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Wyatt hat mit dem Mesics-Clan noch eine alte Rechnung zu begleichen. Die Mesics haben einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt, der die Straßen von Melbourne für ihn zu einem gefährlichen Pflaster macht. Wyatt ist pleite, es wird Zeit zurückzuschlagen. Über den pensionierten Berufs-verbrecher Rossiter nimmt Wyatt Kontakt zu Frank Jardine auf, der einen Haufen Pläne in der Schublade hat, die das operative Geschäft des Syndikats an den empfindlichsten Stellen treffen kann. Doch als Rossiters Sohn Niall eingelocht wird, verändert sich die günstige Ausgangssituation, denn der fette Polizei-Sergeant Napper, der Niall das Leben so schwer macht, steht auf Erpressung, schnelle Ficks und läßt sich gerne Insider-Informationen versilbern ... Nach dem nun auch Garry Dishers Polizeiroman DRACHENMANN mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde, wird immer mehr deutlich, das er aus der TOP TEN nicht mehr wegzudenken ist.
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Seitenzahl: 300
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Willkür
Ein Wyatt-Roman
Garry Disher
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREIßIG
EINUNDDREIßIG
ZWEIUNDDREIßIG
DREIUNDDREIßIG
VIERUNDDREIßIG
FÜNFUNDDREIßIG
SECHSUNDDREIßIG
SIEBENUNDDREIßIG
ACHTUNDDREIßIG
NEUNUNDDREIßIG
VIERZIG
EINUNDVIERZIG
Zu den Übersetzern
Impressum
Zum Autor
Pulpmaster Backlist
Willkür
Ein Wyatt-Roman
Garry Disher
EINS
Gegen Mittag am Tag eins der ›Operation Mesic‹ erschien dieser Typ auf der Bildfläche. Er fuhr einen roten Ford Capri mit heruntergelassenem Verdeck und Wyatt beobachtete, wie er den Wagen am Bordstein parkte, sich aus dem Sitz schälte, schnellen Schrittes auf das Tor des Anwesens zuging und der Gegensprechanlage im Mauerpfosten sein Gesicht präsentierte. MESIC prangte über der Sprechanlage, in roten schimmernden Mosaiksteinen, die der Typ jetzt sachte mit den Fingern berührte, als wären sie Glücksbringer. Ein leichter Ruck, das Tor schwang auf und er betrat das Grundstück. Der Typ war um die dreißig, eine jener obskuren, fahrig-nervösen Erscheinungen, die sich in der Hauptsache von Kaffee und Gerüchten ernährten. Der Wagen, das teure Jackett und die Designerjeans — Wyatt zählte eins und eins zusammen und kam zu dem Schluss, dass dieser Mann den Mesics von Nutzen war und umgekehrt.
Die Mesics — Schmalspurganoven mit hochfliegenden Plänen, deren Anwesen Wyatt durch das Heckfenster seines Mietwagens beobachtete. Er hatte ihn mit dem Heck zum Tor geparkt und saß jetzt auf dem Rücksitz, um den Eindruck zu zerstreuen, er wolle etwas auskundschaften. Überhaupt, der Volvo hatte sich als ausgezeichnete Idee erwiesen; er passte perfekt in die Umgebung und Wyatt war sicher, dass er kein Aufsehen erregen werde. Die Anwohner von Templestowe, ob kriminell oder bürgerlich, bevorzugten Volvos, Saabs und dergleichen Marken.
Das hier war Wyatts zweiter Anlauf, die Mesics zu observieren. Vor zehn Monaten hatte er schon einmal vor dem Tor gestanden, beherrscht von dem Gedanken, irgendwie auf das Grundstück zu gelangen. Doch seinerzeit war er ein wandelnder Steckbrief, flüchtige Beute für sämtliche Polizeieinheiten Victorias und alle Kopfgeldjäger des Landes. Also hatte er beschlossen, sich erst einmal aus dem Staub zu machen. In Queensland dann überfiel er eine Bank, tötete insgesamt zwei Männer und opferte ein kleines Vermögen für eine Frau, um ihr die Flucht ins Ausland zu ermöglichen. Die Folgen waren zehn Monate Warten auf bessere Zeiten, in denen er von der Hand in den Mund leben musste.
Doch jetzt hatte sich die Lage entspannt und er war wieder in Melbourne, um die Mesics dranzukriegen. Das Grundstück sah immer noch aus, als sei es erst gestern aus einem Hektar Brachland gestampft worden; eine künstlich aufgeschüttete Terrassenlandschaft, in der sich junge Bäume, eine im Sonnenlicht schimmernde Garage aus Aluminium und zwei einfallslose Backsteinwürfel verloren. Das Ganze hätte gut in einen Katalog für Ferienanlagen am Mittelmeer gepasst, wäre da nicht dieser drei Meter hohe elektrische Zaun gewesen, der das Anwesen umgab.
Wyatt sah, dass im ersten Haus die Vordertür aufging. Oben, am Treppenabsatz, erschien eine junge Frau. Sie wirkte verwöhnt, unzufrieden, fuhr mit ruhelosen Händen über ihren Körper — über Hüften, Oberschenkel, Brust, Ärmel, den Kragen, den Saum des Rockes. Während sie so dastand und ihre Gestalt erforschte, zauberte die Sonne Lichtreflexe auf das dichte mahagonibraune Haar, das in großzügigen Wellen über die Schultern fiel. Als der Mann die Stufen heraufkam, entspannten sich ihre Züge. Sie berührte seinen Arm und führte ihn ins Haus.
Sonst war niemand zu sehen. Zwar waren kurz zuvor Reinigungskräfte der Firma Dustbusters da gewesen, doch Wyatt hatte weder einen Wachdienst noch Kinder oder Hausangestellte entdecken können, die ihm in die Quere kommen könnten. Gut so, denn er war nicht versessen darauf, eine Armee gegen eine Armee antreten zu lassen. Es sah also nach einem leichten Unterfangen aus — wenngleich Wyatt diesen Job in jedem Falle durchgezogen hätte. Ihn interessierte lediglich das Wie und Wann. Schließlich bunkerten die Mesics da drüben sein Geld. Sie hatten keine Ahnung, dass es sich um sein Geld handelte, doch das beeindruckte Wyatt herzlich wenig. Vor etwas mehr als zehn Monaten hatte er in der roten Dreckswüste Südaustraliens einen Überfall auf einen Geldtransporter organisiert, mit dem Ergebnis, dass ihm die Beute von einem Typen abgejagt wurde, der seinerseits den Mesics einen Haufen Geld schuldete. Im Anschluss gab es nicht nur viel Ärger, sondern auch einige Tote, und jetzt wollte Wyatt nur sein Geld. Verdammt viel Geld. Mehr als dreihunderttausend Dollar. Genug, um ihn fürs Erste zu sanieren, genug, um es ihm zu ermöglichen, wieder eine Farm zu kaufen, von wo aus er in aller Ruhe die großen Coups planen konnte. So wie früher, bevor ihm die Felle weggeschwommen sind.
Wyatt bewegte den Kopf hin und her, um die Nackenmuskeln zu lockern, dann konzentrierte er sich wieder auf das Anwesen. Die Vorteile lagen auf der Hand. Erstens, es gab mehrere Ausgänge. Örtlichkeiten, bei denen die Gefahr bestand, sich selbst in eine Sackgasse zu manövrieren, schieden für Wyatt prinzipiell aus. Zweitens, die anmaßenden Herrenhäuser in Templestowe verschanzten sich alle hinter hohen Hecken und Bäumen, was neugierige Blicke der Nachbarn abschirmte. Drittens, die Straßen waren breit und in gutem Zustand, man benötigte also nicht viel Zeit, um auf die Autobahn zu gelangen. Er wäre also längst auf und davon, bevor die Bullen hier einträfen. Falls sie überhaupt einträfen. Die Mesics waren Kriminelle und garantiert nicht versessen darauf, dass die Bullen hier herumschnüffelten. Es gab mit Sicherheit keine Verbindung zwischen ihrer Alarmanlage und dem zuständigen Polizeirevier.
Wyatt stutzte. Es tat sich etwas. Zum einen schwang das elektronisch gesteuerte Tor wieder auf, zum anderen glitt ein Schatten am Seitenfenster des Volvo vorbei. Wyatt rutschte etwas tiefer, als ein schwarzer Saab in die Einfahrt bog.
Vorsichtig reckte er den Hals, dankbar, dass die Hecke entlang des Sicherheitszauns von eher spärlichem Wuchs war und ihm so Einblicke ermöglichte. Er sah, wie das Tor sich wieder schloss, und vernahm das entfernte Knirschen von Reifen auf Kies, als der Saab die Auffahrt hinauffuhr, um vor dem ersten Gebäude zu halten. Wie auf ein Stichwort wurde die Eingangstür geöffnet und die junge Frau und ihr Besucher gingen die Stufen hinunter.
Zwei Männer stiegen aus dem Saab. Wyatt glaubte, eine gewisse Ähnlichkeit in den Gesichtszügen zu erkennen, und nahm an, es handele sich um Brüder. Ansonsten jedoch hatten sie nichts gemein. Der Beifahrer trug Jeans und Sportschuhe, war groß und massig, ein Mann um die dreißig, der beim Gehen schwerfällig hinter dem Zweiten zurückblieb. Der Fahrer mochte ungefähr zehn Jahre älter sein, war schmaler, kleiner und drahtiger als sein plumper Begleiter. Der cremefarbene Zweireiher und das schwarze Hemd — ohne Krawatte, dafür bis obenhin zugeknöpft — machten aus ihm eine Fleisch gewordene Hollywood-Vision von einem Mafioso der neueren Generation. Sein dichtes schwarzes Haar kräuselte sich dort, wo es auf die Schultern stieß, und Wyatt sah, wie die Locken flogen, als der Mann wohl in einem Anfall von Wut mit seinem Zeigefinger in die Luft stach, die Fäuste reckte und offenbar die junge Frau zusammenstauchte. Ihr Besucher schien ihn auszulachen, während sie eine missmutige Miene zur Schau trug.
Wyatt wandte sich ab. Die Fragen waren klar: Wer hatte bei den Mesics das Sagen? Von welcher Seite drohten die meisten Schwierigkeiten? Wo waren ihre offenen Flanken? Bevor diese Fragen nicht geklärt waren, konnte er nicht planen. Rossiter würde Antworten haben — falls Rossiter noch bereit war, mit ihm zu reden. Früher war er Wyatts Mittelsmann gewesen, doch er hatte gute Gründe, Wyatt die Pest an den Hals zu wünschen. Dessen nahezu chronisches Missgeschick im letzten Jahr hatte Auswirkungen auch auf andere gehabt; Rossiter war einer von ihnen.
Noch einmal spähte er hinüber, um sofort wieder abzutauchen. Mehrmals fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, zerrte das Hemd aus dem Bund und öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Dann langte er nach der Flasche Scotch, die auf dem Boden lag, nahm einen tiefen Schluck, verteilte danach einige Spritzer im Innern des Wagens und auf seinem Hemd. Schließlich bearbeitete er sein Gesicht mit beiden Händen, um die Durchblutung anzuregen, und ließ sich auf die Rückbank fallen. Obwohl er die Augen geschlossen hatte, bemerkte er den verminderten Lichteinfall, da jemand vor dem Volvo Position bezogen hatte. Die Tür hinter seinem Kopf wurde aufgerissen und eine Hand schlug ihm ins Gesicht. »Aussteigen!«
Wyatt blinzelte, brummte vor sich hin und versuchte betont schwerfällig, sich auf die Seite zu rollen. Er erkannte den vierschrötigen Beifahrer aus dem Saab.
Die Hand schlug noch einmal zu. »Na los, Mister, wird’s bald?«
Wyatt blickte ihn an und rappelte sich hoch, nicht ohne dem Dicken die Alkoholfahne ins Gesicht zu blasen. Der wich zurück und rief: »Du meine Güte! Also los, raus hier.«
»Hab ’n bisschen viel getankt«, lallte Wyatt, »lass mich doch schlafen.«
»Scheiße, von wegen«, sagte der Mann und langte mit seinem kräftigen Arm hinein.
Ein verschlagen-trunkener Ausdruck erschien auf Wyatts Gesicht. »Sie können einen nicht drankriegen, wenn man auf der Rückbank seinen Rausch ausschläft und die Schlüssel in der Tasche hat, oder?«
»Hör auf, mich zu verarschen. Keine Ahnung, für wen du arbeitest, aber richte ihnen aus, die Mesics stehen nicht zum Verkauf.«
»Was?« Wyatt blinzelte und runzelte die Stirn.
Der Dicke zog eine Grimasse. Die kurzen Haare auf dem geröteten Schädel standen ab wie dünne Holzspäne, und Wyatt konnte seine Ausdünstungen riechen, eine Mixtur aus Schweiß und Wut. Speicheltröpfchen flogen durch die Luft und landeten in Wyatts Gesicht, als der Mann anfing zu brüllen: »Sag deinem Boss, bei den Mesics wird umorganisiert. Wir kriechen nicht zu Kreuze, vor niemandem!«
Wyatt brabbelte, er wisse nicht, wovon überhaupt die Rede sei, und stieg aus. Vorgeblich unsicher auf den Beinen und leicht benebelt, äußerlich eher abstoßend — er passte so gar nicht nach Templestowe. Dem Dicken kamen langsam Zweifel. »Solltest du dich noch mal hier blicken lassen, landest du im Yarra!«
Mit einem gemurmelten »Halt mal den Ball flach« sank Wyatt auf den Fahrersitz des Volvo und versuchte zu starten. Als der Wagen endlich angesprungen war, legte er krachend den ersten Gang ein, fuhr mit aufjaulendem Motor vom Bordstein weg und steuerte auf die Straßenmitte zu. Geräuschvoll, ungelenk — Wyatt fuhr wie ein Betrunkener und hatte dabei nur einen Gedanken: Sollte im Lager der Mesics tatsächlich die Luft brennen, musste er seine Operation so schnell wie möglich durchführen.
ZWEI
Schweigend verfolgten sie, wie Leo Mesic erst den Volvo vertrieb, dann am Tor stand, bis der Wagen außer Sichtweite war, und sich schließlich die mit Kies bedeckte Auffahrt hochschleppte. Bax war nervös. Der Volvo auf der anderen Straßenseite war ihm bereits aufgefallen, als er den Capri abgestellt hatte, nur hatte er nicht mal in Erwägung gezogen, ihn unter die Lupe zu nehmen — einer von den Fehlern, die er sich absolut nicht leisten konnte. Als Bulle wäre er erledigt, sollten sich die Schnüffler von der Innenverwaltung an seine Fersen hängen. »Wer war das?«, fragte er.
Hochrot im Gesicht und außer Atem, stieß Leo hervor: »Entweder ein Besoffener oder einer, der nur so getan hat, als ob. Zehn zu eins, dass er nur so getan hat.«
»Es geht schon los«, bemerkte Stella Mesic mit bitterem Unterton. »Die Geier und Hyänen umkreisen uns bereits.«
Und wieder fuhren ihre Hände über Haare, Brüste, über die Vorderseite des Wickelrockes. Bax beobachtete sie dabei. Leos Frau und sein, Bax’, Knotenpunkt in Sachen Erotik. Er fragte sich, wie viel Berechnung in diesen narzisstischen Streifzügen lag. Ob Leo diese Marotte je bemerkt hatte? Er fragte sich ferner, ob es dem stämmigen Mann niemals zu denken gab, dass er ihn, Bax, mitunter antraf, wenn er nach Hause kam, so wie heute zum Beispiel. »Wir werden Schadensbegrenzung betreiben, Stel«, sagte er.
Er lächelte, als er dies sagte, denn er spürte, wie die Anspannung wich. Schließlich war es nur allzu logisch, dass man die Mesics aufs Korn nahm, nicht ihn. Logisch, dass Geier und Hyänen auf den Plan gerufen wurden, jetzt, wo der Alte tot und das Mesic-Imperium quasi zur Plünderung freigegeben war. Plötzlich meldete sich der dritte Mesic zu Wort. Ein Beben ging durch seine aufgetakelte Erscheinung, als er ausrief: »Bist du immer noch hier, Bax? Du hast doch deine Kohle bekommen, also schwing dich aufs Rad und zieh Leine.«
Am liebsten hätte Bax dem kleinen, herausgeputzten Arschloch eins aufs Maul gegeben. »Halt die Klappe, Vic.«
Victor baute sich vor ihm auf. »Ich komme aus den Staaten zurück und was finde ich vor? Eine Organisation in Auflösung, Typen, die Alleingänge unternehmen und eine Firma, die den Bach runtergeht, und ihr Schwachköpfe faselt was von Schadensbegrenzung!« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, eine Geste, die er, wie Bax annahm, aus den USA importiert hatte genau wie den Akzent.
Victors Stimme wurde lauter. »Vergesst eure Schadensbegrenzung. Ich hab euch gesagt, Schluss mit dem Autohandel, Schluss mit diesem Kinderkram.« Er hob die Hand wie zum Abschied. »Mach’s gut, Bax, für einen Cop haben wir keine Verwendung mehr.«
Bax’ Blick schweifte über das Gelände, über die beiden hässlichen Häuser, die dürren Büsche und vertrockneten Rasenflächen und er dachte an die fünf Hunderter pro Woche, an die er sich gewöhnt hatte. Zu Victor gewandt, sagte er: »Willst du meinen Rat, Kumpel? Konzentriert euch auf das, womit ihr bisher erfolgreich wart. Andernfalls tretet ihr nur gefährlichen Gegnern auf die Füße.«
»Du musst es ja wissen.«
Bax wusste es. Er sah erst Stella an und dann Leo und fragte sich, ob sie diesem Widerling etwa auf den Leim krochen. Während der letzten drei Jahre hatte Victor Mesic in den Vereinigten Staaten gelebt und von dort aus gestohlene Mustangs, Thunderbirds, Cadillacs und andere Klassiker nach Melbourne verfrachtet. Allerdings hatte er sich in jüngster Zeit vermehrt in Mobsterkreisen der Las-Vegas-Szene herumgetrieben, und nun, da er wegen der Beerdigung seines Vaters zurück in Melbourne war, wurde er nicht müde, sich großspurig über die verheißungsvolle Zukunft der Familie Mesic zu verbreiten.
Jetzt ergriff Stella die Initiative. Sie berührte ihren Schwager am Arm. »Hör auf ihn, Vic.«
Bax genoss es, sie dabei zu beobachten. Virtuos zog sie bei solchen Gelegenheiten alle Register, von heiß bis kalt, hatte so schon ihren Ehemann getäuscht und nun wartete Bax gespannt, wie Victor darauf reagierte.
Victor Mesic machte einen Satz nach hinten, als müsse er einem vorbeirasenden Radfahrer ausweichen. »Ich brauch keine Ratschläge von korrupten Bullen. Verpiss dich, Bax. Drück die Schulbank, mach deinen Senior Sergeant, versuch einfach, auf legalem Weg zu einer Gehaltserhöhung zu kommen. Hier wird sich nämlich eine Menge ändern.«
Bax starrte ihn an. Alte Ängste krochen hoch in ihm, hoch bis unter die Schädeldecke. Er war es gewohnt, für mehr als fünfhundert Dollar die Woche zu koksen und zu zocken, und er hatte einen Chef, der von ihm erwartete, dass er das durch den Tod des Alten ausgelöste Zerbröckeln des Mesic-Clans ausnutzte und die Autoschiebereien aufklärte. Bax war überzeugt, dass er nicht nur seine fünfhundert Kröten die Woche, sondern auch seine Machtposition sichern könnte, würde er Stella und Leo dabei unterstützen, die Mesics neu zu gruppieren. Auf die Art bekäme er weiterhin seine Informationen von ihnen, Namen von kleinen Ganoven, kriminellen Autoschlossern und von Autodieben, genug, um den Inspector ruhig zu stellen. Seit nunmehr fünf Jahren lief das so, seit der alte Mesic ihn rekrutiert hatte, und Bax hatte natürlich kein Interesse, dass sich daran etwas änderte. Er konnte es sich nicht leisten. Gestohlene Autos und Ersatzteile brachten viel Geld. Sollte Victor aber versuchen, die Familiengeschäfte in Richtung Casinos und Spielautomaten zu lenken, dann stünde nicht nur Bax im Regen, auch die Mesics wären nach gut sechs Monaten erledigt. Die Behörden waren instruiert worden, die neuen Casinos von Melbourne sauber zu halten, die Durchführung der Gesetze knallhart sicherzustellen. Die Mesics wären bereits am Ende, kaum dass sie den Wechsel vollzogen hätten, und Victors clevere Kumpel aus Las Vegas bräuchten nur noch die Beute einzusammeln.
»Dein Vater würde sich im Grab umdrehen«, sagte Bax.
»Mein Vater war nicht mehr auf der Höhe der Zeit«, erwiderte Victor.
Leo hatte sich bisher zurückgehalten. Doch nun bekam der jüngere Bruder sein Stichwort. »Was soll das heißen, nicht mehr auf der Höhe der Zeit? Wer hat das hier aufgebaut? Wer hat dich großgezogen, dich in die Staaten geschickt?« Seine Miene sprach von alten Wunden, die jetzt aufbrachen. »Ich ... ich bin doch nur so ’ne Art Manager und hab die ganze Arbeit am Hals, für nichts und wieder nichts.«
»Ich werde uns reich machen, Leo.«
Bax sah den beiden Streithähnen zu. Wie Stella berichtet hatte, enthielt das Testament des Alten komplizierte Verfügungen, durch die sein Lieblingssohn, Victor, mehr oder weniger die gesamte Kontrolle über die Finanzen erhielt. Und der redete nun von Veräußerungen, um an größere Mengen Bares zu kommen, die Sorte Kapital oder Vorschuss, die seine Las-Vegas-Connection einforderte, bevor man ihn in die neuen Casinos in Melbourne investieren ließ. Leo und Stella lagen sich deshalb mit ihm in den Haaren. So etwas sprach sich herum und erweckte den Eindruck, die Mesics seien angreifbar. Die Spatzen pfiffen es bereits von den Dächern: Die Mesics waren Geschichte. Wenn nicht gegnerische Organisationen ihnen zuvorkämen und sie einfach schluckten, würden sie sich über kurz oder lang selbst die Luft abdrehen. Irgendjemand hatte aus einem ihrer Unfallmechaniker eine lebende Fackel gemacht und der Leiter eines ihrer Autohöfe wurde durch einen Kugelhagel gejagt. Stella beklagte sich, dass sie und Leo kaum noch ausgehen konnten, ohne sich bedroht zu fühlen.
»Autodiebstahl«, sagte Victor verächtlich, »absolut armselig.«
Ein Anflug von Triumph zeigte sich auf Leos grobschlächtigem Gesicht. »Wir stehlen nicht, wir handeln. Daran ist nichts armselig.«
Victors Hand sauste wie ein Fallbeil durch die Luft. »Das ist Hühnerkacke und das weißt du genau«, rief er.
Bax ließ die beiden streiten. Ihm schenkten sie sowieso keine Beachtung mehr. Der Streit war so alt wie die Welt und er betraf auch ihn, doch er musste andere Wege gehen, um sich durchzusetzen.
An den Brüdern vorbei verhakte sich sein Blick mit dem Stellas. Für einen Augenblick verzichtete sie auf die Liebkosung ihrer Schenkel, lang genug, um knapp mit den Schultern zu zucken und ihn anzulächeln. Das war ihre Art, ihm zu signalisieren, dass sie ihn wollte, und zwar sofort.
DREI
Gewarnt durch den Zwischenfall vor dem Anwesen der Mesics und somit vorsichtig, stellte Wyatt den Volvo in der Collins Street ab. Er legte die Schlüssel unter den Vordersitz und rief den Autoverleih an, um ihnen eine Geschichte von einer defekten Benzinleitung aufzutischen. Dann suchte er einen Secondhandladen in der Elizabeth Street auf, zog die nach Alkohol stinkenden Klamotten aus und verließ — um vierzig Dollar ärmer — das Geschäft in einer billigen Gabardinehose und einem Navypullover. Auf dem Weg zu einem Taxistand unweit der Staatsbibliothek stopfte er die alten Sachen in eine Mülltonne. Mit den Worten »Zum Flughafen« stieg er in das erste Taxi.
Er lehnte sich zurück. Die nächsten neunzig Minuten würden öde. Es war wenig wahrscheinlich, dass der Arm der Mesics so weit reichte, um ihn schnell ausfindig zu machen, dennoch, einer von ihnen hatte sein Gesicht gesehen, und das allein genügte. Umsicht und Tarnung waren Bestandteile der Luft, die Wyatt atmete.
Am internationalen Terminal ließ er sich absetzen, ging durch bis zum Ansett-Schalter und nahm dann den Skybus zurück in die City. In der Spencer Street standen Taxis, doch er ging weiter bis zum Victoria Markt und erst dort winkte er ein freies Silver Top Taxi heran. »Box Hill«, sagte er.
Der Fahrer hatte die Brillantine-Frisur eines Altrockers und ein von zu viel Sonne, Glimmstängeln und Elvisträumen zerknittertes Gesicht. Er runzelte die Stirn, trommelte aufs Lenkrad und ging in Gedanken die Route durch. »Wohin genau?«
»Die Whitehorse Road entlang.«
»Alles klar.«
Es dauerte fünfunddreißig Minuten. Die erste Viertelstunde standen sie im Stau und schoben sich, Stoßstange an Stoßstange, von einer Ampel zur nächsten. Als sie das Zentrum hinter sich gelassen hatten, bestimmten hohe Hecken und rote Dachziegel die Umgebung; Wyatt sah propere Einfamilienhäuser, ordentliche Einzelhandelsgeschäfte und wusste, dass sie — ihn und das da draußen — Welten trennten. Am weißen Pferd vor dem Einkaufszentrum sagte er: »The Overlander«.
Das Taxi brachte ihn zu einem Motelkomplex aus den Siebzigern, der wie hingelümmelt in der Landschaft lag. Er befand sich in der Nähe des TAFE-College an der Whitehorse Road — Gebäude aus hellem Backstein, ausgestattet mit einem Restaurant, diversen Veranstaltungsräumen und einem Swimmingpool. Wyatt bezahlte das Taxi und ging hinein. Sein Zimmer ging auf einen Parkplatz im Innenhof. Die Örtlichkeit war mehr als geeignet. Wyatt plante seine Coups niemals in unmittelbarer Nachbarschaft der zukünftigen Ereignisorte.
Es war Montagabend, sechs Uhr. Er legte sich eine Stunde hin, duschte dann, zog sich an und machte sich auf den Weg ins Restaurant. Direkt neben dem Eingang befand sich ein Konferenzraum. Ein Hinweisschild hieß die Teilnehmer des ›Online-Computing‹ im Namen des Overlander willkommen und von drinnen war lautes Gelächter zu hören.
Er bat um einen Ecktisch und setzte sich so hin, dass er den Raum überblicken konnte: einige Männer ohne Begleitung, ein Ehepaar und eine Familie, die offensichtlich eine Geburtstagsfeier veranstaltete. Wyatt aß wenig und ließ sich Zeit für sein Glas Claret. Die Bedienung war irritiert. Sie schien interessiert, doch er blieb distanziert und höflich und bot ihr keinerlei Anlass zur Hoffnung.
Gegen halb neun verließ er das Restaurant. Nebenan, im Konferenzsaal, hielt jemand eine Rede. Wyatt überquerte den Parkplatz. Vor seiner Zimmertür überzeugte er sich davon, dass er nicht beobachtet wurde, kniete sich hin und untersuchte die Unterkante der Tür. Beim Verlassen des Zimmers hatte er einen Streifen Tesafilm auf die Tür und den Türrahmen geklebt, doch jetzt haftete der Streifen nur noch an der Tür. Wyatt stand auf, lauschte und tat so, als suche er in seinen Hosentaschen nach dem Schlüssel. Schließlich steckte er den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
Geräuschvoll und scheinbar ahnungslos betrat er das Zimmer und knipste das Licht an. Der Raum war klein und Wyatt sah sofort, dass niemand drinnen war, dennoch stimmte etwas nicht. Er wusste, hier war ein Profi am Werk gewesen, jemand, der keine greifbaren Spuren hinterlässt, allenfalls eine diffuse atmosphärische Veränderung. Möglicherweise waren die Mesics besser organisiert, als ursprünglich angenommen. Möglicherweise hatte jemand anders noch eine alte Rechnung mit ihm zu begleichen. Doch dieses Risiko stellte nun mal eine Konstante in Wyatts Leben dar.
Er zog sich um: schwarze Jeans, schwarze Kapuzenjacke und schwarze Laufschuhe. Da sie ihn nicht im Zimmer überfallen hatten, war anzunehmen, dass ihr Plan darauf hinauslief, erst den Raum zu inspizieren und sich Wyatt vorzunehmen, wenn auf dem Gelände der Betrieb auf nächtlicher Sparflamme köchelte. Gegen neun Uhr kletterte er aus dem Badezimmerfenster und schlich über den Hof hinüber zum Konferenzsaal. In der Dunkelheit des Parkplatzes wartete er. Gegen zehn Uhr verließen die ersten Vertreter und Manager leicht beschwipst das Gebäude; die Männer schlugen sich zum Abschied auf die Schulter, die Frauen verteilten echte oder nur gehauchte Küsse, je nachdem, ob es sich um ein männliches oder weibliches Gegenüber handelte.
Wyatt sah sie in ihre Wagen steigen und davonfahren. Bis zuletzt war er sich nicht sicher, ob seine Idee funktionieren würde. Doch als nur noch ein Wagen dastand und der Fahrer schwankend nach seinem Schlüssel kramte, war er bereit.
Nacheinander versuchte der Mann mehrere Schlüssel und starrte immer wieder entgeistert auf sein Schlüsselbund. Dann gab er auf, legte beide Arme auf das Autodach und ließ seinen kahlen Schädel auf die Arme sinken. Wyatt hörte ein paar erstickte Laute. Der Typ lachte.
»Tut mir Leid, Kumpel«, murmelte Wyatt und ging auf den Mann zu.
In diesem Moment sank der Typ zu Boden und fing an zu schnarchen. Gleichmäßig und laut. Wyatt steckte seine Waffe weg. Er nahm dem Mann die Schlüssel aus der zur Faust geballten Hand und schleifte ihn in die Büsche. Für einen Augenblick hörte das Schnarchen auf, um sofort von neuem zu beginnen.
Wyatt wartete. Das Schnarchen könnte Aufmerksamkeit erregen. Soll das arme Schwein seinen Rausch doch im Auto ausschlafen, dachte er sich. Er schloss die hintere Tür auf, zog den Kahlkopf wieder aus den Büschen und bugsierte ihn auf den Boden zwischen Vordersitz und Rückbank. Dann setzte er sich ans Steuer und ließ den Motor an. Das Schnarchen hinter ihm hatte jetzt einen gewissen Rhythmus.
Vom Parkplatz aus bog Wyatt in die Whitehorse Road ein. An der Kreuzung Station Street/Whitehorse Road machte er einen U-Turn und fuhr zurück zum Motel. Diesmal steuerte er den Wagen zum Parkplatz der Motelgäste und fand eine Parklücke direkt an der Ausfahrt zur Straße. Er kletterte auf den Rücksitz und platzierte einen Fuß auf den Brustkorb des Kahlkopfes. Sanft verlagerte er sein Gewicht auf diesen Fuß und das Schnarchen hörte auf. Fünf Minuten später setzte es wieder ein und Wyatt verstärkte den Druck erneut.
Der Fond des Wagens war dunkel und geräumig. Wyatt beobachtete und wartete. Er hatte seine Zimmertür im Visier. Sollten sie auftauchen, würden sie ihn nicht sehen. Der Kahlkopf regte sich und murmelte vor sich hin, wurde aber nicht wach.
Die Zeit verstrich. Ob schnell oder langsam, diese Frage stellte sich Wyatt nicht. Warten gehörte zu seinem Alltag. Es war unvermeidlich.
Nicht einer der zahlreichen Wagen, die auf den Parkplatz fuhren oder ihn verließen, kitzelte Wyatts Interesse. Doch dann, vier Minuten nach elf, wurde sein Interesse geweckt. Ein Laser mit getönten Scheiben bog von der Straße ein, ohne Licht und im Schritt-Tempo fuhr er einmal das gesamte Gelände ab, rollte anschließend über den Hof und blieb in unmittelbarer Nähe von Wyatts Zimmer stehen. Wyatt wartete. Einige Minuten lang geschah nichts. Dann eine kaum wahrnehmbare Regung: Die Fahrertür öffnete sich einen Spalt. Wyatt dachte, dass nun die Innenbeleuchtung des Wagens angehen müsse, doch alles blieb dunkel. Sie hatten einen Profi geschickt. Er wartete weiter.
Es war eine Frau. Im Nu war sie aus dem Laser geschlüpft und stand, dicht an die Wand gepresst, neben seiner Zimmertür. Sie trug enge schwarze Jeans und ein T-Shirt. In der Hand hielt sie eine Waffe mit Schalldämpfer.
Fragmente einer Erinnerung setzten sich nach und nach zu einem Bild zusammen, zu dem Bild einer schlanken, schwarzen weiblichen Gestalt. Vor etwa zehn Monaten wurde er von einem Mann, mit dem er hin und wieder zusammengearbeitet hatte, an eine kriminelle Clique aus Sydney verraten, auch das Syndikat genannt. Der Killer, den sie dann auf ihn angesetzt hatten, war eine Frau. Eben diese Frau. Seinerzeit konnte Wyatt ihr entkommen, doch er gab sich keinen Illusionen hin, sie verstand ihr Handwerk und würde ihm auf der Spur bleiben.
Sie steckte einen Schlüssel ins Schloss und war drinnen. Wyatt wartete. Hinter den geschlossenen Vorhängen zeigte sich kein Licht. Nicht dass er mit dergleichen gerechnet hätte, sie war professionell genug und würde wohl kaum eine Taschenlampe benutzen.
Nur wenige Sekunden später verließ sie das Zimmer, in Eile und verstört, und stieg sofort in ihren Wagen. Der Laser spuckte, als sie ihn anließ, dann setzte er zurück und brauste mit quietschenden Reifen davon.
Wyatt glaubte nicht an einen zweiten Schützen und verließ sein Versteck. Mit großen Schritten ging er hinüber zu seinem Zimmer. Die Tür war offen. Er schlüpfte hinein und machte das Licht an. Der Pulvergeruch hing noch in der Luft, dann sah er die Einschusslöcher. Sie hatte ein halbes Dutzend Schüsse auf die Bettdecke abgegeben, unter der er die Kissen zu einer Körperform arrangiert hatte. Dann hatte sie den Trick durchschaut und war geflohen.
Zumindest war sicher, dass die Mesics damit nichts zu tun hatten. Doch gleichzeitig bedeutete es, dass das Syndikat noch immer hinter ihm her war. In der Vergangenheit hatte er ihnen einigen Ärger beschert und es sah so aus, als wollten sie ihn partout daran erinnern. Wyatt spürte, wie die Wut in ihm erwachte. Das geschah so plötzlich und heftig, dass er für einen Augenblick wie mit Blindheit geschlagen war. Nichts lief mehr glatt und ohne Komplikationen ab. Alle wollten ihm ans Leder.
Kurz darauf zog er sich um und packte seine Sachen. Er beseitigte alle Fingerabdrücke und ging zum Wagen des Kahlkopfes. Zeit, sich ein anderes Schlupfloch zu suchen.
VIER
Die Anfangsphase eines jeden Coups war geprägt von einer Reihe offener Fragen. Bis sich geklärt hatte, ob der Hintergrund stimmig, die Sache also tatsächlich zu realisieren war, und bis er ein geeignetes Team zusammengestellt hatte, musste Wyatt regelmäßig einige hundert Dollar investieren und diverse Schlupflöcher klarmachen für den Fall, dass die Sache nicht reibungslos ablief. Neben dem Overlander hatte er auch Zimmer in einem Hotel und in einem Hostel angemietet und im Voraus bezahlt.
Das Hotel befand sich nahe der Universität in Parkville und hatte eine Fassade aus weißen Marmorplatten und getönten Glasscheiben, die in der Art eines Schachbretts angeordnet waren. Der Name ›London Hotel‹ zog sich als schwungvoller Schriftzug in roten Neonbuchstaben über die Vorderfront. Als Wyatt gegen Mitternacht das Hotel betrat, war die Empfangshalle menschenleer. Schnurstracks ging er Richtung Treppe und lenkte so die Aufmerksamkeit des Nachtportiers auf sich.
Ein schmächtiger, blasser Typ mit roten, aufgeworfenen Lippen, der Wyatt mit einem feuchten Lächeln bedachte. Der wiederum reagierte mit einem abschätzigen Grinsen und der Portier senkte den Blick. Wyatt ging die Treppen hoch, checkte instinktiv den Korridor und betrat sein Zimmer. Der Raum wies nichts Ungewöhnliches auf.
Er streckte sich auf dem Bett aus. Sorgen, diese ungebetenen Gäste, suchten ihn heim und er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was stimmte nicht mit ihm, mit seinem Schlag gegen die Mesics? Wo war der Haken? Der Reihe nach unterwarf er die kritischen Punkte einer Analyse. Erstens: Bisher war immer der Ertrag das bestimmende Motiv seines Handelns gewesen. Diesmal jedoch hatten sich zusätzlich Rachegedanken Einlass verschafft. Zweitens: Solange das Syndikat noch hinter ihm her war, konnte er die ›Operation Mesic‹ vergessen — er musste also einen Weg finden, damit das Syndikat von ihm abließ. Drittens: Das bewährte Koordinatensystem, in dem er sich bisher bewegt hatte, war nun verschoben. Er war vierzig und die Hälfte seines Lebens hatte er damit zugebracht, Geld aufzuspüren und ein entsprechendes Unternehmen zu organisieren, um es zu holen. Er hatte klein angefangen, sich zunehmend vervollkommnet, um mit ungefähr dreißig dann ehrgeizigere Vorhaben anzupacken — Banken, Lohngelder, Goldvorräte.
Während der letzten zehn Jahre hatte er nie mehr als drei oder vier Projekte im Jahr in Angriff genommen, dazwischen immer Phasen der Regeneration. Von nennenswerten Bindungen konnte in seinem Fall keine Rede sein, und wenn er nicht arbeitete, fühlte er sich entspannt und neigte dazu, die angenehmen Seiten seiner Mitmenschen aufzuspüren, nicht die Schwächen und Abgründe ihrer Charaktere. Doch das war Vergangenheit. Er war pleite und nirgendwo mehr sicher.
Nicht zum ersten Mal musste er wieder bei null anfangen, doch aus irgendwelchen Gründen stellte er seit neuestem langfristige Überlegungen an. Wollte er für den Rest seines Lebens so weitermachen? Würde seine Courage ihm treu bleiben? Wenn er aufhörte zu arbeiten (ein Ende durch Festnahme, Verletzung oder Tod fand keine Berücksichtigung in seinen Erwägungen), besäße er dann ein hinreichend dickes finanzielles Polster für ein angenehmes Leben? Er schüttelte den Kopf. Ich unterscheide mich nicht im Geringsten von anderen Männern meines Alters, dachte er, mache mir Gedanken über die Jahre bis zum Ruhestand, bis zum Tod.
***
Am nächsten Morgen schlüpfte er in eine dunkle Hose und zog ein Hemd an. Er entschied sich für eine Windbreaker-Jacke und gegen einen Mantel — damit blieb man nur hängen, an Türklinken, Zäunen oder Ästen. Bevor er die .38er in der Innentasche verstaute, kämmte er sich das nasse Haar zurück. Das hatte den Effekt, sein Gesicht noch hagerer wirken zu lassen.
Gegen neun Uhr verließ er das Hotel. Ständig auf der Hut vor möglichen Verfolgern, überquerte er die Whitehorse Road und steuerte das Universitätsgelände an. Die Studenten machten alle einen satten Eindruck und kamen ihm unglaublich jung vor. Statt miteinander zu reden, brüllten sie, und sollten sie dieses Gelände eines Tages verlassen, dann vermutlich in der Überzeugung, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, ungeachtet der Tatsache, dass sie von nichts eine Ahnung hatten. Wyatt erreichte das Areal, das an die Swanston Street grenzte, und ging weiter bis zu einer Haltestelle in der Nähe von ›Jimmy Watson’s wine bar‹ an der Lygon Street. Noch einmal vergewisserte er sich, dass ihm niemand folgte. Er sah die Straße hinunter, warf einen Blick auf seine Uhr, runzelte die Stirn und studierte den Fahrplan. Fröstelnd zog er die Schultern hoch, machte den Reißverschluss seiner Jacke zu und betrachtete missmutig die tief hängenden Wolken, die vom Meer her über die Stadt zogen. Ein ganz normaler Mann an einer belebten Straße, der sich nur für das Wetter und die Ankunftszeit seines Busses interessierte.
Kurz darauf kam der Bus Richtung Kew und Wyatt stieg ein. Als der Bus die Hoddle Street überquert hatte, drückte Wyatt den Signalknopf, um an einer Haltestelle unter den Hochbahngleisen in Abbotsford auszusteigen. Vier weitere Fahrgäste hatten dasselbe vor. Er ließ ihnen den Vortritt. Ein Automatismus.
Sein Ziel war das Geflecht der engen Seitenstraßen mit seinen kleinen Schuhmanufakturen und dicht an dicht stehenden Weatherboard-Häusern, vor denen griechische Frauen die Betonböden mit Wasser abspritzten.
Das ›Wheatsheaf‹ war seit seinem letzten Besuch gründlich renoviert worden. Hellblaue Markisen über Türen und Fenstern, ein Schild, das ›Bistro‹ verkündete und Blumenkästen mit Geranien. Wyatt betrat das Lokal. Drinnen saßen zwei Gäste. Beide trugen Mützen nach Art der bretonischen Fischer, mit Nieten besetzte Gürtel, Bikerboots und Lederjacken. Der Typ hinter der Bar war nur mit einer Lederhose bekleidet, doch er hatte sich zusätzlich für knallrote Hosenträger entschieden, die seine Bizeps und die Solariumbräune betonten. Sein kahl rasierter Schädel und sein Ohrring schimmerten im Licht um die Wette. Wyatt ignorierte die aufgeladene Atmosphäre ebenso wie die verspielte Wandbemalung und den neuen Teppichboden. Er bestellte ein Bier, nahm es mit zu einem Tisch am Fenster, von dem aus er Rossiters Haus gut überblicken konnte, setzte sich und wartete.
Früher war Rossiter ein kleiner Ganove gewesen, spezialisiert auf Überfälle. Aus dieser Sparte hatte er sich jedoch zurückgezogen und agierte jetzt als Mittelsmann und Geldkurier bei kriminellen Transaktionen. Niemand kannte die Szene besser als er. Der ideale Kontaktmann. Vor gut einem Jahr hatte Wyatt noch von der Mornington-Halbinsel aus operiert, von seiner abgelegenen Farm, seinem Refugium zwischen zwei Jobs, für die Rossiter Informationen lieferte und Leute vermittelte. Wer auch immer Wyatts Dienste in Anspruch nehmen wollte, wandte sich an Rossiter, der die Anfrage an Wyatt weiterleitete. Es war ein mehr als angenehmes Leben, das sich nachhaltig ändern sollte, als ein von Rachsucht getriebener Loser namens Sugarfoot Younger Rossiter zwang, Wyatts Aufenthaltsort preiszugeben. Zwar war es Wyatt gelungen, die Bedrohung durch Sugarfoot auszuschalten, im Gegenzug musste er jedoch die Farm verlassen. Es gab kein Zurück mehr für ihn und das bedeutete einen der herberen Rückschläge in seinem Leben.
Doch jetzt musste er noch einmal auf Rossiter zurückgreifen. Allerdings hatte Sugarfoot den alten Gauner seinerzeit schwer misshandelt und es war davon auszugehen, dass Rossiter Wyatt dafür verantwortlich machte. Deshalb wollte der sich zuallererst einen Überblick verschaffen, ein Gefühl für den Ort bekommen, bevor er hineinging. Es war ein Backsteinhaus inmitten kleinerer Weatherboard-Häuser. Von den Türen und Fensterrahmen blätterte der Lack. An einer Seite bot ein Halbdach einem abgewrackten Valiant und einem VW Unterstand. Der Rasen des Vorgartens hätte dringend gemäht werden müssen und vertrocknete Blumen und Gestrüpp hielten die Steine in fester Umklammerung, die den Weg zur Eingangstür markierten. Der Vorgarten wurde durch eine stümperhaft hochgezogene kleine Backsteinmauer von der holperigen Straße abgegrenzt. Das Gartentor war nicht nur verbogen und hing schief in den Angeln, es steckte auch im hohen Gras fest.
Wyatt nippte an seinem Bier. Vierzig Minuten lang. Er beobachtete, wie ein kleiner grauer Terrier sein Bein an der Mauer hob und ein Spatz das Seine dazu beitrug, dass der zerbröckelnde, schlierige Gips einer Aborigine-Statue in Rossiters Vorgarten nicht ansehnlicher wurde. Ansonsten gab es nichts zu beobachten. Bis ein magerer, bleicher Jugendlicher den Gehweg entlanggestiefelt kam, einen Hund an der Leine. Der Junge war tätowiert und trug die Uniform der ›Action Front‹, enge schwarze Jeans und ein T-Shirt, Doc Martens und einen Bürstenschnitt. Am fliehenden Kinn, den Flatterohren und den unregelmäßigen Gesichtszügen erkannte Wyatt Rossiters Sohn, Niall. Der Pitbull hielt den Kopf gesenkt, schnüffelte ohne Unterlass und je näher sie dem Haus kamen, desto stärker zog er an seiner Leine. Plötzlich blieben Herr und Hund wie angewurzelt stehen. Sie hatten den grauen Terrier entdeckt. Blitzschnell drehte Niall sich um, einen listigen, gemeinen Ausdruck im Gesicht.