WILDER FLUSS - Cheryl Kaye Tardif - E-Book

WILDER FLUSS E-Book

Cheryl Kaye Tardif

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Beschreibung

Stammzellenforschung, Klontechnik, Weltherrschaftspläne und ein mysteriöser Fluss, mit dem all diese Dinge in Verbindung zu stehen scheinen. Der South Nahanni River in den kanadischen Northwest Territories ist seit jeher bekannt für mysteriöse Vorfälle, die sich auf seinem Weg ereignen. So gilt auch Del Hawthornes Vater nach einer Expedition dorthin seit sieben Jahren als verschollen. Doch dann trifft Del einen der vermissten Männer dieser Expedition wieder, und er hat Unglaubliches zu berichten … Ihr Vater ist noch am Leben! Denn der Nahanni River weist den Weg zu einem Portal, das in eine technologisch weit fortgeschrittene Welt führt. Doch die beiden sind nicht die einzigen, die davon wissen, und die Suche nach dem ewigen Leben hat eine Verschwörung auf den Plan gerufen, die in ihrem Versuch, Gott zu spielen, alles zu vernichten droht … "Wieder einmal hat es Cheryl Kaye Tardif mit ihrem dritten Roman WILDER FLUSS geschafft, die Leser zu fesseln. Vor der wilden Kulisse des kanadischen Nordens vereint WILDER FLUSS Intrigen, Wissenschaft, Liebe und Abenteuer und lässt den Leser nach mehr dürsten." - Edmonton Sun

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WILDER FLUSS

Cheryl Kaye Tardif

This Translation is published by arrangement with Cheryl Kaye Tardif. All rights reserved.

Für meine Freundin und Schwester, Bobbi Del Hathaway

... die immer »auf ihr Herz hört«!

Bobbi ist eine Frau von immenser Entschlossenheit, die sich mit Würde und Mut tapfer dem MS-Monster stellt und nie ihre Lebensqualität aufgibt.

Du bist Inspiration für alle, die dich kennen, und wir alle können uns ob deiner Freundschaft und Courage dankbar schätzen.

Danke, dass ich mir deine ›Del‹ leihen durfte.

Ohne dich würde der Wilde Fluss nicht fließen!

~ in Liebe, Cheryl

Impressum

Überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE RIVER Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Ilona Stangl

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-008-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

WILDER FLUSS
TEIL EINS
Unterströmungen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
TEIL ZWEI
Unter Wasser
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
TEIL DREI
Unterwelt
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Über die Autorin

Lieber Leser …

 

Eine Freundin meiner Mutter träumte eines Nachts davon, sie würde einen geheimnisvollen Fluss in Kanada entlangreisen. Als mir meine Mutter später von den Gerüchten erzählte, die sich um diesen Fluss, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte, rankten, war ich gefesselt und eine schaurige Geschichte begann sich in meinem Kopf zusammenzubrauen. Nun war es daran, diesen einen Fluss zu finden.

Der South Nahanni River in den schroffen Northwest Territories Kanadas ist eine der spektakulärsten Sehenswürdigkeiten überhaupt, von unvorstellbarer Schönheit und voller verborgener Gefahren. Man trifft dort auf unglaublichen Artenreichtum in Flora und Fauna – ganz zu schweigen von dem Reichtum an Legenden ›mit einem langen Bart‹, wie mein Mann sagen würde.

Er könnte also der Fluss sein, von dem die Freundin meiner Mutter gesprochen hatte – oder eben auch nicht. Nichtsdestotrotz birgt der Nahanni River zahlreiche Geheimnisse. Entlang seiner Ufer wurden vor Jahrzehnten kopflose Skelette und Leichen entdeckt und über die Jahre verschwanden dort immer wieder spurlos Menschen. Oft spricht man sogar vom ›Bermudadreieck Kanadas‹.

 

Obwohl WILDER FLUSS mit Tatsachen verflochten ist, basiert dieser Roman auf Fakt und Fiktion.

 

Ich lasse Sie selbst bestimmen, was davon Sie glauben möchten. Brechen Sie auf zu einem Abenteuer auf dem …

 

WILDEN FLUSS

TEIL EINS

Unterströmungen

Ich möchte Gottes Gedanken kennen;

alles andere sind Nebensächlichkeiten.

Kapitel 1

»Sie hört immer auf ihr Herz«, krächzte eine Stimme.

Erschrocken von der plötzlichen Unterbrechung hob Professor Del Hawthorne ihren Kopf und schnappte nach Luft.

Was zum …?

Ein Mann stand in der Tür ihres Hörsaals und rang nach Luft. Er war Ende siebzig und trug eine schmuddelige Wildlederjacke über einem Anzughemd, das wohl irgendwann einmal blütenweiß gewesen sein musste. Es war zerrissen und voller Flecken, die verdächtig nach getrocknetem Blut aussahen. Seine maßgeschneiderte schwarze Hose war unterhalb der Knie abgerissen.

Er kam in den Raum gestolpert und schlug die Tür zu.

Del warf Peter Cavanaugh, ihrem jungen Anthropologieprotegé, einen alarmierten Blick zu. Sie erhob sich langsam von ihrem Pult und wandte sich an den alten Mann.

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

Sein strähniges graues Haar bedeckte einen Teil seines Gesichts und schrie förmlich nach Shampoo und einem Haarschnitt. Die fleckige, zerfurchte Haut erinnerte sie an verwitterte Zedernrinde. Doch es waren seine glasigen, wenngleich seltsam vertrauten Augen, die ihr Herz einen Schlag aussetzen ließen.

Kannte sie diesen Mann?

»Sir?«

Seine Augen blitzen gefährlich auf. »Sie hört immer auf ihr Herz!«

Del schluckte.

Sie bekam nicht jeden Tag den Lieblingsspruch ihres Vaters zu hören – und schon gar nicht, wenn es nicht ihr Vater selbst war, der ihn aussprach. Stattdessen kamen die Worte aus dem Mund eines Mannes, der so aussah, als käme er geradewegs aus der Irrenanstalt.

Wie zum Teufel ist er am Sicherheitsdienst vorbeigekommen?

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Verdammt!

Nach sechs Uhr waren für gewöhnlich nur noch zwei Sicherheitskräfte im Anthropologieflügel und wahrscheinlich drehten sie gerade ihre Runde oder waren am Snackautomaten.

Sie sah zu Peter hinüber.

Der junge Mann hatte Angst. Bewegungslos stand er am anderen Ende des Zimmers und hatte den Kopf auf seine Brust gesenkt.

»Die Campus-Security wird bald hier sein«, sagte er leise.

Der Mann wandte sich Peter mit halb geschlossenen Augen zu. »Wer ist das?«

Del trat zögerlich nach vorne. Vorsichtig legte sie ihre Hände auf die Tischkante des Pults, um die Aufmerksamkeit des Mannes nicht auf sich zu lenken.

Wo ist der verdammte Knopf?

Der Sicherheitsdienst hatte an der Schreibtischunterseite eines jeden Fakultätsmitglieds Auslöseknöpfe für stillen Alarm montiert. Die Zeiten hatten sich geändert. Schulen, Colleges und Universitäten waren allzu häufig Zielscheiben für mordlüsterne, geistesgestörte Psychopathen geworden.

Sie drückte den Knopf und holte tief Luft. Hoffentlich war dies heute nicht der Fall. »Die Security wird jede Minute hier sein.«

Der alte Mann riss seinen Kopf herum, einen flehenden Ausdruck in seinen Augen. »Erkennst du mich denn nicht wieder?«

»Sollte ich das?«

Welche Reaktion sie auch immer erwartet hatte, es war nicht die, die sie bekam. Statt ihre Frage zu beantworten, sackte der Mann wirr murmelnd auf dem Boden zusammen. Mit seiner rechten Hand griff er zittrig in die Falten seiner Jacke.

Del hämmerte nun mehrfach auf den Alarmknopf ein.

Wo zum Teufel bleibt der Sicherheitsdienst?

Entsetzt sah sie, wie der Mann etwas Sperriges aus seiner Jacke zog.

Eine Waffe?

Wie aus dem Nichts stürmten zwei bewaffnete Wachmänner in den Raum.

Dann brach die Hölle los.

Im einen Moment stand sie noch hinter ihrem Schreibtisch. Im nächsten lag sie auf dem Boden – und Peter Cavanaugh auf ihr.

In der Erwartung, dass jeden Augenblick Schüsse fallen könnten, wartete sie und hielt den Atem an. Nichts. Stattdessen waren polternde Geräusche und ein paar ächzende Laute zu hören.

Schließlich rief einer der Wachmänner: »Wir haben ihn, Professor.«

Del atmete erleichtert auf.

»Alles okay?«, fragte Peter, sein unschuldiges, jungenhaftes Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt.

Sie stöhnte. »Äh, Mr. Cavanaugh? Die Security hat ihn unter Kontrolle, Sie können jetzt wieder von mir herunter – Sie erdrücken mich.«

Peters Gesicht nahm den köstlichen roten Farbton eines Hummers an.

»Wollte nicht, dass Sie angeschossen werden«, murmelte er und half ihr zurück auf die Beine.

Sie klopfte ihre Kleidung ab und blickte zur Tür.

Der Sicherheitsdienst schleppte den Eindringling hinaus in den Flur.

Plötzlich hörte sie den Mann rufen: »Delly! Ich bin’s!«

Nur ein einziger Mensch hatte sie je Delly genannt.

»Halt!«

Sie lief aus dem Hörsaal zu ihm.

»Ich habe sie gesehen«, zischte er mit wildem Blick. »Ich habe die Zukunft gesehen … keine Menschen … Monster!«

»Professor Schroeder?«, wisperte sie. »Sind Sie das?«

Der alte Mann sah sie eindringlich an. »Du musst den Direktor aufhalten, Delly!«

Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. »Den Direktor von was? Professor, wir dachten, Sie wären tot. Sie, mein Vater, die anderen Männer …«

Schroeder beugte sich näher zu ihr. »Sie werden deinen Vater töten, Delly.«

»Er – er lebt?«

»Fürs Erste. Die miesen Dreckskerle haben ihn. Du musst die Zelle zerstören. Ich weiß, wie man hineingelangt. Zum geheimen Fluss. Ich weiß, wie man hineingelangt … und wieder heraus.«

»Professor Hawthorne«, mahnte einer der Wachmänner. »Wir müssen ihn nach unten bringen.«

Auf halbem Wege riss Schroeder seinen Kopf noch einmal herum.

»Folge deinem Herzen, Delly. Und denke daran … nur einem!«

Die Wachmänner schleiften ihn halb in den Aufzug.

»Professor Schroeder!«, schrie sie. »Von was reden Sie da?«

Seine müden braunen Augen loderten auf. Wild und ungezähmt, wie bei einem Fuchs, der in der Falle sitzt.

»Es steht alles im Buch. Zerstöre die Zelle, Delly. Finde den Fluss und halte den Direktor auf, bevor er die Menschheit vernichtet.«

Die Türen des Aufzugs schlossen mit einem zischenden Geräusch.

Del lehnte sich gegen die Wand vor ihrem Klassenzimmer. Ihre Beine schmerzten und zitterten. Als alles vor ihr zu verschwimmen begann, schloss sie ihre Augen und hieß die Dunkelheit willkommen.

Sie werden ihn töten, Delly.

War ihr Vater wirklich noch am Leben?

Jemand nannte ihren Namen. Peter.

Er stand neben ihr und hielt etwas gegen seine Brust gedrückt. Was es auch immer war, er hielt es so fest, als lägen die Schätze der ägyptischen Pharaonen in seinen Händen.

»Das hat er fallen lassen«, sagte er und reichte ihr ein Buch. »Danach hat der alte Kerl gegriffen. Sind Sie in Ordnung, Professor?«

Sie nickte. »Bis morgen, Peter.«

Del kehrte in den leeren Hörsaal zurück, zog die Tür fest hinter sich zu und schloss ab. Sie schaffte es gerade noch durch den Raum, bevor ihre Beine unter ihr nachgaben. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, atmete ein paar Mal tief durch und griff dann nach dem ledergebundenen Buch, das Peter ihr gegeben hatte.

Der Einband war verschmutzt und ging stellenweise ab. Er war völlig leer, bis auf ein leicht erhabenes Symbol, das man nur schlecht erkennen konnte.

Ein Kreuz vielleicht.

Sie zeichnete das Symbol mit dem Finger nach.

Professor Schroeder, was ist Ihnen nur zugestoßen?

Arnold Schroeder war ein renommiertes Anthropologie-Genie. Wann immer er Dels Vater besucht hatte – und er hatte ihn oft besucht – hatte er Del unter seine Fittiche genommen und ihr etwas Neues beigebracht. Er war der Grund, weshalb sie an der University of British Columbia Anthropologie lehrte. Schroeder war ihr Vorbild gewesen.

Nach Dad natürlich.

Del schlug das Notizbuch so vorsichtig auf, dass ihre Fingerspitzen es kaum berührten. Sie blätterte durch die Seiten, las hier und da ein paar Sätze und versuchte, aus Schroeders Notizen schlau zu werden. Die meisten der Einträge im Notizbuch schienen in einer Art Code geschrieben zu sein und es war fast unmöglich, sie zu entziffern. Gerade wollte sie das Buch wieder niederlegen, als ihr ein Name auf einer der Seiten ins Auge sprang.

Dr. Lawrence V. Hawthorne.

Direkt unter den Namen ihres Vaters war ein Datum gekritzelt.

Januar 2001.

Ihre Hand begann zu zittern.

2001?

Sie riss eine Schublade auf und wühlte darin herum.

Schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte – ein Foto, das sieben Jahre zuvor, 1998, aufgenommen worden war. Es zeigte ihren Vater und Professor Schroeder Seite an Seite in Jeans, T-Shirts und mit albernen Fischerhüten. Sie hatten ein ansteckendes Grinsen auf den Gesichtern, als ob sie über irgendeinen Insiderwitz lachten. Das Foto wurde am selben Tag aufgenommen, an dem ihr Vater, Schroeder und zwei Mitarbeiter zum Abenteuer ihres Lebens aufgebrochen waren.

Im Sommer ’98 schlug ein neuer Praktikant bei Bio-Tec Kanada, dem Unternehmen, für das auch Dels Vater tätig war, eine Raftingexkursion auf dem Nahanni River in den Northwest Territories vor. Der Praktikant machte es ihrem Vater mit alten Legenden über unentdecktes Gold und kopflose Skelette und Leichen, die die Flussufer säumten, schmackhaft. Ihren Vater packte die Vorstellung, einen der spektakulärsten Orte Kanadas zu erforschen, und er überzeugte Schroeder und seinen Chef, sie zu begleiten.

Drei Tage später verschwanden die vier Männer spurlos.

Ein Suchtrupp wurde den Nahanni hinuntergeschickt und die Ermittler fanden ein paar Meilen weiter flussabwärts von Virginia Falls ein kopfloses Skelett. Der Großteil der Gebeine war von wilden Tieren abgefressen worden und die Knochen waren stark verwittert, doch ein Forensikexperte konnte die Leiche identifizieren.

Es war Neil Parnitski, Geschäftsführer von Bio-Tec Kanada.

Von Dels Vater jedoch fehlte jede Spur … so auch von den anderen Männern.

Eine Woche später fand das Suchteam ein blutiges Hemd am Ufer sowie Kopfhautgewebe an einem unweit davon gelegenen Felsen. DNA-Tests ergaben, dass ein Großteil des Blutes ihrem Vater zugeordnet werden konnte, während das Gewebe von Schroeder stammte. Die Ermittler betonten auch, dass aufgrund der erheblichen Menge Blutes, die gefunden wurde, nicht einmal ein Arzt ohne medizinische Hilfe hätte überleben können. Sechs Monate später waren die Ermittlungen eingestellt worden und der letzte Vermisste für tot erklärt.

Del strich über das Foto ihres Vaters.

Sie werden ihn töten, Delly.

Schroeders Worte hallten in ihrem Kopf wider und sie konnte das beklemmende Gefühl einfach nicht abschütteln, das ihr allmählich unter die Haut kroch und jede Zelle ihres Körpers packte. Sie starrte durch das Fenster in den dunkelnden Nachthimmel und dachte an den Tag, als ihre Mutter ihr die Nachricht überbrachte, dass ihr Vater, nur wenige Monate nach seinem Verschwinden, für tot erklärt worden war. Sie erinnerte sich an die Beerdigung eine Woche später zurück, wie sie im strömenden Regen vor einem schwarzen, gähnenden Loch stand, und ein leerer Sarg in den schlammigen Boden gesenkt wurde. Die Beerdigung hatte nur drei Tage vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag stattgefunden – ein Geburtstag, der ohne großes Trara gekommen und wieder gegangen war.

Del hatte danach nie wieder irgendeinen ihrer Geburtstage gefeiert. Zu viele Erinnerungen.

Nun, da sie das Foto ihres Vaters anstarrte, kamen all der Schmerz und die Trauer, die sie sieben Jahre zuvor gefühlt hatte, mit voller Wucht zurück.

Sie werden ihn töten, Delly.

***

Es war bereits nach acht, als Del an ihrem kleinen Zuhause in Port Coquitlam ankam. Sie parkte ihr Auto unter dem Carport, nahm ihre Aktentasche und ging ins Haus.

»Schatz, ich bin zu Haaause!«

Eine übergewichtige, braun melierte Siamkatze mit nur einem Ohr schoss wie ein Pfeil auf sie zu und rieb sich ungeduldig mit einem schwermütigen Miauen an ihrem Bein.

»Oh, Kayber! Tu nicht so, als würde ich dich nie füttern!«

Del hatte die Katze fünf Monate zuvor in ihrem Garten gefunden. Voller Prellungen und Kratzwunden, und mit einem rechten Ohr, das nur noch an einem dünnen Stück Haut gehangen hatte, machte er den Eindruck, als wäre er in eine Kneipenschlägerei verwickelt gewesen – und hätte den Kürzeren gezogen. Sie hatte ihn vom Fleck weg adoptiert, wobei sie sich aber oft die Frage stellte, ob es nicht eher umgekehrt der Fall war.

Sie warf ihre Aktentasche auf das Sofa, ging in die Küche, streute etwas Katzenfutter in einen Napf und stellte ihn auf den Boden. Dann nahm sie auf dem Sofa Platz, stocherte in den Überresten eines Makkaroniauflaufs herum und schlürfte eine Tasse Vanilletee.

Ihr Blick wanderte über die Fotos auf dem Sims ihres Ziegelkamins und zahlreiche Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf. Erinnerungen an gute Zeiten, glückliche Zeiten. Zeiten, als ihr Vater noch am Leben war; bevor er verschwand und eine gähnende Leere in ihrem Leben hinterließ.

Sie stellte den halb leer gegessenen Teller Makkaroni auf den Couchtisch, zog das Notizbuch aus ihrer Aktentasche und fing an, es durchzublättern. Als sie auf eine Seite voller seltsamer Begriffe, Abkürzungen, Zahlen und Symbole stieß, hielt sie inne.

NB … RESISTENT GEGEN … ≠

DC #02541-87654-18 BEW. BASIS … HSZ & SYN. GRF IN

V. SALZ-LSG … GN.

Mehrfach fand sie auch Hinweise auf ihren Vater, verstand aber den Inhalt nicht. Ziemlich weit am Anfang des Buches gab es Seite um Seite reihenweise Zahlencodes. Nach einer Stunde hatte sie gerade einmal ein Drittel des Buches überflogen, als sie einen merkwürdigen Eintrag entdeckte.

BIO-T KAN … SCHLÜSSEL!

Sie zog scharf den Atem ein.

Bio-Tec Kanada?

Ihr Vater hatte für Bio-Tec gearbeitet. Warum hatte Schroeder das notiert? Außer zu Dels Vater, Neil Parnitski und dem Praktikanten hatte Schroeder nie Kontakt zu Bio-Tec gehabt. Er war Anthropologe. Bio-Tec war ein Forschungsunternehmen, spezialisiert auf Biotechnologie.

Del war perplex.

Sie schob das Buch beiseite und knipste mit der Fernbedienung in Richtung ihres CD-Players. Als Alexia Melnychuks weiche Stimme im Raum erklang, rekelte sich Del auf der Couch und schloss die Augen.

Kayber, der inzwischen gierig sein Futter hinuntergeschlungen hatte, fasste dies augenblicklich als Einladung auf und sprang hoch auf ihren Bauch. Und seine gesamten zehn Kilo mit ihm.

»Was ist heute nur los, dass alle Kerle meinen, sich auf mich schmeißen zu können?«

Sie musste an Peter Cavanaugh mit seinem Tobey-Maguire-Gesicht denken und unweigerlich lächeln. Es war sein erstes Studienjahr, doch er hatte zu viele Vorlesungen verpasst, da er sich um seine kränkliche Großmutter hatte kümmern müssen. Leider hatte er für die zwei Semester deshalb nur ein ‚unvollständig’ eingetragen bekommen und nahm nun an ihren Sommervorlesungen teil.

Er war zehn Jahre jünger, unglaublich schüchtern und ein kleiner Eigenbrötler – außer, wenn er in Dels Nähe war. Er war ernsthaft in sie verknallt. Sie wusste es. Gott, alle wussten es. Die halbe Fakultät dachte, sie würde mit ihm schlafen, doch das stimmte nicht. Sie war nicht so eine. Im Gegensatz zu ihrer Mutter gehörte sie nicht zu dieser Sorte Frauen, die hinter erheblich jüngeren Männern herjagte.

Del schubste Kayber kurzerhand zur Seite, griff nach dem Telefon und wählte die Nummer ihrer Mutter. Es läutete mehrmals, als schließlich jemand abhob.

»Ja? W-Wer’s dran?«

Ken, die neuste Eroberung und dritter Ehemann ihrer Mutter, hatte wieder getrunken.

Das hat man davon, wenn man den Besitzer eines Nachtklubs ehelicht.

»Ist meine Mutter auch da?«

»Wozu brauchsu sie?«

»Gib sie mir einfach, Ken.«

Sie lauschte, während der Gatte ihrer Mutter durch das Haus stolperte. Er ließ das Telefon fallen und fluchte laut. Auch Del fluchte, als das Geräusch des Aufpralls in ihren Ohren schallte.

»Hallo?«

Herrgott! Warum dauert das so lange? Ist er aus den Latschen gekippt?

Immer noch wartend hörte sie leise, schlurfende Geräusche. Gerade wollte sie auflegen, als die kühle Stimme ihrer Mutter sie begrüßte.

»Maureen Walton.«

»Hi, ich bin‘s.«

»Wer?«

»Delila, Mutter.«

Gnade dir Gott, wenn du vergisst, dich vorzustellen!

Sie konnte es nicht glauben, dass ihre Mutter noch immer diese Masche abzog. Diese Frau war die Formalität in Person. Gute Manieren und Etikette, Leuten die Hand geben, ältere Herrschaften mit ihrem Nachnamen ansprechen und ein Haus haben, das mehr zur Schau als zum Wohnen diente. Dies alles war Teil ihres Versuchs, die nächste Frau Knigge zu werden; oder, Gott bewahre, Martha Stewart.

»Delila, ich habe seit Wochen keinen Ton von dir gehört. Warum bist du nicht vorbeigekommen?«

Del zuckte zusammen, als sie sich an ihren letzten Besuch erinnerte. Den letzten Besuch, als Ken versucht hatte, sie anzugrabschen, als sie im Flur an ihm vorbeiging.

»Ich war beschäftigt.«

»Zu beschäftigt, um deine eigene Mutter zu besuchen?«

Na toll! Da haben wir den Salat.

»Als du mit Grippe und Fieber im Bett gelegen hast, war ich da zu beschäftigt, um dir ein paar Zeitschriften vorbeizubringen?«

In der Stimme ihrer Mutter war Missbilligung zu hören.

»Und als du mit diesem Tyler, oder wie auch immer er heißt, abgehauen bist – war ich da zu beschäftigt, um dieses verlauste Vieh zu füttern?«

Del hielt den Hörer von ihrem Ohr weg und warf Kayber einen reumütigen Blick zu. »Sie wird dir nie verzeihen, dass du in ihre Schuhe gepinkelt hast.«

Um Dampf abzulassen, ließ sie ihrer Mutter ein paar Minuten und hielt dann das Telefon wieder zurück ans Ohr.

Was konnte sie nur erzählen, damit die Frau endlich zu Reden aufhörte?

»Dad … er lebt.«

Am anderen Ende war ein kurzes Keuchen zu hören, gefolgt von Stille.

»Nun, das hat gesessen«, bemerkte sie trocken zu Kayber, der geschäftig seine Fellpflege betrieb.

Sie drückte ihr Ohr fest an den Hörer.

Stille.

»Mutter, bist du noch dran?«

»Natürlich, Delila. Was soll dieser Unsinn mit deinem Vater?«

»Ich hatte heute Besuch. Es war Professor Schroeder.«

»Arnold? Das ist unmöglich, Schatz. Sie fanden einen Teil seines Kopfes.«

»Seines Skalps.«

»Was?«

Del biss genervt die Zähne aufeinander. »Sie fanden ein Stück seines Skalps, Mutter. Und ein paar Haare, das ist alles.«

»Wie auch immer. Er war tot und wurde zusammen mit Neil, Vern und deinem Vater vor sechs Jahren beerdigt.«

Del widerstand dem Drang, sie ein weiteres Mal zu verbessern. Es waren sieben Jahre.

»Vern?«

»Ja, Schatz, der junge Mann. Der Assistent deines Vaters oder was er auch immer war. Zumindest glaube ich, dass er Vern hieß. Oder hieß er vielleicht Victor …«

Die Stimme ihrer Mutter klang abwesend, gedankenverloren.

»Professor Schroeder behauptet felsenfest, dass Dad noch am Leben ist. Er hat mir ein Notizbuch mit einigen seltsamen Aufzeichnungen gegeben. Dads Name …«

»Arnold war schon immer ein komischer Vogel, Delila. Ich würde nicht zu viel auf das geben, was er so von sich gibt. Weiß Gott, wo er die ganze Zeit gesteckt hat.«

»Ich werde ihn zurückbringen, Mutter.«

Eine kurze Pause am anderen Ende.

»Arnold?«

»Nein. Dad.«

»Das kann nicht dein Ernst sein, Delila. Er ist tot!«

»Das ist mein Ernst. Ich bringe Dad wieder nach Hause.«

Sie legte auf, einerseits erleichtert, andererseits verärgert.

Warum war ihre Mutter nur so herzlos? Ihre Eltern waren fast dreißig Jahre verheiratet gewesen. War das denn überhaupt nichts wert? War es der Frau denn völlig egal, dass ihr Ehemann noch immer am Leben sein konnte? Oder wollte ihre Mutter einfach nicht, dass ihre kleine heile Welt plötzlich in sich zusammenbricht?

Del zog ein finsteres Gesicht.

Sie war die Letzte, die von sich behaupten konnte, eine Expertin in Beziehungsangelegenheiten zu sein. Man denke nur, wie lange sie gebraucht hatte, um zu erkennen, das TJ sie betrog. Er war in ihr Haus und ihr Herz gezogen … und hatte beide betrogen.

Niemals würde sie den Tag vergessen, als sie früher nach Hause gekommen war, mit schmerzenden Füßen und sich nach ihrem Bett sehnend – nur, um vorzufinden, dass es schon anderweitig belegt war.

Ihre Nachbarin, Julie Adams, hatte immer gefragt, ob denn wohl die Gerüchte wahr seien, die sich um die Libido eines schwarzen Mannes und die Größe eines ganz bestimmten Teiles seiner Anatomie rankten. Tja, sie hatte es herausgefunden.

Del hatte TJ noch am selben Tag vor die Tür gesetzt.

Mit einem Schulterzucken schüttelte sie die düstere Stimmung ab, die sie zu überkommen drohte, und tätschelte Kayber flüchtig am Kopf. Mit dem Notizbuch und ihrer Aktentasche in den Händen begab sie sich in ihr großes, zweites Schlafzimmer, das gleichzeitig als Büro diente. Sie knipste die Lampe an und wurde sogleich von einem Berg Sommerabschlussprüfungen begrüßt, die danach riefen, benotet zu werden.

Sie stießen jedoch auf taube Ohren. Del schob sie zur Seite, öffnete ihre Aktentasche und zog ein leeres Notizbuch heraus. Ganz oben auf die erste Seite schrieb sie sich eine Erinnerungsnotiz:

Herausfinden, wo Schroeder ist. Ihn besuchen!

Dann versuchte sie sich daran, Schroeders Notizbuch zu übersetzen.

Eine Stunde später gab sie schließlich auf, die hastig gekritzelten Notizen und seltsamen Zahlen zu entschlüsseln. Als sie nach der Korrektur ihrer Examen schließlich ins Bett schlüpfte, war es bereits nach Mitternacht.

Schatten tanzten durch das Zimmer, als sie im Dunkeln lag und sich ihren Vater so vorstellte, wie sie ihn in Erinnerung behalten hatte. Groß, mit goldbraunem Haar und tiefbraunen Augen. Er war immer fröhlich, hatte immer ein Lächeln auf den Lippen.

Sie schloss ihre Augen, die Wimpern feucht von unvergossenen Tränen.

Ich komme, Dad.

Kapitel 2

Als sie früh am nächsten Morgen die UBC betrat, grüßte Del den Wachdienst und ging den Flur hinunter. An der Tür zu ihrem Hörsaal hantierte sie mit ihrer Aktentasche und nestelte am Schlüssel.

»Del!«

Sie fuhr auf dem Absatz herum und wurde von Phoebe Smythe, Präsidentin der Universität, begrüßt. Phoebe war eine große, attraktive Frau mit Haaren wie dunkle Schokolade – bis auf eine schneeweiße Strähne, die aus ihrem Haaransatz spross.

»Ich habe gerade davon gehört«, sprach Phoebe und strich sich besagte Strähne hinter das Ohr. »Kann ich irgendetwas tun?«

»Was schon? Gegen die Tatsache, dass ein lieber Freund, von dem wir alle gedacht hatten, er sei tot, aus dem Grab wiederauferstanden ist und felsenfest behauptet, dass mein Vater noch am Leben ist …?«

»Oh Gott! Von Arnold habe ich gehört, aber ich wusste nichts von deinem Vater. Alles in Ordnung bei dir?«

Del zuckte mit den Schultern. »Wird schon. Erst einmal muss ich mit Professor Schroeder sprechen. Weißt du, wo er ist?«

»Sie haben ihn ins Riverview Hospital gebracht. Er ist in keinem guten Zustand, Del.«

»Was haben die Ärzte herausgefunden?«

Phoebe tätschelte ihren Arm. »Er leidet an einer sehr ungewöhnlichen Form von Progeria.«

»Beschleunigtes Altern? Aber von Progeria sind doch für gewöhnlich nur Kinder betroffen!«

»Das ist ein Rätsel, so viel ist sicher.«

»Nun, das erklärt zumindest, weshalb ich ihn nicht erkannt habe. Trotzdem macht es keinen Sinn. Selbst mit Progeria dürfte er nicht so alt aussehen.«

»Sie lassen einen Spezialisten kommen, Del. Jemanden aus der Stadt. Progeria und Werner-Syndrom sind unter anderem gefallen … sie wissen es wirklich nicht sicher. Worüber sie jedoch einer Meinung sind, ist Arnolds Denkvermögen. Es ist irreparabel geschädigt.«

»Du meinst also, er könnte es erfunden haben? Das mit Dad?«

Phoebe steckte Del einen kleinen Notizzettel zu. »Ruf im Krankenhaus an. Sag ihnen, du gehörst zur Familie. Arnolds Frau ist nach London gezogen und seine Söhne sind beide verheiratet und wohnen in einer anderen Provinz. Du bist die Einzige, die er noch hat.«

Als sie wieder alleine im Hörsaal war, rief Del das Riverview an und traf Vorkehrungen, um kurz vor vier bei Schroeder zu sein.

Das würde noch ein langer Tag werden.

***

»Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Anthropologie das Gesamtbild zu verstehen sucht, wenn es um die Erforschung des Menschen – des Homo sapiens – geht«, referierte Del vor ihrem Sommerkurs. »Als Anthropologen werden Sie geografischen Raum und evolutionäre Zeit untersuchen, um die menschliche Existenz begreifen zu können. Anthropologie ist eine einzigartige Mischung aus Folklore und gewöhnlicher Wissenschaft. Sie umfasst die Evolution von Sprache und die mikroskopischen Killerkrankheiten, die ganze Bevölkerungen ausgelöscht haben.«

Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Das war’s. Genug für heute.«

»Mr. Cavanaugh, alles in Ordnung wegen gestern?«, erkundigte sie sich bei Peter, als er vorbeihuschte. »Wegen des alten Mannes im Hörsaal?«

»Ich habe gehört, er ist ein Freund von Ihnen.«

»Er … ist ein Freund meines Vaters.«

Obwohl er mein Großvater sein könnte, so wie er aussieht.

Der junge Mann verlagerte den Laptop und die Bücher in seinen Armen. »Wird er wieder?«

»Ich hoffe es.«

Nachdem Peter gegangen war, blickte sie aus dem Fenster.

Es regnete.

Vancouver – die Stadt des Regens.

Für Del war es das perfekte Wetter, um in der Vergangenheit zu graben. Das perfekte Wetter, um den Toten noch mal einen Besuch abzustatten. Oder eben den nicht ganz so Toten.

***

Als Del das Gelände des Riverview Hospital erreichte, hatte ein frühsommerliches Unwetter seinem Zorn über Vancouver freien Lauf gelassen und die Straßen unter Wasser gesetzt. Sie bog in den Besucherparkplatz ein, löste am Automaten ein Ticket und hielt Ausschau nach einer freien Parklücke. Als sie durch den Haupteingang hastete, wurde sie vom rutschigen Boden des Krankenhauses überrascht. Sie schlitterte über die glatten Fliesen – direkt in die Arme eines äußerst gut aussehenden Fremden.

»Huch! Aber hallo!«, bemerkte er und schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln.

Der Mann, der sie aufgefangen hatte, war in einen sportlichen Anzug gekleidet. Wäre es nach Del gegangen, hätte er aber auch genauso gut nichts anhaben dürfen. Sein dunkelbraunes Haar war nach hinten gekämmt, bis auf eine freche Locke, die über eine seiner wohlgeformten Augenbrauen hing. Er hatte ein markantes Gesicht mit einer kräftigen Kinnpartie und lächerlich hohen Wangenknochen. Sein Bart an Oberlippe und Kinn war kurz rasiert – eine Art Fünf-Uhr-Schatten-Look.

Del gefiel es trotzdem. Gott, was konnte einem an diesem Kerl nicht gefallen?

Wenn er mich jetzt loslässt, schmelze ich auf den Boden.

»Sorry. Ich … ich bin ausgerutscht.«

»Na, zum Glück war ich zur Stelle, um Sie aufzufangen.«

Seine Stimme war warm und einladend wie gutes Essen.

»Ja, zum Glück …«, murmelte sie verlegen.

»Krank sehen Sie aber nicht gerade aus.«

»Ich, äh, besuche einen Freund.«

»Hmm … so ein Glückspilz.«

Ihr Mund klappte auf. Grundgütiger!

Er ließ sie los und plötzlich fühlte sie sich kälter.

»Nun, äh … Danke für, äh, fürs Auffangen.«

Sie hätte sich ohrfeigen können. Noch dämlicher hätte sie wohl nicht klingen können?

Tiefblaue Augen wanderten über sie.

»Gern geschehen.«

Wie hypnotisiert starrte sie ihm nach, als er wegging. Dann hielt sie auf den Aufzug zu, trat hinein und sah den Mann von dort aus erneut. Er stand am Empfang. Kurz bevor sich die Aufzugtüren schlossen, und kurz bevor ihre brodelnden Hormone überzukochen drohten, drehte er sich noch einmal um und zwinkerte ihr zu.

Leise fluchend, trommelte sie auf den Knopf zum zweiten Stock – der geschlossenen psychiatrischen Abteilung der Klinik. Als sie am Zimmer der Oberschwester ankam, musste sie ein Formular ausfüllen und wurde durch eine verschlossene Doppeltür begleitet.

Die Schwester legte Del eine Hand auf den Arm. »Ich möchte Sie vorwarnen, Miss Hawthorne, wir mussten ihm ein Beruhigungsmittel verabreichen. Als er eingeliefert wurde, hatte er Halluzinationen … und starke Schmerzen.«

Als Del Professor Schroeders Zimmer betrat, war Mr. Groß, Dunkel und Ach-so-sexy schlagartig vergessen. Der Raum wurde nur von einem kleinen Nachtlicht in der hintersten Ecke spärlich beleuchtet. Jemand hatte die Vorhänge einen Spalt aufgezogen, doch das machte keinen Unterschied. Draußen hielt der schwarze Sturmhimmel die Sonne in Schach und entfesselte seinen Zorn.

Schroeder lag da, die eine runzelige Hand am Bettgitter festgebunden, die andere in dicke Bandagen gehüllt. Ein Infusionsschlauch verlief von seiner Hand zu einem Beutel mit klarer Flüssigkeit, der an einem Ständer hing, und neben seinem Bett befand sich ein Herzmonitor, der gleichmäßig piepte.

Del beobachtete die Ausschläge.

Schroeder war immer noch am Leben.

»Professor?«

Er rührte sich nicht.

Sie trat näher ans Bett heran und hielt erschrocken inne.

Arnold Schroeders Gesicht war massiv gealtert. Die Haut unter seinem Kinn hing in schlaffen Falten über seinen Hals. Jeder Zentimeter seiner fleckigen Haut war hutzelig und schuppig, die Lippen spröde und rissig.

Nur einen Tag zuvor in ihrem Hörsaal hatte der Mann noch wie siebzig ausgesehen.

Nun sah er aus, als ginge er auf die Neunzig zu. Auf den Tod.

Was konnte nur passiert sein, weshalb er so rapide alterte? Progeria?

Del fasste nach vorne und strich Schroeder das Haar aus dem Gesicht. Als sie ihre Hand wieder zurückzog, gingen die Haare auch mit. Entsetzt schüttelte sie das Büschel von ihren Fingern in den Mülleimer neben dem Bett.

Schroeder öffnete langsam seine wässrigen Augen.

»Sie sind im Krankenhaus«, erklärte sie und streichelte ihn am Arm.

»Delly?«

»Ich bin hier, Professor.«

»Ach komm, ist es nicht langsam an der Zeit, dass du mich Arnold nennst?«

Seine Frage endete mit einem heiseren Hustenanfall.

Del griff nach einem Glas Wasser, das einsam auf einem Tablett stand, und führte den Strohhalm an seinen Mund. Der Anblick seines blutigen Zahnfleisches und der fehlenden Zähne erschütterte sie.

Nach ein paar schwachen Schlückchen schob er das Glas samt Dels Hand beiseite.

»Hast du es gefunden, Delly?«

»Das Notizbuch? Ja.«

»Es steht alles darin. Alles, was du wissen musst. Folge deinem Herzen. Finde zuerst den Schlüssel. Erzähle aber niemandem davon, Delly! Wenn die Polizei erfährt, dass dein Vater immer noch am Leben ist, werdet ihr beide in Gefahr schweben.«

Er stöhnte vor Schmerzen auf, als ein starker Krampf seinen Körper beutelte.

Del ergriff seine Hand. »Soll ich die Schwester rufen?«

»Nein, für mich ist es zu spät. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Du aber, Delly … du musst gehen. Finde den Schlüssel.«

Er hustete schwerfällig und spuckte Blut.

»Drehe jeden noch so kleinen Stein um. Vergiss … das nicht. Nimm … Ker … gan …«

Plötzlich raste der Herzmonitor los und ein schriller Alarm setzte ein.

Del musste hilflos zusehen, wie sich jeder Muskel in Schroeders Körper krampfhaft zusammenzog. Die Adern auf seiner Stirn und an den Schläfen traten gefährlich hervor, seine Augen rollten zurück in die Höhlen und er stieß einen entsetzlichen Schmerzensschrei aus. Dann kollabierte er – stumm, regungslos.

Eine groß gewachsene asiatische Ärztin hetzte in den Raum, gefolgt von zwei Männern, die einen Notfallwagen schoben.

»Es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen.«

Dels Puls raste, als sie auf den Flur hinaustrat. Sie lugte durch das kleine Fenster in der Tür, während die Ärztin die Kontakte des Defibrillators über Schroeders nackte Brust hielt. Als sein Körper sich in Reaktion auf den Strom durchbog, wich Del vom Glas zurück.

Niedergeschlagen und schweren Schrittes ging sie zu einem kleinen Sitzbereich und beobachtete die anderen Besucher, die mit sorgenvollen Gesichtern darauf warteten, Neuigkeiten über ihre Angehörigen zu erfahren. Wie sie Krankenhäuser nur hasste! Sie verabscheute den Geruch von Krankheit und Tod; von Verfall. Genauso das ständige Herumstochern und -fummeln von Ärzten und Krankenpflegern. Und die endlosen, lästigen Untersuchungen.

Oh ja, sie war mit Krankenhäusern aufs Engste vertraut.

Sie schüttelte ihren Kopf.

Keine Zeit für Selbstmitleid. Sie musste jetzt an Schroeder denken … und ihren Vater. Etwas Furchtbares war ihnen zugestoßen, und Del war entschlossen, es herauszufinden.

Die Ärztin trat aus dem Zimmer des Professors und steuerte mit einem entschuldigenden Ausdruck auf Del zu.

»Gehören Sie zu Arnold Schroeder?«

Del schwieg.

»Ich bin Dr. Wang. Wir konnten ihn vorerst stabilisieren, doch ich muss Ihnen sagen – ich denke, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist.«

Genau, was Schroeder gesagt hat.

»Ein Spezialist ist bereits auf dem Weg. Genau genommen ist er vor etwa einer halben Stunde angekommen.«

Del war entrüstet. Wieso dauert das dann so lange?

Dr. Wang lächelte plötzlich. »Ah, da ist er ja. Entschuldigen Sie mich.«

Der Spezialist stand dort am Schalter und wandte seinen Kopf. Del erkannte ihn sofort wieder.

Der Mann aus dem Foyer.

Dr. Wang begrüßte ihn, sie wechselten ein paar Worte und die Ärztin schüttelte den Kopf. Minuten später verschwanden sie in Schroeders Zimmer.

Dels Entrüstung schlug in Zorn um.

Mr. Groß, Dunkel, Ach-so-sexy und Egoistisch hatte sich alle Zeit der Welt gelassen. Er hätte nach Schroeder sehen sollen, anstatt mit ihr zu flirten.

Sie verließ das Krankenhaus, war stocksauer und enttäuscht.

Wegen des attraktiven Spezialisten … und sich selbst.

***

Eine Stunde später saß sie in ihrem Wohnzimmer mit Lisa.

Lisa Shaw war seit der Highschool ihre beste Freundin gewesen. Sie waren wie Schwestern, auch wenn Lisa in fast jeder Hinsicht das komplette Gegenteil von Del war. Lisa war einen halben Kopf kleiner als Del mit ihren eins-fünfundsiebzig, brünett und hatte eine wahre Modelfigur. Ihre Augenfarbe war haselnussbraun im Gegensatz zu Dels Blassblau.

»Also, wie süß war dieser Kerl nun genau?«, fragte Lisa neugierig mit dem Mund voll Pizza. »Ich meine, war er Orlando-Bloom-süß oder vielleicht Harrison-Ford-süß?«

»Eher Johnny-Depp-süß.«

»Oh mein Gott!«

»Nun, für genau den scheint er sich zu halten.«

Lisa warf ihr einen wissenden Blick zu. »Und das tust du auch, Delila Bea Hawthorne. Ich weiß es.«

Del spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. »Halt die Klappe und iss deine Pizza!«

»Zeigst du mir nun dieses Buch oder nicht?«

Del griff nach dem Notizbuch und legte es auf den Tisch.

Lisa schlug es vorsichtig auf. »Was hat es mit all diesen Zahlen auf sich?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer.«

Lisa setzte ein kritisches Gesicht auf. »Ein Künstler ist er ja nicht gerade.«

»Nur weil du bei David C. Miller studiert hast, heißt das nicht, dass jedem diese Ehre zuteil wird.«

Miller war ein international gefeierter US-Künstler der Marinemalerei und hatte Lisa unter seine Fittiche genommen. In zwei Wochen würde Lisas neuste Sammlung von Giclée-Leinwänden in der Imagine ausgestellt werden – einer der renommiertesten Kunstgalerien Kanadas. Die Medien berichteten bereits begeistert darüber und einige einflussreiche Leute hatten schon angekündigt, zu erscheinen. Auch Miller selbst und seine Gemahlin würden bei der großen Ausstellungseröffnung anwesend sein.

»Das sieht wie ein Baum aus, Del. Mit zwei Hauptästen. Siehst du? Und dieses N bedeutet wohl, dass er durch die Bäume nach Norden gesehen hat.«

»Wie zum Teufel soll ich meinen Dad damit nur finden?«

»Der Professor sagte doch, dass alles dazu Notwendige in diesem Buch stehen würde, oder? Also. Dann wirst du schon noch dahinterkommen. Wann willst du überhaupt aufbrechen?«

Del ließ die Schultern sacken. »Ich habe keine Ahnung. Ich muss noch Flugvorbereitungen treffen, aber das kann ich so lange nicht, bis ich ein paar Leute gefunden habe, die mit mir kommen.«

»Du weißt, ich würde mitkommen, hätte ich nicht diese …«

»Das verstehe ich voll und ganz, Lisa. Ich finde schon jemanden, um meinen Vater zurückzuholen. Sieh du nur zu, dass deine Ausstellung ein durchschlagender Erfolg wird.«

»Was ist mit TJ?«, fragte Lisa zögerlich.

Del hob eine Augenbraue. »Was soll mit ihm sein?«

»Du weißt, er würde alles für dich tun. Noch dazu ist er ein ausgezeichneter Rafter.«

»Ja, und ein ausgezeichneter Lügner.«

»Hast du Julie schon mal wieder gesehen? Sie sieht aus wie ‘ne Kanonenkugel.«

Lisa formte mit den Händen einen riesigen Babybauch und bemerkte dann Dels Miene.

»Oh, Scheiße, Del. Es tut mir leid.«

»Mach dir keine Gedanken. Wie man sich bettet, so liegt man – bei TJ im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hoffe, er ist glücklich mit ihr. Und dem Kind. Er wollte schon immer eine große Familie.«

Sie klappte das Notizbuch zu und bedeutete damit das Ende der Unterhaltung.

»Möchtest du Popcorn mit Butter oder Käse, meine Liebe?«

Lisa sah sie mit großen, unschuldigen Augen an. »Ach, warum denn nicht beides?«

Del prustete.

Wenn es eine Sache gab, die Lisa auszeichnete, dann war es die Gabe, Del zum Lachen zu bringen.

»Wenn ich dich und deinen Humor nicht hätte, Lisa.«

Sie sahen sich zwei Jackie-Chan-Filme in Folge an, stopften sich mit Popcorn voll und leerten zwei Sixpacks Bier. Dann trat Lisa auf dem Sofa weg, sanft schnarchend.

Als Del in ihr Bett kroch, war jeglicher Kummer vorerst vergessen.

***

Unendlich viele Gedanken rasten ihr durch den Kopf, als sie am nächsten Morgen aufwachte.

Wie konnte sie nur irgendjemanden davon überzeugen, sich mit ihr auf eine wahnwitzige Reise den Nahanni River hinunterzubegeben? Die Leute würden denken, sie wäre komplett übergeschnappt, sobald sie ihnen von ihrem Vorhaben erzählte, sich auf die Suche nach ihrem tot geglaubten Vater zu machen. Und wer, der sich eines einigermaßen gesunden Menschenverstandes erfreute, würde sie begleiten in dem Wissen, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wo ihr Vater stecken könnte, und nicht mal einen Beweis dafür, dass er tatsächlich noch am Leben war?

Vielleicht sollte ich TJ doch fragen …

Frustriert schlug sie ihre Bettdecke zur Seite und lauschte nach dem vertrauten Klappern von Töpfen und Pfannen, das am Morgen für gewöhnlich zu hören war, wenn Lisa über Nacht blieb.

Aus der Küche waren keine Lebenszeichen zu hören.

Dels Magen knurrte rebellisch.

Stöhnend vor Hunger schleifte sie sich aus dem Bett. Sie warf sich einen alten, blauen Morgenmantel über, schlüpfte in ihre Tweety-Plüschpantoffeln und flappte in den Flur.

»Hey, Lisa!«, rief sie und fuhr sich mit den Fingern durch ihre widerspenstigen, kurzen blonden Locken. »Ist das Frühstück schon fertig?«

Keine Antwort.

Sie kam in die Küche, vorfreudig auf den betörenden Duft von gebratenem Speck und frisch gebrühtem Kaffee.

Alles, was sie vorfand, war eine Haftnotiz an der Kühlschranktür.

Mrs. Johnny Depp,

ich habe dir etwas Kräutertee dagelassen. Eine Mischung mit afrikanischer Wurzelrinde. Soll Kraft verleihen und hilft, wenn du mal zu tief ins Glas geschaut hast. ☺

Liebe Grüße, Lisa. XOXO

PS: Ich habe TJ angerufen. Er sagt, klar kommt er mit.

»Verräterin!«, murmelte Del.

Sie sah in ihrer leeren Küche umher und erblickte Kayber, der an der Tür auf und ab ging. Sie warf ihm einen missmutigen Blick zu.

»Sie hätte uns wenigstens etwas zum Frühstück machen können.«

Lisas Tee stand auf dem Tresen in einer Tüte ohne Etikett.

Del schnüffelte argwöhnisch hinein und hoffte inständig, ihre Wohnung würde nicht von einer Drogenrazzia heimgesucht werden.

»Was auch immer hier drin ist, ist vermutlich kein Tee.«

Und genauso wenig legal.

Nur um sicherzugehen, goss sie sich eine Tasse davon auf.

Im Anschluss brach sie auf zu Bio-Tec.

Kapitel 3

Es war bereits Jahre her, seit Del zum letzten Mal einen Fuß in Bio-Tec Kanada gesetzt hatte – das Unternehmen, in dem ihr Vater beschäftigt gewesen war und das in Schroeders Notizbuch erwähnt wurde. Es hatte sich nicht wirklich viel verändert. Selbst Annette Taylor war immer noch da.

Die Augen der Rezeptionistin weiteten sich, als Del auf sie zukam.

»Delila, welch eine Überraschung. Was machst du denn hier?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher, Annette. Wer hat inzwischen die Geschäftsleitung?«

»Edward Moran.«

Moran war ein Kollege ihres Vaters gewesen – ein Mann mit Ecken und Kanten und einer Art sie anzusehen, die sie erschaudern ließ. Wann immer ihr Vater sie zu gesellschaftlichen Anlässen eingeladen hatte, war sie Moran vorsorglich aus dem Weg gegangen.

»Soll ich ihn für dich anklingeln, Delila?«

»Ich denke, ja. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht mal sicher, weshalb ich überhaupt hier bin.«

Plötzlich fing Del zu schwitzen an und ihre Beine begannen zu zittern.

Verdammt! Doch nicht jetzt!

Annette kam mit einem Glas Wasser wieder. »Mr. Moran wird in Kürze bei dir sein. Kann ich dir sonst noch etwas bringen?«

»Nein, vielen Dank, Annette.«

Zehn Minuten später kam Edward Moran durch die Eingangshalle stolziert, seine Brust aufgeplustert wie ein alter Gockel. Er war ein korpulenter Mann mit einem runden, moppeligen Gesicht. Kleine, schmale braune Augen wurden von einer Kupferrandbrille eingerahmt, die auf seiner dicken Nase thronte. Die dunklen, lockigen Haare liefen von der fortschreitenden Stirnglatze in graue Strähnen über seinen Ohren aus. Einige Männer hätten damit sicher aristokratisch ausgesehen, aber Moran ließ es einfach nur alt wirken.

Als er auf Del zukam, sah sie, wie sich sein marineblauer Anzug über seinen Bauch spannte. Er war mindestens eine Nummer zu klein. Die schwarzen Knöpfe auf dem Jackett hielten kaum fest genug. Moran hätte nur einmal niesen oder husten müssen, und schon wären sie wie Granatsplitter von seinem Bauch losgeschossen. Del bedauerte jeden, der zufällig in seine Schusslinie kommen würde.

»Delila Hawthorne, sind Sie es wirklich?«

»Können wir irgendwo unter vier Augen sprechen?«

Moran zuckte die Schultern. »Selbstverständlich. Hier entlang, bitte.«

Sie folgte ihm einen schmalen Korridor entlang bis zu einer Tür mit der Aufschrift: Edward T. Moran, Geschäftsführer. Er öffnete und bedeutete Del den Vortritt.

»Sie sehen übrigens so reizend aus wie eh und je, wenn ich mir die Anmerkung gestatten darf.«

Nicht lange, und es fiel Del wieder ein, weshalb sie diesen Mann nie hatte leiden können. Er hatte diese Unart, sich hin und wieder über die Lippen zu schlecken – besonders immer dann, wenn seine Augen eine Frau erspähten. Seine fette rosa Zunge schleckte jedes Mal im vollen Kreis um seinen Mund und ließ eine glänzende Speichelspur darauf zurück.

Vielleicht litt Moran an chronischer Mundtrockenheit, ja, doch es war wohl eher auf seine lebhaften Gedanken zurückzuführen, die sich bei Dels Anblick in seinem Kopf regten. Sein Blick schien ihrem nie voll zu begegnen. Stattdessen drifteten seine Augen permanent zu ihrem Dekolleté ab. Er schaffte es, dass sie sich schmutzig fühlte, missbraucht.

Ich brauche ein Bad, sobald ich hier wieder heil raus bin.

Moran deutete auf eine Couch in seinem Büro.

Del steuerte jedoch resolut auf den Sessel zu und verschränkte selbstsicher die Arme vor ihrer Brust.

Schleck. »Also, was kann ich für Sie tun, Delila?«

»Ich bin wegen meines Vaters hier«, entgegnete sie.

Moran nahm ihr gegenüber Platz, lehnte sich nach vorne und tätschelte ihr Knie, wobei er seine Hand etwas zu lange verweilen ließ.

»Wegen Ihres Vaters? Ja, nun, es war ein äußerst tragischer Fall. Es tut uns allen wirklich sehr leid.«

Sie fegte seine Hand von ihrem Knie. »Mr. Moran, haben Sie denn noch nicht davon gehört? Arnold Schroeder, der Freund meines Vaters – er lebt.«

»Ach, was?«

Sein Gesicht wurde blass und seine Zunge huschte ein weiteres Mal über seine Lippen.

»Nun, weshalb wollten Sie mit mir sprechen?«

»Ich dachte, vielleicht wüssten Sie etwas darüber, wohin die Truppe um meinen Vater unterwegs war. Bevor sie verschwanden, meine ich.«

Moran schüttelte den Kopf. »Warum fragen Sie das denn nicht den Professor?«

»Er liegt im Krankenhaus. Im Sterben.«

Er sah sie mitfühlend an. »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen in diesem Fall leider nicht weiterhelfen. Ich war in das Vorhaben nicht eingeweiht. Noch dazu ist das jetzt schon sieben Jahre her. Das mit Ihrem Freund bedaure ich zutiefst und ich bin sicher, dass Sie alles andere als an den Tod ihres Vaters erinnert werden wollten. Sollte ich also sonst irgendetwas für Sie tun können …«

Seine Augen wanderten erneut zu ihrer Bluse.

Sie sprang abrupt auf. Sie musste unbedingt aus diesem Büro raus, an die frische Luft.

»Mein Vater ist nicht tot, Mr. Moran!«

Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, fiel ihr Schroeders Warnung wieder ein.

Edward Morans Kiefer klappte nach unten und jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht.

Das Letzte, was sie sah, bevor sie die Tür hinter sich zuschlug, war, wie ein kleiner schwarzer Knopf vom Jackett des Mannes absprang. Sie konnte das leise Pling hören, als er auf dem Boden auftraf.

Am Parkplatz angekommen, stieg sie in ihr Auto, zog ihr Handy aus der Tasche und rief TJ an.

Er hob beim ersten Läuten ab. »Ja?«

»Komm zum Starbucks bei mir um die Ecke.«

Sie legte auf.

Lisa hatte recht. TJ war wirklich die perfekte Wahl. Er war ein begabter Kanusportler und Rafter und er war großartig im Organisieren von Outdoor-Events.

Er war in so vielem großartig, stellte Del fest.

Lügen, Täuschen und Betrügen inbegriffen.

Und im Zuspätkommen, dachte sie zwanzig Minuten später.

TJ lief nach Tyrone-Jackson-Zeit. Wie immer.

Gerade als sie ihn noch einmal anrufen wollte, hörte sie ihren Namen. Sie entdeckte TJ, wie er sich mit zwei Venti-Cappuccino seinen Weg durch die kaffeesüchtige Menge bahnte.

Er stellte die Tassen auf dem Tisch ab und grinste. »Lange nicht gesehen, Del! Hab dich vermisst.«

Er schloss sie in die Arme und küsste sie fest auf den Mund.

Sie schob ihn etwas von sich weg und gaffte ihn ungläubig an. »Was, keine Dreadlocks mehr? Was ist denn mit dir los?«

TJ strich mit einer Hand über sein kurzes schwarzes Haar. »Julie ist los.«

Del zuckte zurück, die Augen auf die vergoldeten Dog-Tags gerichtet, die sie ihm geschenkt hatte.

War das erst zwei Jahre her?

Dass sie TJ vor die Tür gesetzt hatte, war nun sieben Monate her. Sieben lange Monate voller einsamer Nächte und einem leeren Bett.

Verdammt!