Willibald Alexis: Krimis und Detektivgeschichten, Romane, Dichtung & Briefe - Alexis Willibald - E-Book

Willibald Alexis: Krimis und Detektivgeschichten, Romane, Dichtung & Briefe E-Book

Alexis Willibald

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Beschreibung

Willibald Alexis ist einer der bekanntesten deutschen Autoren des 19. Jahrhunderts und sein Werk 'Willibald Alexis: Krimis und Detektivgeschichten, Romane, Dichtung & Briefe' bietet einen faszinierenden Einblick in sein literarisches Schaffen. In diesem Buch werden eine Vielzahl von Geschichten präsentiert, die von mysteriösen Kriminalfällen und raffinierten Detektivgeschichten bis hin zu romantischen Romanen und lyrischen Gedichten reichen. Alexis' literarischer Stil ist geprägt von einer präzisen Beobachtungsgabe und einer einfühlsamen Darstellung der Charaktere, die den Leser in den Bann ziehen. Diese Sammlung zeigt die Vielseitigkeit und das Talent des Autors auf eindrucksvolle Weise. Als historischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts greift Alexis in seinen Werken auch gesellschaftliche und politische Themen auf und verwebt sie geschickt mit den Handlungssträngen seiner Geschichten. Seine Briefe geben zudem einen persönlichen Einblick in das Leben und die Gedankenwelt des Autors. 'Willibald Alexis: Krimis und Detektivgeschichten, Romane, Dichtung & Briefe' ist ein must-read für Liebhaber klassischer Literatur und bietet ein facettenreiches Leseerlebnis, das sowohl Unterhaltung als auch tiefgründige Einblicke in die damalige Zeit bietet.

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Willibald Alexis

Willibald Alexis: Krimis und Detektivgeschichten, Romane, Dichtung & Briefe

Der Roland von Berlin + Der falsche Woldemar + Cabanis + Der Werwolf + Geschichten aus dem Neuen Pitaval + Die Hosen des Herrn von Bredow + Pommersche Gespenster + Herr von Sacken und viel mehr

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0654-4

Inhaltsverzeichnis

Als Kriegsfreiwilliger nach Frankreich 1815
Der Roland von Berlin
Der falsche Woldemar
Cabanis (Vaterländischer Roman)
Der Werwolf (Historischer Roman)
Die Hosen des Herrn von Bredow
Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Walladmor
Isegrimm
Gesammelte Geschichten aus dem Neuen Pitaval :
Die Frau des Parlamentsrats Tiquet
Nickel List und seine Gesellen
Blaize Ferrage
Gescha Margaretha Gottfried
John Sheppard
Louis Mandrin
Miß Ellen Turner
Die Marquise von Brinvillier
James Hind, der royalistische Straßenräuber
Die Kindesmörderin und die Scharfrichterin
Anna Margaretha Zwanziger
Der Schwarzmüller
Der Pfarrer Riembauer
Das verratene Beichtgeheimnis
Eine Walpurgisnacht in Finnland
Johanna Winter
Hans Kohlhase und die Minckwitzsche Fehde
Das letzte Bekenntnis des Mörders John Lechler
Dorothea Götterich
Die weiße Katze und das weiße Mädchen
Der Bayrische Hiesel
Der Patriot von Montason
Die Nonne von Monza
Eisenbahn-und Posträuber in Nordamerika
Die Rede des Mörders Eusebius Pieydagnelle vor dem Schwurgericht
Das Geständnis des schlesischen Frauenmörders Johann Nepomuk Wünscher
Drei Weiber als Mörderinnen
Geständnis des Räubers Karl Friedrich Masch
Die Schlieffen und die Adebar
Rosenfeld
Schinderhannes
Beatrice Cenci
Die Schlieffen und die Adebar
Die Försterstochter im Floßteich
Elias Nygrén
Ein Mörder seiner Mutter
Die Geheimrätin Ursinus
Zwei Mütter eines Kindes
Ferdinand Gump und Eduard Gänswürger
Das Wundermädchen aus der Schifferstraße
Tötung eines Matrosen auf hoher See
Volksaufstand in Edinburg
Sawney Cunningham
Winckelmanns Ermordung
Wilhelmine Krautz
Desrues
Cartouche
Gerhard von Kügelgens Ermordung
Der Magister Tinius
Eine Familie Vater-und Gattenmörder
Warren Hastings
Der Sohn der Gräfin von St. Geran
Ludwig Christian von Olnhausen
Mary Hendron und Margaret Pendergras
Zur Geschichte der englischen Highwaymen
Spiggot und Phillips
Gentlemen-Highwaymen. Hawkins und Simpson
Ein Highwayman als Memoirenschreiber und ein Highwayman aus Liebe...
Exner
Der Duc d’Enghien
Der Doctor Castaing
Georges Cadoudal’s Verschwörung
Major John André
Die Müllerin von Fockendorf
Euphemie Lacoste
Obrist Charteris
Delacollonge
Der Jahrmarkt zu Leerdam
Der blinde Zeuge
Die fünf Mörder auf der Esperance
Bletry
Georg Heckmann’s Intervention
Das Alibi der Magdalene Dinicher
Der Einspänner mit dem Schimmel
Die Beine im Pfastadter Hohlwege
Die schwarze Dame
Die Leiche entdeckt. Wer sie abgeliefert
Die Bewohner verstört; die Gäste fortgewiesen
Das blutige Haus
Die Wahrnehmungen der Frau Lacour
Die blutige Hand am Treppengeländer
Bletry’s Deutung der Wahrnehmungen und die Alibibeweise
Die gelbe Kiste
Die Familie Tomascheck
Fisson und die untergeschobenen Schlüssel
Don Antonio Perez und die Prinzessin Eboli
Der Kerker von Edinburg
Bathseba Spooner
Peytel
Die schöne Würzkrämerin
Motive der That
Karl Grandisson
Die Soldprinzessin
Miguel Serveto
Eine erste Conventiklerin
Die Quäker in Boston
Eliçabide
Die beiden Markmann
Der Dieb als Vatermörder
Der Sohn des Bettlers
Contrafatto
Wilster, genannt Baron von Essen
Der blaue Reiter
Das papistische Complot
William Lord Russell
Der verrätherische Ring
Das Gelöbniss der drei Diebe
Die Tragödie von Salem
Jochim Hinrich Ramcke
Fieschi
Alibaud
Francois Ravaillac
Jacques Clement
Damiens
Louvel
George Frederick Manning und Maria Manning
Francesco Fava
Constantin Weise
Papavoine
Der Giftmörder Dr. Eduard William Pritchard
Mathias Lenchauer
Eine Entführung
Eine Hinrichtung in Appenzell
Benedikt Accolti
Kaspar Trümpy aus Bern
Ein Mord im Criminalgefängniß von Nürnberg
Criminalistische Miscellen aus Nürnbergs Vergangenheit
Die Meuterei aus der Insel du Levant
Jakob Friedrich Hadopp
Der Buchbindermeister Ferdinand Wittmann
Die Fenier-Verschwörung
Timm Thode, der Mörder seiner Familie
Der Bootsmann Paulino Torio aus San-Tomas
Miles Weatherhill
Der Wildschütz Hermann Klostermann
Die Selbstanzeige der Witwe Kruschwitz in Gassen
Der Tod des Rentier Peter Tixier
Marschall Bazaine
Criminalistische Miscellen aus Nürnbergs Vergangenheit (Die Gefängnisse)
Johann Heinrich Furrer
Der Kindermörder Heinrich Götti
Hans Kohlhase und die Minckwitz’sche Fehde
Die Ermordung des Typographen J. W. Lackner
Die Gebrüder Streicher
Friseur Dombrowsky
Hortense Lahousse
Die unsichtbare Mistress Blythe
Der Wunderdoctor Frosch
Der nürnberger Kassendiebstahl
Criminalistische Miscellen aus Nürnbergs Vergangenheit
Anna Böckler
Straßen-, Eisenbahn- und Bankräuber in Amerika
Ein Lynchgericht
Ein sonderbarer Geschworener
Eine Lotteriespielerin
Der Proceß Pokorny
Marie Köster
Die Rinderhirten im Südwesten von Nordamerika
Der Proceß Nicotera
Der Proceß Szedlaczeck
Pommersche Gespenster (Erzählung)
Herr von Sacken (Novelle)
Gedichte
Briefe von/an Willibald Alexis
Über Willibald Alexis

Als Kriegsfreiwilliger nach Frankreich 1815

Inhaltsverzeichnis

Blätter aus meinen Erinnerungen

Zur Einführung

Wahrlich, wir leben in einer unvergeßlich großen Zeit! »Wir können nun zu jeder Stunde sterben,« dürfen wir mit Ernst Moritz Arndt uns wieder rühmen, »wir haben auch in Deutschland das gesehen, weswegen es allein wert ist zu leben: daß Menschen in dem Gefühl des Ewigen und Unvergänglichen mit der freudigsten Hingebung alle ihre Zeitlichkeit und ihr Leben darbringen können, als seien sie nichts.« Wie im heiligen Jahre 1813 strömten auch jetzt wieder aus allen Winkeln unsres Vaterlands aus allen Schichten unsres Volks Freiwillige sonder Zahl zu den Waffen: Knaben und Männer, Jünglinge und Greise, und wieder war »das Schönste bei diesem heiligen Eifer und fröhlichen Gewimmel, daß alle Unterschiede von Ständen und Klassen, von Altern und Stufen vergessen und aufgehoben waren, daß jeder sich demütigte und hingab zu dem Geschäft und Dienst, wo er der brauchbarste war, daß das eine große Gefühl des Vaterlandes und seiner Freiheit und Ehre alle andern Gefühle verschlang«. Und doch welch tiefe Kluft im Vaterlandsempfinden des Deutschen von heute und von vor hundert Jahren tut sich vor unsern Blicken auf, wenn wir die nachstehenden Erinnerungen eines Kriegsfreiwilligen jener Tage lesen! Gewiß: Alexis zog, ein Jüngling näher dem Knaben, erst 1815 mit nach Frankreich; aber »es war noch der kräftige Nachhall desselben mächtigen Impulses«, sagt er selbst. Er hat seine Erinnerungen erst rund ein Vierteljahrhundert später auf Grund seiner Briefe und Tagebuchaufzeichnungen niedergeschrieben – sie erschienen 1844-46 in Theodor Hell-Winklers Taschenbuch »Penelope« –, und die Ueberlegenheit und Skepsis des reifen Mannes, den die Zeit der Reaktion verbittert hat, spricht oft genug nur zu laut aus ihnen. Aber auch der Sechzehnjährige vermochte sich nicht immer jenem Unmut zu verschließen, der selbst einen Theodor Körner aus dem russischen Hauptquartier zu Reichenbach (28. Juli 1813) einmal bekennen läßt: »Daß doch nichts die Begeisterung so abkühlt als die ruhige, genaue Beobachtung! Wenn eine so heilige Sache einem ordentlichen Herzen je zu verleiden wäre …«

Gerade dieser grelle Kontrast im Vaterlandsempfinden gibt den in erster Linie kulturhistorisch zu wertenden Erinnerungen heut einen besondern Reiz; dies, und daß sie ein geborener Dichter schrieb, der das Kleinste scharf und im rechten Zusammenhange gesehen hat. Jene Kriegszeit in den Ardennen: dieses Auf und Nieder der Stimmung, dieses wilde Lagerleben und wieder märchenhaft stille Dasein im völlig von der Welt abgeschiedenen Dorfquartiere ist für Alexis nicht nur eine strenge Schule des Lebens, sondern weit mehr noch eine reiche Schule der Dichtung gewesen. Die »volle, gläubige Begeisterung« aber, die den Jüngling vor hundert Jahren zu den Waffen trieb, sie hat ihren reinsten und stärksten Ausdruck in den vaterländischen Romanen des Mannes gefunden, die nicht zum geringsten Teile in uns unsern heutigen höheren Begriff vom Vaterlande, seiner Freiheit und Ehre reifen ließen.

Steglitz, 1916. Adolf Heilborn.

Als Kriegsfreiwilliger nach Frankreich 1815

Der Aufruf und der Aufstand der Freiwilligen im Jahre 1815 in Preußen war nur eine Nachdröhnung der Volkserhebung im Jahre 1813. Gentz bewies, nach den ihm sehr unangenehmen Wartburggeschichten, daß die Freiwilligen damals überflüssig gewesen wären. Die Massen Linientruppen, welche Preußen, Österreich mit dem wieder vereinigten Deutschland zusammenbringen konnten, hätten in Verbindung mit den Heeren und Schiffen der englischen und russischen Alliierten das Werk allein zu Ende geführt. Ich weiß nicht, ob man preußischerseits 1819 auf diese diplomatische Rüge geantwortet hat; aber 1815 schien auch der preußischen Regierung das Volk und seine Teilnahme noch notwendig, es war noch der kräftige Nachhall desselben mächtigen Impulses. In den Schulen war nur eine Stimme. Wer konnte, sollte und mußte mit, darüber war keine Frage. Wen schwache Gesundheit, Eltern oder Vormünder nicht fortließen, wurde bedauert oder verhöhnt. Es war gewiß Spielerei mit im Spiel; wo aber fehlt die auch bei den ernstesten Fragen! Und sollte die Jugend, wo sie ihr als Tugend geboten wurde, nicht freudig zugreifen! Es war ein wonniges Gefühl, schon halb in militärischer Kleidung, mit rotgestreiften Beinkleidern oder gar mit der grünen, wohlkleidenden Jägeruniform, in die Klassen zu gehen. Wie staunten die andern jüngern Schüler den künftigen Helden an, wenn er, die kleine Mappe, die alten Klassiker unterm Arm, stolz durch ihre Reihen schritt! Wie anders, mit welchem Selbstgefühl blickte er den Lehrer auf dem Katheder an, der wohl von Aufopferung fürs Vaterland sprach, aber er blieb zu Haus, und wir opferten uns; er redete von den großen Taten unsrer Väter, wir wollten sie vollbringen. Seine Autorität war nur noch eine prekäre; in wenig Tagen gehorchten wir einer andern. Er hatte uns nichts mehr zu gebieten; das war schon ein Heldengefühl.

Gentz mag von dem kühlen Standpunkte aus, von dem er die Sache ansah, Recht gehabt haben. Materiell war der Volksaufstand nicht mehr nötig; es war wenigstens nicht mehr nötig, daß der Beamte sein Amt, der Meister sein Handwerk, der Gatte die Gattin verließ, und daß sechzehnjährige Knaben von den Bänken in Prima und Sekunda forteilten, um das Vaterland zu retten. Wenn es noch das zu retten galt, so reichte die bewaffnete Macht aus. Die ideelle Macht war von beiden Seiten schon gebrochen. Napoleon focht bei Waterloo für seine Sache; aber er mußte ihr einen andern Namen geben, um die Nationalbegeisterung in Frankreich dafür zu erwecken. Daß es für Deutschland nicht mehr um die geträumte Freiheit und nationale Einheit sich stritt, hatten die Verhandlungen des Wiener Kongresses verraten.

Nur nicht uns sechzehn-und siebzehnjährigen Jünglingen. Wir träumten noch, wir waren noch berauscht; noch fühlte man nichts von Nachwehen. Die begeisterten Reden unsrer Lehrer, die Nachklänge der Fichte-, Schleiermacher-, Arndtschen wissenschaftlichen Kriegsberedsamkeit, von allen Kathedern hallend, Körners und Schenkendorfs Lieder, die Erzählungen der älteren Jünglinge, die 1813 und 1814 mit geblutet und mit gesiegt, alles das erhielt den Rausch lebendig. Wir schwelgten in Fouques Nordlandssagen, in seinem gründlichen Neufranzosenhaß. Die Ideen des Turnertums waren mächtig, auch außerhalb der Hasenheide. Der Plumpsack, der dort jedem, welcher durch ein Fremdwort die deutsche Sprache entweihte, drei Streiche versetzte, ging auch moralisch in der jungen Gesellschaft um. Jahns Deutschtümlichkeit war uns kein Phantom, sondern eine Wahrheit, und wir hofften noch zuversichtlich auf die Realisierung unsrer Ideen von einem deutschen Volkstume, wenn wir auch über das Wie? weder mit andern noch mit uns im reinen waren.

Dennoch war auch schon da in die preußische Jugend ein Mißklang gedrungen. Ganz war es uns nicht entgangen, daß die Diplomatie der Nationalbegeisterung ein Schnippchen geschlagen hatte, und daß andre das ernten wollten, was das Volk durch Opfer und Tapferkeit errungen hatte. Aber wir bewegten uns noch in einem engen Formelkreise. Die gespenstischen Wörter: Aristokratie, Bureaukratie und Hierarchie, die uns seitdem erschreckten, lagen damals außerhalb desselben; und das Wort Tyrannei, das gründlich gehaßteste, kannten wir zwar, aber wir waren viel zu loyal, um es auf andre anzuwenden, als auf den Franzosenkaiser Napoleon. Unsre natürliche Freiheitsliebe war mit dem Franzosenhaß identifiziert. In den Intrigen, die auf dem Wiener Kongresse spielten, sahen wir nichts als eine Rückkehr zu der alten französischen Diplomatie, der wir nicht sowohl ihre Tendenzen als ihre unvolkstümlichen Formen vorwarfen. Mit höchster Entrüstung betrachteten wir Deutsche es namentlich, daß so viel deutsches Blut auf deutscher Erde geflossen war, und doch wurde der Friede in französischer Sprache geschlossen. So viele der wunderbarsten Begriffe von Volkstum hatten wir uns eingepfropft – zu denen aber Fürsten, Könige und womöglich auch ein Kaiser gehörten – und doch verhandelte und handelte man nicht aus einem Volksrat heraus oder offen königlich für das Volk, sondern aus den Kabinetten zu den Kabinetten, heimlich, schriftlich und in französischer Sprache! Wie paßte das zu den herrlichen, kernigen Aufrufen an das Volk, zu den Proklamationen, die immer an Karl und Wittekind gemahnt hatten!

Die Stimmung in der Jugend war durchaus ernst und religiös; christlich und durch die Vermittlung der Romantik sogar etwas katholisch. Nichts von lasziver Beimischung und ironischer Betrachtungsweise; diese hat erst der nachfolgende Druck in der deutschen Jugend hervorgebracht. Von der Seite fürchteten wir keine Reaktionen, wie uns der Ausdruck überhaupt fremd war. Nur die geheime, fremde, französische Hofsitte, das nicht deutsche Galakleid der Etikette, die gleisnerischen Schranzen, die vornehmen Riccauts de la Marliniere, die wir überall wieder durch die Türritzen dringen sahen, waren uns verhaßt. Daß ein Talleyrand sogar, in dem wir den leibhaftigen Bösen mit dem Klumpfuß sahen, in Wien mitsprechen, das große Wort führen durfte; daß Kaiser Alexander, nach dem herrlichen, heiligen Kampfe, mit Franzosen und Französinnen schön tun konnte, und die deutschen Fürsten vergingen nicht in edler Entrüstung! Deutsche Aristokraten von Schrot und Korn, die gewußt hätten, geschickt die Sache anzufangen, hatten einen guten Teil der deutschen gärenden Jugend damals noch für sich gewinnen können …

Wir waren christlich romantisch, aber auf diesem Wege schon etwas fatalistisch gestimmt. Gottes Gerichte wirkten immer unmittelbar ein. Napoleons Rückkehr von Elba, die Zersprengung des Wiener Kongresses war ein sichtlicher Fingerzeig, daß Gott mit diesem Frieden in französischer Sprache nicht zufrieden war. Es mußte aufs neue losgehen, ein letzter Akt, eine letzte Schlacht geschlagen werden, um einen andern Frieden in andrer Sprache, mit anderem Geiste und anderen Bedingungen zu schließen. Elsaß und Lothringen mußten wenigstens wieder deutsch werden; vielen aber mochte die dunkle Idee von der Zerstörung des neuen Babels, von dem Untergänge von Paris vor Augen schweben. Ein guter, glorreicher Ausgang war uns sicher; der Zauber war ja längst gebrochen, es kam nur darauf an, den Zauberer zu zermalmen, damit er nicht noch einmal spuke. So, voll sicheren Vertrauens auf den Ausgang, voll Überzeugung von der erneuten Notwendigkeit des Volksaufstandes, von der göttlichen Mission, der wir folgten, schwuren wir Jüngeren zu den Fahnen.

Die Wirklichkeit forderte rasch genug nach solchen Träumen ihr Recht. Aus Büchern und Knabenspielen, aus der Mutter Obhut und den gebildeten Kreisen des bürgerlichen Lebens plötzlich mit sechzehn Jahren in das Treiben und unter die Gesänge und Scherze einer ausgelassenen Soldateska versetzt zu sein, ist eine eigene Sache. Ich hatte mir eingebildet, die Freiwilligen wären im allgemeinen wie ich. Da glühte in allen derselbe heilige Franzosenhaß; dieselbe Entrüstung über den verpfuschten, halben Frieden und eine wenigstens ähnliche Begeisterung für deutsche Volkstümlichkeit. Wenn ich auch zweifelte, daß alle Fouqué gelesen hätten, so mußten sie doch Goethe und Schiller und den Straßburger Münster und die deutsche Geschichte kennen. Sie alle konnte nur Haß und Liebe in die Reihen der Vaterlandsverteidiger geführt haben. Im Jahre 1813 hätte ich mich nicht getäuscht. Die freiwilligen Jäger waren damals die Elite der preußischen Jugend, alle mehr oder minder poetische Abdrücke von Theodor Körner. Die Studierenden, Künstler, jüngeren Beamten, Ökonomen bildeten in ihren Kompagnien große Hetärien, wo unter den Beschwerden der Märsche, im Getös der Waffen, Gesang, Scherz, geistige Erregung, gesellige Erinnerungen das Zelt-und Feldleben angenehm machten. Alle verstanden sich; aus der Heimat, der Schule hatten sie hundert Anknüpfungspunkte, und Poesie und Kunst warfen mannigfache Lichtstrahlen in die beschwerdevolle Wirklichkeit. Die Kameradschaften hatten die edelsten Züge aufopfernder Liebe hervorgebracht. Die Todmüden, vor Erschöpfung Taumelnden, in dunkeln morastigen Hohlwegen, auf dem Rückzug, Feindesstimmen hinter ihnen, vor ihnen, im Augenblick, wo sie sich in der Verzweiflung hinstrecken wollen, geschehe was da sei; in dem Augenblick stimmt ein Kamerad eine Melodie aus einer bekannten Oper an, eine Parodie auf ihre Zustände, und der grelle Gegensatz des Damals und Jetzt wirkt so erschütternd auf das Zwerchfell und den Mut anregend, daß die Lebenskräfte zurückkehren, die andern in den Gesang einstimmen und die Kameraden sich wieder zum Marsche zusammenscharen. So half damals die Poesie der Wirklichkeit. Es war ein poetisches Leben dieses erste Jägerleben; in Körners Liedern haben wir das beste Symbol der damaligen Stimmung.

Anders war es 1815. Ich sprach von einer Soldateska, in die ich trat. Allerdings hatten die Freiwilligen, welche sich beim Morgengrauen zu den ersten Exerzierübungen auf dem Dönhoffsplatze stellten, Elemente in sich, welche an »Wallensteins Lager« erinnerten. Die Freiwilligkeit hatte schon den Preußischen Normalleisten angezogen. Es war nicht gerade eine gezwungene Freiwilligkeit, aber ein moralischer Zwang war eingetreten. Bekanntlich hatten die Freiwilligen des Jahres Dreizehn, fast allein aus den gebildeten, wohlhabenden Ständen, sich alle selbst equipiert. Aus eignen Mitteln wurden Jägeruniform, Lederzeug, Tornister, Mantel, Hirschfänger und Büchse angeschafft. Auf die Uniformität sah man nicht mit zu großer Ängstlichkeit. Die reitenden Jäger hatten sich ihre Pferde selbst gekauft. Die Einzelnen, die Familien, hatten große Opfer gebracht. Ähnliches ist nie in der neuern Geschichte vorgekommen; wenn auch die Eitelkeit bei den »Opfern am Altar des Vaterlandes« mit ihr Spiel trieb, so waren diese Opfer doch allgemein, durch alle Stände, Provinzen, gleichmäßig verbreitet; und wenn man Preußens erschöpften Zustand, die Verarmung durch den Krieg, das Aussaugesystem der Franzosen, die gebotenen Abgaben zur Führung des Krieges in Anschlag bringt, außerordentlich. Reiche Familien rüsteten außer ihren eigenen Söhnen noch die ärmeren Bekannten aus. Bemittelte und Unbemittelte steuerten zusammen, um dürftigen Jünglingen Waffen und Kleidung zu verschaffen. Die Universitäten, Gymnasien sammelten unter sich, um ihre ärmeren Kommilitonen auszurüsten. Unerschöpflich war namentlich der Eifer der Frauen. Auch der Zug darf nicht der Vergessenheit übergeben werden, als ein junges Mädchen, die nichts geben konnte, ihr langes, schönes Haar abschnitt, und den Erlös dafür beim Friseur zur Bewaffnung der Freiwilligen darbrachte.

Auch im Jahre 1815 rüsteten die Freiwilligen, welche die Mittel dazu hatten, sich selbst aus; auch da wurden von Einzelnen und Familien Opfer gebracht. Wir erhielten dafür nie einen andern Ersatz, als den das eigene Gefühl uns gewährte. Aber, fürchtete man, daß die Opferlust geringer sein, und die Zahl derer, welche sich unter die freiwilligen Jäger stellten, unbedeutender ausfallen würde, als man des moralischen Eindrucks wegen wünschte? Genug, der Staat versprach alle die als Jäger auf seine Kosten auszurüsten, welche in den Jahren 1813 und 1814 in irgendeiner Truppe gedient und sich jetzt wieder unaufgefordert zum Dienst stellen würden. Die Lust an dem gerühmten, freieren Leben der Jäger lockte viele an, die im früheren Sinne nicht dahin gehörten. Die Arbeit in der Werkstatt, die Monotonie hinter dem Ladentische und an dem Schreibtische war von vielen schwer ertragen worden, welche in einem zweijährigen Kriegsleben zwar an Beschwerden, aber auch an Müßiggang und beständigen Wechsel sich gewöhnt hatten. Der Aufruf konnte ihnen nicht erwünschter kommen. Mehrere hörte ich hoch und teuer schwören, daß sie nie wieder in den armseligen frühern Zustand zurückkehren wollten. Kriege mußte es ja doch immer geben. Wie mancher wartete noch immer, daß Napoleon auch von Helena losbrechen werde, und griff auf die falsche Nachricht nach der alten Jägerbüchse, die ihm als trostreiche Erinnerung an der Wand hing.

Andre lockte das Versprechen, daß nach dem hergestellten Frieden jeder Freiwillige vorzugsweise bei der Anstellung in Zivilämtern bedacht werden solle. Welches Mißvergnügen, wie viel Lebensverstimmungen und moralische Zerrissenheiten hat dies gewiß aufrichtig gemeinte Versprechen später hervorgerufen! Es war unmöglich, allen Erwartungen zu genügen. Das Bürgertum wäre verzehrt worden, wenn der Staat für alle, welche gedient hatten, Ämter schaffen sollte. Ich weiß nur zu viel traurige Beispiele, wohin die erweckte Arbeitsscheu, die Lust am Herumtreiben und die gespannten Erwartungen, die nie befriedigt werden konnten, viele geführt haben. Ein lieber Schulkamerad, der sich nicht wieder an die zu früh verlassenen Studien gewöhnen konnte, verdumpfte gänzlich. Mutlosigkeit und Trunk richteten andre zugrunde, nicht die Schlechtesten. Noch steht mir lebhaft ein Austritt aus meiner spätern juristischen Laufbahn vor Augen. Im Kriminalgericht beschäftigt, ziehe ich an der Klingel, um in einer Untersuchung wegen Diebstahls, die ich von einem Kollegen geerbt, den Verhafteten vortreten zu lassen. Der Name in den Akten war mir schon auffällig; als der Unglückliche eintrat, sah ich einen mir wohlbekannten Kriegskameraden, mit dem ich oft in stürmischen Nächten auf Vorposten stand, mit dem ich oft am selben Feuer gekocht und mich gewärmt hatte. Er gehörte damals nicht zu den schlechtesten Kameraden. Ich eilte, die peinliche Untersuchung los zu werden. Zum Glück hatte er in seinem Inquirenten nicht seinen Zeitgenossen erkannt.

In diesem bunten Gemisch der neuen Freiwilligen konnte man leicht die, welche aus Staatsmitteln dazu gemacht wurden, heraus erkennen. Aber der grobe, grüne Kommißrock und die schwere Muskete statt der feineren Uniform und der zierlichern Büchse waren nur ein äußeres Unterscheidungszeichen, das nicht immer mit der moralischen Unterscheidung zusammentraf. Ich habe wackere, treffliche, auch gebildete Kameraden unter den ersteren kennen und schätzen gelernt. Die Sprache lehrt, auch unter gleichmäßig Uniformierten zuerst und bald den Menschen kennen. Zu kameradschaftlichem Zusammenleben war, solange wir in Berlin die ersten Übungen vornahmen, keine Gelegenheit; aber aus den ersten Unterhaltungen lernte ich viel, wovon ich keine Ahnung hatte. Wird man sich verwundern, daß ein sechzehnjähriger Neuling, der aus dem mütterlichen Hause nur in geistesverwandte Kreise gekommen war, über diese Sprache, Scherze, Lieder erschrak! Ich befand mich in einer neuen Welt, und die war höchst unbehaglich, zurückstoßend. Aber wie schnell übt die Gewohnheit ihre Macht. Das Pferd scheut vor den Eseln. Fouqué erzählte mir, wie vielen Verdruß seiner ritterlichen Natur die Erfahrung bereitet, daß die edlen Rosse seiner Schwadron, als er in einem Ort lag, wo die Esel zu Hause waren, sich schon in den ersten Wochen an die Kameradschaft gewöhnt hatten. Ja, sie wieherten sich an, wenn sie sich begegneten, die Rosse ohne Scheu vor ihren noch edlern Reitern.

Soldaten denken, sprechen, scherzen, und – phantasieren überall ähnlich und über dasselbe Thema. Nur unter den Berliner Freiwilligen war eine Ausnahme. Die Ausstrahlungen des vornehmen, gebildeten Lebens haben, wie bekannt genug ist, hier die Masse berührt und über die Roheit einen Firnis von Bildung gebreitet, den wenigstens Jünglinge wie ich nicht sogleich heraus erkennen konnten.

Aufgeschnappte Theaterphrasen, absprechende Urteile, vornehme Redensarten, Sentenzen in der sogenannten Sprache der Bildung hingeworfen, konnten mich über meine Umgebung täuschen. Doch nicht auf lange. Es waren viele gebildete junge Leute unter den pommerschen Jägern des berühmten »Regiments Kolberg«, in das ich eingetreten war; aber als Neulinge traten sie schüchtern hinter den Veteranen zurück, man lernte sich erst später kennen. Die, welche den vorigen Feldzug mitgemacht hatten, führten, wie sich das von selbst versteht, das Wort; sie waren die Lauten, wir die Stillen. Wie schwanden meine Illusionen! Weshalb ging dieser mit, warum war jener nicht zurückgeblieben! Der aspirierte auf eine Schreiberstelle in einem Bureau, aber er mußte vorher gedient haben. Jener konnte es im elterlichen Hause nicht aushalten; oder er hatte überhaupt kein Haus und keinen Winkel, wo er hatte bleiben können. Ein andrer hoffte auf eine reiche Braut, wenn er als Sieger heimkehrte. Alle waren voll Franzosenhaß, wie ich; aber ich leugne nicht, daß die Hoffnung auf gute Quartiere in Frankreich bei diesem Hasse mitspielte. Sie wollten dort, wie die Franzosen in ihrem Hause, wirtschaften.

Zeihe man mich keiner unpatriotischen Gesinnung, oder daß ich den deutschen Enthusiasmus, der die Freiwilligen hervorrief, verkleinern wolle. Ich schreibe nur Züge aus der allgemein menschlichen Natur, die, wenn große Aufregungen vorüber sind, ihren Bodensatz von Gemeinheit deutlicher zeigt. Die Mehrzahl der Freiwilligen aus dem Befreiungskriege waren als Offiziere in die Linie oder Landwehr eingetreten; nur ein geringer Rest derselben ergriff wieder die Jägerbüchse. Woher die andre Überzahl der Gedienten kam, habe ich bereits angegeben. Der jüngere, frischere Zuwuchs mußte sich erst entwickeln, und er tat es, oft im schönsten kameradschaftlichen Sinne. Ich ward Zeuge und beteiligt bei Zügen von Güte und Selbstvergessen, wie sie eben nur im Felde und unter Gefahren, wo die ursprüngliche Natur wieder siegreich über die angewöhnte heraustritt, zum Vorschein kommen werden. Nur geistige Erhebung, Begeisterung und Bewußtsein durfte man von unsern Freiwilligen im ganzen nicht erwarten. Die wir dieser Eigenschaften teilhaftig waren, wir waren noch halbe Knaben, und in welcher Art die Begeisterung sich äußerte, davon werde ich später ein Beispiel geben.

Endlich waren alle bekleidet, bewaffnet und notdürftig einexerziert; wobei ich bemerke, daß mir, der ich nicht musikalisch bin, die Signale der Blasinstrumente sehr schwer zu fassen wurden. Es ging mir indessen nicht allein so, und ich tröstete mich mit der Versicherung, die Veteranen mir gaben, daß im Gefecht nicht viel darauf ankäme; unter dem Donner der Kanonen und in der Hitze des Tirailleurgefechtes höre man nicht auf die Hornmusik. Jeder springe, schieße, laufe und wende sich, wie es ihm gut dünke, und wo er was zu treffen glaube. Eine treffliche Erklärung von einem Treffen, an die ich später recht lebhaft durch eine ähnliche erinnert wurde, die Immermann in seinem »Auge der Liebe« einen Feldherrn der Not seinen Hauptleuten geben läßt. Wir waren noch nicht Soldaten, als wir abgingen; wir dienten nur als Symbole des allgemeinen Willens: den Sturm und Drang von Dreizehn fortzusetzen. Um den leuchten zu lassen, beeilte man sich, uns, wie wir waren, an den Rhein zu schaffen.

Es war ein schöner, es ward ein heißer Maitag, als wir am frühen Morgen auf dem Lustgarten standen, um ins Feld zu ziehen. Soviel ich mich entsinne, sangen wir nicht: »Frisch auf Kameraden!« oder »Der Sturm bricht los!« Entweder drückte uns der Abschied von den Lieben im Hause oder der Anfang der militärischen Disziplin. Auch gab es auf dem Versammlungsplatze selbst noch mannigfache Abschiedsszenen. Die jüngeren Freunde und Schulkameraden, die nicht so glücklich waren, mit ziehen zu können fürs Vaterland, ließen es sich nicht nehmen, den glücklichen Freunden zum letztenmal die Hand zu schütteln, auf Sieg, frohes Wiedersehen und Treue in Leben und Tod uns den Bruderkuß zu geben, und wer irgend konnte, begleitete uns noch auf dem Marsche. Man leistete den Scheidenden alle möglichen Liebesdienste, holte ihnen zu trinken, besorgte Grüße, trug, wo es sich tun ließ, ihre Sachen.

Den freiwilligen Jägern war, in Rücksicht auf ihre Jugend und zartere Konstitution, der Vorzug schon im vorigen Kriege zugestanden worden, daß ihre Tornister ihnen nachgefahren würden. Ein Vorzug, der uns dem Neide und Spotte der nicht so begünstigten Landwehrmänner aussetzte und oft nichts half. Denn wo kein Vorspann zu erhalten war, mußten wir die ungewohnte Bürde auf die Schultern nehmen, und das gewöhnlich auf den beschwerlichsten, angreifendsten Märschen. Die humane Berücksichtigung war übrigens auch eine weise. Ein Teil der halben Knaben, die bis da nur leichte Schulmappen getragen, würde, wenn nicht unter der Last erlegen, doch schwerlich in gesundem Zustande bis Frankreich gekommen sein. Außer der schweren Armierung, den Mantel über die Schultern gehängt, noch den schweren Tornister, mit seinen die Schultern oder noch schlimmer die Brust pressenden Riemen auf langen Marschen im Sonnenbrand und Staub zu tragen, dazu gehört eine andre Schule, als aus der wir kamen. Wir gewöhnten uns in der Folge daran; aber ich, wie mehrere andre junge Leute, entgingen den Wirkungen nicht, welche eine zu schwere Belastung und Einschnürung auf den noch im Wachstum befindlichen Körper hervorbringt. Beschwerden aller Art lernt eine ursprünglich gesunde Natur ertragen; aber ein zurückgehaltener Wuchs, eine blaßgraue Gesichtsfarbe stellte sich bei vielen als Folge ein. Erst weit später verwand ich beide durch Fußreisen ohne Gepäck und mit Freiheit und durch die reine Bergluft, die ich durch Monate in den norwegischen Gebirgen einatmete.

Mein Tornister war unter allen, welche auf die Wagen geladen wurden, der schwerste. Mir selbst verbarg der junge Freund, welcher bei dem Geschäfte zusah, die Wahrnehmung, die für mich buchstäblich eine sehr drückende werden mußte. Wer da weiß, was ein Tornister fassen kann, und was er bei einem Soldaten, der in den Krieg geht, fassen muß, wird sich freilich darüber nicht verwundern, wenn er hört, daß die mütterliche und schwesterliche Fürsorge zu den Hemden, Jacken, Schuhen, Bürsten, Tüchern noch Schokolade, Tafelbouillon, nützliche Anweisungen und sonst viel Gutes und Wohlgemeintes hinzugefügt hatte; alles auf den Umstand berechnet, daß der Tornister immer gefahren werde. Ich selbst war der Meinung, daß im Kriege auch der geistige Mensch Nahrung haben müsse, und außer einer Karte und Schreibpapier hatte ich ein Buch mitgenommen. Über die Wahl eines solchen war großer Zweifel gewesen, da weder von meinen Lehrern noch Angehörigen jemand wußte, welche Lektüre zum Kriege am besten passe. Einige stimmten für das Neue Testament; aber das konnte man allenfalls an jedem Orte finden. Ein gelehrter Anverwandter für den Horaz, weil er so sehr dünn sei, und in dem rohen Leben die Neigung für klassische Studien erhalten dürfte. Aber ich war kein Klassiker, sondern ein Romantiker und wählte die Nibelungen, weil sie eine deutsche Nationallektüre waren, vom Kriege handelten, und in der Zeuneschen Ausgabe, die ich wählte, auch nur dünn waren. Sie haben mich durch Deutschland und Frankreich begleitet, und ich brachte sie wieder in die Heimat zurück; ehrlich gesagt ziemlich so, wie ich sie mitgenommen hatte. Der Krieg der Sachsen und Burgunder schien doch ebensowenig wie der der Burgunder und Hunnen zu unserm mit den Franzosen zu passen. Ein andrer Kamerad hatte Schlegels Epigramme gegen Kotzebue mit. Ob er sie mehr gelesen, als ich die Nibelungen, weiß ich nicht. Aber er war ein noch viel stärkerer Romantiker als ich, verwandt mit einem der Koryphäen der Schlegel-Tieckschen Periode und gab mir in der Romantik noch Unterricht. Daß ich Kotzebue gelesen und mir einiges von ihm gefallen hatte, hielt er für ein bedenkliches Zeichen, und ließ es an Anweisungen nicht fehlen, wie ich diesen schlechten Geschmacksrest von mir abschütteln könne. Der eifrige Kamerad weilt längst – nicht im Kriege gefallen – unter den Geistern der Seligen, die ihm sagen werden, worin Kotzebue fehlte, und ob die Romantiker auf dem rechten Wege nach dem Höchsten waren, das wir auf dieser Erde erreichen.

Ein großes Staubmeer hüllte uns ein, sobald wir aus dem Potsdamer Tore die Chaussee betreten hatten. Der Abschied sollte uns erleichtert werden, indem der Staub die Rückblicke auf Stadt und Gegend verbot. Die Ordnung, wenigstens Reih und Glied, hörten sogleich auf, die Bekannten suchten sich; ein freundliches Gespräch trat ein. Unsre Freunde aus der Stadt, die uns begleiteten, gingen bunt unter und mit uns. Diese Zwanglosigkeit beim Marsch, auf die ich nicht gerechnet, erschien mir als ein froher Anfang; es war aber nichts Besonderes, indem es bei allen Militärmärschen nicht anders hergeht. Reih und Glied sind bei einem langen Marsche auf der Landstraße, wo Wagen, Reiter, Fußgänger oft unterbrechen, dieser und jener verweilen muß, auch bei Preußischer Disziplin nicht innezuhalten. Um gute Sänger, einen beliebten Erzähler oder Lustigmacher drängt sich alles. Solche Lustigmacher sind unschätzbar in einer Kompagnie, sowohl für die Soldaten als für die Offiziere. Auch in den untersten Sphären der militärischen Disziplin gilt das »Meus agitat molem.« Es bedarf moralischer Impulse, um einen Bajonettangriff zu wagen, und um einen Zug Soldaten auf dem Marsche in Ordnung zu halten. Sogenannte Marodeure (so wird jeder genannt, der zurückbleibt) wird es bei jedem Marsche geben, so oft auch der Kommandeur zurückreitet, anfeuert, droht und drängt; der eigene Vorteil rät aber schon, sich nicht gehen zu lassen, sondern womöglich bei den Vordersten zu bleiben; denn die Zurückbleibenden müssen sich doppelt anstrengen, und kommen oft erst an die Rastplätze, wenn die andern geruht haben und wieder aufbrechen. Daher oft ein Hasten und Drängen, zumal beim Anfang eines Marsches zu den Ersten zu gehören, was auch wieder sein Unangenehmes hat.

Ich bin ein tüchtiger Fußreisender geworden, und noch jetzt ist eine Fußreise meine Lust; aber als ich Soldat wurde, war es weder meine Lust, noch meine Stärke. Der Aufruf der Freiwilligen 1813, der möglicherweise auch mich dereinst treffen konnte, hatte mich zuerst angeregt, meine sehr geschonten Kräfte zu prüfen. Ich hatte es aber kaum weiter gebracht als bis zu Lustwanderungen nach Charlottenburg, Tegel und andern Vergnügungsorten um Berlin. Vielleicht hatte ich einmal das entfernte Potsdam erreicht. Ein entsetzlicher Gedanke heut: fünf bis acht Stunden sich in der Monotonie der Chaussee von Berlin bis Potsdam zu bewegen, während die Eisenbahn in drei viertel Stunden uns, noch zu langsam, dahin trägt. Was aber bedeutet eine Fußwanderung in leichter Kleidung, leicht geschuht und in frischer Luft, gegen einen Marsch dahin, mit Büchse und Patronentasche und unter dem Staube, den Hunderte vor und hinter uns aufregten!

Zweimal wurde gerastet, in Schöneberg und in Zehlenborf. Es war ein heißer Tag. Schon da wankten die Kräfte; man warf sich auf den bestäubten Rasen, zwischen Disteln und Nesseln in die Chausseegräben. Ein – zwei Meilen von Berlin, und wie schon so ganz anders war das; ich hatte etwas erlebt! Die Freunde, die zu den unsern zurückkehrten, baten wir, ihnen ja alles zu erzählen, was uns begegnet sei. Mit welcher Erquickung und mit welchem Gefühl setzte ich zum ersten Male die Feldflasche an den Mund, die hier noch mit altem Franz-Wein gefüllt war. Sie wanderte umher. Man letzte sich zum letzten Male an traulichen Gesprächen über die Heimat; die frohen Spiele, die Schelmereien und Schwänke der Schulzeit wurden noch einmal ins Gedächtnis gerufen.

Der Weg von Zehlenborf bis Potsdam wurde mir sehr schwer. In meinem Tagebuche steht: »Ich glaubte, ich würde nicht weiter fortkommen; aber es ging.« So geht vieles, von dem wir glauben, daß es nicht gehen kann. Meine Feldflasche zerbrach, indem sie an den Hirschfänger schlug; der Verlust war zu verschmerzen, da ich mir in Potsdam eine andre kaufen konnte, aber der schöne, alte Wein tröpfelte auf die Straße. Das war Vergeudung; also trank ich schnell den Rest aus, um gleich nachher darüber besorgt zu werden, daß ich nach starker Erhitzung getrunken hatte. Um diese Versündigung gegen die diätetischen Regeln, welche in meinem Hause sehr streng beobachtet wurden, wieder gutzumachen, mußte ich einige Zuckerstücke schnell verschlucken und stark laufen. Oft dachte ich später mit Lächeln daran, wenn wir, durchglüht von heißem Tagesmarsch, mit lechzenden Zungen an einem Quell vorüberkamen, und die Jäger sich rottenweis hinwarfen, um frisches, oft auch nur sehr getrübtes Wasser zu schlürfen. »Dem Soldaten schadet das nichts,« sagte mir lächelnd ein alter Landwehrunteroffizier, als er mich das erstemal zaudern sah. Zu Hause hatte ich nicht gelernt, daß die Soldaten andre Lungen haben als die übrigen Menschen, von denen der alte Heim mir gesagt, daß ein rascher, kalter Trunk nach großer Erhitzung tödlich werden könne. Vom Wassertrinken ist, soviel mir bekannt, keiner meiner Kameraden gestorben.

Vor der Stadt wurden meine Kräfte noch einmal hart geprüft. Es hieß, der Kronprinz – der nachmalige König Friedrich Wilhelm IV. – wolle die einziehenden Jäger mustern. Zwei Jägerdetachements klopften und bürsteten und rieben den Berliner Staub von ihren Kleidern und Schuhen vor der Glinickeschen Brücke. Während wir uns selbst kaum mehr fortschleppen konnten, mußten wir die Tornister von den Wagen holen und an die Schultern schnallen. Die neue Last wirkte homöopathisch; die neue Anspannung verscheuchte die vorige Abspannung. So ward es möglich, daß ich den weiten Weg von der Brücke bis in die Mitte der Stadt zurücklegte. Aus der Musterung ward nichts. Vermutlich war es nur ein Kunstgriff unserer Anführer gewesen, ihre Mannschaft in möglichstem Glanze in der zweiten Residenzstadt einzuführen.

Zum ersten Male, ein Quartierbillett in der Hand, mich in ein Quartier einweisen zu lassen, war auch eine neue Empfindung. Ein ermatteter Reisender freut sich schon auf das Wirtshaus, und seine Phantasie malt es sich so freundlich und bequem aus als möglich. Aber sein Wille und sein Geld können es sich wenigstens zur Hälfte schaffen, wie er Lust hat. Der Soldat greift in einen Lotterietopf und ist immer der süßen Hoffnung, einen großen Treffer zu ziehen. Wenn er sich auch in der Regel täuscht, hindert ihn das nicht, das nächste Mal wieder zu hoffen. Die Hoffnungen sind freilich verschiedener Art. Einer hofft auf gutes Fleisch und starke Kost, auf Bier und Wein, weshalb die Quartiere bei Brauern, Bäckern, Fleischern für die besten gelten; andre auf hübsche Gesichter und gefällige Gesinnungen. Meine Hoffnung ging in der Regel auf ein eigenes Zimmer, wo ich mich ausruhen und nachher schreiben könnte. Sie wurde fast immer getäuscht. Übrigens ging es bei diesem Glückstopf wie bei so manchen andern zu. Unsre Waisenknaben, die vorausgeschickten Kuriere, hatten über die Beschaffenheit der Quartiere vorher Erkundigungen eingezogen, und man mußte sich mit ihnen gut stellen, um aus ihrer Hand einen Treffer zu ziehen.

Unser vier, Befreundete vom Gymnasium, fanden in einem gebildeten Haushalt freundliche Aufnahme. Potsdam war noch halb Berlin; man betrachtete uns wie halbe Angehörige, wie Kinder von Freunden. Zum ersten Male lagerten wir auf einer Streu; und meine Besorgnis, daß ich, gewohnt in die Nacht hinein zu arbeiten, auf dem fremden Lager nicht früh, wie es bei den Märschen nötig ist, einschlafen würde, erwies sich, wie so manche andre, als unnütz. Es muß eine imposante Reihe schnarchender Schläfer gewesen sein.

Schon um drei Uhr am nächsten Morgen waren wir auf den Beinen und zogen, frisch und munter, um vier Uhr auf dem Wege nach Brandenburg. Auf dem anmutigen Punkte von Baumgartenbrück war noch eine Abschiedsszene. Der letzte Freund, der uns begleitet, trennte sich hier von uns. Mit schwerem Herzen; auch er fühlte sich gedrungen, mit ins Feld zu ziehen. Er war bereits als Volontär der Colombschen Husaren eingetreten, schon beritten und exerzierte mit, als man zu seinem Schmerze fand, daß seine Augen zum Kavalleriedienste zu schwach waren. Zwei nahe Verwandte und zwei Schriftsteller, deren Namen nach zehn bis zwanzig Jahren oft miteinander genannt wurden, nahmen damals auf der Brücke von Baumgartenbrück voneinander Abschied, ohne zu ahnen, daß sie auf andern Kriegslagern, als denen mit blanker Waffe, sich noch oft begegnen würden. Der Scheidende war Ludwig Rellstab.

Der Marsch von Potsdam bis Brandenburg, fünf Meilen auf der Chaussee, war für unsre jungen Kräfte ein angreifender. Solange der Himmel trübe war und der Boden vom Morgentau feucht, fühlten wir die gestrige Anstrengung weniger; als aber mit dem heißen Tage der Staub aufwirbelte, wurde er sehr beschwerlich. Man hatte uns Hoffnung gemacht, auf der Mitte des Weges Wagen für die Schwachen und »Maroden« zu finden; vermutlich war es nur eine hingeworfene Lockung, um uns munter zu erhalten. Ich versuchte nachher ein anderes Mittel; ich unterhielt mich eine halbe Stunde mit dem Schlegelianer über deutsche Literatur. So steht wenigstens in meinen Briefen, das heißt wie ein guter Deutscher damals nur schreiben durfte, über teutsche Literatur. Wer »deutsch« schrieb, verriet laue Gesinnung, eine Hinneigung zum Modernen, vielleicht gar zum Franzosentum. Welcher Gegenstand unsrer Literatur es war, weiß ich nicht mehr, der mich die Staubwolken, die brennende Hitze, die am Gaumen klebende Zunge sollte vergessen machen. Wie bald verstummte das Gespräch, und die Moles agitabat mentem.

Die Chaussee – wir, wie sich versteht, nannten sie nur Kunststraße – windet sich vor dem alten Brandenburg in einem großen Umwege durch die Havelwiesen. Man kann die malerischen Türme, Zinnen, Giebel schon mit der Hand greifen und muß noch stundenlang marschieren. Das erhöhte hier, wie es noch oft geschah, die Mühseligkeit. Vor dem Tore mußten wir noch, zu Ehren der alten Hauptstadt Brandenburgs, die Tornister aufnehmen. Welche Sehnsucht und Erwartung nun auf ein gutes Quartier.

Mein Zettel führte mich in eine abgelegene, schlechte Gasse, vor ein Haus, das dahin gehörte. Ein zusammengedrückter, niedriger Torweg, Verfall, Schmutz, Mist auf dem Flure, sagten voraus, was meiner in der einzigen bewohnbaren Stube warte. Der Wirt war ein Ackerbürger; es roch überall nach einem Geschäfte, das auf dem Lande für die Sinne nichts Störendes hat, wohl aber in den Mauern und der Luft einer engen Stadt. Die ärmlich aussehende Frau brachte mir in einer zerbrochenen Untertasse etwas Rührei, und ein Getränk, das vielleicht als schlechtes dünnes Bier, aber nicht unter seinem Namen »Koffent« der Mehrzahl meiner Leser bekannt sein wird. Ich forderte Wasser; die Frau sah mich verwundert an: sie tränke nie in ihrem Leben Wasser! Also etwas optimatischer Stolz auch in dieser Hütte! Schon hatte ich den Entschluß gefaßt, mich in ein Wirtshaus einzuquartieren, als ein Kamerad und Schulkumpan, mit dem ich in Potsdam auf einer Streu gelegen, eintrat und mich versicherte, im Vergleich zu ihm sei ich fürstlich einquartiert. Dazu blickte die Maisonne jetzt freundlich durch das eine Fenster; die Gesichter der Wirtsleute wurden auch freundlich, ich entschloß mich zu bleiben, dankte aber für den Kaffee, den sie mir kochen wollten, und ging mit meinem Freunde aus, um die Stadt zu besehen und in einem Garten ein freies Vesperbrot einzunehmen. Doch nicht eher, als nachdem ich Büchse und Riemzeug gereinigt und geputzt hatte. Amt bringt Verstand und die Not frische Kräfte. Ich mußte mich über mich selbst verwundern, wie ich nach wenigen Stunden dürftiger Ruhe auf solchen Tagesmarsch, der auch ältere Soldaten angreifen dürfte – es waren eigentlich zwei Etappen – wieder munter und gestärkt umherspazieren konnte.

Freilich in den Nibelungen las ich nicht an jenem Abende. Es wäre auch als freiwilliger Reisender nicht geschehen; aber der Soldat, wenn er das Quartier erreicht, hat damit noch nicht die Ruhe gewonnen. Der Kavallerist muß zuerst an sein Pferd und darf nachher erst an sich denken. Der Infanterist, der sich eher hinwirft, als er Waffen und Rüstzeug in Ordnung gebracht hat, wird auf die Dauer auch mit sich selbst nicht in Ordnung kommen.

Meine Wahrnehmungen über die alte Stadt Brandenburg, deren Roland schon damals mein großes Entzücken erregte, und deren getürmte Häuser – zu viele gibt es deren jetzt nicht mehr – mir wie lauter kleine Burgen erschienen, will ich meinen Lesern nicht wiederholen, obwohl ich sie in meine Briefe nach Hause umständlich niedergelegt habe. Ich bedauerte, daß an dem Abende in Brandenburg kein Theater war; die Zettel an den Mauern sprachen nur vom gestrigen Tage, wo der nachmals sehr berühmte Bauchredner, Herr Alexander, wie ich aus meinem Tagebuch ersehe, seine Kunst produziert hatte. Außerdem aber erregte meine ganze literarische Neugier ein angekündigt gewesenes Stück: »Die Kindesmörderin« von Friedrich v. Schiller. Ich habe nie darüber nähere Auskunft erhalten, was man 1815 den Einwohnern von Brandenburg unter diesem Namen vorgeführt, und wie ihre Kritik es aufgenommen hat; heute, weiß ich, würde so etwas dort nicht mehr durchgehen.

Später machte ich die Wahrnehmung, daß die wandernden Truppen in kleinen Orten mit großen Namen außerordentlich verschwenderisch sind. Den bekanntesten Stücken von unbekannten Autoren legen sie abwechselnd die Namen der bekanntesten oder gerade in der Stadt beliebtesten Dichter unter. Wo Kotzebue nicht mehr locken wollte, ward sein Lustspiel dem berühmten Ernst Raupach zugeteilt, und wo Raupach noch ein Unbekannter war, mußte er unter Kotzebues Flügeln vor das Publikum treten. Natürlich nur da, wo die Kritik noch nicht spukte, das heißt wo noch keine Kritiken gedruckt wurden. So ist die Kritik denn doch zu etwas gut; sie schützt vor einer dem größern Publikum nicht bekannten Piraterie auf berühmte Namen.

Nachdem ich, gekräftigt durch eine Milchsuppe und Kartoffeln – mein Abendbrot; mit großer Gewissenhaftigkeit berichtete der angehende Soldat seine Mahlzeiten an jedem Tage nach Hause, um die Zurückgebliebenen zu überzeugen, daß er nicht Hunger leide – nachdem ich mich auf mein Strohlager inmitten der Stube, wo die ganze Familie wohnte und schlief, geworfen, erwachte ich schon um zwei Uhr nach einem köstlichen Schlafe, um Schlag drei Uhr auf dem Sammelplatz zu stehen. Der Marsch des dritten Tages war nicht minder beschwerlich. Nachdem wir bei Plaue auf einer Fähre über die breite Havel gesetzt waren – die Brücke war damals noch aus der Zeit des unglücklichen Krieges abgebrannt –, entfernten wir uns von der Chaussee, um zwar über lachende Wiesen, wo es sich vortrefflich marschierte, aber auch durch tiefe Sandwüsten mühsam unsern Weg fortzusetzen. Der dritte Tag zeigte uns erst, wie angegriffen wir waren; an den beiden vorhergehenden hatte uns die Aufregung der Nerven es vergessen gemacht. Die Nachzügler nahmen kein Ende. Eine neue Feldflasche und etwas Wein, die ich mir in Brandenburg gekauft, mußten meine sinkenden Kräfte aufrecht erhalten. Dennoch hatte ich einen kleinen moralischen Triumph. Unser Offizier hatte sich die Füße wund gelaufen und mußte reiten; ich konnte doch noch gehen. Eine Schreckenspost wartete unser an den Toren der kleinen Stadt Genthin, die unser Ziel sein sollte. Man wies uns noch eine Meile weiter in ein abgelegenes Dorf. Dies selbe Schicksal traf uns, immer zu meinem großen Verdruß, in der Folge sehr oft. Da den Etappenstädten das Recht zustand, die ihnen zugewiesenen Truppen in ihre Dörfer zu verlegen, so mußten in Berücksichtigung der unberechneten Rück-und Weitermärsche die Etappenmärsche in der Regel nur kurz sein. Meinen Kameraden war die Verweisung in Dörfer gewöhnlich erwünscht, weil die Rationen in den Städten knapp zugemessen waren, in den Dörfern es dagegen vollauf zu essen gab. Ich litt nie in Quartieren an Hunger; dagegen fürchtete ich die vollgepfropften Bauernstuben, wo oft neben der zahlreichen Familie des Wirtes noch drei bis sechs, wo nicht gar zehn Jäger herbergen, sich behaglich machen, essen und schlafen mußten. Ich war daher für die Städte: »Eine gute Stube ist dem vollauf Essen vorzuziehen.«

Der Weg nach unserm Dorfe war ein Sandmeer. Schon an den ersten Hecken fielen mehrere um. Die Anführer mußten ein Auge über die gelöste Ordnung zudrücken. Die Wohnung bei unserm Kossäten Peter Liebe entsprach meiner obigen Schilderung. An Essen fehlte es nicht; denn ein mächtiger irdener Napf mit Grützsuppe, eine Schüssel mit Rührei, Branntwein, Butter, Brot und Koffent drückten den Tisch. Dazu freundliche, ehrliche Gesichter und – Ende Mai ein geheizter Ofen! – Was ist Glück, was Komfort? Liegt es nicht überall im Konventionellen? Der Bauer in Norddeutschland sucht den Trost für alle Mühen seines armseligen Lebens in einer warmen Stube. Er heizt im Sommer seinen Ofen und freut sich, daß er es kann. Und wir fanden, daß man die Hitze wie die Müdigkeit überwinden konnte. Wir schliefen dicht am Ofen, denn es war der einzige freie Platz, süß und fest bis an den Morgen.

Es war ein Sonntag und ein Rasttag. Er tat uns allen not. Wie vieles mußte hier schon an unsrer Kleidung und unserm Rüstzeuge in Ordnung gebracht werden, und wir glänzten doch erst vor drei Tagen in neuer Equipierung! Das fällt bei allen Militärmärschen vor; leider aber hatte die Begeisterung in Berlin der merkantilen Spekulationslust keinen Abbruch getan, und man hatte den Freiwilligen für schweres Geld zwar sehr zierliche, aber sehr lockere Ware verkauft. Schon in Potsdam hatten wir die Handwerker in Tätigkeit setzen müssen, um das beschädigte Riemzeug wieder zu reparieren. Es geschah, seitens der Potsdamer, nicht ohne scheele Bemerkungen über den Unpatriotismus der Berliner. Man muß dies indes nur mit Maß hinnehmen, da zwischen den Handarbeitern beider Residenzen eine natürliche, aber, je enger die Verbindung wurde, für die Potsdamer immer verderblichere Rivalität herrscht. Die Hast, mit welcher die Ausrüstung so vieler Tausende erfolgte, entschuldigte wohl einigermaßen die leichte Arbeit.

Ich benutzte diesen Rasttag zu einem ersten Briefe nach Hause. Es war nur ein Tintenfaß im Dorfe, das mußte der Kantor leihen. Dies wiederholte sich in den meisten Dörfern; meine Briefe fingen daher gewöhnlich an: »Der Kantor muß seine Tinte wieder haben, ich muß daher schnell schreiben.« Wahrscheinlich hat die Kultur seit den achtundzwanzig Jahren Änderungen hervorgebracht: auch die märkischen Dörfer und ihre Wirtshäuser sind in der Kultur fortgeschritten. Wegen meines Vielschreibens ward ich übrigens sehr aufgezogen, Schreiben schicke sich eigentlich nicht für einen Soldaten, hieß es; und meine Briefe trugen immer die sichtlichen Spuren des Geräusches einer überfüllten Bauernstube und der Störungen meiner Kameraden. Die »Nibelungen« durfte ich da gar nicht vorbringen.

Wir besuchten am Morgen die Kirche, verließen sie aber ohne Erbauung. Ein alter rationalistischer Prediger eiferte gegen den Reichtum. Ob dazu Anlaß im Dorfe war, weiß ich nicht; mir schien es aber weit nötiger gegen das Franzosentum zu eifern. Zu seinem Zwecke ließ er einen Toten auferstehen, den Lazarus; versicherte aber Zugleich, Lazarus sei nicht wirklich auferstanden, er würde nur so gesprochen haben, wenn er auferstanden wäre. Wir wollten Wunder haben, darauf war damals unser ganzer Sinn gerichtet; was Wunder, daß wir unzufrieden fortgingen und uns eigentlich freuten, daß die Bauern bei der Predigt schliefen. Eine ganz andre Erbauung wartete unser am Abend.

In dem Offizier, welcher unser Detachement nach dem Rheine führte, hatte ich einen älteren Schulkameraden aus einer Privatschulanstalt wieder erkannt. Er war ein liebenswürdiger, gemütlicher Mann, dem nur leider seine Wunden, die er als Kavallerist im vorigen Kriege erhalten, ebensowenig als seine bürgerliche Praxis – er hatte ein großes Gut verwaltet –, die nötige Lebensklugheit schon beigebracht hatten, deren ein Anführer junger Leute und eine militärische Obrigkeit bedarf. Er war noch Enthusiast vom Jahre Dreizehn, er glaubte noch die Freiwilligen von damals vor sich zu haben, welche Bildung und Idee mit ihren Offizieren außerhalb des Dienstes gleichstellte. Dagegen wäre nichts zu sagen gewesen, daß er mich und einige Freunde in den herrschaftlichen Park zu einer heitern Abendunterhaltung einlud. Der Zufall führte noch andre hinzu. Es war wohl mehr als Zufall, daß es gerade die Gebildetern des Detachements waren. In jeder großen Masse werden sich die geistiger Geweckten bald von selbst zusammenfinden. Die Lebensklugheit fordert aber, daß sie es nicht merken lassen, keine Verbrüderungen schließen und jedes aristokratischen Auftretens sich enthalten. Bedarf der geistige Vorzug äußerer Zeichen? Daß wir diese Lebensklugheit nicht beobachteten, sollte bald nur zu üble Folgen für uns haben, obwohl wir doch in der Mehrzahl ohne Willen und Bewußtsein in unser Unglück gingen.

Unter zwei herrlichen Lindenbäumen saßen wir am Abende und sangen vaterländische Lieder, von Körner, Arndt. Der Gesang erfreute den patriotischen Gutsherrn, den Kammerherrn von B….., und er sandte uns Getränke und Erfrischungen. Unser Wohlbehagen wuchs mit dem Austausche der Gesinnungen und den geleerten Flaschen. Da ward erzählt und wieder gesungen von den Taten des letzten Krieges und den Taten der Vorzeit. Da trat einer auf und deklamierte von Schiller, Goethe und Kotzebue; ich erinnere mich, auch die »Glocke« kam an die Reihe. Als der Mond aufging, war unsre Seele voll heiligen Vaterlandsdurstes; wir zogen unste Hirschfänger, traten in einen Kreis, wölbten ein Dach über den leeren Raum mit unsern Klingen, und schworen mit tränenden Augen – ich weiß nicht mehr eigentlich was; aber gewiß war darunter, daß wir dem Vaterlande und der deutschen Sache und dem Könige treu bleiben und dafür unsre letzten Blutstropfen vergießen wollten. Das hatten wir freilich alle schon geschworen und gelobt; aber der Augenblick wollte doch sein Recht. Es wäre ein traurig Leben, wo man es ihm verweigerte. Wir sanken uns in die Arme, wir drückten uns Brüderküsse auf, und zur ewigen Besiegelung des herrlichen Momentes gaben wir unserm Bunde den Namen des Hermannsbundes.

Nie war ich so froh, so begeistert in mein Quartier gekehrt, nie warf ich mich so selig auf mein Strohlager. Der Rausch war auch am Morgen noch nicht verschlafen. Die Mehlsuppe als Frühstück schien uns zu nüchtern darauf. Als wir zu früh auf dem Sammelplatz ankamen, trat der Hermannsbund zuerst ins Leben, indem er in corpore – diesmal jedoch ohne Offizier – ins Wirtshaus ging und sich sechs Portionen Kaffee bestellte. Aber das war schon ein böses Omen, daß die rauchenden Kaffeekannen erst aufgetragen wurden, als das »Heraus« abermals zum Antreten rief. Das erwartete Detachement war angekommen, und wir mußten, ohne den Kaffee zu trinken, abmarschieren!

Burg, eine alte Stadt, unser nächstes, nicht zu entferntes Nachtquartier, steht besonders gut in meinem Tagebuche notiert, weil ich hier bei einem wohlhabenden Bäcker zum erstenmal eine eigene Stube erhielt und man mir – Waschwasser ungefordert brachte. Wichtiger wäre für meine Kameraden gewesen, daß man uns hier das erste frische Fleisch vorsetzte. Ich machte mir nicht viel daraus.

Der Hermannsbund fand sich sogleich nachmittags nach dem Appell wieder zusammen und suchte einen schattigen Gesellschaftsgarten auf, wo die gestrige Freundschaft und Begeisterung bei einigen Flaschen Wein aufgefrischt wurde. Aber mir wollte es nicht recht in den Sinn, daß dieselben, welche gestern beim Mondenscheine die Schwerter entblößt und für deutsche Art und Wesen geschworen hatten, jetzt mit der hübschen, jungen Aufwärterin sich so lose und handgreifliche Scherze erlaubten. Ich schrieb’s dem Weine zu; denn deutsch schien es mir damals nicht. Mein Offizier, ein hübscher, junger Mann, gefiel mir dagegen immer mehr – und, beiläufig gesagt, der jungen Aufwärterin schien er auch zu gefallen. – Sein Körper war mit Wunden bedeckt, die ihn zum Kavalleriedienst untauglich machten; dies hatte ihn aber nicht abhalten können, wieder bei der Infanterie Dienste zu nehmen. Er erzählte uns, wie der Offizier der ostpreußischen Jäger – unser Marschkorps bestand aus drei verschiedenen Detachements – ihn, weil er sich zurückgesetzt geglaubt, und um andrer Kleinigkeiten willen, heut auf Pistolen, auf drei Schritt Distanz, gefordert habe. Aber unser Führer hatte geantwortet: wenn es Sitte sei, sich mit Pistolen um die Ohren zu schlagen, finde er die Anforderung ganz gut. Wenn man sich aber auf Pistolen schießen wolle, verrate die Ausforderung einen sehr schlechten Schützen. Im übrigen sei der Krieg da, um mit seinen Kameraden um die Wette seinen Mut den Feinden gegenüber zu zeigen, nicht um sich einer mit dem andern zu schießen. Wenn noch Pulver übrig sei nach der Besiegung der Franzosen, stehe er ihm bereit, wo und wann und wie nahe es sei. Das gefiel mir; aber so recht deutsch kam es mir doch nicht vor.

Am folgenden Tage wieder eine getäuschte Erwartung. Mein Herz schlug vor Wonne, als ich die altersgrauen Türme von Magdeburg vor mir sah. Die Sonne brannte auf den mir endlos dünkenden Elbflächen, über die damals noch nicht einmal eine Chaussee führte; aber die Aussicht, mit der man uns schmeichelte, einige Tage in der alten, historischen, deutschen Stadt zu liegen, belebte meine Kräfte. Wie wollte ich sehen: den Dom, die heiligen Gräber der Kaiser, wie studieren, ausruhen und ins Theater gehen. Statt dessen hieß es: noch anderthalb Meilen weiter in ein Dorf, vorher abgestäaubt, die Tornister aufgepackt, und im Parademarsch vor dem General Hirschfeld defiliert! Nun kam mir Magdeburg gar nicht besonders schön, alt, ehrwürdig, ja, nicht einmal so außerordentlich fest vor.

Der General musterte uns auf einem Platze hinter der Zitadelle und sprach einige freundliche Worte zu den Jägern: sie sollten sich nicht, als Verteidiger für das große Vaterland, zu kleinen Zänkereien und Streitigkeiten hinreißen lassen. Eine gute Warnung, aber es sollte ein böses Omen werden. Ernster schlichtete er den Streit der drei Offiziere, welche die drei Detachements anführten. Allerdings schien unser Leutnant, als der jüngste unter ihnen, bevorzugt, da er bisher auf dem Marsche den Oberbefehl geführt hatte. Der General hob dies Verhältnis auf, und gab jedem Anführer das Recht, nach eigenem Willen zu handeln. Uns und unserm Offizier konnte nichts Erwünschteres kommen. Das Zusammengespann erweckte nur gegenseitigen Neid, aber keinen Vorteil. Doch wie lachte unser Herz auf, als der General mit sehr deutlicher Anspielung hinzusetzte: er habe schon manchen Bramarbas gekannt, der sich mit jedem habe schlagen wollen; aber vor dem Feinde wäre ihm das Herz in die Hosen gefallen.

Der Esprit de corps hatte wohl einen Sieg erfochten, aber die Musterung und das Magdeburger Straßenpflaster unsre letzten Kräfte aufgezehrt. Der Stolz war mit einem Male dahin, als wir aus dem Tore hinaus waren, und die Trotzigsten kamen mit Bitten, daß man sie auf die Wagen nehme. Die Bitte mußte, da für 130 Mann nur ein Wagen da war, welcher für die Tornister bestimmt war, allen abgeschlagen werden. Wir stürzten in eine Schenke, um uns wenigstens durch Bier zu stärken. »Da sahen wir recht klar«, steht in meinem Tagebuche, »den Vorteil solcher Verbrüderungen, wie unsre, ein; denn einer unsrer Vorsteher, namens Ritter, ein schöner, großer und recht gebildeter junger Mann, besorgte für uns Hermannsbrüder das Bier in der gedrängt vollen Schenke, ohne daß einer von uns sich darum zu kümmern hatte.« Wir sollten bald noch klarer sehen lernen. Ein andermal hatte derselbe hilfreiche Freund zwei große Butten saure Milch geschafft, und unter einer schattigen Rüster lagerten die Hermannsbrüder auf schönem Rasen und aßen umschichtig mit zwei zinnernen Löffeln die erfrischende Kühlung. Auch unser Anführer und der von dem Zweiten Detachement, welcher sich zum Hermannsbunde hielt. Es mag ein recht anmutig Bild gewesen sein, schwerlich aber ein tröstliches für die, welche in der Sonne liegen mußten und keine saure Milch hatten.

Im Dorfe Erzleben war unsre Station. Welch ein andres Dorf, als die wir in unsrer Mark verlassen hatten! Hier strotzte alles von Üppigkeit. Welche Häuser, Scheunen, Rinder. Verwundert stieß ich meinen Freund, den Schlegelianer, an, und sein poetisches Uhrwerk ging los:

Sagt mir nichts von gutem Boden, Nichts vom Magdeburger Land!

Da verteilte der Offizier vor der Front die Billette. Der Furier überreichte ihm eins für zwölf Mann beim reichsten Bauer des Ortes. Aller Blicke sahen mit Neid darauf; sie sahen im Geist die Speckseiten im Rauchfang, die Würste, Eier, Butterfässer und Bierkrüge. Zum Überfluß stand der wohlgenährte Wirt mit seinem wohlhäbigen, glänzenden Gesicht schon bereit, um seine lieben Gäste, die der Hauptmann ihm bezeichnen sollte, selbst in sein Haus zu führen. Vielleicht ich allein hatte keine besondre Lust. Verhungern würde ich nirgends; aber in einer Bauernstube unter zwölf Kameraden war schlechte Aussicht auf Ruhe. Der Offizier musterte seine Leute: »Ein Quartier für zwölf Mann! Der Hermannsbund trete vor!« – Ein dumpfes Schweigen, finstere Blicke ringsum. Wir zogen zu dem reichen Manne, selbst reich, und sahen sie nicht mehr.

Noch hörte ich, was der Abend und die finstere Nacht ausbrüteten. Ich war weit weg. Obgleich unser Wirt ein Herr der Herrlichkeit war, und Speck, Schinken, Bohnensuppe, Butter, Brot, Eier, Bier und Buttermilch auf dem langen Tische strotzten, obgleich er mit Stolz erzählte, daß sein Haus sechsmal abgebrannt wäre, und er wäre doch nicht arm, obgleich er seinen Sohn als freiwilligen Jäger zu Pferde bei der Garde eingekleidet hatte, blieb ich doch nicht über Nacht in diesem vortrefflichen Quartier. Mein Freund, der Schlegelianer, hatte einen Freund in Magdeburg, der gleichfalls Schlegelianer, aber außerdem Feldwebel bei der Artillerie war. Dieser hatte einen Kanonier hinausgesandt, um meinen und seinen Freund auf einen Tag zu sich einzuladen. Die Sache ließ sich leicht machen, da am nächstfolgenden Tage Ruhetag war, und der Weg von Magdeburg aus nach dem nächsten Etappenorte nur kurz. Auch ich ließ mich leicht überreden, mit nach Magdeburg zu gehen, besonders da mein Offizier mir außer dem Urlaub auch bewilligte, meine Sachen inzwischen auf seinen Wagen zu legen. Leicht geschürzt betraten wir nun den Rückweg nach der Stadt, und die zwei Tage dort waren mir eine um so willkommnere Episode, als ich in jenem zweiten Schlegelianer einen Schulkameraden erkannte und volle Muße hatte, Magdeburgs Merkwürdigkeiten zu besehen. Wir verließen die Stadt nach zwei Tagen vollkommen befriedigt; nur darüber schüttelten wir bedenklich den Kopf, daß ein Buchhändler auf die Anfrage nach einem Schlegelschen Werke geantwortet hatte: »Wo denken Sie hin, meine Herren! Wie soll so etwas hier Abgang finden! Zauber-, Banditen-, Räuber-, Mord-, Geister-, Diebesgeschichten, die sind nach unserm Geschmack; damit kann ich aufwarten.« Dennoch kaufte und fand der Schlegelianer »Leier und Schwert« und »Hermann und Dorothea«, die fortan seinen Tornister noch mehr beschweren sollten. Ich hörte, daß in Magdeburg etwas französische Neigung spuken sollte, aber beruhigte mich wieder vollkommen, als ich auf dem Komödienzettel statt der Benennungen Madame und Demoiselle das deutsche Frau und Fräulein fand.

Ein schöneres Dorf, finde ich geschrieben, hätte ich nie gesehen als das Dorf Alvensleben, welches wir am Abende des nächstfolgenden Tages, und damit den Rastort unsres Detachements, erreichten. Die untergehende Sonne beleuchtete die anmutig in Grün und zwischen kleinen Anhöhen gelegenen Höfe; aber uns beiden allein Ankommenden begegneten seltsame Blicke, mürrische Antworten. Mit Mühe konnten wir in dem großen Dorfe, welches drei Ämter hatte, einen Burgturm und – was mich besonders interessiert zu haben scheint – »verfallen Gemäuer, das ich aber leider nicht mehr sehen konnte«, mit Mühe konnten wir uns nach unserm Quartiere durchfragen. Die Jäger waren vortrefflich bewirtet worden; man hatte ihnen einen Ball gegeben, und zum Dank dafür wurde den Alvenslebenern am Morgen vorm Aufbruch ein stürmisches Vivat gebracht. Warum sah man uns so seltsam an?

Der Sturm brach los, nämlich am folgenden Morgen. Mein Auge schwelgte in dem duftigen Wiesengrün, in der Pracht des Maienkleides; so hatte ich es noch nicht gesehen. Blaue Berge am Horizont und in der Ferne der alte Vater Brocken. Sollte meine Seele nicht froh sein, und was hatte mein Körper zu klagen! Kein Staub, kein Sonnenbrand, und in unsern Taschen Butterbrot und Blutwurst in Fülle, welche uns unsre guten Wirte zur Zehrung auf den Weg mitgegeben hatten. Ja, überall trafen wir gute, prächtige Menschen, mit Leib und Seele deutsch, obgleich sie so lange Zeit westfälisch gewesen waren. Das erfrischte mein Blut und erleichterte mir die sauren Wege. Es ist auch in der Tat ein merkwürdiger Unterschied zwischen dem Bauerngeschlecht in der Mark und jenseits der Elbe. Mager, gedrückt, unterwürfig, an die Dürftigkeit gewöhnt, und hier groß, voll, frei, gerad aufblickend. Aber jene Magern, Gedrückten, Unterwürfigen haben doch eine zähe Lebenskraft, die von den Wettern nicht niedergeschlagen wird, so wenig als ihr Heidekraut und ihr Buchweizen. Die strotzenden goldenen Weizenfelder wirft ein Hagelwetter um.

Eine alte Warte auf der Höhe scheidet das Preußische vom Braunschweigischen. »Von da an wird die Gegend herrlich.« Unter der Warte lagerten wir; einige aber oben auf der Höhe. Warum sonderten sich die andern Kameraden von uns? Der Sturm war losgebrochen; er tobte auf der Höhe. Flüche, grimmige Gesichter, geballte Fäuste; ja, es wurden die Hirschfänger gezogen. Was ist das? – Man verzog grinsend die Gesichter. Wir wollten hinauf. Man ließ uns nicht hinauf. Getümmel, Flüche, Drohworte, überall Emeute. Und gegen wen? – Gegen den Hermannsbund.