Wintersommer - Michael Vogtmann - E-Book

Wintersommer E-Book

Michael Vogtmann

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Beschreibung

Keiner wusste es besser als Shakespeare, dessen Klassiker »Romeo und Julia« in dem unterfränkischen Dorf Sommerhausen aufgeführt werden soll. Friedrich Fichte, ein junger Lehrer, hat sich das Ziel gesetzt, die feindseligen Dörfer Winterhausen und Sommerhausen einander näherzubringen. Mit viel Aufwand stellt er daher eine Theatergruppe mit Schülern aus beiden Ortschaften zusammen. Er hat alle Hände voll zu tun mit seiner pubertären Akteursschar, der er nicht nur die Flausen, sondern auch den Dialekt austreiben muss. Schließlich steht der große Abend bevor. Doch eine Sache ist bei der Premiere anders als bei den vielen Proben: Julia wacht nicht mehr auf...

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Michael Vogtmann, geboren 1952 in Straubing und aufgewachsen bei Würzburg, absolvierte eine Schauspielausbildung an der Falckenbergschule in München. Er hat Engagements an zahlreichen Theatern und Schauspielhäusern. Außerdem wirkt er in vielen Fernsehsendungen und -serien mit (u. a. »Um Himmels Willen«, »Der Bulle von Tölz«, »Polizeiruf 110«). Er lebt und arbeitet als freier Schauspieler, Regisseur und Autor in München und auf Mallorca.

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm: www.allitera.de
Originalausabe Mai 2016 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2016 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Johanna Conrad, Augsburg unter Verwendung eines Bilds von © carölchen / photocase.de Printed in Europe E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH ISBN print 978-3-86906-838-1 ISBN epub 978-3-86906-897-8 ISBN PDF 978-3-86906-898-5

PRÄLUDIUM

Der Geruch hat sich in seine Seele gefräst.

Es sind nicht die bizarren Bilder von schwarzroten Blutspritzern auf weißem, durchsichtigem Chiffon.

Es ist nicht das Bild von grauer Hirnmasse auf schmutzigbraunen Bühnenplanken.

Nein! Es ist dieser Geruch.

Der Geruch nach dem Schuss. Der Geruch des Todes.

Der Geruch der Hölle.

Die Welt ist zerfetzt von einem grauenhaften Unfall.

Unfall? Das war Absicht! Das war Mord!

»Die Lerche war’s, die Tagverkünderin«

Vor der Generalprobe

Es ist der 31. Mai 1974. Nachmittag. Einer dieser goldenen Frühsommertage im Fränkischen, die Friedrich Fichte so sehr liebt.

Der sanfte Wind wie Samt, die Apfelbäume in der späten Blüte, der leicht modrige Geruch vom Fluss.

Er fährt langsam. Er will diese Stimmung in vollen Zügen genießen. Die Handbremse quietscht, das Vorderrad hat einen Achter und die Felge klackert am Schutzblech, doch Fritz hängt an seinem alten Fahrrad. Dies und die unverwüstliche Armbanduhr, das sind die einzigen Dinge, die er von seinem Vater, der gegen Ende des Kriegs als Deserteur erschossen wurde, geerbt hat.

Fritz ist auf dem Weg in das unterfränkische Dorf Winterhausen zur Generalprobe seines Theaterstücks »Romeo und Julia«.

Die Gedanken überschlagen sich in seinem nervösen Kopf, denn es gibt viele Unwägbarkeiten so kurz vor der Premiere.

Die Verantwortung für das gewagte Unternehmen liegt allein bei ihm. Er hat das Stück ausgesucht, hat eine eigene Fassung erarbeitet, hat alles inszeniert und spielt selbst mit.

Er ist früh dran, ihm bleibt noch viel Zeit bis zur Probe, also kann er kurz verschnaufen, noch einmal durchatmen. Er muss sich beruhigen, bevor ihn der Irrsinn dieser ungewöhnlich ehrgeizigen Theaterarbeit einholt.

Mühsam steigt er vom Fahrrad. Seine Hüfte schmerzt wieder. Er windet sich durch das stachelige Gebüsch und versteckt das Rad unter einem ausladenden Weißdornbusch, damit man es von der Straße aus nicht sehen kann. Bald werden die ersten Mitstreiter seiner Theatertruppe vorbeifahren und er möchte ungestört sein.

Er zieht ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche, breitet es auf dem Gras aus und setzt sich vorsichtig nieder.

Es ist windstill.

Eine Hummel, vollgesogen mit Nektar, fliegt auf ihn zu und dreht taumelnd kurz vor seiner Stirn ab. Er muss lächeln. Der warme Brummton des Insekts wirkt wie ein Schalter in seinem Kopf. Seine Anspannung löst sich langsam auf.

Jetzt endlich fängt er an, sich wirklich auf die Generalprobe für »Romeo und Julia« zu freuen. Jetzt endlich kann er sich eingestehen, dass sich die selbst auferlegte Herkulesaufgabe gelohnt hat. Seine Mission, mit einem Theaterstück die Versöhnung zweier zerstrittener Dörfer auf den Weg zu bringen, steht offenbar vor einem erfolgreichen Ende.

Lange Zeit war er sich seiner Sache unsicher gewesen. Oft hatten die Zweifel überwogen, ob es sinnvoll ist, der Mühen wert, mit Laienschauspielern aus zwei verfeindeten Dörfern ein gemeinsames Theaterstück zu erarbeiten.

Er reckt sein schmales, langes Gesicht mit den tief liegenden grünen Augen und der römisch scharfen Nase der Sonne entgegen. Mit Behagen spürt er ihre Wärme.

Seine Haut ist blass, unter den Augen liegen dunkle Ringe. Er sieht älter aus, als es seine neunundzwanzig Jahre ahnen lassen.

Das Brummen der Hummeln, die sich an dem Blütenmeer um ihn herum bedienen, wirkt auf ihn mehr und mehr wie ein Betäubungsmittel. Er legt sich auf den Boden und schließt die Augen.

*

Beim Wegdämmern kommt die Erinnerung an die allererste Probe im November letzten Jahres, die sich schnell zu einem Desaster entwickelt hatte. Fritz hatte sich unbeschreiblich auf die erste Probe gefreut und dann kam aus heiterem Himmel der Knall:

Die pubertäre, anmaßende Stimme vom sechzehnjährigen Erich Lux, den er für die Rolle des Romeo ausgewählt hatte, wird ihn noch in seinen Albträumen verfolgen: »Des müssns mir aber schon mal erklärn, Herr Fichte, wieso die Julia sich am Schluss von dem Stück auch noch umbringt und wieso der Romeo so doof ist und nicht merkt, dass die nicht tot ist, und außerdem, bei dem Schmarrn blickt doch keine Sau durch, wer da jetzt wen umbringt und warum …«

Erich! Sein Romeo!

»Mein Vater sagt, dass des alles ganz furchtbar an den Haaren herbeigezogen ist. Auch wenns von dem heiligen Herrn Shakespeare is. Und ich muss des scho mal fragn dürfn, gell! Wieso wird die Julia von der Hartmann aus Sommerhausen gspielt? Wir haben in Winterhausen auch Mädle die des spieln könn, und besser! Hundertpro! Da brauchts ned so eine blasse Gans wie die da …«

Im Laufe der Proben hatte Fritz es oft bedauert, dass er so sehr um Erichs Mitwirkung gekämpft hatte. Wie sich herausstellte, war dieser nur schwer zu bändigen in seiner Eitelkeit und seinem aggressiven Drang zur Selbstdarstellung, und vor allem attackierte er anfänglich immer wieder auf gemeine Art und Weise Rosie, die die Julia spielt.

Der Hauptgrund für Fritz’ Festhalten an Erich war dessen erstaunliche schauspielerische Begabung. Ein Naturtalent, ein theatralisches Überfallkommando. Wenn Erich bei den Proben auf der Bühne stand und alles um sich herum vergaß, wenn er sich ernsthaft auf das Spielen konzentrierte, dann war Fritz jedes Mal hingerissen gewesen von dessen Ausstrahlung.

Erich geht beim örtlichen Steinmetzbetrieb in die Lehre. Er ist die auffälligste Erscheinung unter den Jugendlichen im Dorf. Ein für einen Sechzehnjährigen stark entwickelter, muskulöser Körper, schwarze, kräftige Haare bis zur Schulter, freche Kohleaugen, die unter Augenbrauen wie breite Kohlestriche hervorblitzen. Seine Körperhaltung ist die eines römischen Kampfhundes, ständig wittert er nach vorne, selten ist er entspannt. Schnell im Denken und schnell im Reagieren. Er raucht viel und er raucht überall, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen.

Fritz war von ihm außerordentlich fasziniert gewesen, als er bei einem Sommerfest auf dem Rathausplatz ein selbst geschriebenes Gedicht mit dem Titel »Was macht Wein mit Stein?« über sein Leben als Steinmetzlehrling vorgetragen – ach was, vorgespielt hatte. So kam bei Fritz die Idee auf, die Rolle des Romeo mit Erich zu besetzen. Er behielt den Jungen im Auge und erkundigte sich über ihn bei Michi Schauer, der so etwas wie der heimliche Bürgermeister im Dorf ist.

*

Es ist nun ein Jahr her, dass Michi ihm im Sportlervereinsheim von Winterhausen die Geschichte von Erich erzählt hat.

»Sein Vater is gar ned sein Vater. Also des is ned amtlich, aber schauens ihn doch an, der sieht aus wie ein Italiener. Jetzt trinkns noch a Viertele, Herr Fichte, auf einem Bein steht man schlecht.«

»Ja, gern.« Fritz war in einer Zwickmühle, einerseits durfte er sich als neuer Lehrer nicht betrunken zeigen, andererseits hatte er große Mühe, seinen Drang auf Alkohol und vor allem seine Lust auf diesen herrlichen Wein einzuschränken.

»Wer ist dann der Vater?«

»Na ja, ich will ja nix Falsches sagn, aber des war schon auffällig damals, wie die Hannelore, die Mutter vom Erich, in Sommerhausen gearbeitet hat in dem kleinen Theater dort. Und da war der Boccacci, ein Italiener, der Theaterdirektor, der wo letztes Jahr gstorben is. Und sie, die war total hin und weg von dem Kerl. Die war sozusagen Mädchen für alles. Für alles! Verstanden, Herr Lehrer? «

»Ja, Ja, Herr Schauer, bin ja nicht blöd.«

Das laute, meckernde Lachen von Michi füllte den Raum.

»Nein, nein, blöd sind Sie ganz bestimmt nicht, aber wissen Sie denn überhaupt, wie des geht zwischen Mann und Frau, Herr Fichte?« Das Wort »Frau« betonte er sehr stark.

Da war dem unangenehm überraschten Fritz gegen seinen Willen der Satz herausgerutscht: »Mensch, Michi, immer dieses steife ›Herr Fichte‹, wollen wir uns nicht duzen?«

Es war geschehen. Dabei hält Fritz gern Distanz zu seinen Mitmenschen. Dazu gehört für ihn auch, dass er nur mit wenigen per Du ist. Und jetzt duzte er sich mit Michi Schauer, der mit Vergnügen bei anderen neugierig über den Zaun blickt, am liebsten bis ins Schlafzimmer.

»Dann brauchen wir aber noch ein Viertele, Fritz!«

Sie umarmten sich und Michi gab Fritz einen feuchten Kuss mitten auf den Mund. In der Kneipe wurde es plötzlich still und alle blickten unverschämt neugierig zu den beiden rüber. Fritz wäre vor Scham am liebsten unter den klebrigen Linoleumboden gekrochen.

Michi fuhr sich grinsend durch seine langen braunen Haare, die zottelig sein breites Gesicht mit der dominanten Nase umrahmten. Die Kugelwampe gab seinem großen Körper etwas überirdisch Gewaltiges. Allerdings schmälerten die dünnen, stangenartigen Beine diesen Eindruck wieder.

Michi Schauer ist sehr beliebt im Dorf, denn er ist eine seltene Mischung aus Klassenclown und seriösem Anwalt. Er hat für alle ein offenes Ohr und ist äußerst eloquent, obwohl er permanent darauf hinweist, wie ungebildet er doch ist.

Er ist mit Bettina verheiratet, der reichen Tochter des Steinwerkbesitzers Hinterwald, und so kann er es sich leisten, seinen Pflichten als Gemeindearchivar eher gemächlich nachzukommen und sich seiner Plattensammlung zu widmen. Er hört Tag und Nacht Rockmusik, vor allem die Rolling Stones.

»Also der Erich, der muss das Talent von seinem italienischen Vater geerbt haben. Wie der das Gedicht re… reti… Wie heißt das?«

»Rezitiert?«

»Ich glaub aber ned, dass der falsche Vater, der Lux Georg, dem Erich erlaubt, dass der in deinem Theaterstück mitspielt …«

»Wieso denn nicht? Der Erich ist der geborene Romeo.«

»Ach, Fritz, ich weiß nicht, ob du wirklich so naiv bist oder bloß so tust. Das ist nämlich so, der Georg, also der falsche Vater vom Erich, der schimpft und stänkert über alles, was aus Sommerhausen kommt.«

»Aber seine Frau hat doch dort gearbeitet, oder?«

Wieder das brüllende Gelächter von Michi.

»Mensch, dadrum gehts doch! Horch zu, es wird a bissle kompliziert. Der Georg, oder besser der Schorsch, is ein höheres Tier bei der Sparkasse in Würzburg und weil er mit Geld umgehn kann, war er immer auch der Kassenwart vom Fußballverein. Und vor ein paar Jahren hab ich ein Versöhnungsspiel organisiert. Zuerst sollte bei uns herüben gspielt werden und dann drüben in Sommerhausen, und …«

»Was, ihr habt schon mal so eine Versöhnungsinitiative versucht? Das wusste ich gar nicht. Was ist draus geworden?«

»Totale Scheiße! Des Spiel is abgebrochen worden, fast hätts Tote gegeben. Dann hat sich rausgestellt, dass der Schorsch von den Einnahmen für sich was abgezweigt hat und schließlich kommt raus, dass der das öfter gmacht hat und warum? Für was? Rat mal!«

»Komm, Mann, spann mich nicht auf die Folter!«

»Magst einen Willi, Fritz, einen doppelten? Komm, sei nicht feig!«

»Okay. Erzähl weiter!«

»Also, des war so: Der Schorsch hat Geld gebraucht für …«

Michi prustete explosionsartig los, er klang wie ein Dampfhammer: »Für’n Puff! Der is immer wieder nach Frankfurt zu einer … einer …« Michi bekam kaum noch Luft vor Lachen. »… zu einer Fortbildung für hö-hö-höhere Sparkassenangestellte … im Puff, Fritz, im Puff!!!«

Mühsam beruhigte er sich wieder.

»Und da hat er sich eine Zeit lang im Dorf kaum noch sehn lass könn. Jetzt rechne mal eins und eins zusammen. Da gibt’s das ach so schöne sonnige Sommerhausen mit seinem ach so schönen italienischen Theaterdirektor, der dem Schorsch seiner Frau, der schönen Hannelore, aus dem schattigen, hässlichen Winterhausen, ein Kind macht mit schöne schwarze Haar und schöne schwarze Augen. Zum einen hat der Schorsch jetzt einen Bangert aus Sommerhausen am Hals! Und er muss so tun, als wär des sein eigenes Kind. Aber alle wissen, was los is und jeder kennt die Gschichte. Und zum andern gibts die Schande mit dem veruntreuten Geld, aufgedeckt auch noch von denen auf der anderen Mainseite. Du glaubst doch ned, dass der Schorsch in der Geldgschichte Einsicht gezeigt hat und gesagt hätte, tut mir leid, ich habe einen Fehler gmacht. Bei seiner Sparkasse haben sie alles vertuscht, weil sie ihn gebraucht haben. Und hier im Dorf hat der Rainer Haas, unser Bürgermeister, den Schorsch dazu gebracht, dass er dem Verein was zurückgezahlt hat. Schwamm drüber, jetzt wird einfach nimmer drüber geredet … bei uns in Winterhausen. Aber die Sommerhäuser sticheln immer wieder und machen blöde Bemerkungen. Die einzige Lehre, die der Schorsch aus dem Ganzen gezogen hat, ist die, dass Sommerhausen an allem schuld ist. Und die Wut, die hat er an seinen Erich weitergegeben.«

»Aber der Erich … der ist eigentlich ganz in Ordnung, oder?«

»Na ja, Fritz, der spinnt schon ganz schön ab und zu. Manchmal zieht er durchs Dorf und tut so, als wär er der Größte, als wär er erwachsen. Dann versteckt er sich wieder in der Bierhöhle draußen auf der Höhe und is tagelang ned zu sehen. Irgendwoher hat er sich den Schlüssel besorgt, damit sperrt er seine Höhle ab und lässt niemand rein.«

»Was für eine Bierhöhle?«

Auf seinen Unterarmen bildete sich Gänsehaut. Es fröstelte ihn bei dem Gedanken an einen beengten, dunklen Raum.

»Oben hinter den Steinbrüchen liegt ganz versteckt eine Höhle, wo früher des Bier gelagert worden is, weils da kühl war. Die is aber schwer zu finden und der Eingang ist inzwischen kaum zugänglich … Was ist denn, ist dir nicht gut?«

»Ich … ich hab … nein, alles in Ordnung, ich glaub, ich hab zu viel getrunken.«

Er würde jetzt ganz bestimmt nicht von seiner Klaustrophobie erzählen.

Michi schaute ihn prüfend an und fuhr zögerlich fort. »… na ja, und da versteckt sich der Erich immer wieder. So, und jetzt sei nicht feig, nimm noch einen. One for the road.«

*

Diese erste desaströse Probe vor sieben Monaten stürzte den Zweifler und Zauderer Fritz in eine tiefe Krise. Denn es sah so aus, als ob das Projekt schon am ersten Tag platzen würde.

Michi war empört über Erichs impertinente Attacke auf Rosie und das Stück und blaffte ihn an: »Du bist ein selten blöder Aff. Wir haben alle gemeinsam beschlossen, dass wir des Stück machn wolln. Wir Winterhäuser und Sommerhäuser wolln das gemeinsam machen! Und du hast eingwilligt. Pass bloß auf, dass du ned gleich wieder rausfliegst. Und jetzt halt dein Maul und lies deine Rolle, aber richtig …!«

Mit jedem Satz wurde Erich kleiner, denn Michi war einer der wenigen Menschen, vor denen er Respekt hatte.

»… und wenn du blöder Hund die Rosie noch mal blöd anmachst, dann kriegst es endgültig mit mir zu tun, du blöder Hund, du blöder!« Das war sein rüder Ton, der komischerweise von allen akzeptiert wurde.

Fritz dankte Michi im Stillen, dass er das Thema Rosie angesprochen hatte.

Erich zog sich wie ein getretener Hund in eine Ecke zurück, aber aus seinen schwarzen Augen funkelte es, als wollte er sagen: »Mir fällt schon noch was ein, womit ich euch ärgern kann.«

Rosie hatte während der ganzen Auseinandersetzung fassungslos zugeschaut, dann brach sie in Tränen aus und stolperte schluchzend aus dem Saal. Die Älteste im Raum, Ingrid von Unbühl, lebte schon durch und durch in ihrer Rolle als Julias Amme und lief Rosie hinterher.

Jetzt war Fritz’ Autorität gefragt. Er zwang sich zur Ruhe und wollte ansetzen, etwas zu sagen, da kam Ingrid mit Rosie im Arm zurück und rief: »Das kommt mal vor, so ist das am Theater, Kinder!« Ingrid war die einzige ausgebildete Schauspielerin im Team.

Und Fritz sagte mit fester Stimme: »Okay. Lasst uns weitermachen! « Aber die gute, erwartungsvolle Stimmung war wie weggeblasen. Erich war zu keinem klaren Satz mehr fähig und Rosie hatte schon zwei Packungen Papiertaschentücher für ihre Tränen verbraucht. Fritz beendete die erste Probe seufzend vor der Zeit.

*

Rosie, seine Julia!

Die Besetzung der Julia mit der Tochter des mächtigsten Weinbauern aus dem »Feindesland« Sommerhausen – das war Fritz’ größter Coup. Als er sie kennengelernt hatte, war für ihn sofort klar gewesen, dass nur sie diese Rolle spielen konnte.

Das war vor über einem Jahr gewesen, am 18. Mai 1973, bei dem großen Festakt zur Einweihung der neuen Brücke zwischen den Dörfern.

Genau an diesem historischen Schnittpunkt der Gemeinden stand für Fritz endgültig fest, dass er seine kuriose Idee verwirklichen wollte, die seit geraumer Zeit in ihm schwirrte. Er würde »Romeo und Julia« mit den Menschen aus beiden Dörfern inszenieren, das Stück, in dem es um tiefe Feindschaft und letztendlich um große Versöhnung geht. Warum nicht das bekannteste Shakespeare-Drama als Impuls dazu verwenden, Entspannung zwischen den Dörfern herbeizuführen?

Vor dem Brücken-Festakt stellte ihm Werner Hartmann, Rosies Vater, seine Tochter Roswitha vor. Dabei sagte er den ausschlaggebenden Satz: »Ich habe gehört, dass Sie neben der Pädagogik auch Theater studiert haben. Da könnens ja meiner Tochter gleich die Flausen ausreden, die will nämlich Schauspielerin werden.«

Rosies Gesicht wurde rosenrot, ihre großen grünen Augen strahlten Fritz an. Ein tiefes Gefühl überschwemmte ihn. Ein Gefühl, dass in diesem Moment etwas Ungewöhnliches entstand.

Sie wirkte nicht wie eine Sechzehnjährige. Mit ihrer dünnen Figur in ihrem gelben kurzen Flatterkleid wirkte sie jünger. Ihre Haut war zartbleich und durchscheinend wie Seidenpapier. Die zierliche Nase passte nicht so recht zu ihrem kräftigen Mund, der fast so breit war wie ihr Gesicht.

Dieses Lachen! Dieses Lachen wirkte so einnehmend, dass einen unwillkürlich Glücksgefühle überkamen. Ihre kräftigen, blonden Haare umspielten ihre knochigen Schultern und den langen zerbrechlichen Hals.

Sie ist ein Engel, eine überirdische Erscheinung … Blödsinn, Fritz! Er rief sich innerlich zur Ordnung. Sie ist schlicht und einfach ein sechzehnjähriges, unreifes Gör. Aber … aber … In seinem Kopf jubelte es stotternd vor Freude: Sie ist die Julia, auf die ich gewartet habe!

Die beiden ignorierten die neugierigen Blicke der Festbesucher und verdrückten sich in eine ruhige Ecke des Festzelts.

»Herr Fichte, wenn Sie Theater studiert haben …«

»Moment, Rosie, ich habe hauptsächlich Pädagogik studiert, dazu Geschichte und Theaterwissenschaft im Nebenfach. Also, ehrlich gesagt, so viel weiß ich gar nicht vom Theater.« Er korrigierte sich schnell, denn er wollte sie nicht enttäuschen.

»Ja, gut, eine Zeit lang wollte ich zwar Schauspieler werden und ich hab auch ein kleines Theaterprojekt gemacht, aber …«

»Dann kennen Sie sich doch aus, oder?«, fuhr sie unbeirrt fort. »Mein Papa hat recht, ich will unbedingt Schauspielerin werden, aber ich weiß nix von Schauspielschulen und solchen Sachen. Können Sie mir da helfn?«

Rosie taute immer mehr auf, ihre anfängliche Scheu verflüchtigte sich. Sie spürte, dass Fritz sie ernst nahm. Und er war hingerissen von ihrer Stimme. Das war nicht die Stimme einer jungen Frau, das war eine kräftige, gut sitzende Stimme, als wäre sie schon ausgebildet. Was für ein reizvoller Widerspruch zu ihrem mädchenhaften Körper. Fritz hörte sie im Geist den Text der Julia sprechen: »Wer bist du, der du, von der Nacht beschirmt, dich drängst in meines Herzen Rat?«, oder »Oh Wunderwerk, ich fühle mich getrieben, den ärgsten Feind aufs zärtlichste zu lieben«.

Er vergaß in seinem vor Begeisterung benebelten Hirn, dass sie Dialekt sprach.

Rosie verhaspelte sich vor Aufregung, als sie diesem fremden Menschen erzählte, dass sie vor einiger Zeit im Würzburger Theater »Romeo und Julia« gesehen hatte. Der Theaterbesuch habe wie ein Blitz bei ihr eingeschlagen, habe sie zu einem anderen Menschen gemacht. Denn sie wusste mit einem Mal, wohin sie in einem Jahr, nach dem Abitur, gehen wollte.

Ihr Vater reagierte auf diesen Berufswunsch erstaunlich gelassen. Aus dem einfachen Grund, dass er sie nicht wirklich ernst nahm, aber Rosie wusste, dass sie ihn wie immer um den Finger wickeln würde. Ihre Mutter Gunda war der Meinung, sie solle aber auf jeden Fall nebenbei noch etwas studieren. »Für was lassen wir dich denn sonst Abitur machen?«

»Herr Fichte, ich will die Rolle der Julia unbedingt für die Aufnahmeprüfung auf die Schauspielschule studieren, und … und …« Rosies Augen glühten, rote Flecken wurden auf ihrem Schwanenhals sichtbar. »Können Sie mir helfen?«

Dieser vergaß jegliche Distanziertheit. Wie aus einem anderen Körper fiel ihm ein Satz aus dem Mund: »Ich will das Stück schon seit langer Zeit machen. Jetzt habe ich meine Julia und jetzt machen wir das.«

*

Eine Lerche flattert in grenzenloser Höhe über Fritz und jubiliert in den weiten, blauen Äther, sodass Fritz aus seinem Halbschlaf hochschreckt. Die malerische Wiese, die geschäftigen Hummeln, der zwitschernde Vogel – er muss laut lachen. Was für ein Kitsch! Oder ist es ein Zeichen vom Kollegen Shakespeare?

Gleichzeitig mit dem Lachen kommen ihm die Tränen. Er steckt in einem Gefühlsstrudel, den er kaum kontrollieren kann.

Wie werden die Menschen aus den zwei Dörfern übermorgen bei der Premiere reagieren? Was wird geschehen? Kann das wirklich gut gehen?

Und wieder wandern seine Gedanken zurück zum Beginn der Proben vor einem halben Jahr.

*

Nach dem Eklat mit Erich und Rosie beim ersten Zusammentreffen war die Mannschaft schockiert. Aber dann war ein Ruck durch das Team gegangen und alle hatten zugestimmt, wie geplant am übernächsten Tag weiter zu proben.

Tom Weidringer, Erichs Freund und als Mercutio besetzt, sagte, dass er es schaffen würde, Erich zum Weiterproben zu bewegen. Er könne sich nicht vorstellen, dass er diese einmalige Chance, sich zu produzieren, mir nichts dir nichts aufgeben würde.

Am gleichen Abend rief Fritz Rosie an in der Befürchtung, dass sie am Boden zerstört war. Aber er spürte sofort ihren ungebrochenen Willen. Sie würde sich doch von diesem Idioten Erich nicht das Ganze verderben lassen. Sie würde auf jeden Fall weitermachen.

Durchatmen. Und warten, ob sich Jungstar Erich dazu herablassen würde, zur zweiten Probe zu erscheinen.

Fritz war sich über eines vollkommen im Klaren: Wenn man so ein heikles Projekt ernsthaft durchziehen will, dann braucht es ein hohes Maß an Disziplin bei allen Beteiligten. Das hatte er seinen Laiendarstellern in den Einzelgesprächen eingeschärft.

*

Zu Beginn der zweiten Probe hatte er mit schweißnassen Händen auf seinem Sessel in dem zugigen Theatersaal des Bürgerhauses von Winterhausen gesessen und auf seine Schauspieler gewartet. Er war nervös, weil er eine Sache überhaupt nicht bedacht hatte: den autofreien Sonntag. Ausgerechnet für den heutigen Tag hatte die Regierung wegen der Ölkrise ein Fahrverbot erlassen. Die Winterhäuser konnten ja zu Fuß kommen, aber ob sich die Sommerhäuser ohne Auto zu fahren tatsächlich auf den Weg machen würden, war die eine Frage.

Und die andere Frage war, ob Erich kommen würde. Und wenn er kam, wie würde er sich verhalten? Was würde Rosie machen?

Konnte das überhaupt noch funktionieren zwischen den beiden?

»Grüß Sie, Herr Fichte!« Tom Weidringer schlenzte mit seiner jüngeren Schwester und dem älteren Bruder herein. Tom und seine Geschwister sind die Kinder von Adi Weidringer, dem letzten Bauern im Dorf. Tom arbeitet gern als Bauer, er liebt die Arbeit auf dem Hof, den er eines Tages übernehmen wird. Er ist trotz seiner sechzehn Jahre schon einen Meter fünfundachtzig groß und immer noch am Wachsen. Zunächst war er enttäuscht gewesen, weil er nicht den Romeo spielen durfte, aber sein angeborener Theaterinstinkt hatte ihm gesagt, dass der Mercutio auch eine wunderbare Rolle sei.

Die Besetzungsprozedur war für Fritz die erste große Herausforderung gewesen. Er hatte mit Michi und seiner Frau Bettina ein Flugblatt entworfen, das einen Aufruf zum Vorsprechen enthielt. Die Blätter sollten an allen wichtigen Stellen ausgelegt werden. Aber als Michi in Sommerhausen in einem Hotel das Flugblatt anbieten wollte, gab es sofort Ärger. Der Wirt beschimpfte ihn als Schmarotzer und als Michi nicht nachgab, drohte er mit der Polizei. In der Apotheke von Sommerhausen wurde Fritz völlig ignoriert, der Apotheker bediente ihn nicht. Als Fritz die Flugblätter auf den Tresen legte, warf der Apotheker sie in den Papierkorb und sagte: »Wir haben unser eigenes Theater, da brauchen wir keine Winterhäuser.«

In Winterhausen waren die Flugblätter am nächsten Tag an allen Stellen, an denen sie ausgelegen hatten, verschwunden. Und im Fußballvereinsheim wurde gegen das Projekt heftig gestänkert und gepöbelt.

Letztendlich hatte sich das Vorhaben doch herumgesprochen und Fritz wartete auf freiwillige Meldungen. Er wartete und wartete, aber es meldete sich nur Ingrid von Unbühl.

Großartig! Nun hatte er schon zwei Darsteller, Rosie und Ingrid.

Fritz sank der Mut. Dann kam der entscheidende Geistesblitz: Er wandte sich an seinen besten Freund, Mogens von Berg. Als Moderator einer beliebten Sendung für Jugendliche beim Bayerischen Rundfunk in München war er der perfekte Ansprechpartner.

Er berichtete mehrmals über das Projekt. Dann verkündete er öffentlich, dass das Ganze auch im Fernsehen dokumentiert werden sollte. Dadurch kam endlich Bewegung in die Sache.

Zu guter Letzt versprach Fritz seinem Ensemble, dass die Einnahmen geteilt würden und auf einmal meldeten sich immer mehr Interessenten. Gott sei Dank waren sie nicht auf die Einnahmen angewiesen, denn Werner Hartmann, der reiche Weinbauer, unterstützte sehr generös das Debut seiner Tochter.

Und Bettina hatte es geschafft, ihren Vater Franz Hinterwald, den Steinwerksbesitzer, zu einer großzügigen Spende zu bewegen. Außerdem mussten sie für die Benutzung des Bürgerhauses keine Miete zahlen.

Schließlich gab es so viele Bewerber, dass sich Fritz die Besetzung frei auswählen konnte. Es war ihm sehr wichtig, dass die verfeindeten Familien in dem Stück nicht deckungsgleich mit der Realität in den Dörfern waren. So besetzte er beispielsweise den Benvolio, den Freund von Romeo, gespielt von Erich aus Winterhausen, mit Ebi Danninger aus Sommerhausen.

Eberhard, genannt Ebi, ist ein herzensguter, liebenswerter Tor.

Er hatte den absoluten Willen, beim Spielen eine einwandfreie Leistung abzuliefern. Das ging meistens daneben. Den Spott mancher Winterhäuser ertrug er jedoch mit stoischer Ruhe. Dann versuchte er wieder, beim richtigen Stichwort aufzutreten und den richtigen Satz im richtigen Moment zu sagen und … wieder falsch.

*

Langsam und unsicher trudelten die Mitspieler zur zweiten Probe ein. Wie würde es weitergehen?

Da kam Erich. Er zeigte allen mit seinem gespielt lässigen Gang, wie locker er die Situation nahm. Woher nahm der Mistkerl bloß sein Selbstbewusstsein? Er schlenderte auf Fritz zu. Der erkannte allerdings an seinen schiefen Schultern und den flackernden Augen seine innere Unruhe. Erich setzte an, etwas zu sagen.

In dem Moment stürmte Rosie durch die Tür, ging mit festem Schritt auf Erich zu. Was würde sie tun? Ihn bespucken? Ihn schlagen?

Rosie baute sich vor ihm auf wie eine griechische Göttin und blickte ihm fest in die Augen. Sie reichte ihm die Hand. Linkisch grinsend ergriff sie Erich. Da zog sie ihn an sich und küsste ihn auf die Stirn. Wie eine Priesterin, die einem Menschenopfer den Segen gibt.

Erich schwankte fassungslos auf einen Stuhl und wirkte für einen Augenblick wie flüssiges Glas.

Jetzt begann Bettina Schauer zu applaudieren und alle anderen fielen mit ein. Erleichterung machte sich breit und das Menschenopfer selbst feixte schief lächelnd in die Runde.

Nun sollte sich jeder vorstellen. Das erste Zusammentreffen war so schnell wieder beendet gewesen, dass es gar nicht erst zur obligatorischen Vorstellungsrunde gekommen war.

»Ich bin die Carolin Schellhas aus Winterhausen und spiel die Gräfin Montague.« Carolin, die beliebte wie beleibte Kindergärtnerin des Dorfes.

»Ich bin die Ingrid von Unbühl aus Sommerhausen und …« So ging es weiter, jeder Mitspieler nannte seinen Namen und sagte, aus welchem Dorf er kam.

»Und Sie, Herr Fichte, Sie müssen sich auch vorstellen!« Das war der erste Satz von Rosie.

»Ich heiße Friedrich Fichte, bin achtundzwanzig Jahre alt, spiele den Pater Lorenzo und freue mich schon unheimlich auf die nächsten Monate!«

Als Rosie an der Reihe war, nieste Erich laut. War das ein Störversuch oder eine reale Nasenreizung? Erich blickte mit seinen schönen schwarzen Augen arglos in die Runde und entschuldigte sich geflissentlich.

Nach dem Vorstellungsprozedere beschrieb Fritz seine Version eines sehr einfachen Einheitsbühnenbilds. Voller Elan erzählte er, wie die Todesszene von Romeo und Julia als Schattenspiel hinter einem Gazevorhang dargestellt werden sollte, aber er blickte nur in verständnislose Gesichter. Egal, dachte er, ich werde sie schon noch überzeugen.

Anschließend erzählte Bettina Schauer von ihren Ideen, wie die Kostüme aussehen sollten.

Da konnte sich der ehrgeizige Tom nicht mehr halten: »Und was ist jetzt mit dem Fernsehen? Stimmt des, dass da ein Film über uns gemacht wird?«

»Aha, Tom will nach Hollywood!«, stichelte einer aus der Runde.

Fritz räusperte sich. »Ich habe einen Freund in München, der will einen Film über uns machen für den BR. Er ist nämlich Dokumentarfilmer und, jetzt haltet euch fest, das ist der Moderator von der Rockmusiksendung, dem Club 16 im BR. Ihr hört das bestimmt alle, oder?«

Ehrfürchtiges Staunen in der Runde. Die große Welt trat herein.

Michi Schauer war vollkommen begeistert: »Der mit dem komischen Namen, Mogens von Berg? Den kennst du? Das ist dein Freund?«

Die Erwähnung der Filmaufnahmen und des bekannten Moderators brachte die Augen der Anwesenden zum Leuchten. Michi krähte verzückt: »Den Mogens kennst du! Wahnsinn! Der hat als erster ›Sympathy for the devil‹ im Radio gespielt! Wahnsinn!« Euphorie sprühte aus ihm: »Ich hab eine Idee, die Rolling Stones müssten wir einspielen, wenn die Romeo und der Julia tot sind … ähhh, Schmarrn, umgekehrt. «

In Fritz’ Theaterganglien zuckte es. Nach dem Tod der beiden Musik einspielen? Shakespeare und Mick Jagger? Die älteren Herrschaften in den Dörfern würden Herzinfarkte bekommen … Andererseits – in seiner Fantasie entstand eine Vision der Szene: Schuss … Stille … Stille … Stille – und ganz leise von weit her: »Sympathy for the devil … Please allow me to introduce myself …« Wieder Stille – und dann die Versöhnung über den Leichen von Romeo und Julia. Was für ein Abschluss!

*

Ein grünlich schimmernder Käfer krabbelt über Fritz’ rechten Fuß. Er hat seine Socken und Schuhe ausgezogen. Die Sonne brennt, plötzlich überkommt ihn die Angst.

Was, wenn er mit seinen modernen Inszenierungsideen zu weit gegangen war? In einer Großstadt kann man so etwas machen, in einen Klassiker Rockmusik einbauen. Oder Romeo mit einer Pistole ausstatten anstatt mit einem Dolch. Aber wie werden die Leute aus den kleinen Dörfern reagieren? Ist er nicht doch ein Exot? Ein allzu bunter Vogel? Dieser Gedanke zieht ihn hinunter in ein schwarzes Loch, hinunter in seine tiefsitzende Angst, dass seine Homosexualität entdeckt werden konnte. Es gibt Momente, in denen er meint, dass ihm dieses Außenseitertum auf die Stirn gebrannt ist.

*

Fritz war fünfzehn Jahre alt gewesen, als er im Winter mit der Schule ins Skilager fahren musste. Obwohl er wegen seines Hüftleidens gar nicht Skifahren konnte.

Nach dem Mittagessen saß er melancholisch auf dem sonnigen Balkon des Schullandheimes. Er war bedrückt, weil er sich ausgeschlossen fühlte. Da gesellte sich Herwig Meixner, ein junger Referendar, zu ihm und lud ihn zu einer Schlittenpartie ein.

Sonne, Berge, Schnee. Meixner saß hinter ihm auf dem Schlitten. Das gleißende Licht ließ den Schnee flimmern.

Eine Waldlichtung. Meixner nahm zwei Flaschen Coca Cola aus seinen Anoraktaschen und bot ihm eine an. Er fischte eine kleine grüne Tablette aus einer Schachtel, schluckte sie mit dem Getränk hinunter. Auch Fritz bot er eine Tablette an und hielt sie ihm entgegen wie eine Hostie.

»Was ist das?«

»LSD. Etwas wunderbares, das macht glücklich, es erweitert dein Bewusstsein!«

Und so gingen sie gemeinsam auf einen Trip. Plötzlich waren sie absolut frei. Sie flogen fort aus diesem melancholischen Leben, aus der unerträglichen Welt, fort von zermürbenden Schmerzen, von unerfüllten Sehnsüchten.

Mit einem Mal spürte Fritz Herwigs Hand zwischen seinen Beinen. Die Fingerkuppen von Herwig waren zwei Meter breit, sie streichelten seine inneren Oberschenkel. Herwig öffnete Fritz’ Hose, er berührte sein erigiertes Glied mit den Lippen. Der Schlitten wurde ein quietschbunter Hochseedampfer, langsam schaukelnd durchpflügte er den blauen Schnee.

Fritz und Herwig liebten sich.

Doch wie konnten sie weiterleben, ohne dass etwas von ihrer unmöglichen Liebe an die Öffentlichkeit drang? Herwig wohnte in einem kleinen Appartement im Univiertel. Sie mussten äußerst vorsichtig sein. Es gab immer Denunzianten und auf ihr Verhältnis stand die Gefängnisstrafe. Also verließen sie Herwigs Wohnung nicht, wenn Fritz ihn besuchte.

Fritz lebte emotional auf Messers Schneide: Er war verliebt in Herwig, hatte aber Angst, dass diese schwierige Konstellation irgendwann auffliegen würde.

Sein innerer Druck wurde übermächtig, er brauchte dringend einen Menschen, bei dem er sich aussprechen konnte. Aber da bot sich niemand an.

So erzählte Fritz schließlich dem Schulpsychologen von seinem Verhältnis zu Herwig. Ein entsetzlicher Fehler. Eine Woche später kam Herwig nicht mehr zur Schule. Er war versetzt worden. In einer fürchterlichen Auseinandersetzung warf Herwig Fritz vor, er habe alles verraten, weil er keine Konflikte austragen könne, er sei nicht in der Lage, für etwas zu kämpfen. Herwig beschimpfte ihn als liebesunfähigen und kleinkarierten Spießer. Fritz war tatsächlich kein Meister der Konfliktbewältigung, er zog sich in solchen Momenten zurück, wurde unsicher und depressiv.

Der Schulpsychologe zitierte ihn noch einmal zu sich. Fritz startete einen jämmerlichen Versuch, ihn anzugreifen: Der Herr Doktor habe das Arztgeheimnis verraten, und er, Fritz, werde alles tun … alles tun … ja, was denn tun?

Unter dem kühlen, maßlos überheblichen Blick seines Gegenübers brach Fritz gänzlich ein, verhedderte sich, sagte schließlich etwas ganz anderes, als er eigentlich sagen wollte. Der Psychologe wiederum ließ sich auf keine Diskussion ein. Jeder Satz, ja, Fritz’ ganze Person perlte an ihm ab wie Wasser an einer Kachel. Stattdessen versuchte er, ihn davon zu überzeugen, dass Homosexualität eine Krankheit sei. Fritz fühlte sich nach diesem Treffen verraten und verkauft.

Seine Noten wurden immer schlechter. Er drohte, in dem Schuljahr durchzufallen. Mutter Wilma kämpfte für ihren Sohn. Sie sprach mit dem Direktor. Dieser klärte sie darüber auf, was für ein lasterhafter Mensch ihr Sohn sei. Falls er das Schuljahr doch noch bestehen sollte, müsse sie dringend auf ihn einwirken, dass er von seinem unmoralischen und undeutschen Lebenswandel Abschied nehme.

Bei dem Wort »undeutsch« flackerten alle Lampen bei Mutter Wilma auf. Schon wieder so ein Altnazi! Schon wieder einer von denen, die Schuld hatten am absurden Tod ihres Mannes kurz vor Kriegsende.

Wilma stand nach dem Gespräch frierend in der zugigen Gasse neben dem Gymnasium und zitterte vor Wut und Hilflosigkeit. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Die Erinnerung an Michael, die Liebe ihres Lebens, bestürmte sie.

Michael Fichte, Fritz’ Vater, war erst spät zum Militär eingezogen worden, denn als Professor am Musischen Gymnasium wurde er lange Zeit für unabkömmlich erklärt. Dann jedoch wurde er direkt an die Front kommandiert.

Als er im Januar 1945 auf einen kurzen Urlaub nach Hause durfte, lebten Michael und Wilma zwei Tage und zwei Nächte nur für ihren größten Wunsch: ein Kind.

Im April, vier Wochen vor Kriegsende, erfuhr Michael, dass Wilma schwanger war. Jegliche Vernunft, jegliche Vorsicht verließen ihn. Er desertierte. Er kam nicht weit, man fasste ihn. An einem warmen, sonnigen Frühlingstag um sechs Uhr morgens wurde der Vater von Fritz standrechtlich erschossen.

Jetzt erst recht, jetzt halte ich erst recht zu meinem Sohn und wenn er schw… schw… wie heißt das Wort? … schwul ist … dann … ja dann …?

Wilma war zutiefst verunsichert. Sie wollte unbedingt zu ihrem Sohn stehen, aber was war das, homosexuell sein? Was bedeutete das? War das eine Krankheit? Was sollte sie tun? Wie sollte sie sich verhalten? Über eines war sie sich im Klaren: Fritz war ihr Fritz! Ja, er war und blieb ihr geliebter Sohn, komme was da wolle! Erleichtert über diese Erkenntnis ging sie nach Hause, wo er auf sie wartete. Es fiel ihr sehr schwer, die »Dinge« auszusprechen, aber sie war eine gute Zuhörerin und – oh Wunder – endlich hatte Fritz einen Menschen gefunden, mit dem er offen sprechen konnte.

Er bestand das Schuljahr mit Müh und Not. Dann wechselte er auf jenes Musische Gymnasium, an dem sein Vater schon unterrichtet hatte. Fritz tat sich auch hier schwer. Der Grübler verstand oft nicht, warum und wofür er bestimmte Dinge lernen sollte. So war sein Disput mit dem Mathelehrer über seine Weigerung, mit dem Unendlichen zu rechnen, zu einer Schullegende geworden.

Nur die musischen Fächer machten ihm Spaß und er engagierte sich mit Freude im Schulchor und in der Theatergruppe.

Aber selbst mitten im schönsten Chorgesang überfiel Fritz manchmal die Erinnerung an Herwig, der sich nicht mehr gemeldet hatte. Fritz fühlte sich schuldig und schrecklich einsam. Er haderte mit seiner Homosexualität. Bin ich nicht doch krank? War das mit Herwig nur eine Laune?

Einige Jahre später traf er Herwig noch einmal: Fritz war an einem warmen Sommerabend alleine auf der Leopoldstraße Eisessen gegangen. Er betrachtete mit Abscheu die kitschigen Bilder an den Ständen der Straßenmaler. Grässlich diese psychodelischen Motive von bunten Dampfern wie Schlitten im blauen Schnee. Da blieb ihm der Atem stehen. Dieses Motiv kannte er nur allzu gut!

Wer stand da hinter dem Verkaufstisch? Herwig! Sehr blass, sehr mager mit langen strähnigen Haaren, pickliger Haut und tiefen dunklen Ringen unter den Augen. Er verzog keine Miene, als er Fritz gewahr wurde und Fritz fiel absolut keine Begrüßung ein, die die Situation entspannt hätte. Dann verzog Herwig den Mund zu einem zynischen Grinsen. Er bleckte dabei sein verrottetes Gebiss, als ob er Fritz demonstrieren wollte, dass dieser Schuld war an seiner Selbstauflösung: »Der eine wird verraten und endet als Straßenmaler. Der andere geht den Weg aller Spießer und schleckt Eis.«

Diese Begegnung sollte ihre letzte gewesen sein.

Das Gymnasium, in das Fritz gewechselt war, erwies sich letztendlich doch als Segen und er engagierte sich immer stärker im Chor und in der Theatergruppe. Er war ein gebranntes Kind, was seine Homosexualität anging, und so spielte er eine Zeit lang das pubertäre Pavianverhalten seiner Altersgenossen den Mädchen gegenüber mit. Er hatte sogar eine Freundin mit der er händchenhaltend durch den Park spazierte, aber als sie endlich im Kino den Beweis seiner glühenden Zuneigung ertasten wollte, fiel dieser matt aus. Sie verließ ihn kommentarlos.

Manchmal zog es ihn, den nun Sechzehnjährigen, ins Schwulenmilieu von München. Dort fand er Freiräume und Menschen, mit denen er kiffen und ab und zu auf einen LSD-Trip gehen konnte.

Der brave, nette, durchschnittliche Fritz führte ein Doppelleben. Aber woher das Geld nehmen? Er hatte eine teuflische Auswahl: Entweder ging er auf den Strich und bot sich älteren Männern für Geld an oder er fing an, selbst zu dealen.

Das Muttersöhnchen, das so schön sang, entwickelte sich also zu einem zwielichtigen Dealer.

Eines Tages sprach ihn vorsichtig ein älterer Mitschüler aus dem Schulchor an. Mogens von Berg. Er habe gehört, dass Fritz ihm etwas besorgen könne …

Dies war der Beginn einer großen Freundschaft. Als diese sich noch in einem frühen Stadium befand, hatte sich Fritz in einer betrunkenen Nacht an Mogens rangemacht, dieser hatte eher belustigt reagiert und sich »das« für immer verbeten.