Wildes Blut - Marie Louise Fischer - E-Book

Wildes Blut E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Die Brüder Jochen, Jens und Jan Körner entdecken die Liebe: Während Jochen sein Herz an seine Klassenkameradin Sybille verloren hat, findet Jens Erfüllung in den Armen der faszinierenden, zehn Jahre älteren Claudia. Nur Jan, der Jüngste, ist noch etwas außen vor, er plagt sich bloß mit den Neckereien gleichaltriger Mädchen herum. Unbeschwert sind die Liebeserfahrungen aber nicht. Jochen muss mit seinen 15 Jahren erfahren, dass eine erste Liebe immer auch durch Eifersüchteleien und kleine Missverständnisse gefährdet ist. Und der ältere Jens will nicht verstehen, dass seine Eltern seine Beziehung nicht billigen wollen. Alle müssen lernen, dass zum Erwachsenwerden mehr gehört als Rebellion und hochfliegende Pläne und dass wildes Blut allein nicht genügt, um aus einer kindlichen Verliebtheit eine starke, belastbare Beziehung zu gestalten.-

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Marie Louise Fischer

Wildes Blut

Roman

Saga Egmont

Wildes Blut

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1967 by Schweizer Verlagshaus

All rights reserved

ISBN: 9788711719329

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Fast im gleichen Augenblick, als das Pausenzeichen ertönte, öffneten sich die Klassentüren, und die Schüler und Schülerinnen des »Geschwister-Scholl-Realgymnasiums« hasteten, rannten, stolperten und drängten die Gänge entlang und die breite Treppe hinunter dem Schulhof zu.

Die sechste Klasse versuchte, in dem allgemeinen Durcheinander beisammen zu bleiben, ließ sich Zeit, hielt sich dicht beim Geländer.

»Eigentlich komisch, daß Susi so plötzlich abgegangen ist«, ließ sich Jochen Körner mit erhobener Stimme vernehmen, »ich verstehe nicht …«

Es gelang ihm nicht, den Lärm der trappelnden Füße, des Lachens und Schreiens zu durchdringen, der in dem hohen Treppenhaus widerhallte. Es war der erste Tag nach den Sommerferien, und besonders die jüngeren Jahrgänge revoltierten noch gegen die strenge Ordnung des Schulbetriebes wie wilde Pferde gegen den ungewohnten Sattel.

»Was hast du gesagt, Jochen?« brüllte sein Freund Artur Holm zurück.

»Wegen Susi! Ich meine …«

»Sprich lauter! Ich verstehe immer nur Bahnhof!«

Mit einem Achselzucken gab Jochen es auf.

Er war ein schlanker, noch nicht ausgewachsener Junge mit einem gutgeschnittenen Gesicht, das ausgesprochen sympathisch gewirkt hätte, wenn er nicht so mürrisch dreingeblickt hätte. Seine blauen Augen sahen düster in die Welt, die festen, vollen Lippen waren zusammengepreßt, die Stirn in Falten gelegt. Selbst das braune, leicht lockige Haar schien aus Protest zu Berge zu stehen. Jochen Körners Haut war immer, selbst in der sonnenlosesten Zeit, leicht gebräunt, nun, nach den Ferien, tief braun gebrannt. Das weiche Haar fiel ihm, wenn er es gebürstet und gekämmt hatte, vorne in die Stirn, hinten bis in den Nacken – jetzt aber stand es, wie gesagt, ungebärdig wie eine Löwenmähne nach allen Seiten.

Sibylle Sandner, die dicht hinter ihm ging, spürte den heftigen Wunsch, ihn noch mehr zu zerzausen und nachher wieder zurechtzustriegeln – aber das war einer dieser Wünsche, die man niemals aussprach, und sie errötete, als wenn die anderen ihre Gedanken erraten könnten. Aber niemand achtete auf sie.

Sie hatten jetzt das Schultor erreicht, hüpften die Freitreppe hinunter, und im gleichen Augenblick, als Jochen Körner die kleine Lilo aus der zweiten Klasse mit wehenden Zöpfen heranrasen sah, hielt er unwillkürlich Ausschau nach seinem jüngeren Bruder.

Und da kam er auch schon angerannt, Jan mit den kohlschwarzen Haaren und den schrägen, schmalen Augen, in denen tausend Kobolde tanzten. Er war so besessen von dieser Verfolgungsjagd, daß er seinen Bruder gar nicht bemerkte. Der Abstand zwischen ihm und seiner Mitschülerin verringerte sich, und es war durchaus abzusehen, wann es ihm gelingen würde, Lilos Zöpfe zu packen und das Mädchen zurückzureißen, dessen Gesicht schon hochrot angelaufen war vor Anstrengung und Angst – da griff Jochen ein.

Genau im richtigen Moment stellte er seinem kleinen Bruder ein Bein, packte ihn, noch ehe er hinschlagen konnte, im Nacken, schüttelte ihn wie einen jungen Hund.

Jan versuchte, nach ihm zu treten und zu schlagen, gab es aber, als sich Jochens Griff daraufhin nur schmerzhaft verstärkte, bald auf, ließ Arme und Beine baumeln wie eine Gliederpuppe.

»Du verdammter kleiner Idiot«, schimpfte Jochen, »fällt dir nichts Besseres ein, als die Mädchen zu ärgern!? Bildest dir wohl ein, das wäre eine Heldentat, wie! Wenn du dabei erwischt wirst, kannst du pausenlos Strafarbeiten machen … du saudummes Ungeheuer, du!« Mit einem Stoß, der ihn fast zu Fall brachte, schob er den Jungen von sich.

Lilo, die erst nach einer Weile gemerkt hatte, daß sie nicht mehr verfolgt wurde, stand jetzt, immer noch nach Luft japsend, mit ein paar Freundinnen beisammen und fühlte sich nun, da ihr so unverhofft Hilfe gekommen war, sehr stark. Weit davon entfernt, das Kriegsbeil zu begraben, lachte sie Jan unverhohlen aus, und als er, wütend und beschämt mit hocherhobenem Kopf an der Mädchengruppe vorbeimarschierte, streckten ihm alle wie auf Kommando die Zunge heraus. Jan machte einen Sprung auf sie zu, und sie stoben schreiend auseinander. Aber ihm war die Lust zu einem neuen Spiel vergangen. Er begann sein Butterbrot auszupacken, beschnüffelte es kritisch, klappte es auf und wieder zu, bevor er den ersten kräftigen Biß tat.

Ohne sich weiter um die Kleinen zu kümmern, schlenderte Jochen Körner seinen Mitschülern nach.

Artur Holm und Peter Hesse hatten sich auf die kleine Mauer geschwungen, die einen Teil des Schulhofes zum Sportplatz hin abgrenzte. Aber sie rutschten sofort beiseite, als Jochen ankam, machten ihm Platz. Sibylle Sandner hatte sich auf den Rand einer Laubkarre gesetzt, Anita Klemme stand neben ihr. Die anderen hatten sich verlaufen, nur die Clique der fünf war zusammen geblieben.

»Ich wußte, daß Susi nicht wieder kommen würde«, sagte Anita gerade, als Jochen dazukam, und malte mit dem Absatz Kreise in den Kies.

»Nun halt mal die Luft an!« Peter verdrehte seine porzellanblauen Augen. »Du bist wohl unter die Hellseher gegangen, wie?«

Anita war ein zierliches Mädchen mit milchweißer Haut, rotblondem Haar und grasgrünen Augen. Sie sah reizend aus in dem engen blauen Leinenrock, dem ärmellosen rosa Pullover, aber sie war sich dessen durchaus nicht bewußt, hielt sich eher für häßlich und litt unter ihrer inneren Unsicherheit.

Auch jetzt traten ihr bei Peters groben, aber durchaus nicht böse gemeinten Worten sofort die Tränen in die Augen, und sie lief puterrot an. Sie wollte sich umdrehen und weglaufen, aber Sibylle hielt sie beim Handgelenk fest.

»Ich habe es auch gewußt«, sagte sie.

»So, auf einmal?« spottete Artur. »Dann seid doch so nett und erklärt uns mal, warum sie’s denn aufgesteckt hat!«

Sibylle warf ihr blondes schulterlanges Haar mit einer raschen, ein wenig hochmütigen und für sie sehr charakteristischen Bewegung in den Nacken. »Das würdet ihr doch nicht verstehen!«

»Ach nee! Haltet ihr euch für so viel klüger als uns?« Jetzt mischte sich auch Jochen ein. »Laß sie doch«, sagte er, »die machen sich ja bloß wichtig. Die haben keinen blauen Dunst, sonst würden sie schon reden.«

Sibylle richtete ihre klaren grauen Augen fest auf sein Gesicht. »So, denkste!«

»Genau!« Jochen stieß seine beiden Freunde an. »Kommt, haun wir ab.« Er schnellte von der Mauer.

»Es ist … ich würde es euch ja gerne sagen«, versicherte Anita hastig, »nur … ich hab’s Susi versprochen, es ist ein Geheimnis.«

»Schon kapiert«, sagte Jochen, »behalt’s für dich.«

»Aber wieso denn?« rief Artur. »Entweder sind wir eine Clique oder nicht! Ein Geheimnis … so weit kommt das noch! Raus mit der Sprache, oder ihr könnt mal sehen, wer euch die Matheaufgaben macht.«

»Ich glaube«, sagte Sibylle lächelnd, »die bringe ich schon noch ohne eure Hilfe fertig!« Doch als sie sah, daß die drei Jungen sich tatsächlich in Bewegung setzten, fügte sie hinzu: »Lauft nicht weg, wir sagen’s ja schon! Das ist ja alles Quatsch: Geheimnis und so. In ein paar Monaten merkt’s doch jeder.«

Jochen blieb stehen, wandte sich ruckartig um. »Was?«

»Daß Susi ein Kind bekommt!« platzte Anita heraus.

Ein Schweigen entstand, ein Schweigen, das wie ein tiefes Atemholen war. Die jungen Leute wagten einander plötzlich nicht mehr anzusehen.

»Du spinnst ja«, sagte Artur endlich unsicher.

»Sei nicht blöd!« Jochen stieß den Freund an. »So was denkt sich doch keiner aus!«

Artur fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung durch sein kurzgeschnittenes aschblondes Haar. Er war einer der Besten in der Klasse, galt als Ausbund von Intelligenz. Aber jetzt war er so verdattert, daß sein Gesichtsausdruck geradezu töricht wirkte. »Susi?« stotterte er. »Aber … ich kann mir nicht vorstellen! Könnt ihr denn? Ausgerechnet Susi, sie war doch immer so … so … na eben, wer hätte denn an so etwas gedacht!«

»Sie war sechzehn«, erklärte Sibylle sachlich, »ein Jahr älter als wir …«

»Na und?« rief Peter. »Ist das etwa eine Erklärung?«

»Ich versteh’ ja auch nicht, wie sie sich auf so was einlassen konnte«, sagte Anita hilflos.

»Das Ganze ist eine ausgemachte Schweinerei«, erklärte Artur, geradezu wütend vor Verlegenheit.

»So? Findest du?« fragte Sibylle spitz. »Von Liebe hast du wohl noch nie was gehört?«

»Liebe, was hat denn Liebe …« Artur unterbrach sich mitten im Satz, weil er sich bewußt wurde, daß er im Begriff stand, etwas sehr Dummes zu sagen. »Natürlich, es hat schon mit Liebe zu tun, nur … also, ich find’s idiotisch!«

»Wenn ihr so viel wißt«, sagte Jochen, steckte die Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Fußballen, »dann werdet ihr uns wohl auch sagen können, wer der Vater ist?«

»Bloß keine Bange, von euch bestimmt keiner«, entschlüpfte es Anita – und sie hätte sich im gleichen Moment ohrfeigen können. Sie wußte selber nicht, warum sie manchmal solche Sachen sagte, mit denen sie die anderen, an deren Sympathie ihr doch so viel gelegen war, gegen sich aufbrachte.

»Es war irgend so ein Kerl, den sie beim Tanzen kennengelernt hat«, sagte Sibylle schnell, um den Fehler der Freundin gutzumachen, »er hat ihr anscheinend das Blaue vom Himmel heruntergeschwindelt. Jedenfalls war Susi sicher, es wäre die große Liebe. Bis er erfuhr, daß was unterwegs war. Da hat er sich schleunigst aus dem Staub gemacht.«

»So eine Gemeinheit!« rief Peter.

»Kann man wohl sagen«, stimmte Jochen zu.

»Ich finde«, sagte Artur, »wenn ein Mädchen schon so blöd ist, dann hat es nichts Besseres verdient, als …«

»Nein«, rief Sibylle, »da muß ich dir doch entschieden widersprechen …«

Jetzt, da der Bann gebrochen war, hätten sie noch stundenlang über dieses explosive Thema weiter diskutieren können. Aber allzu früh kündigte die Glocke das Ende der Pause an.

»Hört mal«, sagte Sibylle, »ich mache euch einen Vorschlag! Wollen wir nicht heute nach der Schule wieder mal ins Wäldchen fahren? Die Haselnüsse müssen reif sein, und Brombeeren soll’s dieses Jahr auch jede Menge geben …«

Die Jungen waren sofort einverstanden. Sie verabredeten mit Sibylle, daß sie sich um punkt fünf bei der Gastwirtschaft »Hasenecke« mit den Rädern treffen wollten.

Anita stand dabei, biß die Zähne krampfhaft zusammen, daß ihre Haut sich über den Wangenmuskeln straffte. Sie wäre zu gerne mitgekommen und wartete, daß jemand sie aufforderte. Aber die vier dachten nicht daran, und wie immer brachte sie nicht den Mut auf, einfach zu sagen: »Ich komme mit!«

Sie fühlte sich wieder einmal ausgeschlossen und trottete mit hängendem Kopf hinter den anderen her auf das große graue Schulgebäude zu.

*

Bei Körners wurde, mit Rücksicht auf die beiden berufstätigen Männer in der Familie, den Vater, Abteilungsleiter bei »Schultze & Sohn«, und Jens, den Ältesten, Schaufensterdekorateur im Warenhaus »Karmann«, mittags schon vor ein Uhr gegessen. Wenn Jochen gegen zwei Uhr als letzter nach Hause kam, waren die anderen schon wieder gegangen, und der kleine Jan hockte bereits über seinen Schulaufgaben. Jochen aß dann in der Küche, was die Mutter ihm vom Mittagessen zurückgestellt und aufgewärmt hatte.

»Na, wie war’s in der Schule?« fragte Frau Körner, während sie ihm die Suppe auftrug. Sie hatte das gleiche braune, volle Haar wie Jochen. Die gleichen tiefblauen, nachdenklichen Augen und verstand es, sogar jetzt in der Küchenschürze, eine ausgesprochen elegante Figur zu machen. Niemand hätte ihr angesehen, daß sie den Haushalt allein besorgte und von früh bis spät für ihre vier Männer tätig war.

»Wie immer«, erwiderte Jochen kurz angebunden und tunkte seinen Löffel in die Suppe.

»Nichts Besonderes?«

Blitzschnell tauchte in Jochen der Gedanke an Susi auf und das, was die anderen Mädchen über sie erzählt hatten – aber darüber hätte er mit jedem anderen Menschen gesprochen, nur nicht mit seiner Mutter.

»Nö«, sagte er, ohne aufzublicken.

»Warum machst du denn ein so sorgenvolles Gesicht?«

»Tu ich das? Keine Ahnung.«

»Doch«, sagte Frau Körner sehr entschieden, »guck nur mal in den Spiegel!«

»Das kommt dir bloß so vor. Man kann doch schließlich nicht immer grinsen wie ein Pfeifenkopf.«

Frau Körner seufzte tief. Immer wieder nahm sie sich vor, mit Jochen in einen herzlichen Kontakt zu kommen, wie es früher einmal ganz selbstverständlich gewesen war. Aber stets stieß er sie zurück. Sie fühlte sich schon entmutigt, wollte aber trotzdem nicht aufgeben.

»Vielleicht liegt es auch bloß an deinen Haaren«, sagte sie, »die wachsen dir ja schon in die Augen. Du solltest wirklich mal zum Friseur gehen, jetzt, wo das neue Schuljahr beginnt.«

Jochen schwieg, löffelte seine Suppe, zog sich die Zeitung heran und las über den Teller hinweg die Schlagzeilen.

Frau Körner zog ihm die Zeitung so heftig weg, daß die Suppe überschwappte. »Beim Essen wird nicht gelesen«, sagte sie scharf.

Jochen schnitt eine Grimasse, sagte aber immer noch nichts.

»Warum redest du nicht mit mir?« fragte Frau Körner aufgebracht. »Schließlich bin ich kein Dienstmädchen, das für dich putzt und kocht … ich bin deine Mutter!«

Jetzt war es an Jochen, zu seufzen – wenn er etwas haßte, dann waren es solche Szenen.

»Klar bist du das«, sagte er ergeben, »also gut, unterhalten wir uns … worüber?«

Frau Körner wechselte die Teller, setzte ihm Gemüse vor, ein Stück Fleisch und die Kartoffeln, die sie ihm aufgebraten hatte. »Stell dir vor«, sagte sie, »Jens darf diesen Herbst ganz allein die Schaufenster von ›Karmann‹ gestalten. Sein Meister ist plötzlich erkrankt, und da bietet sich ihm die Chance. Was sagst du dazu?«

»Na, prima«, erklärte Jochen großmütig und sehr erleichtert darüber, daß sich das Interesse seinem älteren Bruder zugewandt hatte.

Sollte sie doch über Jens, ihren Lieblingssohn, reden, solange sie mochte. Ihn störte das nicht. Er war froh, wenn er heute nur selber nicht Rede und Antwort stehen brauchte.

*

Jens Körner ging leicht in die Knie, um sich besser in dem kleinen Spiegel betrachten zu können, der an der Innenseite des schmalen Schrankes angebracht war, in dem er sein Arbeitszeug und den Mantel im Kaufhaus »Karmann« aufzubewahren pflegte.

Er bürstete sein blondes Haar mit zwei Handbürsten nach hinten – links, rechts, links, rechts, links –, bürstete die Tolle über der Stirne hoch. Er legte die Bürsten in das flache obere Fach, zog seinen weißen Kittel aus, zupfte sich die elegante Krawatte – hellblaue Seide mit hauchzarten rosa Streifen – zurecht. Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn, um die Rasur zu prüfen, bleckte seinem Spiegelbild die starken weißen Zähne. Nein, es war nichts an ihm auszusetzen, er sah tadellos aus.

Und dennoch konnte er das Gefühl kribbelnder Nervosität nicht abstreifen. Wenn er nur an die Begegnung dachte, die ihm jetzt bevorstand, spürte er seine Handflächen feucht werden.

»Verdammt noch mal«, sagte er halblaut zu sich, »nimm dich zusammen, du Kaffer! Die alte Dame wird dich schon nicht fressen!«

Tatsache war, daß er mächtigen Respekt vor Frau Miller hatte, die er bisher nur dem Namen nach kannte. Frau Miller war Werbegrafikerin, sie gehörte nicht zum Personal des Kaufhauses »Karmann«, sondern galt als freie Mitarbeiterin. Ihre Aufgabe war es, die Anzeigen in den Tageszeitungen und im Regionalfernsehen zu gestalten, und sie arbeitete in dieser Funktion sehr eng mit den Schaufensterdekorateuren zusammen.

Der erkrankte Meister hatte immer sehr geheimnisvoll getan, wenn er auf sie zu sprechen kam. Wenn er einen Entwurf seiner Gesellen betrachtete, pflegte er sich hinter dem Ohr zu kratzen und zu sagen: »Na ja, recht passabel … aber ob Frau Miller damit einverstanden ist?« Und manchmal gab er auch einen Entwurf zurück und erklärte: »Sie wissen ja, mir gefällt’s, aber Frau Miller meint …«

Schon oft hatte Jens darauf gebrannt, dieser arroganten Frau Miller mal gehörig Bescheid zu sagen, aber nie hatte sich eine Gelegenheit ergeben, überhaupt mit ihr zu sprechen. Heute nun endlich war es soweit, er sollte seine Entwürfe für die Winterdekoration – diese war, wie die Konfektion, der Jahreszeit immer um einen Sprung voraus – mit ihr durchsprechen und abstimmen. Aber merkwürdigerweise fühlte er sich bei weitem nicht so stark, wie er gedacht hatte.

Als er durch die Hintertür des Kaufhauses auf die Straße trat, bedauerte er wieder einmal mehr, noch kein Auto zu besitzen. Sein Selbstgefühl wäre höchstwahrscheinlich gestiegen, wenn er am Steuer eines eigenen Wagens hätte vorfahren können. Aber er war erst zwanzig und konnte kein größeres Geschäft ohne Einwilligung seines Vaters tätigen, und Herr Körner bestand darauf, daß er mindestens die Hälfte der Kaufsumme zusammengespart hatte, bevor er einen Vertrag unterschrieb.

Na, vielleicht hat der alte Herr sogar recht, dachte Jens, es ist schon gemein, wenn man eine Karre kaputt fährt, die einem noch nicht mal gehört. Dann kann man sich nachher dumm und dämlich zahlen, und zwar für nichts und wieder nichts. Aber schade ist es doch. Gerade heute!

Er nahm den Omnibus Nr. 7, mit dem er selber täglich zwischen der elterlichen Wohnung in der Parkstadt und seinem Arbeitsplatz hin und her zu fahren pflegte. Nur stieg er eine Station später aus, denn Frau Miller wohnte im Hochhaus inmitten der Grünanlagen – dem einzigen Hochhaus der Kreisstadt.

Als er auf die Türschilder sah, stellte er fest, daß er selbst mit einem Rolls-Royce keinen Eindruck hätte machen können. Die Grafikerin wohnte im 17., dem obersten Stock, dem sogenannten Penthaus – unmöglich, daß sie von dort oben aus beobachtete, wie er eintraf, ganz davon abgesehen, daß sie sich bestimmt nicht im geringsten dafür interessierte.

Ich werde mich ganz kühl und gelassen geben, nahm Jens sich vor, während er im Fahrstuhl nach oben sauste, mich wird die alte Dame nicht einschüchtern. Schließlich bin ich doch kein kleiner Junge mehr, was kann die mir schon wollen!

Der Lift hielt, die Tür schob sich auf, und einigermaßen verblüfft stellte er fest, daß er nicht etwa, wie er erwartet hatte, auf einem Flur gelandet war, sondern inmitten einer riesigen Wohndiele stand – dicker maisgelber Teppich, breite, niedrige Couches mit Bergen von farblich wunderbar aufeinander abgestimmten Kissen, hinter den riesigen Fenstern ringsum blauer Himmel.

Das war der überwältigende erste Eindruck, den Jens Körner hatte, es war ihm, als wenn er in eine Zauberwelt eingetreten wäre, die hoch über Raum und Zeit schwebte.

Dann erst sah er das Mädchen. Sie hatte hinter einem Zeichenbrett gesessen, jetzt kam sie auf ihn zu, sehr schmal, sehr anmutig in eng anliegenden Hosen, die sich über den Schuhen weiteten, einer weißen, hochgeschlossenen Bluse, deren Rüschen die Zerbrechlichkeit ihrer Handgelenke betonte. Schwarze Haare fielen ihr lose und glänzend bis auf die Schultern, die grünen Augen standen schräg über ausgeprägten Backenknochen, die Wangen waren hohl wie bei einem Mannequin, der breite, großzügig geschnittene Mund mit einem apfelsinenroten Stift nachgezogen.

Die Tochter? dachte Jens. Eine Nichte? Oder eine Freundin?

»Guten Tag«, sagte das dunkelhaarige Mädchen sehr distanziert, mit leicht hochgezogenen Augenbrauen.

»Ich … ich möchte zu Frau Miller«, platzte Jens heraus und wurde sich unbehaglich bewußt, daß er fast stotterte.

»Aha. Dann kommen Sie wohl vom Kaufhaus ›Karmann‹ ?« fragte sie mit gleichmütiger Stimme.

»Ja, ich … ich wollte die Dekoration mit ihr abstimmen«, sagte er und preßte die Mappe mit den Entwürfen unwillkürlich fester an sich.

»Fein«, sagte das Mädchen, »dann nehmen Sie Platz …« Mit einer weit ausladenden Handbewegung fügte sie hinzu: »Wo es Ihnen gerade paßt! Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Tee? Einen Cognac? Oder einen Whisky?«

»Ist Frau Miller denn nicht da?« fragte Jens und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich dachte, sie erwarte mich um diese Zeit!«

Jetzt, zum erstenmal, lächelte das Mädchen, ein Lächeln, bei dem sie die Mundwinkel herabzog, was ihr den Ausdruck einer seltsam schmerzerfüllten Belustigung gab. »Aber ich bin Frau Miller«, erklärte sie.

Jens Körner konnte sie nur anstarren. Alle seine guten Vorsätze vermochten nicht zu verhindern, daß er sich in diesem Augenblick wie ein ausgemachter Trottel vorkam. »Sie sind …« stammelte er, »aber nein, Sie machen Witze!«

Frau Miller lachte jetzt, und die Bitterkeit um ihre Mundwinkel löste sich. »Sie haben wohl eine strenge Person reiferen Jahrgangs erwartet, wie?«

»Der Meister tat immer so … ganz ehrlich, ich wußte nicht … also, jetzt werden Sie mich bestimmt für einen albernen Einfaltspinsel halten!«

»Aber woher denn! Wenn Sie es darauf angelegt hätten, sich bei mir beliebt zu machen, hätten Sie’s nicht besser einfädeln können. Es schmeichelt einer Frau immer, wenn man sie für jünger hält als sie ist!«

»Aber Sie sind jung«, sagte Jens impulsiv, »und ich kann mir nicht vorstellen …« Er stockte mitten im Satz.

Sie stand jetzt dicht vor ihm, schaute mit ihren schrägen grünen Augen von unten zu ihm auf – sie war einen guten halben Kopf kleiner als er. »Was?« fragte sie. »Sprechen Sie ruhig weiter! Sie werden ja schon gemerkt haben, ich beiße nicht!«

»Daß Sie je verheiratet waren!« sagte er.

Kaum daß er es ausgesprochen hatte, wünschte er es zurückzunehmen, denn ihr glattes bräunliches Gesicht hatte sich schlagartig verdüstert. Alle Fröhlichkeit war daraus verschwunden.

»Doch, ich war es«, sagte sie beherrscht, »aber das ist ein Kapitel meines Lebens, an das ich nicht gerne erinnert werden möchte!«

Er war verwirrt, und es tat ihm heftig leid, sie betrübt zu haben. »Entschuldigen Sie, ich …«

»Sie konnten es ja nicht wissen«, sagte sie großmütig, »machen Sie sich nichts draus, ich bin ärgere Dinge gewohnt. Aber ich glaube, auf diesen Schreck hin haben wir beide einen Whisky verdient …«

Ohne seine Zustimmung abzuwarten, ging sie zur Hausbar, die in den mächtigen Pfeiler inmitten des Zimmers gleich neben dem Aufzug eingelassen war. In diesem Pfeiler war außerdem an der anderen Seite eine Garderobe untergebracht, sonst gab es in dem ganzen riesigen Raum nur eine einzige Stellwand, die den Wohnraum anscheinend von Bad und Küche, vielleicht auch von dem Schlafzimmer abschnitt – falls es eines gab. Jens hielt es durchaus für möglich, daß Frau Miller auf einer der Couches zu übernachten pflegte.

Er sah auf ihren geraden Rücken, während sie an der Hausbar hantierte, sah die anmutigen Bewegungen ihrer schmalen braunen Hände, die die Eiswürfel in die Gläser klirren ließen, und sein Herz zog sich zusammen in einem seltsamen, nie geahnten Gefühl.

Dann wandte sie sich zu ihm um, kam, die Gläser in den hochgehobenen Händen wie Opfergaben balancierend, auf ihn zu. Er nahm ihr das Glas ab, das sie ihm reichte, die goldgelbe Flüssigkeit schwappte, während sie anstießen.

»Cheerio!« sagte sie freundlich. »Auf gute Zusammenarbeit!«

Er nahm einen kräftigen Schluck. Der Whisky, sehr stark und nur mit dem Eiswürfel verdünnt, löste seine Verkrampfung. Es war ihm, als wenn sein Herz plötzlich mit doppelter Kraft arbeitete.

»Ich glaube, ich habe mich noch nicht vorgestellt«, sagte er, »ich heiße Jens, Jens Körner!«

In ihren grünen Augen funkelten nahe der Pupille goldene Lichter. »Und ich heiße Claudia!« sagte sie.

»Claudia …« Er ließ den Klang dieses Namens gleichsam auf der Zunge zerschmelzen. »Claudia, Sie sind die wunderbarste Frau, die mir je begegnet ist!«

Sie nippte an ihrem Whisky, betrachtete ihn über den Rand ihres Glases hinweg. »Ich warne Sie, Jens«, sagte sie sehr ernst, »verlieben Sie sich nicht in mich, das würde Ihnen Schmerzen bringen.«

»Die Warnung kommt zu spät«, erklärte er mit dem neuen starken Selbstgefühl, das ihn plötzlich ganz und gar ausfüllte.

Sie lächelte nicht. »Schade um Sie, Jens … Sie sind ein so netter Junge!«

Er stellte sein Glas aus der Hand, trat einen Schritt näher auf sie zu. »Ich bin ein Mann, Claudia!«

»Ja«, sagte sie ruhig, »Sie sind ein Mann. Und eben deshalb passe ich nicht zu Ihnen. Ich habe Angst vor den Männern, Jens … und ich bin viel zu alt, mein Herz noch einmal in Gefahr zu bringen.«

»Aber Claudia, das ist doch …«

»Bitte, nehmen Sie’s zur Kenntnis, Jens, wenn Sie Wert darauf legen, daß wir gute Freunde bleiben. Ich bin nicht bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren.« Sie setzte sich auf einen niedrigen, mit Stierfell überzogenen Party-Hocker. »Zeigen Sie mir jetzt, bitte, Ihre Entwürfe«, verlangte sie sachlich.

Er ging sofort auf ihren Ton ein. »Wie Sie wünschen, Frau Miller!« Aber während er die Mappe vor ihr aufschlug, dachte er: Nie, nie werde ich es aufgeben! Keine Macht der Welt kann mich davon abbringen!

Und es war ihm, als wenn sein Leben endlich ein Ziel bekommen hätte.

*

Als Jochen Körner am Nachmittag beim Gasthof »Haseneck« eintraf, einem alten Haus mit tiefgezogenem Dach und schattigem Biergarten, war von seinen Freunden weit und breit nichts zu sehen. Er fuhr ein paarmal um das Haus herum, klingelte spielerisch und brachte damit den Kettenhund zum Rasen. Er stieg ab, hob eine der grünen, stachligen Kastanienhülsen auf, brach sie auseinander – die Kanstanie drinnen war noch nicht reif, sie war winzig und kläglich weiß. Jochen warf sie mitten in eine Schar Hühner, die laut gackernd auseinanderstoben.

Dann sah er Sibylle. Sie kam mit Schwung angeradelt. Ihr blondes schulterlanges Haar, das sie mit einem blauen Band aus der Stirne zurückgebunden hatte, wehte wie eine Fahne hinter ihr her. Sie trug Blue jeans und einen Baumwollpullover.

Jochen hatte sie schon Hunderte von Malen so heranradeln sehen, er kannte Sibylle ja fast schon aus der Kindergartenzeit her – aber heute schien sie ihm verändert, er wußte selber nicht, woran das lag.

Vielleicht, weil ihm die Sache mit Susi immer noch durch den Kopf ging? Und weil er sich unwillkürlich vorstellen mußte, ob es möglich war, daß auch Sibylle so etwas täte?

Er warf das braunlockige Haar mit einem Ruck aus der Stirn zurück, als wenn er diese verbotenen und quälenden Gedanken damit abschütteln könnte.

»Hei, Jochen!« rief Sibylle, betätigte den Rücktritt, um ihre Fahrt zu stoppen, sprang von ihrem Rad.

»Na, da bist du ja endlich!« sagte er mürrisch.

»Sei froh, daß ich überhaupt gekommen bin! Meine Mutti war wieder mal sauer … na, du kennst sie ja. Und Artur kann überhaupt nicht kommen, das heißt, er will nicht! Der hat ’nen Vortrag im Radio entdeckt, der ihm interessanter ist …«

»So ’ne Flasche«, sagte Jochen, aber er spürte einen seltsamen kleinen Schmerz in der Magengrube, den er noch nie gekannt hatte – oder doch, wenn die Mutter Jens anstrahlte und der Vater sich mit Jan befaßte und er selber unbeachtet danebenstand.

Wieso ist Sibylle erst zu Artur gefahren? dachte er, aber er sprach diese Frage nicht aus, aus Angst, sich lächerlich zu machen – so lächerlich, wie er sich selber vorkam.

»Und Peter?« fragte er statt dessen.

»Keine Ahnung!« sagte Sibylle. »Wie spät ist es denn? Fünf nach … also, da könnte er schon noch kommen.«

Sie standen bei ihren Rädern im Schatten der mächtigen Kastanie, deren Äste weit über die Mauer des Wirtsgartens herausragten und ein Stück der staubigen Landstraße überdachten. Merkwürdigerweise wußten sie nichts zu reden und fühlten sich irgendwie fremd, verlegen und gleichzeitig seltsam erregt.

»Ist nicht«, sagte endlich Sibylle, »es wäre blöd, länger zu warten.«

»Ja, wahrscheinlich«, bestätigte er zögernd.

»Wollen wir?« fragte sie.

Er hatte die volle Unterlippe vorgeschoben, wirkte finsterer denn je.

»Oder hast du keine Lust?« fragte sie.

Er zögerte mit der Antwort.

»Dann laß es«, sagte sie, »fahre ich eben allein … Tschüß!« Sie stieg auf ihr Rad, radelte, ohne sich umzudrehen davon. Ihr Haar flatterte im Wind. Die leere Blechkanne, die sie über die Fahrradstange gehängt hatte, schepperte.

Er blieb unentschlossen stehen, bis er sie nur noch als winzig kleine Figur sah, deren helles Haar sich leuchtend vom Waldrand abhob. Dann hielt er es nicht länger aus, schwang sich auf sein Fahrrad, pendelte hinter ihr her.

Er fand ihr Rad. Es lag abgeschlossen zwischen den Büschen. Er legte sein eigenes Rad dazu, drang durch das Unterholz in den Wald. An dieser Stelle gab es keinen Weg, aber Jochen kannte sich gut aus. Als Kinder waren sie immer hier durchgebrochen, sie hatten es ihren »Geheimpfad« genannt.

Nach dem hellen Sonnenlicht draußen schien es unter den Bäumen ganz dämmrig. Das dunkelgrüne üppige Moos schluckte die Schritte. Nur wenn der Fuß auf braune, früh verwelkte Blätter trat, raschelte es.

Plötzlich überfiel Jochen eine nie gekannte, beklemmende Angst. Er legte beide Hände vor den Mund und schrie aus Leibeskräften: »Sibylle! Sibylle! Wo bist du?«

Er hielt den Atem an und lauschte. Das grüne, geheimnisvolle Dunkel des Waldes war plötzlich wie erfüllt von unzähligen wispernden Stimmen. Er hatte das Gefühl, belauert zu werden.

Da! Hinter diesem dichten Busch, bewegte sich da nicht etwas?

Alles, was Jochen je von Überfällen auf einsame Frauen gelesen und gehört hatte, schoß ihm in Sekundenschnelle durch den Kopf. Er bückte sich, hob einen abgebrochenen, dürren Ast auf, sprang mit einem Satz auf den Busch zu und – hörte hinter sich ein vergnügtes Mädchenlachen.

Er fuhr herum und sah Sibylle, die sich, die Hände auf den Magen gepreßt, vor Lachen bog.

Einen Atemzug lang empfand er nichts als Erleichterung, überwältigende, grenzenlose Erleichterung – Sibylle lebte noch, sie stand vor ihm, es war ihr nichts passiert! – aber gleich darauf schlug seine Stimmung um. Das Blut stieg ihm zu Kopf, er fühlte sich blamiert.

Sibylle sah, wie sein Gesicht sich verfinsterte, aber sie konnte einfach nicht aufhören zu lachen. »O Gott, ist das komisch!« stammelte sie. »Wenn du bloß wüßtest … nein, so etwas! Ich kann schon nicht mehr!« Sie bekam schon Seitenstiche vor lauter Lachen.

Jochen kochte vor Zorn. »Du dämliche Ziege!« Er hob die Hand, in der er noch immer den riesigen Ast hielt, als wenn er auf sie einschlagen wollte.

Sie wich zurück. Ihr Lachen erstarb. »Jochen, bist du verrückt geworden?«

Das jähe Entsetzen in ihren Augen besänftigte ihn. »Du glaubst wohl, mit mir kannst du’s machen?« knurrte er. Mit einer weit ausholenden Handbewegung warf er den Ast in die Baumkronen hinein, wo er anprallte, beinahe hängenblieb und dann doch wieder herunterschlug.

»Aber, Jochen, ich …« Sibylle holte tief Atem. »Was ist dir bloß in die Krone gefahren? Seit wann kannst du keinen Spaß mehr verstehen?«

Er hatte sich schon soweit beruhigt, daß er begriff, wie recht sie hatte. Sich zu verstecken und dann einander zu erschrecken, das gehörte doch zu ihren urältesten Spielen. Er verstand gar nicht, wieso er noch einmal darauf hereinfallen konnte, noch weniger, daß er sich so um sie gesorgt hatte.

»Blöde Späße«, sagte er achselzuckend und stapfte vorwärts.

Sie war mit wenigen Schritten bei ihm, zupfte ihn am Ärmel. »Sei mir nicht böse, Jochen, ich hab’s wirklich nicht so gemeint!«

Ihre Berührung irritierte ihn. Verdammt, merkte sie denn überhaupt nicht, daß heute alles anders war? Mit einer heftigen Bewegung riß er sich los.

Und natürlich verstand sie es falsch. »Entschuldige schon«, sagte sie und warf ihr langes blondes Haar mit einem Ruck in den Nacken, »ich wußte ja nicht, daß du die beleidigte Leberwurst spielen willst.«

Schweigend drangen sie tiefer und tiefer in den Wald. Sibylle immer einen halben Schritt hinter Jochen. Aber obwohl er sie nicht sehen konnte, war er sich ihrer Gegenwart doch geradezu körperlich bewußt.

Er hätte gerne etwas gesagt, um dieses gespannte Schweigen zu durchbrechen. Aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein, keine beiläufige, harmlose Bemerkung. Sein Mund war wie ausgedörrt.

Nach einer Weile hörten sie Stimmen, junge Stimmen, Gelächter.

Er blieb stehen, sie sahen sich an, und ohne daß sie ein Wort miteinander gesprochen hätten, war die aite gute Kameradschaft zwischen ihnen wieder da.

»Los!« sagte er. »Denen werden wir’s zeigen!«

Lautlos wie die Indianer auf dem Kriegspfad pirschten sie jetzt voran. Sibylle hielt ihre Blechkanne fest gegen die Brust gepreßt, damit sie nicht schepperte. Sie schlugen einen großen Bogen und näherten sich von seitwärts dem Platz, von dem her das Gelächter und die Stimmen jetzt immer näher und näher herüberklangen.

Dann schlug Jochen die Zweige des Unterholzes beiseite, und sie blickten wie durch ein Fenster auf die kleine Lichtung. Es wimmelte von Kindern, zehn-, zwölf-, dreizehnjährige Jungen und Mädchen.

»Verdammt!« stieß Jochen durch die Zähne.

»Verflixt und zugenäht«, rief Sibylle unterdrückt, »ausgerechnet auf unserem guten alten Brombeerenplatz!«

»Sollen wir ihnen einen Schrecken einjagen?« schlug Jochen vor.

Sie rümpfte die kleine Nase. »Sinnlos. Das sind zu viele. Und ich mag mich nicht mit kleinen Kindern herumbalgen.«

Er ließ die Zweige Zurückschlagen. »Was nun?«

»Wir können es woanders versuchen …«, sagte sie zögernd, verbesserte sich dann aber sofort. »Ach, Quatsch! Wir sind einfach zu alt für so was.«

Er sah sie an, sein fester roter Mund war spöttisch geschürzt. »Na, von wem war denn der Vorschlag?«

»Von mir«, gab sie unumwunden zu, »aber man kann sich doch auch mal irren, oder? Immerhin haben wir beide ja was daraus gelernt, nämlich daß wir nicht mehr jung genug für solche Späße sind. Das ist doch auch was.«

Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, stöberte mit der Schuhspitze in einem kleinen Haufen faulig welker Blätter, die noch vom vorigen Herbst zurückgeblieben waren. »Eine ziemlich umständliche Methode … aber immerhin!«

»Sei bloß nicht so schulmeisterisch! Auf diese Weise sind wir zu ’ner Art Ausflug gekommen. Und jetzt gehen wir ins ›Haseneck‹ und trinken ’ne Cola, einverstanden?«

»Ich bin ziemlich blank«, sagte er, ohne sie anzusehen.

Sie stellte fest, daß seine Wimpern lang und dicht waren – eigentlich viel zu hübsch für einen Jungen. Überhaupt, er gefiel ihr, alles an ihm sagte ihr zu: das braune Haar, das ihm weich in Stirn und Nacken fiel, die geschmeidige Figur, die bräunliche glatte Haut, und die Augen, die von einem leuchtenden Blau waren, auch wenn sie noch so mürrisch blickten. Wenn sie bloß gewußt hätte, was in ihm vorging!

»Macht nichts«, sagte sie rasch, »ich kann mir gerade noch eine leisten. Wir trinken sie dann zusammen.«

Sie spürte, daß ihm diese Einladung unangenehm war, und um jeden Protest von vornherein zu ersticken, tippte sie ihm ganz rasch mit dem ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust, rief: »Du bist!« – und jagte im gleichen Moment auch schon los, in langen Sätzen über knorrige Wurzeln, abgebrochene Äste, über Gräben hinweg und um kleine Büsche herum.

Er rannte hinter ihr her. Die Bewegung und die Anstrengung taten ihnen gut. Sibylle war eine ausgezeichnete Sportlerin, aber er lief schneller. Er war oft so nahe bei ihr, daß er nur die Hand hätte ausstrecken brauchen, um sie bei ihrem blonden wehenden Haarschopf zu fassen. Aber er tat es nicht, denn gerade so, wie es jetzt war, machte es ihm Spaß – sie immer voraus, ihre gertenschlanke Gestalt dicht vor ihm, die schmalen Hüften in den eng anliegenden Blue jeans, der gerade Rücken in dem knallroten Baumwollpullover.

Sie lief kreuz und quer, und er hielt sich absichtlich immer ein wenig zurück. Sie lachten und schrien bei dieser wilden Verfolgungsjagd, die in Wahrheit doch nur Spiel und Schein war – und dann geschah es.

Mit einem Aufschrei stürzte Sibylle zu Boden.

Jochen war so nahe hinter ihr gewesen, daß er Mühe hatte, rechtzeitig genug zu stoppen, um nicht über sie zu fallen. Er schlug ihr kräftig auf den Rücken. »Jetzt hab’ ich dich … gibst du auf?«

Sie richtete sich auf, ihr Gesicht war von Schmerz verzerrt, in ihren klaren grauen Augen standen Tränen. »Wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben«, sagte sie kläglich, »mich hat’s erwischt.« Sie umspannte mit beiden Händen den linken Knöchel. »Fuß verstaucht, oder so etwas Ähnliches.«

Er stand wie verdonnert, wußte nichts zu sagen. Zu jäh war der Umschwung von Ausgelassenheit zu Niedergeschlagenheit erfolgt.

»Steh nicht da wie ein Ölgötz, sondern hilf mir doch!« sagte sie und streckte beide Arme nach ihm aus.

Er rührte sich immer noch nicht, sah sie nur an.

»Na, mach schon«, sagte sie ungeduldig, »worauf wartest du noch? Der Boden ist ganz feucht!«

Er beugte sich zu ihr herab, packte sie unter den Schultern. Sie legte sofort beide Arme um seinen Hals, zog sich an ihm hoch. Er spürte ihren jungen, elasti-schen Leib an seinem eigenen Körper, durch den das Blut in starken, heftigen Stößen brauste.

Sie sah ihn an. »Danke«, sagte sie unbefangen, »das wäre geschafft!«

Ihre Lippen, ihre feuchten, halb geöffneten Lippen waren dicht vor ihm. Eine wilde Kraft brach in ihm auf, eine Kraft, deren er sich in dieser Sekunde zum erstenmal bewußt wurde, wollte ihn drängen, sie an sich zu reißen, sie zu küssen, sie vom Boden hochzuheben und fortzutragen – er konnte kein Wort hervorbringen, so gewaltig war die Anstrengung, diese wilde, unbändige Kraft zu beherrschen.

Sie lächelte ihm ins Gesicht. »Du kannst mich jetzt loslassen«, sagte sie arglos, »ich brauche dich jetzt nicht mehr. Wenn du mir einen Stock gibst …«

Er gab sie so überraschend frei, daß sie, die sich bis jetzt, vielleicht ohne es selber zu merken an ihn geschmiegt hatte, beinahe zu Boden gefallen wäre.

»Such dir deinen verdammten Stock selber!« brüllte er, wandte sich um und jagte davon.

»Jochen!« schrie sie. »Jochen!«

Aber er kam nicht zurück, drehte sich nicht einmal mehr um.

»Jochen!« rief sie noch einmal.

Dann gab sie es auf. Sie hüpfte auf ihrem gesunden Bein durch Moos und Blätter, hob einen kräftigen Ast auf, mit dem sie sich stützen konnte.

»So ein blöder Büffel«, murmelte sie vor sich hin, »so ein dämlicher Flegel!«

Aber tief im Herzen spürte sie, daß sie etwas falsch gemacht hatte, doch sie konnte bei allem Nachdenken nicht herausbringen, was es war.

*

Am nächsten Tag ging Sibylle mit dem festen Vorsatz in die Schule, Jochen zu zeigen, wie böse sie auf ihn war. Sie war fest entschlossen, ihn zappeln zu lassen und ihm höchstens erst dann zu verzeihen, wenn er sie formell um Entschuldigung bitten würde.

Aber Jochen nahm gar keinen Anlauf dazu. Im Gegenteil, er übersah Sibylle einfach, behandelte sie, als wenn sie Luft wäre. Sibylle wußte gar nicht, wie ihr geschah.

Da Jochen seit jeher tonangebend in der Clique gewesen war, wandten sich auch Artur und Peter von den Mädchen ab. Jochen brauchte gar nicht viel dazu zu tun, und möglicherweise war es nicht einmal seine Absicht – er verwickelte seine Freunde in ausgesprochene Männergespräche, von denen die Mädchen nichts verstanden, nahm sie auf dem Schulhof beiseite, und Sibylle und Anita waren einfach isoliert.

Anita, die auf diese Weise völlig unschuldig in die Spannung zwischen Sibylle und Jochen hereingerissen wurde, war den Tränen nahe. »Warum sind sie bloß so gemein zu mir?« rief sie verzweifelt. »Was habe ich denen denn getan?« Auf ihrem milchweißen Gesicht begannen sich rote, hektische Flecken abzuzeichnen.

»Nicht das geringste«, sagte Sibylle und legte freundschaftlich den Arm um ihre Schultern, »komm, beruhige dich doch!«

Aber Anita, die wie alle innerlich unsicheren Menschen jedes Ärgernis und jeden Widerstand gleich persönlich nahm, ließ sich nicht beschwichtigen. »Sie haben sich nie etwas aus mir gemacht«, sagte sie anklagend, »ich weiß es ganz genau, immer haben sie mich nur deinetwegen geduldet! Ist es denn meine Schuld, daß ich nicht so hübsch bin wie du?«

»Erstens bist du hübsch«, sagte Sibylle, »das habe ich dir schon so oft gesagt, daß es anfängt, mich zu langweilen … und zweitens sollte es dir eigentlich möglich sein, zu bemerken, daß die Jungen mich und nicht dich schneiden.«

»Dich!?« rief Anita maßlos erstaunt.

»Du sagst es.«

»Aber warum denn? Was hast du ihnen getan?«

»Genausowenig wie du«, sagte Sibylle und erzählte der Freundin den Zwischenfall im Wald – natürlich von ihrer eigenen Warte aus, denn was in Jochen vorgegangen war, konnte sie ja nicht ahnen.

»Ja, dann!« rief Anita, die glaubte, alles zu verstehen. »Dann ist es Jochen einfach peinlich, mit dir zusammenzusein, weil er ein schlechtes Gewissen hat!«

»Glaubst du?« fragte Sibylle skeptisch.

»Aber bestimmt! Es war doch gemein von ihm, dich mit dem verstauchten Fuß mitten im Wald stehen zu lassen …« Sie raufte sich mit der Hand die roten Haare. »Komisch übrigens. Das paßt gar nicht zu Jochen. Hör mal, verheimlichst du mir etwas? Wahrscheinlich hast du ihn zuerst geärgert?«

»Das habe ich dir ja erzählt. Gleich zu Anfang, als er mich suchte. Aber das war da doch schon so lange her, und …«

So rätselten die beiden Mädchen herum, um eine Erklärung für Jochens abweisendes Verhalten zu finden, und kamen doch keinen Schritt weiter.

Nach der Schule schlenderten Sibylle und Anita allein zur Bushaltestelle, zum erstenmal seit langem ohne Begleitung der Jungen. Sibylle hinkte noch ein bißchen.

»Geh doch einfach hin und frag ihn, was er hat«, schlug Anita vor.

»Das kann ich nicht«, erklärte Sibylle entschieden.

Anita biß sich auf die Lippen. »Dann laß mich doch mal … ich könnte doch …« Ihre Stimme zitterte, aber sie sah der Freundin gerade in die Augen.

Sibylle überlegte. In gewisser Hinsicht war Anitas Angebot verlockend. Vielleicht würde sie es wirklich schaffen, Jochen zu versöhnen, ohne daß sie, Sibylle, sich selber eine Blöße geben mußte. »Was würdest du ihm denn sagen?« fragte sie zögernd.

Anita zuckte die schmalen Schultern. »Ach, nur so … irgendwas! Daß es dir leid tut, zum Beispiel …« Als sie sah, wie sich der Ausdruck von Sibylles Augen veränderte, berichtigte sie sich sofort: »oder ich werde ihn einfach fragen, was er gegen dich hat!«

Sibylle sah sie nachdenklich an, und Anita wurde purpurrot unter diesem Blick und schlug die Augen nieder. In dieser Sekunde wurde Sibylle klar, was sie schon seit einiger Zeit geahnt hatte: Anita war mindestens so sehr an Jochen interessiert wie sie selber.

Sie hatte eine scharfe Abwehr schon auf der Zunge, aber sie beherrschte sich gerade noch. Unter keinen Umständen wollte sie sich in dieser ohnehin verfahrenen Situation auch noch mit der überempfindlichen Anita verfeinden. »Nein«, sagte sie deshalb nur, »ich glaube nicht, daß das einen Zweck hat.«

»Aber ich könnte es doch versuchen«, sagte Anita hartnäckig.

Sibylle beugte sich vor, so daß ihre Augen sehr nahe vor Anitas Gesicht waren. »Wenn du das tust«, sagte sie drohend, »ist es aus mit uns beiden! Ein für allemal, ich verbiete dir, dich in meine Angelegenheiten einzumischen, verstanden?!«

»Ich hab’s nur gut meinen wollen«, murmelte Anita.

Der Omnibus Nr. 7 stoppte an der Haltestelle, Sibylle drängte sich mit den anderen Schülern und Schülerinnen, die in die gleiche Richtung fuhren, hinein. »Tschau, bis morgen!« rief sie, möglichst laut und unbekümmert, damit auch die Jungen sie hörten, und schwenkte ihre Schulmappe über den Kopf.

Anita lief ihr nach, stand jetzt dicht am Rand der Traube, die in das Innere des Wagens drängte. »Dann schreib ihm … schreib einen Brief!« rief sie.

Sibylle schüttelte heftig den Kopf, tippte sich unmißverständlich gegen die Stirn. – Diese Anita ist wirklich nicht mehr zu retten, dachte sie, wenn man die ließe, würde sie es in der ganzen Stadt herumposaunen, daß ich mit Jochen verkracht bin und wieder guten Wind machen möchte! Einen Brief schreiben, so etwas Blödes!

Im letzten Augenblick schob sich auch Artur auf die mittlere Plattform, aber Sibylle schenkte ihm nicht mal einen Blick. Sie war erleichtert, als die Türen sich zuschoben und der Omnibus endlich abfuhr.

*

Herr Körner hatte die Woche über nur wenig Zeit für seine Familie. Es kam öfter vor, als es seiner Frau lieb war, daß er abends Überstunden machte oder Geschäftsfreunde ausführen mußte. Außerdem ging er regelmäßig jeden Donnerstag zum Kegeln. Das war, wie er immer behauptete, seine einzige wirkliche Entspannung, und die ließ er sich weder von seinem Chef noch von seiner Frau nehmen.

Aber sonntags war Herr Körner zu Hause und erwartete auch dann, daß seine ganze Familie sich um ihn scharte. Er zeigte nicht das geringste Verständnis, wenn seine heranwachsenden Söhne diesen einzigen freien Tag zu ihrem eigenen Vergnügen beanspruchen wollten. Tatsächlich begann sogar der kleine Jan schon, die gemeinsamen Familienunternehmungen als langweilig zu finden, wenn er das auch noch nicht laut zu äußern wagte wie die älteren Brüder. Frau Körner zitterte vor jedem Sonntag und zerbrach sich den Kopf, wie sie die Wünsche und Interessen ihrer so verschieden alten und so verschieden gearteten Männer unter einen Hut bringen sollte.

Jedoch an diesem Sonntag, dem ersten zu Beginn des neuen Schuljahres, ging alles so glatt wie selten.

Die Körners saßen zusammen bei einem späten, dafür um so üppigeren Frühstück. Durch die Fenster strahlte ein seidig blauer Himmel über den Bäumen der Parkstadt herein, deren Blätter sich schon gelb und rot und braun zu färben begannen.

»Wie wäre es, wenn wir zum Autobahnsee fahren würden?« schlug Herr Körner vor.

Jochen mimte sofort Begeisterung. Im Grunde war es ihm ganz gleichgültig, wo und wie er den Tag verbrachte. Hauptsache, er konnte sicher sein, Sibylle nicht zu begegnen. Warum also nicht den Eltern die Freude machen und Jens helfen – denn Jens hatte heute etwas Besonderes vor, und Jochen hatte versprochen, die Aufmerksamkeit des Vaters von ihm abzulenken.

Herr Körner war zufrieden, die Mutter strahlte, und niemand nahm Anstoß daran, daß Jens, der älteste, mit leidgeprüfter Miene erklärte, sich diesem Familienunternehmen nicht anschließen zu können, da er sich, leider, leider, Arbeit mit nach Hause habe nehmen müssen. Diese Behauptung klang um so glaubhafter, als alle wußten, daß sein Meister erkrankt war und jetzt mehr Verantwortung als sonst auf den breiten Schultern des jungen Mannes ruhte.

»Das verstehe ich natürlich«, sagte Herr Körner in kollegialem Ton, »und ich muß ganz ehrlich sagen, ich freue mich, daß du eine so großartige Arbeitsauffassung hast, Jens!« Er räusperte sich, fügte hinzu: »Wenn du dich damals etwas mehr bemüht hättest, als du noch auf der Schule warst …«

Die Tatsache, daß Jens nach einem sehr elenden Zeugnis ohne Abitur von der Schule abgegangen war, saß wie ein Dorn in Herrn Körners Bewußtsein, und er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Jens an diese Enttäuschung, die er dem Vater bereitet hatte, zu erinnern.

Jens lächelte leicht verkrampft. »Wahrscheinlich fehlte mir damals noch die nötige Reife«, sagte er und zwinkerte, als der Vater für einen Augenblick wegsah, seinen Brüdern verschwörerisch zu.

Jochen grinste zurück und zwickte Jan rasch und kräftig, damit er nicht laut zu lachen anfing, rasch in den Arm.

»Au!« schrie der Kleine empört. »Was fällt dir ein?«

»Habe ich dir weh getan?« fragte Jochen heuchlerisch. »Entschuldige, bitte, es war nicht meine Absicht …« Er beugte sich zu Jan herab, flüsterte ihm ins Ohr: »Benimm dich! Ich spiele auch nachher mit dir Wasserball!«

»Was flüstert ihr da?« fragte Herr Körner ungehalten.

»Jochen hat mir nur versprochen, daß er mit mir Wasserball spielen will!« trompetete Jan.

»Ach so«, meinte der Vater, »aber das hätte er doch auch laut sagen können!«

Jetzt, da der Entschluß zur Ausfahrt gefaßt war, hatte die Gemütlichkeit ein Ende. Frau Körner sprang auf und machte sich daran, die Badesachen zusammenzusuchen. Jan hüpfte vor Aufregung, und Jochen beeilte sich, fertig zu essen.

Trotzdem verging noch eine gute halbe Stunde, bis es endlich soweit war, daß alle die Wohnung verlassen konnten.

»Wir kommen erst gegen Abend wieder, Jens, du kannst also in Ruhe arbeiten«, sagte Herr Körner.

»Wenn ich fertig bin, werde ich wahrscheinlich ein bißchen spazierenlaufen«, bemerkte Jens so nebenbei.

»Ja, tu das«, sagte Frau Körner und küßte ihren Großen zärtlich auf beide Wangen, »und paß auf dich auf, ja?«

Jochen hakte sich bei ihr ein und zog sie mit sich fort. »Komm schon, Mutti, Jens ist doch kein Säugling mehr!«

»Wenn er das wäre, brauchte ich mir nur halb so viel Gedanken um ihn zu machen!« entfuhr es Frau Körner. Sie schlug sich auf den Mund, blickte sich erschrocken um.

Aber der Vater war schon weit voraus, er hatte diese Bemerkung, die verriet, daß sie durchaus nicht annahm, Jens würde den ganzen Sonntag über seinen Entwürfen verbringen, zum Glück gar nicht gehört.

Jens blickte zum Fenster hinaus, beobachtete, wie der Vater die Badetasche im Kofferraum seines Autos verfrachtete, wie die Brüder hinten hineinkletterten, die Mutter – sehr sorgsam, um ihr bunt geblümtes Kleid nicht zu zerknittern – vorne neben dem Fahrersitz einstieg.

Sie winkten alle noch einmal zu ihm hinauf, und er winkte zurück, und dann fuhren sie endlich los, und das letzte, was Jens sah, war das weiße Taschentuch, das Jan wie eine Fahne zum offenen Wagenfenster herausflattern ließ. Und dann war er endlich allein.

Jens raste zum Telefon, hatte den Hörer schon in der Hand, als er es sich anders überlegte – nein, so ging es nicht. Wenn er Claudia Miller anrief, würde es ihr ein leichtes sein, ihn abzuwimmeln. Er mußte selber und in Lebensgröße vor ihr auftauchen, sonst hatte er überhaupt keine Chance.

Er ging in das verlassene Elternschlafzimmer hinüber, trat an den Toilettentisch seiner Mutter und betrachtete sich im Spiegel, überlegte hin und her, ob er sich umziehen sollte oder nicht. Endlich entschloß er sich, so zu bleiben, wie er war – der hellblaue Freizeitanzug stand ihm gut zu dem sonnengebräunten Gesicht, den blauen Augen und den starken weißen Zähnen. Der saloppe Anzug würde seinem Auftritt etwas Zufälliges, nicht allzu Feierliches geben.

Im Bad bürstete sich Jens das volle Haar mit zwei Bürsten nach hinten – links, rechts, links, rechts, links – und kämmte dann die Tolle über der Stirne hoch. Er holte aus dem hintersten Winkel seines Kleiderschrankes die Cellophanpackung, in der eine einzige wunderbare Orchidee lag – er hatte sie am Tag zuvor mit großer Aufmerksamkeit für Claudia Miller ausgesucht.

Jens steckte sein Portemonnaie ein, schloß die Wohnung ab, sprang die Treppe hinunter und ging schnell und zielstrebig auf den Mittelpunkt der Parkstadt, das Hochhaus zu.

Mit dem Lift sauste er zum Penthaus nach oben, hatte plötzlich Herzklopfen vor Angst, daß ihre Wohnung abgeschlossen sein, daß sie ausgeflogen oder etwa gar Besuch haben könnte. Aber dann stand er wie bei seinem ersten, geschäftsmäßigen Besuch wieder mitten in ihrem herrlichen großen Raum, der alles zugleich war: Diele, Wohn-, Eß- und Arbeitszimmer, und der dennoch in keiner Weise beengend wirkte. Man fühlte sich hier oben auf atemberaubende Weise dem Himmel nahe.

Claudia Miller hatte diesmal ein Kleid an, ein maisgelbes, ganz schlicht geschnittenes Kleid, dessen Mini-Rock ihre schlanken braunen Beine bis weit über die Knie freigab. Ihr schwarzes glänzendes Haar umgab ihr hohlwangiges Gesicht wie ein dunkler Rahmen. Ohne die Spur eines Lächelns sah sie ihn an.

Jens fühlte sich plötzlich sehr gehemmt, streckte ihr die Cellophanpackung mit einer Geste entgegen, deren Kindlichkeit ihm selber peinigend bewußt wurde. »Ein kleiner Sonntagsgruß«, sagte er, »seien Sie mir nicht böse, Frau Miller!« – Er hatte sich so fest vorgenommen, sie Claudia zu nennen, aber jetzt kam ihm diese vertraute Anrede einfach nicht über die Lippen.

Er war erleichtert, als sie ihm die Orchidee abnahm. »Danke«, sagte sie trocken.

Sie standen einander gegenüber und sahen sich an, und er fühlte sich so verlegen, daß er sich am liebsten umgedreht hätte und zum Aufzug zurück geflüchtet wäre. Aber die starke Anziehungskraft, die von ihr ausströmte, bannte ihn auf der Stelle.

»Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« sagte er endlich und kam sich selber sehr blöd vor.

»Ja«, sagte sie nur.

»Man müßte irgendwas unternehmen«, fuhr er fort, »ins Freie fahren oder so … ich meine nur, wenn Sie nichts Besseres vorhaben!«

Plötzlich erschien ein Funkeln in ihren Augen, das fast wie ein Lächeln war, während ihr Mund ganz ernst blieb. »Haben Sie denn ein Auto?«

»Nein, noch nicht, aber ich könnte …«

»Ich fahre einen Alfa Romeo!« sagte sie sehr überlegen.

Plötzlich fühlte er sich sicher. »Wunderbar!« rief er unbekümmert. »Ich wäre immer schon gerne mal mit einem Alfa Romeo gefahren!« Er trat auf sie zu. »Nun machen Sie nicht so ein Gesicht, Claudia! Soll ich Ihnen denn vormachen, es störe mich, daß Sie einen tollen Wagen fahren? Daß Sie eine herrliche Wohnung haben? Daß Sie jede Menge Geld verdienen? Nein, erwarten Sie nicht, daß ich so verlogen bin. Es imponiert mir … Sie imponieren mir, Claudia!« Er hatte sich ordentlich in Feuer geredet, jetzt trat er so dicht an sie heran, als wenn er sie im nächsten Augenblick in die Arme nehmen wollte.

Aber sie wich vor ihm zurück. »Auch, daß ich älter bin als Sie, Jens?«

»Was macht das schon!«

»Ihnen vielleicht nichts, aber mir.« Sie holte tief Atem. »Ich bin kein kleines Mädchen mehr, ich bin 30 Jahre alt!«

Er war auf eine solche Eröffnung gefaßt gewesen, wenn er auch niemals gedacht hätte, daß sie schon so alt sein könnte – Zehn Jahre älter als ich! schoß es ihm durch den Kopf. Aber immerhin gelang es ihm, ein unbefangenes Gesicht zu machen. »Ich traue nur meinen Augen«, sagte er, »und meine Augen zeigen Sie mir, wie Sie wirklich sind, Claudia … jung und schön!« Er packte sie bei den Schultern. »Ich liebe Sie, Claudia, glauben Sie mir doch … ich habe Sie von der ersten Sekunde an geliebt!«

Sie machte keinen Versuch, sich loszureißen, sie ließ es geschehen, daß Jens sie sehr eng an sich zog.

Aber in ihren geheimnisvollen grünen Augen stand unverhohlener Spott. »Was für ein Kindskopf Sie doch sind«, sagte sie mit lächelndem Gleichmut.

Seine Arme sanken herab. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästigt habe!«

Sie lachte, und trotz seiner Verärgerung wurde es Jens bewußt, daß dies das erstemal war, daß er sie lachen hörte. Es war ein dunkles, ein wenig trauriges Lachen, das wunderbar zu ihrem nachtschwarzen Haar und den hohlen Wangen paßte.

Mit einer versöhnlichen Geste legte sie ihre Hand auf seinen Arm. »Sie müssen noch viel lernen, Jens … zum Beispiel, daß keine Frau der Welt beleidigt sein könnte, wenn sie sich begehrt fühlt. Sie haben mir eine große Freude gemacht.«

»Sprechen Sie nicht so mit mir«, sagte er, »ich bin kein kleiner Junge mehr, und Sie sind nicht meine Lehrerin!«

Sie wich keinen Schritt vor ihm zurück. »Sie scheinen sich außerordentlich in der Rolle des zornigen jungen Mannes zu gefallen«, sagte sie belustigt, »und ich muß zugeben, sie steht Ihnen wirklich. Nur …Sie sollten sich ein dankbareres Publikum dazu suchen.«

»Ich spiele kein Theater!«

Sie nahm die Orchidee, die er ihr mitgebracht hatte, aus dem Cellophanbehälter, den sie mit Schwung in den Papierkorb warf. »Nehmen Sie doch nicht alles so wörtlich, das ist auch so ein Fehler der Jugend. Was ich sagen wollte, war doch nur das … Sie sind wirklich ein netter Junge, Sie sehen glänzend aus, ich bin sicher, daß alle Mädchen hinter Ihnen her sind … warum wollen Sie ihre eindrucksvollen Gaben ausgerechnet an mich verschwenden?« Sie drehte spielerisch die Orchidee zwischen ihren schlanken braunen Fingern.

»Sie werden mich nicht dazu bringen, daß ich es noch einmal wiederhole«, erwiderte er.

Sie hob ein wenig die Augenbrauen. »Schade!«

»Leben Sie wohl, Frau Miller«, sagte er mit harter Betonung und verbeugte sich leicht.

Sie rührte sich nicht von der Stelle, beobachtete ihn, wie er sich umdrehte, auf den Lift zuging – sehr elastisch und sehr jung in seinem eleganten, hellblauen Freizeitanzug, der blonden, sorgfältig hochgebürsteten Tolle. Sie wartete, bis er ein wenig unsicher stehenblieb.

»Sie müssen auf den obersten Knopf drücken, wenn Sie den Lift herauflocken wollen«, sagte sie dann, »das heißt natürlich nur, falls Sie Ihr Angebot nicht aufrechterhalten …«

Er fuhr herum, sah sie an.

»Sie hatten mir doch angeboten, mich spazierenzufahren«, sagte sie, »oder sollte ich mich da geirrt haben? Das Wetter ist immer noch gleich schön, und meine Autoschlüssel liegen da vorn auf dem Schreibtisch, es wäre nett …« Sie kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

Mit zwei gewaltigen Schritten war er bei ihr, riß sie in die Arme.

Diesmal hatte er sie überrumpelt. Es gelang ihr gerade noch, ihr Gesicht abzuwenden, so daß die wilden Küsse sie auf die Wange, den Hals, die Stirn trafen – nur nicht auf den Mund, nach dem er sich sehnte, und den sie ihm standhaft verweigerte.

»Oh, Claudia«, stammelte er, »Claudia … du bist … ich kann nicht … du …«

Eine Weile ließ sie ihn gewähren, dann bog sie den Oberkörper zurück, hielt ihn mit dem ausgestreckten Arm von sich ab. »Jens«, sagte sie, »bitte, sei vernünftig! Wenn du mich jetzt nicht sofort losläßt, ist unsere Freundschaft beendet, noch ehe sie begonnen hat!«

Nicht so sehr ihre Worte als der Ton ihrer Stimme war es, der ihn zur Besinnung brachte. Er gab sie frei, und sie lief zum Schreibtisch, kam aber, die Autotürschlüssel in der Luft schwenkend, gleich wieder zurück.

»Hier, nimm sie, du alberner großer Kerl! Mein Alfa Romeo befindet sich unten in der Hausgarage, mein Name steht dran, der Schlüssel ist dabei … also los, verschwinde, damit ich mich hübsch machen kann!«

Von allem, was sie sagte, nahm er kaum etwas in sich auf als nur die Erkenntnis, daß sie ihn duzte, ihn wie einen guten Freund behandelte. Er war so überwältigt, daß ihm gar nicht einfiel, was er jetzt hätte sagen sollen – nichts Geistreiches jedenfalls, und er wollte ihr doch so gerne imponieren.

Sie holte den Lift herauf, öffnete die Tür, schubste ihn hinein und gab ihm – genau in der Sekunde, bevor sie die Tür zuschob – einen hastigen Kuß auf die Nasenspitze.

Das letzte, was er von ihr sah, war ihr rabenschwarzes Haar, als sie den Kopf zurückzog, und dann war alles vorbei, er sauste im Lift nach unten, und das einzige, was ihm von ihr geblieben war, war der Schlüsselbund, den er krampfhaft festhielt, bis er merkte, daß ihm die scharfen Kanten des Metalls in die Handflächen schnitten.

Jens Körner fühlte sich glücklich und unglücklich zugleich – hatte er sie nun beeindruckt, oder spielte sie nur mit ihm? Er bildete sich einiges auf seine meist leicht gewonnenen Erfahrungen mit Mädchen ein. Aber bei Claudia Miller kannte er sich wirklich nicht aus, und das war es, gestand er sich selber, was ihn so an ihr reizte.

*

Für Sibylle Sandner wurde es ein trauriger Sonntag.

Sie wohnte in der Helmholtzstraße, ziemlich weit weg von der Parkstadt. Aber in früheren Zeiten war trotzdem kaum ein Feiertag vergangen, ohne daß sie nicht irgendwann und irgendwo mit Jochen Körner zusammengekommen wäre. Haupttreffpunkt: die Holmsche Villa an der Ecke.

Artur Holm wohnte mit seinen Eltern in diesem ziemlich altmodischen, dafür aber sehr geräumigen Kasten, und da Artur der sehr verwöhnte einzige Sohn war, gab es fast nichts, was er nicht hatte. Er besaß ein Tischtennis, jede Menge Federballschläger und Bälle, ein Krokett, Bocciakugeln, und vor allem stand der Swimmingpool in dem riesigen, ein wenig verwilderten Garten ihm und seinen Freunden sozusagen allein zur Verfügung. War schlechtes Wetter, konnte man sich in einem großen Bastei- und Spielzimmer im Keller aufhalten.

Kein Wunder, daß an freien Nachmittagen immer einige junge Leute aus der Klasse oder der Nachbarschaft dort zu finden waren, obwohl Artur selber eher ein Eigenbrötler war und sich um seine Gäste durchaus nicht kümmerte. Außer um Jochen, denn Jochen war sein bester Freund. Die beiden Jungen pflegten sehr ausgiebige Gespräche miteinander zu führen, bei denen sich Sibylle meist rasch zu langweilen begann. Aber zwischen ihnen herrschte oft auch eine so wortlose Übereinstimmung, die Sibylle mehr als alles andere reizte, denn dadurch fühlte sie sich ausgeschlossen.

Es kostete sie Überwindung, überhaupt bei Holms zu klingeln. – »Ach was«, mußte sie sich selber gut zureden, »hab dich doch nicht so! Schließlich bist du mit Artur ja nicht verkracht, und sonst hast du doch auch nichts dabei gefunden, hier aufzukreuzen!« – Wenn ihr nicht so viel daran gelegen hätte, mit Jochen Körner wieder ins reine zu kommen, hätte sie es sicher nicht getan.

Artur öffnete ihr, gab sich ganz wie immer – nicht unfreundlich, aber auch durchaus nicht freundlich. »Na, dann komm!« sagte er, knallte das schmiedeeiserne Gartentor ins Schloß und marschierte dann so rasch auf das Haus zu, daß er mit wenigen Schritten an ihrer Seite war und sie nur mit Mühe verhindern konnte, daß er sie überholte und abhängte.

Sie hätte liebend gerne nach Jochen gefragt, aber sie wollte sich keine Blöße geben. »Wer ist denn sonst noch da?« fragte sie so beiläufig wie möglich und wagte nicht, ihn anzusehen.

»Och, ’ne ganze Menge«, war die mehr als nichtssagende Antwort.

Sie hatte sich, um Jochen zu imponieren, besonders schick gemacht, trug ein schneeweißes Leinenkleid, das ihre samtige braungebrannte Haut und das schimmernde Blond ihres Haares ausgezeichnet zur Geltung brachte. So weit, so gut, aber der Rock war nicht nur sehr kurz, sondern auch sehr eng geschnitten, und so machte ihr das rasche Gehen Schwierigkeiten. Außerdem drückten sich die Blockabsätze ihrer hochmodernen weißen Schuhe tief in den weichen Gartenboden, und vor allem kam sie sich albern vor, so auf fein gemacht vor ihren alten Freunden zu erscheinen. Hätte ihr Artur wenigstens einen bewundernden Blick geschenkt – aber nein, er beachtete sie nicht mehr als die Schnecke, die da vor ihnen über den Weg kroch. Eher weniger, denn er stoppte doch ganz kurz und machte dann einen besonders großen Schritt, um der Schnecke nichts zu tun, während er von Sibylle in Gedanken offensichtlich kilometerweit entfernt war.

»Fabelhaftes Wetter, wie?« sagte sie, um das Gespräch irgendwie in Gang zu bringen.

»Kann man wohl sagen«, bestätigte er, sah aber dabei stur geradeaus und hatte die Stirn in Falten gelegt, als wenn er über ein schwieriges Problem nachgrübelte.

Sie hatte erwartet, daß er sie hinter die Villa in den Garten führen würde, aber er ging um das Haus herum und machte Anstalten, die schmale Treppe hinabzusteigen, die von außen direkt in den Keller und den Bastelraum führte.

»Was?« rief sie impulsiv. »Ihr steckt doch wohl nicht da drinnen?«

»Borussia Dortmund gegen 1860 München«, sagte er kurz angebunden.

Sibylle begriff, daß er und die anderen die Fernübertragung eines Fußballspieles miterleben wollten. »Aber, na hör mal … bei dem Wetter ist es doch draußen viel schöner.«

»Du kannst ja draußen bleiben«, sagte er, und weil ihm plötzlich bewußt wurde, daß er sich reichlich unhöflich benahm, fügte er ein bißchen netter hinzu: »Später kommen wir dann auch rauf.«