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London steht ein weiterer Nebellockdown bevor, doch der ist die geringste Sorge der Rifkins und Hunts, als sie erfahren, dass Evan verschwunden ist. Wohin hat Carlton ihn verschleppt und was hat er ihm angetan? Welche Trümpfe hält ihr Gegner vor ihnen verborgen und werde sie es schaffen, das Schlimmste zu verhindern? Enthält die finalen vier Bände der dritten und finalen Staffel.
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Unveränderte Neuauflage der in der Greenlight Press erschienenen Originalausgabe
Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main
Copyright © 2024 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)
Alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage (Oktober 2024)
Coverdesign: Kuneli Verlag
Unter der Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock.com
ISBN Epub: 978-3-948194-70-3
www.kuneli-verlag.de
Nadine Erdmann liebt Bücher und Geschichten, seit sie denken kann. Selbst welche zu schreiben, war aber lange Zeit nur eine fixe Idee und so sollte zunächst ein »anständiger« Beruf her. Sie studierte Lehramt, verbrachte einen Teil ihres Studiums in London und unterrichtete als German Language Teacher in Dublin. Zurück in Deutschland wurde sie Studienrätin für Deutsch und Englisch und arbeitete an einem Gymnasium und einer Gesamtschule in NRW.
Der »anständige« Beruf war ihr damit sicher, ihr Herz hing aber mehr und mehr daran, Geschichten zu schreiben. Nach der Krebserkrankung ihrer Schwester entschied sie sich, den Schritt in die Schriftstellerei zu wagen, weil man nicht immer alles auf später verschieben kann. Seitdem veröffentlichte sie drei Reihen (die »CyberWorld«, die »Lichtstein-Saga« und die »Totenbändiger« in ganz unterschiedlichen Genres, die zusammen mit den »Haunted Hunters« im Kuneli Verlag ab 2024 ein neues Zuhause gefunden haben.
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CyberWorld (2024 als E-Book)
Mind Ripper
House of Nightmares
Evil Intentions
The Secrets of Yonderwood
Burning London
Anonymous
Bunker 7
Lichtstein-Saga (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)
Aquilas
Andolas
Fineas
Enyas
Die Totenbändiger (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)
Sammelband 1 - Unheilige Zeiten
Sammelband 2 - Äquinoktium
Sammelband 3 - Geminus
Sammelband 4 - Samhain
Sammelband 5 - Zwillingskräfte
Sammelband 6 - Wintersonnenwende
Haunted Hunters (ab 2024 als E-Book und Taschenbuch)
Neue Wirklichkeit
Daemons
(noch ohne Titel)
(Sammelband 6 - Wintersonnenwende 2)
Nadine Erdmann
Kuneli Verlag
Sammelband 1; „Äquinoktium 1“ (erster Teil der ersten Staffel)
Titel: Unheilige Zeiten
Titel der enthaltenen Bände:
Unheilige Zeiten
Die Akademie
Vollmondnächte
Feindschaften
Sammelband 2: „Äquinoktium 2“ (zweiter Teil der ersten Staffel)
Titel: Äquinoktium
Titel der enthaltenen Bände:
Hinterhalt
Unheilige Nacht
Leichenfunde
Das Herrenhaus
Sammelband 3: „Samhain 1“ (erster Teil der zweiten Staffel)
Titel: Geminus
Titel der enthaltenen Bände:
Geminus Obscurus
Geister der Vergangenheit
Säuberung
Newfield
Sammelband 4: „Samhain 2“ (zweiter Teil der zweiten Staffel)
Titel: Samhain
Titel der enthaltenen Bände:
Das Manifest
Die Abstimmung
Nachwirkungen
Samhain
Sammelband 5: „Wintersonnenwende 1“ (erster Teil der dritten Staffel)
Titel: Zwillingskräfte
Titel der enthaltenen Bände:
Neue Zeiten
Zwillingskräfte
Auszeit
Geisterjagd
Sammelband 6: „Wintersonnenwende 2“ (zweiter Teil der dritten Staffel)
Titel: Wintersonnenwende
Titel der enthaltenen Bände:
Nebelzeit
Fatalitäten
Täuschungen
Wintersonnenwende
Ab 2025
Die neue Totenbändiger-Trilogie: 13 Jahre später
Substantiv, feminin. Oberbegriff: Sonnenwende (lateinisch: Solstitium). Die Wintersonnenwende fällt auf den 21./22. Dezember und markiert den Tag, an dem die Sonne die geringste Mittagshöhe am Horizont erreicht, was besagten Tag zum kürzesten und die darauffolgende Nacht zur längsten des Jahres macht. Die Nacht der Wintersonnenwende ist die vierte und letzte Unheilige Nacht eines jeden Jahres und gilt aufgrund der besonders langen Phase der Dunkelheit als die gefährlichste. Auch in den unmittelbaren Nächten vor und nach der Wintersonnenwende wird allerdings zu extremer Vorsicht geraten.
Um den dunklen Tagen entgegenzuwirken, zelebrieren die Menschen den gesamten Dezember über die Julzeit, in der sie der Finsternis mit Lichterglanz begegnen. Höhepunkt ist dabei das Julfest, das am 22., 23. und 24. Dezember gefeiert wird. Es ist ein Fest der Lichter, bei dem man mit Freunden und Familie zusammenrückt, um gemeinsam der dunkelsten und gefährlichsten Zeit des Jahres zu trotzen und gleichzeitig zu feiern, dass die Tage nach der überstandenen Unheiligen Nacht nun wieder länger werden.
Dienstag, 12. November
15:07 Uhr
In der Wohnung der Rifkins
Jack stieg hinauf in sein Zimmer, das zusammen mit drei weiteren Schlafzimmern im obersten Stockwerk der Wohnung über dem Mean & Evil lag. Er war erledigt und brauchte jetzt dringend einen Moment für sich, um seine Gedanken zu ordnen.
Vor dem Bewerbungsgespräch mit dem Dekan der London University School of Law and Criminology war er nervöser gewesen, als er sich selbst eingestanden hatte. Doch das Gespräch mit dem Dekan war gut gelaufen und er hatte die Zusage, als erster Totenbändiger ab Januar an der LUSLC studieren zu dürfen, wenn er alle Unterlagen fristgerecht einreichte.
Unter Euphorie und Stolz hatten sich allerdings ziemlich schnell Zweifel und Bedenken gemischt, weil er die Studiengebühren nie im Leben allein würde aufbringen können. In den letzten beiden Stunden hatten jedoch sowohl seine Eltern als auch seine Schwester Willa ihm versichert, dass sie die Finanzierung innerhalb der Familie schon stemmen würden. Zu hören, wie sehr sich alle für ihn freuten, wie stolz sie auf ihn waren und dass sie ihn auf jeden Fall unterstützen wollten, tat unglaublich gut, sorgte allerdings gleichzeitig auch für Druck, weil er jetzt natürlich niemanden enttäuschen wollte.
Außerdem gab er lieber, statt zu nehmen, daher fiel es ihm schwer, das Geld für die Studiengebühren von seinen Eltern und Geschwistern anzunehmen.
Er stieß die Tür zu seinem Zimmer auf, warf sich aufs Bett und starrte an die Decke.
Endlich allein.
Das ganz Gefühlschaos schlauchte. Und es hatte nicht gerade geholfen, dass er in den letzten beiden Stunden alles zweimal hatte erzählen müssen. Als er heimgekommen war, waren nur seine beiden Dads da gewesen. Seine Mum und Willa hatten Lebensmittel in eine Obdachlosenunterkunft im East End gebracht. Der Nebel, der eigentlich erst zum Wochenende angekündigt gewesen war, sollte schon in der nächsten Nacht kommen. Damit drohte bereits ab morgen ein neuer Lockdown und weil das Mean & Evil dann ebenfalls schließen musste, hatten sie einen Teil der Lebensmittel des Pubs gespendet, bevor sie hier womöglich verdarben.
Gerade als Jack seinen beiden Dads alles erzählt und eigentlich in sein Zimmer hatte verschwinden wollen, waren seine Mum und Willa zurückgekehrt und er hatte alles noch einmal erzählen müssen. Völlig begeistert hatte Willa daraufhin gleich Cleo und Adam angerufen und sie per Handy am Gespräch teilhaben lassen, was Jack eine Flut von Nachrichten einbrachte, die Cleo ihm parallel geschickt hatte. Jede einzelne versicherte ihm, dass sie unfassbar stolz auf ihn war und ihn wahnsinnig liebte, sie aber beides in keinster Weise davon abhalten würde, ihm achtkantig in den Hintern zu treten, sollte er sich jetzt einen Kopf über die Finanzierung machen und deshalb darüber nachdenken, sich nicht einzuschreiben.
Tom und Mark, die im neuen Haus der Hunts renovierten, hatte Willa ebenfalls informiert. Auch die beiden freuten sich riesig für ihn und sicherten Unterstützung zu, brauchten dafür aber jeweils nur eine Nachricht und nicht gefühlte hundert. Sie drohten ihm netterweise auch nicht.
Obwohl die Flut von Nachrichten und das gleichzeitige Reden mit seinen Eltern, Willa, Cleo und Adam anstrengend gewesen war, war Jack Willa dankbar, dass sie das Weiterreichen der Neuigkeiten für ihn übernommen hatte. Der Einzige, der noch nichts wusste, war Matt, da er mit den Spuks im Sondereinsatz im Scarlet Theater und entsprechend nicht erreichbar war. Jack ging aber schwer davon aus, dass Willa auch ihm eine Nachricht geschickt hatte, also würde Matt sich sicher bei ihm melden, sobald der Einsatz vorbei war.
Müde rieb Jack sich über die Augen und musste dann plötzlich ganz unvermittelt grinsen, als die Vorfreude mit einem Mal über alles andere gewann.
Er durfte Jura studieren.
Etwas, das vor einem Jahr, als er sein Abi geschafft hatte, noch unerreichbar schien.
Jetzt war es auf einmal möglich und selbst wenn vermutlich nicht alle Universitäten sofort nachzogen, weil nach dem Terroranschlag auf die Ravencourt viel Verunsicherung herrschte, war es ein riesiger Schritt in eine neue Richtung. Damit konnte vielleicht auch Jules studieren, wenn er im nächsten Jahr sein Abi in der Tasche hatte. Ella auch - wenn sie das wollte. Sie wusste noch nicht genau, was sie werden wollte. Am liebsten würde sie etwas mit Kindern machen. Sie liebte ihre neuen kleinen Brüder und ging in der Rolle der großen Schwester völlig auf. Erzieherin oder Grundschullehrerin wären da sicher genau ihr Ding und Jack hoffte sehr, dass sich die Gesellschaft in London weiter wandeln würde und man Ella eine entsprechende Chance gab.
Jaz dagegen wollte eine Geisterjägerin werden. Ob als Spuk bei der Polizei oder in einer privaten Agentur wie den Ghost Reapers, wusste sie noch nicht so recht. Evan versuchte aber, sie für die Polizeiakademie zu begeistern, weil sie dann gemeinsam dort hingehen konnten. Cam versuchte er ebenfalls davon zu überzeugen. Der wollte auch Geisterjäger werden, war sich aber genauso unschlüssig wie Jaz, wo genau er arbeiten wollte.
Jack hoffte sehr, dass sich zumindest einer der beiden für die Karriere als Spuk entschied. Evan würde sich dann sicher weniger als Outsider fühlen. Obwohl keiner von ihnen ihn so sah, sah Evan sich selbst oft so, weil er sich schwer damit tat, beim Blocken und Geisterjagen noch ein Anfänger zu sein. Er hasste es, bei manchen Aktionen noch nicht mithalten zu können, und es war ihm unangenehm, wenn sie beim Training Geister erst schwächen mussten, bevor er mit ihnen üben konnte. Er schien zu denken, dass er damit eine Last oder ein Schwächling war, der einen Job mühsamer und langwieriger machte. Was totaler Quatsch war, denn so funktionierte Training ja nun mal.
Jeder fing klein an und lernte von denen, die es schon konnten. Das war doch nur selbstverständlich. Genauso, dass Anfänger von den Erfahrenen im Team beschützt wurden, weil Geisterjagen ja nun mal gefährlich war. Klar kam man sich dabei hin und wieder ein bisschen blöd vor oder war frustriert, wenn Fortschritte sich gefühlt nur quälend langsam einstellten. Aber deswegen war man kein Schwächling oder gar eine Last.
Besonders Evan nicht.
Nach allem, was Jack gehört hatte, hatte er Cam an der Ravencourt mehr als einmal vor seinen Mobbern beschützt. Und nicht nur ihn. Auch Jules, Ella und Jaz hatte er an seiner Schule immer wieder gegen Anfeindungen verteidigt. Ganz abgesehen davon, dass er sich jetzt als Spitzel zu Carlton an die Akademie gewagt hatte und dafür seit Wochen seine Freunde nicht sehen konnte.
Schwächling - ja, klar.
Schnaubend rieb Jack sich über den Bauch, in dem es in letzter Zeit immer ziemlich wohlig kribbelte, wenn er an Evan dachte. Oder wenn sie sich online sahen.
Er mochte ihn. Mittlerweile sogar sehr.
Schon seit Cam ihn das erste Mal zum Training mitgebracht hatte, foppten sie sich gegenseitig und hatten hin und wieder auch ein bisschen geflirtet, aber es war nichts Ernstes gewesen. Als Evan dann jedoch an die Akademie gegangen war, hatten sie sich bei den Updates, die er jeden Abend lieferte, besser kennengelernt und auch an den Wochenenden viel Zeit online miteinander verbracht. Sie waren Freunde geworden und Jack freute sich jeden Tag auf die Zeit mit Evan. Und Evan schien es ganz genauso zu gehen.
Wie spät war es eigentlich?
Draußen vor dem Fenster schien es immer düsterer zu werden, was allerdings nicht unbedingt bedeuten musste, dass der Abend schon nahte. Das Wetter wurde immer trüber.
War es schon halb vier? Dann hatte Evan in der Akademie Unterrichtsschluss. Meist bleibt er jedoch noch länger dort, um mit Ruben zu trainieren, und kehrte erst zum Abendessen heim. So lange würde Jack noch warten müssen, um ihm von seinem Erfolg an der Uni erzählen zu können.
Er schwang sich vom Bett, tauschte die guten Klamotten, die er fürs Bewerbungsgespräch angezogen hatte, gegen Jeans, Longsleeve und Sneakers und kramte in seiner Messenger-Bag nach seinem Handy.
Vielleicht konnte Cleo noch Hilfe bei den Vorbereitungen auf den Nebellockdown gebrauchen. Sie hatte die Geburt ihrer kleinen Tochter zwar gut überstanden und half Adam sogar schon wieder stundenweise in ihrem Internetcafé, weil Tia ein absolutes Sonnenscheinbaby war und Cleo daheim schnell die Decke auf den Kopf fiel.
Trotzdem war mit einem Baby an der Seite jetzt alles umständlicher, vieles musste sich erst einspielen und ein paar extra Hände waren immer willkommen. Jack war sich zwar sicher, dass sich Cleo und Adam gut auf den Lockdown vorbereitet hatten, doch dass der jetzt früher kam als eigentlich angekündigt, sorgte eventuell doch für Stress. Vielleicht konnte er noch ein paar Besorgungen für sie erledigen. Oder er passte auf Tia auf, wenn Cleo selbst losgehen wollte. Er fand es faszinierend, dass sich auch dieses Minimenschlein wieder genauso schnell in sein Herz geschlichen hatte wie seine anderen Nichten und Neffen.
Als er sein Smartphone anschaltete, zeigte ihm sein Display noch drei Nachrichten von Cleo an. Er musste schmunzeln. Irgendwann hatte er sie vorhin während ihres Gesprächs ignoriert, weil sie ihn nur noch hatte foppen wollen und die meisten Nachrichten bloß aus Emojis bestanden hatten.
Eine vierte Nachricht war von Nell und informationsmäßig deutlich gehaltvoller. Die Übergabe des gesäuberten St James's Parks an die Stadt war erledigt und sie, Leslie und Dash waren auf dem Weg zum Mean & Evil.
Außerdem hatte irgendwer ihm eine Notfallnachricht geschickt. Sie war irgendwann zwischen den gefühlt tausend Nachrichten von Cleo reingekommen, aber Jack hatte sie ignoriert, weil er sie als eine dieser reißerischen Werbebotschaften abgetan hatte, mit denen Hilfsorganisationen um Spendengelder baten. Jetzt erkannte er jedoch das Logo.
Die Message war über die App der Agentenuhr gekommen, die er Evan geschenkt hatte. Eigentlich war sie bloß ein Fitness-Tracker, der wie eine Agentenuhr aufgemacht war. Für Leute, die gern durch die Wildnis wanderten oder auf weniger belebten Strecken joggen gingen, besaß sie einen GPS-Sender und einen Notfallknopf, mit dem man Hilfe rufen konnte, falls in der Abgeschiedenheit etwas passierte. Jack hatte Evan die Uhr als Gag geschenkt, nachdem er als ihr Undercover-Agent in die Akademie gegangen war. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Evan sie wirklich tragen würde, aber der hatte das Geschenk witzig gefunden und sie hatten die Uhr aus Spaß mit der App verknüpft, sodass Jack ihn tracken konnte.
War Evan aus Versehen an den Knopf gekommen?
Die Notfallnachricht war um kurz vor drei eingegangen. Zu dem Zeitpunkt hatte Evan noch Unterricht. Welcher Notfall sollte da schon eintreten - außer vielleicht Sterbenslangeweile.
Andererseits hatte es an der Ravencourt einen Terroranschlag gegeben. Wirklich sicher war es in Schulen also nicht. Aber an der Akademie war ein Terroranschlag nicht möglich. Zumindest nicht von den Death Strikers.
Aber vielleicht ein Amoklauf? Irgendein Schüler, der durchgedreht war?
Die Gedanken jagten plötzlich durch seinen Kopf, bis Jack sich mental in den Hintern trat.
Himmel, warum sollte jemand in der Akademie Amok laufen?
Er guckte offensichtlich zu viele Horrorfilme über mordlustige Teenager.
Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl und er öffnete die App, die ihm die Notfallnachricht geschickt hatte. Eingegangen war sie um 14:57 Uhr. Darunter waren die GPS-Koordinaten als Standortangabe aufgeführt. Damit konnte Jack nicht das Geringste anfangen, es gab aber zum Glück die Funktion, sich den Ort auf einer Karte anzeigen zu lassen. Er tippte darauf und erwartete, dass ihm die Akademie angezeigt werden würde. Stattdessen zoomte der rote Punkt jedoch auf einen Fleck im verwilderten Wald des Richmond Parks. Roehampton Brickworks erschien als Bezeichnung für ein paar Vierecke, die schematisch eine Gruppe von Gebäuden darstellten.
Was zum Henker?
Mit wachsendem Unbehagen wechselte Jack bei der Darstellung der Karte auf Satellitenansicht und zoomte so nah wie möglich an die Gebäude heran.
Es waren halb verfallene Ruinen.
Ihm wurde eiskalt.
Evan hatte den Notfallknopf ganz bestimmt nicht aus Versehen ausgelöst.
16:03 Uhr
Jack saß auf der Rückbank des Familienkombis, kaute nervös auf seinem Daumennagel und starrte aus dem Fenster auf die Landschaft, die endlich ländlicher wurde, als sie die Außenbezirke von London erreichten. Sein Magen fühlte sich flau an, weil das schlechte Gewissen darin herumwühlte.
Evan hatte schon vor über einer Stunde um Hilfe gerufen.
Unwirsch fuhr Jack sich durch die Haare.
Warum hatte er die verdammte Notfallnachricht nicht sofort als solche erkannt?
Angespannt warf er einen Blick nach vorne. Seine Mum gab zwar ordentlich Gas, jetzt, da sie aus dem zähen Stadtverkehr heraus waren, aber laut Navi würden sie noch dreizehn Minuten brauchen.
Jack presste seine Faust gegen seine Lippen.
Was, wenn sie zu spät kamen, weil er die verdammte Nachricht ignoriert hatte?
Als er hinunter ins Mean & Evil gestürmt war, um sich die Schlüssel für den Familienkombi zu holen, hatten seine Eltern und Willa seine Sorge bezüglich Evan sofort ernst genommen, und weder seine Mum noch sein Dad hatten ihn allein fahren lassen.
Lorna hatte sofort einen ihrer eingeschleusten Lehrer an der Akademie angerufen, um nachzufragen, ob er irgendetwas über Evans momentanen Aufenthaltsort wusste. Seine Antwort war alarmierend gewesen.
Evan hatte nach der Mittagspause mit Carlton die Schule für seine erste Prüfung in einem der Trainingshäuser verlassen. Da Einzelprüfungen nichts Ungewöhnliches waren und eine solche für Evan schon mehrfach Thema gewesen war, hatte sich niemand darüber gewundert, dass der Schulleiter ihm heute die Chance für einen ersten Lauf durch ein Trainingshaus geben wollte.
»Wenn das alles ganz offiziell war und Carlton nicht heimlich mit dem Jungen losgefahren ist, kann er ihm doch nichts antun«, hatte Hank es mit Aufmunterung versucht. »Der Verdacht würde sofort auf ihn fallen. Selbst wenn er es wie einen Unfall aussehen ließe, wäre es ein Skandal, der seinem guten Ruf schaden würde.«
Eddie war dagegen nicht überzeugt gewesen. »Carlton ist so gerissen, der wird sich schon irgendwas zurechtbiegen.«
»Sehe ich genauso«, hatte Willa ihm zugestimmt und rasch sowohl ihre Eltern als auch ihren Bruder umarmt. »Deshalb passt auf euch auf. Und wartet auf Verstärkung, bevor ihr irgendwas unternehmt!«
»Machen wir«, hatte Lorna ihr versichert und sie waren hastig aufgebrochen.
Jack starrte weiter aus dem Fenster auf die vorbeifliegende Landschaft, ohne sie wirklich wahrzunehmen, während seine Gedanken rasten. Er hatte Nell, Leslie und Dash angerufen und ihnen die Adresse der stillgelegten Ziegelei gegeben. Die drei bildeten einen Teil ihrer Verstärkung. Der andere waren die Evils.
Sein Onkel Flint hatte mit zehn seiner zuverlässigsten und verschwiegensten Leute dem Sondereinsatzteam angehört, das an Samhain Leo, Toby und all die Obdachlosen aus Carltons Fängen gerettet hatte. Um zur Stelle zu sein, sobald Carlton zu einem Vergeltungsschlag ausholte, waren Flint und die Evils in der Stadt geblieben und halfen bei der Suche nach dem Versteck des Abtrünnigen, der sich womöglich als Blaine Carlton erweisen würde. Als Eddie seinen älteren Bruder angerufen und um Unterstützung bei der Suche nach Evan gebeten hatte, hatte Flint sofort zugesagt, mit seiner Truppe zur Ziegelei zu kommen.
Damit waren sie siebzehn Leute.
Jacks Magen zog sich nervös zusammen.
Reichte das?
Sie wussten, dass in Carltons Spezialtruppe um die dreißig Leute waren. Mittlerweile vermutlich sogar ein paar mehr, weil er die Truppe für seinen Vergeltungsschlag sicher noch weiter aufstockte.
Aber würde Carlton all die Männer wirklich anfordern, um Evan dafür zu bestrafen, dass er ihn bespitzelt hatte?
Es hatte zwar keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass Carlton ihm gegenüber misstrauisch geworden war, doch ausschließen, dass er Evan auf die Schliche gekommen war, konnten sie auch nicht.
Jack schloss die Augen und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit. Als er die Augen wieder öffnete, lag vor ihnen der wilde Wald des Richmond Parks im letzten trüben Licht des Tages. Der Nebel, der über Nacht in die Stadt ziehen sollte, kündigte sich hier in den ländlichen Außenbezirken bereits an.
Als sie in den Wald hineinfuhren, hingen erste graue Nebelbänke zwischen den Bäumen. Trotz der dämmrigen Lichtverhältnisse ließ Lorna die Scheinwerfer jedoch aus. Laut Navi waren sie zwar noch sieben Minuten von der stillgelegten Ziegelei entfernt, aber der Novemberwald war schon ziemlich kahl und sie wollten möglichst lange unentdeckt bleiben.
»Wie sieht es mit unserem Back-up aus?«, fragte Lorna in die Anspannung, die mit jedem Meter, den sie näher an ihr Ziel herankamen, unerträglicher wurde.
»Flint meldet sich, sobald sie den Wald erreichen«, gab Eddie knapp zurück.
Jack hatte eine Nachricht an Nell getippt und erhielt prompt eine Antwort.
»Laut ihrem Navi sind Nell, Les und Dash in achtzehn Minuten an der Ziegelei.«
Er beugte sich vor, um auf ihr eigenes Navi blicken zu können.
Noch fünf Minuten.
»Wir sollten irgendwo abseits parken und uns ranschleichen, um schon mal die Lage zu sondieren, bis die anderen da sind.«
Sein Dad nickte. »Sehe ich genauso. Zeigt die App Evan immer noch auf dem Gelände an?«
»Ja. Er scheint sich nicht bewegt zu haben.« Jack verbat sich den Gedanken, dass vielleicht auch nur die Uhr dort liegen könnte, falls Carlton bemerkt hatte, dass Evan damit Hilfe gerufen hatte.
Lorna drosselte die Geschwindigkeit. »Die übernächste Abzweigung auf der linken Seite führt zur Ziegelei. Davor gibt es einen Forstweg. Dort parke ich und schicke meine Position an die anderen. Ihr zwei schlagt euch quer durch den Wald zur Ziegelei durch und peilt die Lage. Wir müssen wissen, mit wie vielen Leuten wir es womöglich aufnehmen müssen.«
»Einverstanden.« Eddie löste seinen Sicherheitsgurt, als Lorna abbremste und in den Forstweg bog.
Jack schaltet sein Handy lautlos und schnallte sich ebenfalls ab.
»Seid vorsichtig«, mahnte Lorna. »Keine leichtsinnigen Aktionen!«
»Keine Sorge, wir passen auf.«
Eddie gab ihr rasch einen Kuss, dann stiegen er und Jack aus, eilten zurück zur Hauptstraße und rannten bis zur Abzweigung, die zu den Roehampton Brickworks führte. So schnell es das dämmrige Licht zuließ, schlugen sie sich parallel zur Straße durch den Wald, bis die Umrisse einer verfallenen Ziegelmauer zwischen den Bäumen auftauchten. Langsamer bewegten sie sich weiter auf die Mauer zu und kauerten sich hinter einen noch intakten Abschnitt der Steinwand. Dann verharrten sie und lauschten.
Alles war still.
Vorsichtig wagten sie einen Blick über die Mauer.
Ein Vorplatz aus hellem Schotter lag dahinter, den sich Unkraut und niedriges Gestrüpp zurückerobert hatten. Hier und da wuchsen vereinzelt auch Bäume. Links hinter der Mauer verlief die Straße, rechts des Platzes lagen die Gebäude der ehemaligen Ziegelei. Allesamt in keinem guten Zustand. Laut Internet waren die Roehampton Brickworks schon vor knapp fünfzig Jahren aufgegeben worden und von den meisten Gebäuden standen kaum noch mehr als die Außenmauern. Einzig das kleine Verwaltungsgebäude besaß noch ein löchriges Dach, das noch nicht eingestürzt war.
Alles wirkte menschenleer.
Keine Autos, die auf dem Gelände parkten.
Kein verräterischer Lichtschein, der irgendwo aus den Ruinen drang.
Gar nichts.
Eddie schickte Lorna eine kurze Nachricht zu ihren ersten Beobachtungen.
»Vielleicht hätten wir doch den Hunts Bescheid geben sollen«, murmelte Jack. »Cam hätte uns zumindest sagen können, ob in den alten Bauten Geister hausen.«
»Du bist der Experte - aber sind Geister hier in dieser Einöde nicht eher unwahrscheinlich?«
Jack ließ das Gelände nicht aus den Augen. »Unwahrscheinlich? Ja. Unmöglich? Nein. Und es könnte ja immerhin sein, dass Carlton hier extra welche platziert hat, um den Rettungstrupp angreifen zu lassen. So wie Blaine es gemacht hat, als er Ella in das Trainingshaus verschleppt hatte. Eine Silberbox lag bei ihr auf dem Bett, die anderen waren darunter versteckt und haben sich zeitverzögert geöffnet. Seinem Vater traue ich so eine Aktion genauso zu.«
Eddie stieß ein Schnauben aus. »Ja, da gebe ich dir recht«, knurrte er. »Trotzdem war es richtig, die Hunts nicht mitzunehmen. Gabriel, Sky und Connor sind ohnehin noch im Einsatz und nicht erreichbar. Sue hat ebenfalls Dienst. Und die Kids setze ich keiner Gefahr aus. Vor allem, wenn Cam dabei womöglich auf Carlton treffen könnte. Er hat die Tatsache, dass dieser Dreckskerl sein biologischer Vater ist, zwar angeblich ganz gut verkraftet, aber wer weiß, was es bei ihm auslösen würde, wenn er ihm plötzlich gegenüberstände. Wenn ihm dabei etwas passieren würde, könnte ich Phil und Sue nie wieder in die Augen sehen.«
Jack presste die Kiefer aufeinander. Auch wenn er die Argumente seiner Eltern nachvollziehen konnte, hätte er Cam, Jules, Ella und Jaz jetzt trotzdem gern an seiner Seite gehabt. Ihnen war Evan genauso wichtig wie ihm.
Er deutete zum Gelände. »Sieht nicht so aus, als wäre da noch irgendjemand. Vielleicht hat Carlton Evan nur verhört und ihn dann mit Geistern hier zurückgelassen. Wenn die zu stark sind, hat Evan keine Chance, und wir können nicht auf Verstärkung warten.«
Eddie zögerte nur kurz und nickte dann knapp. »Okay, wir sehen nach. Aber vorsichtig!«
Jack hatte sich schon über die Mauer geschwungen, bevor sein Dad ausgeredet hatte. Eddie unterdrückte einen Fluch und folgte ihm. Geduckt huschten die beiden zwischen Büschen und Gestrüpp hinüber zu den Gebäuden. An der alten Produktionshalle drückten sie sich in den Schatten der Außenwand und spähten durch einen Riss ins Innere.
Wie es dort ursprünglich einmal ausgesehen hatte, war nicht mal mehr zu erahnen. Das Dach musste schon vor etlichen Jahren in die Halle hinabgestürzt sein. Berge von Schindeln und Schutt türmten sich auf, aus denen hier und da einer der zersplitterten Dachbalken ragte. An vielen Stellen hatte die Natur sich den Ort zurückerobert und zwischen den Trümmern wucherten Unkraut, Sträucher und ein paar kleine Bäume.
»Da drin ist definitiv kein Platz, um Autos zu verstecken«, flüsterte Jack. »Und Evan ist da auch nicht drin.«
Er eilte weiter.
Er konnte nicht genau sagen, warum, aber Evan so schnell wie möglich zu finden, schien immer dringender zu werden.
Er hetzte an der Vorderseite der Produktionshalle entlang und behielt dabei die Umgebung im Auge. Noch immer war keine Menschenseele zu sehen und es war so totenstill, dass ihre Schritte schrecklich laut klangen, obwohl sie sich Mühe gaben, nur über Gras und Unkraut zu laufen und nicht auf dem Schotter.
Als sie das Verwaltungsgebäude erreichten, packte Eddie Jack am Arm und bedeutete ihm wortlos, neben einer der leeren Fensterhöhlen innezuhalten und erst die Lage zu peilen, bevor sie das Haus betraten. Jack presste sich neben dem Fenster gegen die Wand und versuchte, ins Innere zu lauschen. Sein Herz schlug jedoch so laut in seiner Brust und ließ sein Blut in den Ohren rauschen, dass er kaum etwas anderes hören konnte.
Sekunden schienen zu Ewigkeiten zu werden, aber sein Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Im Gegenteil. Das Hämmern wurde nur immer schlimmer.
Ohne länger abzuwarten, beugte er sich vor, um durch das Fenster zu spähen. Zuerst sah er nichts, weil es in dem Zimmer dahinter ziemlich düster war.
Dann erkannte er den leblosen Körper, der zwischen Schutt und altem Laub auf dem Betonboden lag.
»Evan!«
Irgendetwas setzte bei Jack aus und er hätte nicht sagen können, wie er ins Haus gekommen war, aber plötzlich kniete er neben seinem Freund, tastete mit zittrigen Fingern an dessen Hals nach einem Puls und nahm gleichzeitig Evans Hand, um ihm Energie zu geben.
»Evan!«
Die Hand in seiner war eiskalt und er fand keinen Puls. Hektisch fuhr er mit den Fingern hin und her, während sein eigenes Herz so heftig gegen seine Rippen hämmerte, als wollte es aus seiner Brust springen.
Kein Puls.
Warum verdammt fand er keinen Puls?
Evan konnte nicht tot sein. Er durfte nicht tot sein!
Automatisch suchte Jack mit seiner Silberenergie nach Evans und geriet noch mehr in Panik, als er nichts fand, bis ihm klar wurde, dass er nichts finden konnte, weil Evan ein Normalo war.
Shit!
Warum fand er dann nicht wenigstens einen Puls?
In der Dämmerung war nicht viel zu erkennen, doch auf den ersten Blick wirkte Evan unverletzt.
Keine Blutlache.
Keine Anzeichen dafür, dass eine Kugel, eine Klinge oder Silberenergie seinen Kopf oder sein Herz durchbohrt hatten.
Trotzdem regte Evan sich nicht, obwohl Jack ihm Energie gab.
Wo verdammt war sein Puls?!
Sein Dad kniete sich neben ihn und schob Jacks Finger beiseite, die fahrig über Evans Hals tasteten.
»Lass mich nachsehen.« Die Stimme seines Vaters klang so angespannt, dass es Jack die Kehle zuschnürte.
Evan durfte nicht tot sein.
Alles daran wäre falsch.
Alles.
Eddie legte seine Finger an Evans Halsschlagader und hielt seine andere Hand gleichzeitig ganz nah an dessen Mund. Jack dagegen drückte Evans Finger und schob seine zweite Hand unter Trainingsjacke und Shirt, um sie auf Evans Herz zu legen.
Vielleicht fühlte er dort etwas. Irgendwas.
Die Haut unter seiner Handfläche war eiskalt und der widerliche Kloß in Jacks Kehle wurde immer dicker.
Evan durfte nicht tot sein.
Jack schickte Wärme und Silberenergie in seinen Freund und suchte statt nach Silberenergie nach einem Herzschlag.
Wieder schienen sich die Sekunden zu Ewigkeiten zu dehnen.
Dann spürte er plötzlich ein Pochen. So minimal, dass er fürchtete, es könnte bloßes Wunschdenken sein.
»Er hat einen schwachen Puls«, kamen jedoch im selben Moment die erlösenden Worte von seinem Dad und in jedem einzelnen schwang unendliche Erleichterung mit. »Und er atmet.«
Jack würgte an dem Kloß in seinem Hals, zwang sich dann aber wieder, sich voll und ganz auf Evan zu konzentrieren. Normalerweise hätte er jetzt versucht, über Gedanken Kontakt zu ihm zu bekommen. So, wie er es tat, wenn er jemanden aus seinem Seelenversteck holte. Aber das würde bei Evan nicht funktionieren.
Oder vielleicht doch?
Schaden konnte es sicher nicht, also war es einen Versuch wert.
Hey, ich bin's, Jack, schickte er mit Silberenergie, sanfter Wärme und dem Gefühl von Sicherheit in Evan. Ich weiß nicht, was man dir angetan hat, aber es ist vorbei. Wir sind hier und helfen dir. Dir passiert nichts mehr, versprochen.
Evan zeigte keinerlei Regung, Jack spürte aber seinen Herzschlag weiter unter seiner Hand. Noch immer nur sehr schwach und ziemlich langsam, aber regelmäßig.
Komm schon. Wach auf.
Er schloss die Augen und wünschte, er hätte Erfahrung damit, Normalos Energie zu geben, wenn sie so viel verloren hatten, dass sie nicht mehr bei Bewusstsein waren. Zwar waren Big Daddy sowie Adam und Tom, zwei seiner älteren Brüder, Normalos, aber keiner von ihnen hatte irgendwas mit Geisterjagen zu tun, deshalb hatten sie noch nie so viel Energie verloren, wie es bei Evan anscheinend gerade der Fall war.
Waren Geister schuld daran?
Oder hatte Carlton ihm die Energie genommen als Strafe dafür, dass Evan sich als Spitzel in die Akademie eingeschlichen hatte? Hatte dieser Dreckskerl ihn gefoltert und dann zum Sterben hier zurückgelassen?
Heiße Wut wallte durch Jack und er riss die Augen wieder auf, als ihm plötzlich klar wurde, dass er völlig vergessen hatte, dass hier vielleicht noch Geister lauern konnten.
Oder Carlton und seine Männer.
Hastig wandte er sich zu seinem Vater um. Der war mit seinem Handy zum Fenster getreten, sobald klar gewesen war, dass Evans Herz noch schlug.
»Okay, beeilt euch«, hörte Jack ihn jetzt leise sagen, dann legte Eddie auf und steckte sein Handy weg.
»Was ist los?«, fragte Jack beunruhigt, während er weiter versuchte, diese entsetzliche Kälte aus Evans Körper zu vertreiben. Die schien die Wärme seiner Silberenergie jedoch bloß unbeeindruckt zu verschlucken und kein bisschen zu weichen. »Siehst du da draußen jemanden?«
Eddie warf einen kurzen Blick zu seinem Sohn, wandte sich dann aber wieder zum Fenster, um die Umgebung im Auge zu behalten.
»Nein. Carlton scheint Evan allein hier zurückgelassen zu haben. Oder er hat ihn von seinen Leuten hier ablegen lassen. Was genau passiert ist, werden wir erst erfahren, wenn Evan aufwacht. Ich hab Lorna gesagt, dass sie herkommen soll, um uns abzuholen. Nell und die Evils begleiten sie. Dann packen wir Evan ins Auto und verschwinden von hier.«
»Ja, er muss dringend ins Warme. Ich gebe ihm zwar Energie und Wärme, aber es scheint überhaupt nichts zu nutzen. Er wird weder wärmer noch wacht er auf. Er hat noch nicht die kleinste Regung gezeigt.«
Eddie hatte sich ihnen wieder zugewandt und nickte bitter. »Was immer Carlton ihm angetan hat, er hat ihn nur gerade so am Leben gelassen. Jemanden aus diesem Zustand zurückzuholen, wäre schon bei einem Totenbändiger schwer. Da Evan ein Normalo ist, schlägt es bei ihm noch heftiger rein.«
Erschrocken starrte Jack zu ihm hoch. »Denkst du, er schafft es nicht?«
»Wenn ich das denken würde, würde ich nicht hier Wache halten, sondern neben dir knien und Evan mit so viel Energie vollpumpen, dass er es schafft«, gab sein Vater mit einem milden Lächeln zurück. »Er wird durchkommen, aber er braucht Hilfe von jemandem wie Sue oder Annalise, die sich aufs Heilen spezialisiert haben. Gib ihm weiter Wärme und lass ihn spüren, dass du da bist, aber reib deine Energie dabei nicht völlig auf. Evan können nur Profis helfen.«
Obwohl Jack es tief in sich schon selbst gewusst hatte, schockten ihn die Worte seines Vaters, weil er sich nicht ausmalen wollte, was man Evan angetan haben musste, um ihn so sehr zu schwächen.
»Jack, er kommt durch«, versicherte sein Vater sanft. »Wir bringen ihn zu uns und helfen ihm. Lorna hat schon Annalise kontaktiert und Sue auf die Mailbox gesprochen. Sie ruft auch Phil an, damit er zu uns kommt. Vielleicht bekommen wir Evan dann wach genug, dass er seine Eltern anrufen kann, um ihnen zu sagen, dass er während der Nebeltage bei einem Freund schläft. Wir müssen sie ja nicht unbedingt völlig schocken. Wenn er vorerst bei uns bleibt, kann er sich erholen, und wir können uns überlegen, wie es für ihn weitergeht, denn dass er nicht an die Akademie zurückgehen kann, ist ja wohl klar.«
»Nein«, knurrte Jack und strich sacht über Evans Herz. »Dahin geht er ganz sicher nicht zurück.«
Eddie betrachtete seinen Sohn mitfühlend, als er sah, wie sehr dieser sich um Evan bemühte.
Motorengeräusche drangen zu ihnen und kurz darauf rollten zwei Autos und elf Motorräder auf den überwucherten Vorplatz.
»Die Kavallerie ist hier.« Eddie wandte sich vom Fenster ab und kniete sich neben Evan, um ihn hochzuheben. »Zeit, von hier zu verschwinden.«
16:32 Uhr
Am Trainingshaus der Anfänger
Von seinem Wagen aus blickte Cornelius die Auffahrt hinauf zum Herrenhaus, das mehr und mehr im trüben Licht der Dämmerung zu verschwinden schien. Es hätte bedeutend angenehmere Orte gegeben, um abzuwarten, bis es Zeit war, zur Akademie zurückzukehren, doch die meisten lagen ungünstig weit entfernt. Sich hierher zurückzuziehen und ein bisschen Ruhe zu genießen, war ihm daher am praktischsten erschienen.
Wobei Ruhe genießen relativ war.
Die Koordinierung des heutigen Tages verlangte eine Menge Aufmerksamkeit. Aber die Mühe war es wert, wenn er damit Susan und Lorna eindrucksvoll zeigen konnte, wie raffiniert er vorzugehen wusste, um seine Rachepläne umzusetzen. Heute würden sie einen kleinen Vorgeschmack darauf bekommen, was ihnen in nächster Zeit noch blühte.
Dass Evan sich als so willensstark und loyal den Hunts gegenüber erwiesen hatte, war etwas, das er dabei hatte hinnehmen müssen. Er hatte zwar durchaus damit gerechnet, trotzdem war es bedauerlich, dass er Evan nicht auf seine Seite hatte ziehen können. Als Rache wäre das seine erste Wahl gewesen. Aber er war flexibel. Auch die alternative Variante würde ihre Wirkung nicht verfehlen.
Er tippte auf das Display seines Smartphones, um sich die Uhrzeit anzeigen zu lassen.
Kurz nach halb fünf.
Alle Zahnräder seines Plans waren jetzt in Gang gesetzt, um perfekt ineinanderzugreifen.
Einer seiner Männer hatte vor zehn Minuten im Hampstead Health Centre angerufen und sich an der Rezeption als Freund der Familie Hunt vorgestellt, der wegen eines familiären Notfalls dringend mit Doktor Hunt sprechen musste. Sobald er durchgestellt worden war, hatte er wie aufgetragen nur folgende Botschaft übermittelt und sofort wieder aufgelegt:
»In den Roehampton Brickworks braucht jemand Hilfe, der Ihnen am Herzen liegt. Und zwar schnell.«
Da Susan diesen Mann geheiratet hatte, vertraute Cornelius darauf, dass Hunt clever genug war, in der aktuellen Lage eine solche Botschaft nicht als dummen Streich abzutun, sondern tatsächlich Hilfe zu schicken. Evan sollte schließlich gefunden werden, um seine Nachricht zu überbringen.
Die Vorstellung, wie dieser Philoneus jetzt gerade hektisch versuchte, Leute zu mobilisieren, die zur Ziegelei fahren konnten, ließ Cornelius' Mundwinkel hämisch zucken.
Die ältesten Kinder fielen dafür schon mal aus. Die waren momentan noch im Scarlet Theater. Sicher würde Hunt deshalb bei den Rifkins und den Ghost Reapers anfragen. Je nachdem wie schnell diese aufbrechen konnten, war mit Evans Rettung in ungefähr einer Dreiviertelstunde zu rechnen.
Das passte dann perfekt zu der Inszenierung des tragischen Autounfalls, den seine armen Eltern erlitten hatten. Die beiden unbegabten Kretins zu verschleppen, war erstaunlich leicht gewesen. Er hatte sie heute ›spontan‹ zum Trainingshaus eingeladen, unter dem Vorwand, sie an der ersten großen Prüfung ihres Sohnes teilhaben zu lassen.
Als die beiden hier angekommen waren, hatten zwei seiner Männer sie in Empfang genommen, ihnen bis zur Bewusstlosigkeit Energie geraubt und sie dann zur Ziegelei gebracht. Dort waren sie das perfekte Mittel gewesen, um Evans Loyalität zu testen. Hätte der Junge sich auf seine Seite geschlagen, hätte er als Beweis für dessen aufrichtige Ergebenheit und Treue von Evan verlangt, seine Eltern zu töten.
Dazu war es jedoch nicht gekommen, da schnell offensichtlich gewesen war, dass die Loyalität des Jungen bei den Hunts lag. Daher hatten seine Eltern als Druckmittel herhalten müssen, um Informationen darüber zu erlangen, woher Susan von geminus obscurus wusste, wie sie ihm und den Dreizehn auf die Spur gekommen war, und ob sein Verdacht stimmte, dass Camren eins der damaligen Ritualkinder war.
Leider hatte Evan sich als äußerst willensstark erwiesen und ihm nicht alle erhofften Informationen geliefert. Trotzdem war er nützlich, um ein paar unmissverständliche Botschaften zu überbringen.
Bei der Vorstellung, wie geschockt und empört Susan über sein Vorgehen sein würde, lächelte Cornelius mit kalter Genugtuung.
Ob er mit seinem Verdacht bezüglich Camren richtiglag, würde er auf andere Weise herausfinden. Man sollte schließlich immer mehr als nur ein Ass im Ärmel haben. Sollte sich sein Verdacht dann bestätigen, würde er Susan noch viel mehr schocken.
Sein Handy klingelte.
»Ja?«
»Princeps, hier sind gerade zwei der Rifkins eingetroffen«, meldete sich sein Beobachter von der Ziegelei. »Eddie und Jack.«
Stirnrunzelnd warf Cornelius einen Blick auf die Zeitanzeige.
Es war noch viel zu früh dafür, dass irgendjemand in der Ziegelei ankam. Der Anruf in der Arztpraxis war gerade mal eine Viertelstunde her. Selbst wenn Hunt die beiden Rifkins sofort erreicht hatte, hätten sie niemals in dieser kurzen Zeit vor Ort sein können. Außer sie wären zufällig in der Gegend gewesen, doch wie wahrscheinlich war das?
»Sind sie allein?«
»So wie es aussieht, ja. Sie sind zu Fuß und kamen aus dem Wald am Nordende des Geländes. Wollten offenbar nicht gesehen werden. Jetzt sind sie im Verwaltungsgebäude und haben den Jungen gefunden. Ich kann hören, wie der Sohn den Namen ruft.«
Cornelius schwieg einen Moment, während er in Gedanken durchspielte, was dort gerade vor sich gehen mochte. »Vermutlich haben sie wie erwartet in einiger Entfernung geparkt, um zunächst unauffällig die Lage zu sondieren. Sie werden eine Falle vermuten und entsprechend vorsichtig sein. Bleib auf deinem Beobachtungsposten und melde mir, wenn mehr Leute anrücken oder sie Evan fortschaffen.«
»Verstanden.«
Cornelius beendete den Anruf und wählte stattdessen die Nummer von Alan Elcott, einem seiner Lehrer, dem er die Koordinierung am Unfallort übertragen hatte.
»Ja?«
»Wie sieht es bei euch aus?«
»Gut. Der Wagen liegt seit einer Viertelstunde unten und steht lichterloh in Flammen. Die Jungs mussten kaum nachhelfen.«
Sie hatten den Wagen der Millers an der Old Bridge Road von der Beddingbow Bridge gestoßen. Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatte es dort im Wald einen Fluss gegeben, der aber zur Bewässerung eines anderen Areals umgeleitet worden war. Das ursprüngliche Flussbett war daraufhin ausgetrocknet und heute führte die Beddingbow Bridge nur noch über eine knapp zwanzig Meter tiefe Schlucht voller Felsen und Gestrüpp. Dort hatten Andrew und Glenda Miller auf tragische Weise den Tod gefunden, als sie von der Straße abgekommen waren. Im verwilderten Wald von Richmond kam es immer wieder zu unerwartetem Wildwechsel. Wenn man da auswich und die Kontrolle über den Wagen verlor, endete das nicht selten in dramatischen Unfällen.
»Sind die Leichen schon stark genug verbrannt? Die Rifkins sind bereits bei Evan an der Ziegelei.«
Einen Moment herrschte Schweigen.
»Das ging zu schnell«, kam dann Elcotts Antwort.
»Ja, das ist mir auch klar«, gab Cornelius ungehalten zurück. »Aber damit müssen wir jetzt arbeiten. Sind die Leichen so stark verbrannt, dass du die Rettungskräfte rufen kannst?«
Wieder entstand eine kurze Pause, in der Elcott die Frage mit den Helfershelfern besprach, deren Antworten für Cornelius jedoch unverständlich blieben.
»Ja, ich denke schon«, drang schließlich Elcotts Stimme wieder aus dem Lautsprecher. »Bis die Rettungskräfte hier eintreffen, wird ja auch noch einiges an Zeit vergehen. Welche Version erzähle ich ihnen?«
Bei mehr als nur einem Ass im Ärmel, musste man sich auch mehr als eine Coverstory zurechtlegen, damit die alternative Wahrheit glaubhaft wurde.
»Du warst auf dem Weg zur Akademie, hast an der Brücke Rauch und Feuerschein gesehen und natürlich angehalten, um nachzusehen, was passiert ist. Beim Anblick des brennenden Wagens unten in der Schlucht bist du sofort runtergeklettert, um den Insassen zu helfen. Ohne groß nachzudenken, dass es besser gewesen wäre, erst den Notruf abzusetzen. Du standest unter Stress und die Personenrettung ging für dich vor. Als du unten angekommen bist, hast du gesehen, dass es bereits zu spät ist. Gleichzeitig hast du den Wagen der Millers erkannt. Sie sind die Eltern von Evan, dem ersten Normalo, der zu uns an die Akademie gekommen ist. Das hat dich so geschockt, dass du mich angerufen hast, damit ich Evan darauf vorbereiten kann. Ich war mit ihm im Trainingshaus der Anfänger, nicht weit vom Unfallort. Seine Eltern waren zu uns unterwegs. Als ich Evan die Nachricht überbracht habe, wollte er mir nicht glauben und den Unfall mit eigenen Augen sehen. Beim Anblick brach er zusammen und ich habe ihn mit Silberenergie zur Ruhe geschickt. Ich bringe ihn gerade zu Freunden, die sich um ihn kümmern werden, während du pflichtbewusst an der Unfallstelle geblieben bist, um auf die Rettungskräfte zu warten, die du alarmiert hast. Mach bei dem Anruf schon deutlich, dass die Insassen tot sind.«
»Verstanden. Wohin schicke ich die Polizei, falls sie mit dir oder Evan reden wollen?«
»Sag ihnen nur, dass ich den Jungen zu seinen Freunden bringe. Ich weiß noch nicht, ob die Rifkins Evan mit zu sich nehmen oder ihn zu den Hunts bringen. Das kläre ich gleich. Gib der Polizei meine Handynummer, falls sie mich kontaktieren wollen. Den Rest erledige ich.«
»Verstanden. Dann schick ich jetzt die Jungs weg und warte noch zehn Minuten. Dann ist es bei der Ankunft der Rettungskräfte stockfinster, was die Bergung noch komplizierter und langwieriger machen wird. Bis dahin sind die Leichen sicher völlig verbrannt.«
»Gut. Sei überzeugend. Ich halte mich für einen Anruf der Polizei bereit.«
Sein Handy meldete einen weiteren Anruf.
»Ich muss auflegen. Brent meldet sich von der Ziegelei.« Ohne eine weitere Antwort Elcotts abzuwarten, beendete Cornelius das Gespräch mit ihm. Er wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte und er seine Rolle gut spielen würde.
»Ja?«, nahm er den Anruf seines Beobachters entgegen.
»Sie sind mit einem Großaufgebot hier. Zwei Wagen. Den Nummernschildern nach die der Rifkins. Außerdem elf Biker der Mighty Evils.«
Cornelius presste seine Lippen zu einem schmalen Strich.
Also waren sie nicht zufällig in der Nähe gewesen. Was bedeutete, dass Evan irgendeinen Weg gefunden haben musste, um Hilfe zu rufen.
Aber wie?
Er hatte kein Handy dabeigehabt.
Und selbst wenn, hätte er es nicht benutzen können. Er hatte den Jungen völlig geschwächt und ihm die Kontrolle über seinen Körper genommen. Er hätte niemals in eine Tasche greifen und seinen Freunden eine Nachricht zukommen lassen können.
Kurz zermarterte er sich darüber den Kopf, weil es an ihm nagte, dass er nicht sah, wie Evan diese Kommunikation geglückt war. Dann schob er den Gedanken jedoch von sich, weil er jetzt einen klaren Kopf brauchte, um die Zahnrädchen seines Plans, die ein wenig knirschten, wieder reibungslos in die Spur zu bringen.
»Wen erkennst du?«, wollte er von seinem Beobachter wissen, obwohl ihm klar war, dass es in der Dämmerung schwierig sein dürfte, Details auszumachen.
»Von den Bikern niemand. Sie behalten ihre Helme auf und sichern die Umgebung. In einem der Wagen ist Lorna Rifkin. Im anderen ihre Tochter Nell, Leslie Rascal und Dash Hendrix. Sie sichern ebenfalls. Eddie trägt den Jungen gerade aus dem Haus ins Auto. Lorna sitzt am Steuer.«
Es entstand eine kurze Pause.
»Evan ist jetzt im Wagen. Eddie steigt vorne zu Lorna. Jack ist hinten bei Evan. Die anderen steigen zurück in den zweiten Wagen. … Jetzt fahren alle los.«
»Gut. Warte noch zehn Minuten, dann ist dein Job erledigt. Sei aber vorsichtig, wenn du das Gelände verlässt. Vielleicht lassen sie ihrerseits einen Beobachter zurück.«
»Verstanden.«
»Gute Arbeit. Du erhältst deinen verdienten Bonus noch heute Abend.«
»Danke, Princeps.«
»Harris meldet sich bei dir, sollte ich einen weiteren Sonderauftrag zu vergeben haben.«
»Immer wieder gerne.«
»Gut zu wissen.«
Cornelius legte auf und atmete zufrieden durch. Bis auf das äußerst frühe Eintreffen der Retter war alles wie am Schnürchen gelaufen. Er wartete fünf Minuten, dann wählte er Lornas Nummer, um das letzte Zahnrädchen in Gang zu setzen.
Lorna steuerte den Familienkombi hinter Nells Wagen durch den Wald von Richmond. Über den Rückspiegel warf sie einen Blick nach hinten zu Jack und Evan, konnte in der Dunkelheit aber kaum mehr als ihre Silhouetten ausmachen. Jack hatte Evan dicht an sich gezogen, um ihn zu wärmen, doch allen war klar, dass nur Sue oder Annalise die abgrundtiefe Kälte aus seinem Inneren vertreiben konnte. Leider hatte Lorna bisher keine von beiden erreichen können. Wenn sie in ihren Kliniken arbeiteten, konnten sie ihre Handys nicht immer bei sich tragen.
Dafür hatte Phil sich bei ihr gemeldet, während sie auf dem Forstweg auf die Ankunft ihrer Back-up-Leute gewartet hatte. Jemand hatte in seiner Praxis angerufen und sich als Freund der Familie ausgegeben, der wegen eines Notfalls mit ihm hatte sprechen wollen.
Als Phil den Anruf alarmiert entgegengenommen hatte, hatte eine ihm unbekannte Stimme in den Hörer gewispert, dass jemand in den Roehampton Brickworks Hilfe bräuchte. Da die Akademie in Roehampton lag, hatte er natürlich sofort an Evan gedacht, und Lorna angerufen, um sie zu fragen, ob sie von ihren eingeschleusten Lehrkräften etwas Beunruhigendes gehört hatte und ob sie vielleicht jemanden aus der Akademie zum Nachsehen hinschicken könnte. Lorna hatte ihm erklärt, dass sie bereits vor Ort waren und nach Evan suchten.
Keine zehn Minuten später hatte sie ihn zurückgerufen, nachdem sie von Eddie erfahren hatte, wie es um Evan stand und sie weder Annalise noch Susan hatte erreichen können.
»Ich rufe Sue im Krankenhaus an«, hatte Phil versprochen. »Sie wird es irgendwie regeln, dass sie ins Evil kommen kann. Ich komme auch. Wann seid ihr ungefähr da?«
Lorna hoffte, so zügig wie möglich, denn sie mussten Evan schnellstens aufwecken. Je länger er in dieser tiefen Bewusstlosigkeit blieb, desto schwieriger wurde es, ihn daraus zurückzuholen. Außerdem mussten sie dringend herausfinden, was geschehen war, und welches perfide Spiel Cornelius hier mit ihnen trieb.
Ihr Handy leuchtete in der Halterung am Armaturenbrett auf und begann zu klingeln. Sie rechnete mit einem Anruf von Phil oder vielleicht von Sue, stattdessen stand dort jedoch ein ganz anderer Name.
Cornelius Carlton.
»Was zum Teufel?«, murmelte Eddie neben ihr, als auch er sah, wer der Anrufer war.
Lorna presste kurz die Kiefer aufeinander, um sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen. Dann nahm sie den Anruf entgegen.
»Ja?« Sie gab sich Mühe, völlig neutral zu klingen.
»Lorna, tut mir leid, wenn ich störe.«
Cornelius klang ergriffen und voller Mitgefühl, was Lornas Wut nur noch höher kochen ließ.
»Mir ist klar, dass du nach diesem schrecklichen Geschehen gerade keine Zeit für Small Talk hast. Ich wollte mich nur noch einmal bei dir dafür bedanken, dass du und deine Familie bereit wart, Evan bei euch aufzunehmen und euch um ihn zu kümmern. Seine Eltern bei diesem furchtbaren Unfall an der Beddingbow Bridge zu verlieren, hat ihm völlig den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich musste ihn zur Ruhe schicken, um ihn zu euch bringen zu können und es beruhigt mich außerordentlich, ihn bei euch in so fürsorglichen Händen zu wissen. Richtet ihm meinen Gruß aus, wenn er wieder zu sich kommt. Und natürlich erwarte ich ihn nicht zurück an der Akademie. Es braucht Zeit, einen so grausamen Schicksalsschlag zu verkraften. Ich wünsche ihm dafür alles erdenklich Gute und bitte lass mich wissen, wenn ich irgendetwas für ihn oder euch tun kann. Jetzt möchte ich dich aber nicht länger aufhalten. Ihr seid gerade sicher alle sehr gefordert. Ganz viel Kraft und kommt gut durch die Nebelzeit.«
Er hatte aufgelegt, bevor Lorna auch nur die Chance gehabt hätte, etwas zu erwidern.
»Hat er gesagt, dass Evans Eltern tot sind?«, fragte Jack geschockt.
»Ich hab keine Ahnung, was für ein krankes Spiel hier läuft.« Eddie hatte sein Handy gezückt. »Aber ich sag Flint, dass er mit seinen Leuten sofort zur Beddingbow Bridge fahren soll. Die ist nicht weit von hier.«
»Mach das.« Lorna wählte Phils Nummer. »Jack, sag Nell Bescheid. Ich rufe Phil an. Und dann sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich nach Hause kommen. Evan muss aufwachen und uns sagen, was passiert ist. Cornelius glaube ich kein Wort.«
Undurchdringliche Finsternis.
Eisige Kälte.
Seine Seele schien darin festzustecken.
Betäubt und eingefroren.
Genauso wie sein Bewusstsein und all seine Gedanken.
Doch eigentlich war das gut.
Er wollte nicht denken.
Wollte nicht fühlen.
Alles, was er zuletzt gefühlt hatte, war Schmerz gewesen.
Unerträglicher Schmerz.
In seinem Körper.
Und noch schlimmer in seiner Seele.
Diese düstere Kälte, die ihn umarmte und alles taub machte, schien daher äußerst verlockend.
Doch etwas in ihm warnte ihn davor, sich ihr hinzugeben. Wollte, dass er sich wehrte, denn wenn er es nicht tat, würde er für immer hier an diesem kalten, finsteren Ort verloren sein - in ewiger Einsamkeit.
Sein Kampfeswille regte sich.
Kälte und Dunkelheit betäubten zwar den Schmerz und umnebelten schreckliche Erinnerungen, aber sie waren falsche Freunde.
Er wollte nicht für immer hier allein sein.
Er wollte zu seinen echten Freunden. Glaubte sogar, jemanden an seiner Seite zu spüren. Jemanden, der ihm guttat.
Nicht Carlton, der ihn quälte.
Er versuchte, sich an das Gefühl dieser guten Präsenz zu klammern. Sich an ihr festzuhalten, um sich aus diesem dunklen, kalten Morast herauszuziehen.
Doch er war so schrecklich müde und ihm fehlte jede Kraft. Immer wieder glitt er zurück in Kälte und Finsternis und drohte, darin zu versinken. Tiefer, immer tiefer, bis er nicht mehr hinausfinden würde.
»Kannst du ihm helfen?« Angespannt beobachtete Jack Sue, die ihre Hände auf Evans Stirn gelegt hatte und jetzt Silberenergie in ihn sickern ließ.
Sie hatten Evan in eins ihrer Gästezimmer gebracht. Sue und Phil waren bereits im Evil bei Willa und Hank gewesen, als sie angekommen waren, und kaum dass sie Evan aufs Zimmer gebracht hatten, hatten die beiden ihn untersucht.
Bei Licht war eine kleine Platzwunde an seiner rechten Schläfe zum Vorschein gekommen, die aber nicht dramatisch wirkte. Auch Evans Unterlippe war blutig und geschwollen und auf Kinn und Wange waren rötlich-blaue Verfärbungen auf der Haut zu erkennen. Offensichtlich war er geschlagen worden.
Wut und Hass auf Carlton ließen Jack die Fäuste ballen, als er die Spuren der Misshandlung sah.
Abgesehen von den Blutergüssen war Evans Gesicht totenbleich und er wirkte noch immer völlig leblos. Phil hatte aber Herzschlag und Blutdruck gemessen und beides war noch immer da. Zwar nur schwach und sehr niedrig, aber Evan lebte und Sue würde ihn hoffentlich zurückholen können.
»Ja, ich kann ihm helfen«, versicherte sie. Sie hielt ihre Augen geschlossen, weil sie sich so besser konzentrieren konnte und gab sich Mühe, alle negativen Gedanken Richtung Cornelius zu verdrängen, als sie erkannte, wie tief dieser Dreckskerl Evan in die schwarze Zone getrieben hatte.
Sue wusste nicht, ob es einen offiziellen medizinischen Fachausdruck dafür gab, doch Annalise und sie nannten den Bereich, in den Schockpatienten ihr Bewusstsein zurückzogen, wenn sie ein furchtbares Trauma erlebt hatten, schwarze Zone. Es war wie ein Sumpf aus körperlichen und seelischen Schmerzen, Hilflosigkeit und Überforderung, aus dem die Patienten allein kaum herausfanden.
Manchmal lag es daran, dass ihnen Kraft und Orientierung fehlten. Manchmal auch daran, dass sie nicht herausfinden wollten. Im ersten Fall half, sie zu stärken, an die Hand zu nehmen und behutsam zurückzubringen. Im zweiten Fall brauchte es viel gutes Zureden und Unterstützung, damit die Betroffenen den Mut fanden, sich dem zu stellen, was in der Realität auf sie wartete. Wenn nur Kraft und Orientierung fehlten, konnte Sue so gut wie immer helfen. Waren Verzweiflung und Depression in einem Menschen dagegen zu groß, schaffte sie es häufig nicht, sie zurückzuholen. Wer sich selbst aufgab, dem konnte auch sie nur selten helfen.
Aber Evan war ein Kämpfer, das merkte sie sofort. Sie spürte zwar, wie sehr Cornelius seine Seele gequält hatte, wie viel Kraft er ihm genommen und wie viel Schmerz und Verzweiflung er ihm verursacht hatte. Doch er hatte ihn nicht gebrochen.
Evan wollte zurück. Er war einer derjenigen, die nur Kraft und Orientierung brauchten.
Sue schickte ihm beides, öffnete dann die Augen und wandte sich zu Jack um, der hinter ihr stand und trotz ihrer Zusicherung weiter angespannt dreinblickte.
»Willst du mir helfen, ihm zu helfen?«
»Sicher«, sagte Jack sofort. »Was kann ich tun?«
Sue deutete neben Evan. »Setz dich zu ihm und nimm seine Hand.«
Sie musterte Jack, als er der Aufforderung augenblicklich nachkam und neben Evan aufs Bett kletterte.
»Du siehst erschöpft aus, also gib ihm keine Energie mehr. Das mache ich. Vermittle ihm nur das Gefühl, dass du da bist und er in Sicherheit ist. Genauso, wie du es bei einem Totenbändiger machen würdest. Evan ist sehr tief in dem Sumpf aus Kälte und Dunkelheit versunken. Ich kann aber fühlen, dass er da raus will. Er braucht nur jemanden, der ihm den Weg zeigt und ihm hilft, sich da herauszuziehen. Je mehr Halt er dabei hat, je mehr Ankerpunkte, an die er sich klammern kann, desto besser. Er hat zwar keine Silberenergie, aber dafür Willenskraft und zwar eine ganze Menge. Mach ihm also Mut, zeig ihm, dass du da bist, und sei ein Ankerpunkt für ihn, okay? Den Rest übernehme ich.«
Jack nickte und nahm Evans Hand in beide von seinen.
Ich bin hier, hörst du?
Er packte Wärme, Geborgenheit und Sicherheit in seine Gedanken und schickte sie mit Silberenergie in Evan. Sue hatte zwar recht und er war k. o., weil er Evan schon auf dem Weg hierher die ganze Zeit Energie gegeben hatte, doch er war noch nicht an seinem Limit und zur Not würden seine Mum oder sein Dad ihm Energie geben können. Beide standen mit Phil bei ihnen im Zimmer und hielten sich bereit, um zu helfen falls nötig.
Sue hatte wieder die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz aufs Heilen.
Jack schloss ebenfalls die Augen.
Ich weiß, du musst Fürchterliches durchgemacht haben, aber jetzt bist du in Sicherheit. Du bist bei mir zu Hause. Sue ist hier und hilft dir und sie ist verdammt gut darin. Also kämpfe weiter, auch wenn es anstrengend ist. Ich weiß, du schaffst das!
Er hatte keine Ahnung, wie lange er so dasaß und sich voll und ganz auf Evan konzentrierte. Er hielt die Augen geschlossen und blendetet alles um sich herum aus. Dumpf hörte er, wie seine Eltern mit Phil sprachen, doch ihre Worte kümmerten ihn nicht, weil sie gerade nicht wichtig waren. Wichtig war jetzt nur, für Evan da zu sein. Was immer Carlton ihm in den letzten Stunden angetan hatte, hatte er ganz allein durchstehen müssen. Aber das war jetzt vorbei.
Nach Carltons Anruf hatte Flint zwei seiner Leute zur Beddingbow Bridge geschickt, an der es tatsächlich einen schrecklichen Unfall gegeben hatte. Zwei Personen waren mit ihrem Wagen von der Straße abgekommen und in die Schlucht gestürzt. Der Wagen musste sofort Feuer gefangen haben. Die beiden Insassen hatten keine Chance gehabt. Die Lösch- und Bergungsarbeiten gestalteten sich in dem unzugänglichen Areal bei Dunkelheit und aufziehendem Nebel zudem als äußerst schwierig und man war sich nicht sicher, ob man nicht abbrechen und alles Weitere auf den nächsten Tag, vielleicht sogar auf einen Zeitpunkt nach den Nebeltagen verschieben musste. Den Insassen konnte ohnehin nicht mehr geholfen werden.
Als Unfallursache ging man von nassem Laub, überhöhter Geschwindigkeit und möglicherweise einem plötzlichen Ausweichmanöver aufgrund von Wildwechsel aus. In den Wäldern und Parks rund um London hatte es in den letzten Tagen schon einige solcher Unfälle gegeben. Zwei davon ebenfalls mit tödlichem Ausgang.
Allen war klar gewesen, dass das nur eine Coverstory war, die Carlton inszeniert hatte, um die eigentliche Todesursache zu verschleiern. Das zu beweisen, dürfte allerdings schwer werden.
Jack gab sich Mühe, Wut und Hass zu verdrängen, weil Evan jetzt positive, bestärkende Emotionen brauchte.
Wusste er bereits, dass seine Eltern tot waren?
Hatte er es vielleicht sogar mit ansehen müssen?
Jack schluckte hart.
Wenn er sich vorstellte, seine Mum und seine Dads zu verlieren - und dann auch noch so plötzlich, so grausam - das würde ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Ja, er war schon neunzehn und kein kleines Kind mehr, aber seine Eltern zu verlieren - allein der Gedanke daran schnürte ihm die Kehle zu. Aber er hätte dann zumindest noch all seine Geschwister. Evan war ein Einzelkind.
Hatte er Onkel oder Tanten?
Großeltern?
Jack wusste es nicht.
Er wusste nur, dass Evans Verhältnis zu seinen Eltern nicht besonders eng gewesen war. Sie hatten in ihrer Welt gelebt, er in seiner. Doch auch wenn sie Evan oft nicht verstanden hatten und er häufig frustriert von ihnen gewesen war, hatte er sie geliebt und immer wieder betont, dass sie - auf ihre Art - nur das Beste für ihn wollten. Sie mochten sich vielleicht nicht unendlich nahegestanden haben, aber dass sie jetzt tot waren, musste für Evan trotzdem die Hölle sein.
Aber du bist nicht allein, hörst du? Ich bin hier. Wir alle sind hier. Meine Familie und die Hunts. Wir helfen dir. Versprochen.
Evans Finger in seinen zuckten.
Sofort riss Jack die Augen auf, nicht sicher, ob es nicht vielleicht nur Wunschdenken gewesen war.
»Er kommt zu sich«, sagte Sue jedoch im selben Moment und Jack wurde ganz schlecht vor Erleichterung.
»Evan?«, sprach Sue ihn leise an und fuhr mit ihren Daumen von der Mitte seiner Stirn hin zu den Schläfen. Dabei zog sie eine hauchfeine Spur Silbernebel über seine Haut, ließ ihn in Evan sinken und zog ihre Hände zurück, als seine Augenlider zu flattern begannen. »Du bist in Sicherheit.«
Jacks Inneres zog sich voller Mitgefühl zusammen, als er den Blick in Evans Augen sah.
Schock und Schmerz lagen darin.
Trauer.
Völlige Erschöpfung.
Aber auch unendliche Erleichterung, als er Jack und Sue erkannte. Tränen begannen zu schimmern und ein kraftloses Schluchzen brach aus seiner Kehle, als er mühsam Luft holte und die Augen dann fest zusammenkniff, als ihn alles zu überwältigen schien.
»Schon okay, lass es raus. Alles, was du rauslässt, kann dich innerlich nicht mehr zerreißen«, fing Sue ihn auf und spendete ihm Kraft und Trost, um ihm gegen die dunkle Woge zu helfen, damit die ihn nicht zerbrach.
Evan versuchte, sich abzuwenden, war aber noch viel zu geschwächt, um sich rühren zu können. Er konnte nur wie gelähmt daliegen, während ihm stille Tränen übers Gesicht rannen.
Der Anblick riss an Jacks Herz und er hätte alles dafür gegeben, es für Evan irgendwie leichter machen zu können. Doch mehr als da zu sein und ihm die Zeit zu geben, die er brauchte, konnten sie nicht tun.
Als er sich schließlich wieder fing und seine Tränen versiegten, bot Sue ihm einen Schluck Wasser an und stützte seinen Kopf, weil Evan noch immer die Kraft fehlte, sich zu bewegen, geschweige denn ein Wasserglas zu halten.
»W-Was stimmt mit mir n-nicht?«, brachte er matt hervor, als er nach dem Trinken völlig erledigt in die Kissen zurücksank und ein Zittern durch seinen Körper ging.
»Dir wurde sehr viel Energie genommen«, erklärte Sue. »So viel, dass es nicht ausreicht, dir welche zurückzugeben, damit du dich wieder kräftig fühlst. Ich konnte dich zwar aus der Bewusstlosigkeit herausholen, aber dein Körper braucht Zeit, um sich von den Strapazen zu erholen.«
Evan schauderte bei der Erinnerung an den kalten, dunklen Ort, an dem seine Seele gefangen gewesen war und aus dem er sich allein niemals hätte befreien können.
»Danke«, murmelte er erstickt.
Sue schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. »Dafür nicht.«
Sie strich ihm ein weiteres Mal über die Stirn, ließ noch ein bisschen Silberenergie in ihn sickern und fühlte dabei seine Körpertemperatur. Er war immer noch unterkühlt.
Evan blickte zu Jack, der auf der anderen Seite neben ihm auf dem Bett hockte und seine Hand hielt. Er wollte etwas sagen, doch Jack lächelte bloß und schüttelte den Kopf.
»Keine Worte nötig«, versicherte er leise und drückte Evans Finger.
»Ich weiß, du musst Furchtbares erlebt haben«, lenkte Sue Evans Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Und eigentlich sollte Phil jetzt nur schnell deine Wunden verarzten und dir dann etwas zum Schlafen geben, damit dein Körper und deine Seele zur Ruhe kommen können. Aber bisher kennen wir nur Cornelius' Version und es ist klar, dass er die Wahrheit verbogen hat. Deshalb wäre es wichtig, von dir zu hören, was wirklich passiert ist. Denkst du, das schaffst du?«
Evans Blick flackerte, dann schloss er die Augen.
»Evan, weißt du, was mit deinen Eltern passiert ist?« fragte Sue leise, als er nichts sagte.
Es tat ihr in der Seele weh, ihn das fragen zu müssen, doch es führte nun mal kein Weg daran vorbei und bei der Trauer, die sie in ihm gespürt hatte, war offensichtlich, dass er bereits wusste, dass sie tot waren.
Schmerz verzerrte sein Gesicht und er atmete mühsam durch. Dann öffnete er die Augen wieder, vermied es aber, Sue oder Jack anzusehen, und starrte stattdessen hinauf an die Decke.
»Carlton hat sie getötet.«
Seine Stimme klang leer. Ohne Emotionen. Für die hatte er gerade einfach keine Kraft. Er musste sie wegsperren, weil er sonst nicht in der Lage gewesen wäre, Bericht zu erstatten. Und das musste er, weil es wichtig war, dass die anderen erfuhren, was passiert war. Deshalb begann er stockend zu erzählen.
»Ich dachte, Carlton würde mich auch töten«, kam er nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich - endlich - zum Ende und verbat sich die Erinnerung an das schreckliche Gefühl, sterben zu müssen. Trotzdem musste er tief durchatmen, bevor er weitersprechen konnte.
»Hat er aber nicht«, presste er dann hervor. »Er hat nur immer wieder seine Silberenergie in mich gebohrt und meinen Körper brennen lassen.«
Zum ersten Mal nahm er seinen Blick wieder von der Decke und sah zu Sue. »Und er wollte, dass ich dir eine Botschaft überbringe.«
»Mir?«, fragte sie stirnrunzelnd.
Evan nickte matt. »Er hat gesagt, dass er mir alle Kraft und das Bewusstsein nimmt, aber du wirst mich aus der schwarzen Kälte zurückholen.«
»Deshalb hat er mich anrufen lassen, damit wir dich in der Ziegelei finden«, meinte Phil, als der Punkt Sinn ergab.
»Und welche Botschaft sollst du mir überbringen?«, fragte Sue unbehaglich, weil klar war, dass es nichts Gutes sein konnte.
Evan schloss die Augen, weil er die Blicke der anderen nicht ertragen konnte. »Ich soll dir sagen, dass ich das Beispiel dafür bin, was er einem bedeutungslosen Niemand antut, der dachte, er könnte ihn hintergehen und an der Akademie herumspionieren. Ich hätte zwar nichts erfahren und keinen Schaden angerichtet, trotzdem war es ihm wichtig, mich allein für den dreisten Versuch bezahlen zu lassen.«
Wieder musste er tief durchatmen und kämpfte damit, die Erinnerung an Angst, Folter und den Tod seiner Eltern nicht zuzulassen. Stattdessen zwang er sich, Sue wieder anzusehen und seinen Bericht endlich hinter sich zu bringen.
»Ich soll dir ausrichten, dass du dich fragen sollst, wie er dich dann wohl dafür bestrafen wird, dass du und deine Leute an Samhain seine Pläne durchkreuzt und ihm die Geminuskinder weggenommen habt. Außerdem wäre es egal, dass ich ihm nichts über Cam verraten hätte. Er hätte andere Mittel und Wege, um herauszufinden, ob er ein Geminusträger ist, und falls er einer ist, überlässt er es deiner Fantasie, dir vorzustellen, was er dann mit ihm machen wird. Das, was er heute mir und meinen Eltern angetan hat, war nur der Anfang und nichts im Vergleich dazu, was er dir und deiner Familie antun wird.«
Sue lief es kalt den Rücken hinunter.
Ihr war klar, dass das keine leere Drohung war. Schon als Evan gerade berichtet hatte, dass Cornelius ihn gezielt zu Cam verhört hatte, hatte sie einen bestürzten Blick mit Phil getauscht. Offenbar war Cornelius beim Nachforschen darüber, wie man ihm und den Dreizehn auf die Schliche gekommen war, auf Cam gekommen und hatte sich von Evan diesbezüglich Gewissheit erhofft. Dass Cornelius ihn dafür gefoltert hatte und jetzt als Spielball benutzte, um ein Exempel zu statuieren, lastete schwer auf ihrer Seele, und sie konnte Evan nicht genug Respekt dafür zollen, dass er loyal geblieben war und versucht hatte, Cam zu schützen.
Sie suchte erneut Phils Blick und beide brauchten keine Worte, um sich einig zu sein.
Sie durften sich nicht einschüchtern lassen. Dass sie nach dem Schlag gegen Cornelius auf seiner Racheliste stehen würden, war ihnen bewusst gewesen. Falls er also tatsächlich dachte, sie würde sich nach seiner Botschaft jetzt verschreckt zurückziehen, konnte er nicht falscher liegen. Nach allem, was er Evan und seinen Eltern heute angetan hatte, war sie nur umso entschlossener, ihn zu Fall zu bringen.
Phil hatte sein Handy gezogen und tippte eine Nachricht.
»Mum weiß schon Bescheid. Sie und die Kids waren aber ohnehin bereits dabei, das Haus für den Nebellockdown zu verriegeln. Ich glaube zwar nicht, dass Carlton heute noch etwas versuchen wird, aber sicher ist sicher.«
Er schickte eine weitere Nachricht ab und sah wieder vom Handy auf. »Gabriel, Sky, Connor und Matt habe ich ebenfalls Bescheid gegeben, aber ihre Handys sind noch aus. Ich hab ihnen geschrieben, dass sie nach Hause fahren sollen, sobald sie können. Thad habe ich auch eine Nachricht geschickt. Er soll Pratt alles erzählen und herausfinden, ob wir Carlton für das, was er heute getan hat, drankriegen können.«
Er steckte sein Handy weg und trat zu Evan ans Bett. »Was du heute durchmachen musstest, tut mir unendlich leid, und ich danke dir aus tiefstem Herzen dafür, dass du Cam beschützt hast. Das werden Sue und ich, das wird keiner aus unserer Familie dir je vergessen. Du gehörst jetzt zu uns genauso wie zu den Rifkins und wir sind immer für dich da.«
Lorna und Eddie waren ebenfalls näher ans Bett getreten und nickten bekräftigend zu Phils Worten.
»Du bleibst erst mal bei uns und kommst wieder zu Kräften«, meinte Eddie. »Um alles andere kümmern wir uns, wenn es dir besser geht.«
Evan konnte nichts sagen.
Die Worte taten gut, führten ihm aber gleichzeitig vor Augen, wie brutal sein Leben heute aus den Angeln gehoben worden war.
Alles würde jetzt anders werden. Komplett.
Er spürte, wie sein Verstand und seine Seele davor dichtmachten und er es nicht schaffte, sich damit auseinanderzusetzen. Ihm war bewusst, dass er sich bei allen hätte bedanken sollen. Sie hatten ihn gesucht und hierhergebracht und ihm damit das Leben gerettet. Außerdem war es alles andere als selbstverständlich, dass er hierbleiben durfte und man sich um ihn kümmerte.
Doch er bekam nichts über die Lippen. Seine Kehle schnürte sich bloß zu und wieder begannen Tränen zu brennen. Er schloss die Augen und wünschte sich eine Pause von der Welt. Er konnte gerade einfach nicht mehr.
Mitfühlend strich Sue ihm durchs Haar und ließ Seelenfrieden in ihn sickern. »Du solltest jetzt schlafen. Dein Kopf und deine Seele brauchen genauso Ruhe wie dein Körper. Phil verarztet noch schnell deine Wunden und gibt dir dann ein Schlafmittel.«
Noch einmal schenkte sie ihm Frieden, dann drückte sie Evan zum Abschied die Schulter und stand auf, um Phil Platz zu machen.
Apathisch ließ Evan die Versorgung der kleinen Wunden an seiner Schläfe und Lippe über sich ergehen und nahm dumpf wahr, wie Eddie, Lorna und Sue leise miteinander sprachen. Er wollte aber nicht mehr zuhören. Er war völlig erledigt. Körperlich und mental. Alles war gerade zu viel.