gebe gewisse Stoßzeiten – an der Stelle lachte er aufs neue, wie über einen köstlichen Witz – und dann sei die Luft wieder raus, und er habe, zu seinem Unglück – er seufzte –, doch ausgiebig Anschauungsmaterial daliegen, und ob man wolle oder nicht reize das die Phantasie und nicht sie allein ... auch Alter schütze vor Torheit nicht (oder sagte er Tollheit?), ach ja ach ja, ein kleines Abenteuer mal, ach ja, und ’s wär halt nicht weit, wiederholte er, wie um sich zu entschuldigen, kicherte dann allerdings vor sich hin und blinzelte mir wie vorhin vertraulich zu.

Ich wollte gehen, bereits zu lange hielt ich mich an dem Platz auf. Eigentlich hatte ich gar nicht darauf gerechnet, einen brauchbaren Hinweis zu erhalten. Als ich ausgestiegen war, hatte es mich einfach verlangt, sofort irgend jemanden wissen zu lassen, daß ich ein, zwei Ferientage hier verweilen wollte, denn die frohgemute Laune war während der Hinfahrt, die eine halbe Stunde etwa in Anspruch nahm, nicht mehr von mir gewichen und glitzerte in mir wie Sommersonne auf einem sanftbewegten Wasserspiegel. Um nur in irgendeiner Weise gleich zu Beginn mit diesem Städtchen eine gleichsam persönliche Verbindung herzustellen, hatte ich dann meine Schritte zu dem Kiosk gelenkt. Wie es indessen schien, war ich leider an die völlig falsche Adresse geraten. Und nun also beabsichtigte ich, mich zurückzuziehen, als der Mann, der plötzlich eine Flasche aus seinem reichhaltigen Sortiment in der Rechten emporhielt, mich fröhlich fragte: »Ein kleines Schnäpschen vielleicht?«– und schon auch schenkte er in zwei wohl stets griffbereite Gläser ein, deren Fassungsvermögen dem doppelten Diminutiv entschieden widersprach.– ‚Na gut’, dachte ich, ‚warum nicht, wes’ Brot ich eß, des’ Lied ich noch lang nicht sing.’ – und nahm die Einladung als eine Gelegenheit an, um meinen mir eben aufgestoßenen Ärger hinunterzuspülen.

Er reichte mir eins der bis zum Rand gefüllten Gläser, prostete mir mit dem andern zu, rief »Gesundheit« und kippte den Inhalt mit einer kurzen Drehung des Handgelenks sich in den Schlund. »Aaah«, machte er genüßlich. »Das ist halt was ganz was Feines. Tjajajajaja, dafür kann man gern auf so manches verzichten«, fügte er hinzu und verdrehte verzückt die Augen. Dann, wie er mein gerade viertelgeleertes Glas erblickte: »Ja, aber was, schmeckt’s Ihnen etwa nicht?«, kam es von ihm bestürzt.– »Doch doch, ganz ausgezeichnet«, versicherte ich rasch. »Aber auch ganz schön stark.«– »Na und ob. So muß ’s sein. Und jetzt, runter und weg damit. Das muß wie ein warmer Regen die Speiseröhre langfließen – auf geht’s, hopp«, ermunterte er mich und schaute mich derart bittend und fürchterlich fröhlich an, daß ich ihm willfahren mußte. – Das Zeug brannte in diesem Quantum höllisch, ein Hustenanfall überkam mich und ich war einem Schweißausbruch nah. »Heijawoll, das tut gut, was!? Das putzt durch«, rief er, »Obst ist halt gesund, und so schmeckt’s am besten« – und er lachte glucksend, wobei er sich zum zweitenmal einschenkte. »Ihnen auch?«, fragte er und streckte mir den Arm mit der Flasche entgegen. – Ich wollte erst ablehnen – und wieder von ihm penetrant ermuntert (»ein Kleiner noch, damit’s was Großes wird, auf einem Bein steht sich’s eh nicht gut, und eins geht immer noch rein, und ’s ist ja reines Obst, hihihihihi«) hielt ich dann doch mein Glas unter die Flasche. Schlecht hatte der Schnaps bestimmt nicht geschmeckt, und das Brennen, die heftige Hitze hatten sich in ein wohliges Wärmegefühl verwandelt; außerdem kam mir der Mann unversehens viel sympathischer vor. ‚Kleine Macken hat nun mal jeder, und jeder nach seiner Façon’, dachte ich, während er eingoß. Der »Kleine« wurde so groß wie der erste. Aber ich faßte mir dieses Mal ein Herz und trank mit dem Kioskbetreiber synchron in einem Zug aus. Ich schnappte nach Luft. »Huiii«, kam es von ihm und: »Aaaah – der zweite Schluck ist in dem Fall immer noch besser als der berühmte erste, mmh, und der Genuß wächst noch mit jedem Glas«, meinte er und fragte wie durch ein Megaphon: »Noch einen? Ja!?« – Bevor ich etwas zu äußern vermochte, war, vielleicht weil ich unvorsichtigerweise die Hand, die das Glas hielt, gesenkt hatte, dieses wiederum voll, und beinah wie des Mannes Spiegelbild folgte ich seinen Bewegungen, hörte ihn »Gesundheit« sagen und trank. »Blblblblblblbll«, mit derartigen Lauten schüttelte er den Kopf hin und her, daß sein Gesicht wie Pudding schwabbelte. Auch ich mußte tief durchatmen und fühlte Tränen in den Augen. Anschließend bellte er: »Noch einen!?« –

Jetzt galt es. Entweder wehrte ich sein Angebot standhaft ab oder ich lag am Ende flach und konnte gleich bei ihm hinter der Verkaufstheke – die man ebenso gut, und bestimmt nicht nur heute, einen Ausschank nennen durfte – mein Nachquartier beziehen. ‚Warum kommt denn keine Kundschaft?’, dachte ich, ‚das erleichterte den Rückzug kolossal.’ Und nicht allein wegen ihm und seiner immer mehr besitzergreifend fürchterlich herzlichen Art hoffte ich auf Abhilfe von dritter Seite. Das Wässerchen selber lockte. Wie hatte er gesagt?: Der Genuß steige von Schluck zu Schluck? In der Tat, jedesmal, wenn das Brennen schwand, war das wie ein nachlassender Schmerz so schön, und die innere Wärme dann strahlte aus wie die behagliche Wärme einer lauen Sommerabenddämmerstunde. Ich fühlte mich so angenehm träge und leicht, wie sollte ich mich da mit dem schwerwiegenden Problem einer Ablehnung abgeben? Gleichwohl, es galt, Vorkehrungen zu treffen, wenn diese laue blaue Dämmerung nicht zuletzt als blaue Flut über meinem Kopf zusammenschlagen sollte. »Noch einen, wie ist’s«, wiederholte er, mehr im Ton einer Aufforderung denn einer Frage, und hatte sich bereits erneut eingeschenkt – und keine Kundschaft kam. ‚Vielleicht braucht er das fürs Geschäft’, hüpfte mir der Gedanke durch den Sinn, und ich war nahe daran, in ein albernes Kichern auszubrechen: ‚Wenn so wenig Leute kommen, sieht er sie auf die Art wenigstens doppelt ...«– »Na auf, kommen Sie«, rief er, und gleich einem roten Lampion glühte vor mir sein Kopf.– Noch immer stand ich unschlüssig, dümpelte sozusagen wie eine Boje hin und her, die an ihrem Ankerseil von sanftem Wellengang geschaukelt wird. ‚Blaue Nacht, o blaue Nacht am Hafen’, fing es in mir zu singen an. Was war das um alles in der Welt bloß für ein Schnaps? Wahrscheinlich rührte die starke Wirkung daher, daß ich seit dem Morgen keinen Bissen mehr gegessen hatte. »Ich glaube ...«, sagte ich, und wußte nicht, was. – »Recht so«, freute sich der Kioskbetreiber, nahm mir, der ich schwankte, das Glas aus der Hand und schenkte nach. –

Als ich das sah, wurde ich klarer im Kopf. Noch so ein großer Kleiner drohte. Auf keinen Fall durfte ich das zulassen. Gut war der Schnaps gewesen, gut fühlte ich mich. Aber einen weiteren und blau, so blau zur Nacht am Hafen, hieß es dann ... Ganz klar bei Verstand war ich ohne Zweifel sowieso nicht mehr, immerhin erkannte ich meinen Zustand und wußte mich noch aufrüttelnd genug Herr meiner Sinne zu nennen, um jetzt tatsächlich den Rettungsring des Abschieds zu ergreifen. »Nein, nein, auf keinen Fall, vielen Dank, nein, ich muß doch noch zum Hafen – äh – hähä, ein Hotel, meine ich, brauche ich doch noch, sonst gerne, wirklich ...«– Auf einmal war mir wieder siedend heiß. Mit einiger Anstrengung, mich gleichsam gegen mich selber stemmend, drehte ich mich um, faßte meine Tasche und strebte, immer noch wie gegen einen Widerstand andrängend, hinaus. »Soo? Na denn, vielleicht ein andermal«, hörte ich ihn, dann tönte es: »Aaaah« und gleich darauf: »Blblblblblbll« – und: »Bahnhofshotel, jajajajaja«, rief er mir noch nach, als ich glücklich wieder hinausgelangte. –

In der frischen Luft fühlte ich meinen Kopf sofort freier, wobei die angenehme träge Leichtigkeit in mir erhalten blieb, die sich sogar insofern, als sei die vorher dümpelnde Boje nun frei beweglich und laufe nicht mehr Gefahr, vom Ankerseil nach und nach abwärts gezogen zu werden, intensivierte. Das kam mir gerade recht. ‚Sei’s drum’, dachte ich, ‚ein seltsamer, ein schrulliger Empfang – aber persönlicher, auf eine eigenere Art hätte er gar nicht geschehen können; und der Dicke ist zwar ein Schwein, aber im Grunde bloß ein ganz armes Schwein.’

II

Nichtsdestoweniger mußte ein Zimmer gefunden werden. Das Bahnhofshotel, das im übrigen nur ‚Hotel zum Bahnhof ’ hieß, wirkte indes – ganz ungeachtet der Andeutungen des Mannes, die vermutlich haltloses Geschwätz gewesen waren, so wie er auch einen unrichtigen Namen genannt hatte – keineswegs einladend; es sah mir schlichtweg zu grau, zu trist, zu schäbig aus. Ich folgte daher dem Weg weiter in den Ort hinein. Die Straßen lagen leer, alles wirkte recht verschlafen, als ob die Bewohner fast sämtlich noch Siesta hielten, um südlicher Mittagshitze zu entrinnen. Heiß allerdings war es zwischen den Häusern, und ich ging auf der Schattenseite und kam trotzdem, die prall gefüllte Reisetasche schleppend, schnell ins Schwitzen. Die gute Laune, die mittlerweile ganz so wiederhergestellt war, wie sie auf der Fahrt hierher gewesen, und die auch den Aufenthalt im Kiosk vollkommen in sich aufgelöst hatte, wurde mir dadurch nicht verdorben. Vielmehr wandelte mich aus heiterem Himmel – den es ja buchstäblich gab – die Lust an, in Gedanken, in der Phantasie zu spielen, wie ich es früher, vor langer Zeit, als Kind auf Spaziergängen oft getan hatte. Ich malte mir aus, ein Wüstenwanderer zu sein, ein Weltreisender und Forscher, dem die Erzählung von einem sagenhaften Oasenland zu Ohren gekommen ist, wo als Letzte des Herrscherhauses eines durch bösen Zauber zerstörten Reiches die verwunschene Prinzessin lebe – deren Schönheit sehen zu dürfen noch die Beglückung, die man beim Anblick jener Oase inmitten der endlosen, öden und glühenden Wüste empfände, unendlich überträfe – und wo sie von der Wiederkehr der alten Pracht und Herrlichkeit träume, was nur geschehen könne, wenn ein fremder Fahrensmann den Weg zu ihr fände und die Aufgabe, um den Zauberbann von ihr zu nehmen, zu lösen vermöchte ... – Der Schnaps hatte fraglos seine Wirkung noch nicht verloren.

Währenddessen gelangte ich in eine Fußgängerzone, mußte mich also,