Raiders - Nadine Erdmann - E-Book

Raiders E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Mit Geistern kennen die Hunters sich aus. Auch im Kampf gegen die Mutanten sind sie mittlerweile geübt. Nicht nur das Militär greift deshalb auf ihre Unterstützung zurück, sondern auch Städte und Gemeinden rufen sie immer häufiger zu Hilfe, um Schottland wieder sicherer zu machen. Gegen giftigen Regen sind allerdings auch die Hunters machtlos. Auch werden die Raiders, die plündernd durchs Land ziehen und dabei stetig dreister und gewalttätiger werden, zu einer unkalkulierbaren Bedrohung für die Bevölkerung. Dann ist da noch Finn, dem Henry in seinen Träumen begegnet. Wie weit gingen die Experimente des IPS wirklich? Welche Informationen hat Sam auf den Festplatten des Instituts gefunden, die er noch nicht mit seinen Freunden geteilt hat?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

 

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2025 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Auflage (März 2025)

Coverdesign: Pietro D'Angelo

Unter der Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock.com

ISBN Epub: 978-3-948194-37-6

www.kuneli-verlag.de

Die Autorin

Nadine Erdmann liebt Bücher und Geschichten, seit sie denken kann. Selbst welche zu schreiben, war aber lange Zeit nur eine fixe Idee und so sollte zunächst ein »anständiger« Beruf her. Sie studierte Lehramt, verbrachte einen Teil ihres Studiums in London und unterrichtete als German Language Teacher in Dublin. Zurück in Deutschland wurde sie Studienrätin für Deutsch und Englisch und arbeitete an einem Gymnasium und einer Gesamtschule in NRW.

 

Der »anständige« Beruf war ihr damit sicher, ihr Herz hing aber mehr und mehr daran, Geschichten zu schreiben. Nach der Krebserkrankung ihrer Schwester entschied sie sich, den Schritt in die Schriftstellerei zu wagen, weil man nicht immer alles auf später verschieben kann. Seitdem veröffentlichte sie drei Reihen (die »CyberWorld«, die »Lichtstein-Saga« und die »Totenbändiger« in ganz unterschiedlichen Genres, die zusammen mit den »Haunted Hunters« im Kuneli Verlag ab 2024 ein neues Zuhause gefunden haben.

Mehr über die Autorin und ihre Werke:

www.nadineerdmann.de

www.facebook.com/Nadine.Erdmann.Autorin

www.instagram.com/nadineerdmann

Ihre Werke im Kuneli Verlag

CyberWorld (2024 als E-Book)

Mind Ripper

House of Nightmares

Evil Intentions

The Secrets of Yonderwood

Burning London

Anonymous

Bunker 7

Lichtstein-Saga (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)

Aquilas

Andolas

Fineas

Enyas

Die Totenbändiger (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)

Sammelband 1 - Unheilige Zeiten

Sammelband 2 - Äquinoktium

Sammelband 3 - Geminus

Sammelband 4 - Samhain

Sammelband 5 - Zwillingskräfte

Sammelband 6 - Wintersonnenwende

Alles und Nichts - Kurzgeschichte

Haunted Hunters (ab 2024 als E-Book und Taschenbuch)

Neue Wirklichkeit

Daemons

Raiders

Haunted Hunters

 

Band 3

Raiders

 

 

Nadine Erdmann

 

 

 

Kuneli Verlag

 

 

 

 

The night is darkest just before the dawn. But I promise you, the dawn is coming.

 

(Aus: The Dark Knight)

1

Sonntag, 2. Juni, 05:07 Uhr

Isle of Ciùineas

 

»Daddy!«

Die freudig aufgeregte Stimme seines Sohns drang in Aydens Schlaf und nur einen Augenblick später kletterte Henry zwischen ihn und Will ins Bett.

»Ich hab heute Nacht was ganz, ganz Tolles geträumt! Ich bin durch eine Zaubertür gegangen und war auf einem Spielplatz. Dem bestesten Spielplatz der ganzen Welt! Da gab es nicht nur Schaukeln und Rutschen und einen Sandberg. Da war auch ein Bach mit Wasser zum Sandmatschen. Und es gab Häuser in den Bäumen mit Kletterseilen und Wackelbrücken von einem Baumhaus zum anderen. Und Finn war da. Er ist mein neuer Freund und hat mir gezeigt, wie wir im Traum zaubern können. Das war so cool! Wir haben im Bach einen Hafen gebaut, aber wir hatten keine Schiffe. Aber Finn hat gesagt, wir müssen uns die nur ganz doll vorstellen. Und weißt du was? Dann waren die wirklich da! Finn hat gesagt, so hat er den ganzen Spielplatz gemacht. Wir können da alles hinzaubern, was wir haben wollen!«

Die Worte sprudelten aus Henry heraus, während er zu Ayden und Will unter die Decke krabbelte.

»Das hört sich wirklich nach einem tollen Traum an.« Will fing einen Kinderfuß ein, bevor dieser sich in seinen Magen bohren konnte.

Ayden bewunderte, wie wach Will schon klang. Er selbst stolperte gedanklich noch den letzten Sätzen seines Sohns hinterher, weil sein Hirn den Schlafmodus noch nicht vollständig verlassen hatte. Es freute ihn sehr, dass Henry schön geträumt hatte. Er hätte den Traum allerdings noch deutlich schöner gefunden, wenn sein Kleiner ihm erst in ein bis zwei Stunden davon erzählt hätte. Ein Blinzeln zum Wecker, der auf Wills Nachttisch stand, hatte ihm verraten, dass es erst kurz nach fünf war.

»Ja, der Traum war spektakulär!« Henrys Augen leuchteten und sowohl Ayden als auch Will mussten schmunzeln.

Spektakulär war Henrys neues Lieblingswort. Sam hatte es ihm beigebracht, als die beiden vor zwei Tagen Erdbeershakes gemacht hatten, die Sam als spektakulärlecker bezeichnet hatte. Aus irgendeinem Grund war Henry von dem neuen Wort sofort mächtig angetan gewesen und seitdem war erstaunlich viel spektakulär.

»Das ist grandios.« Ayden schlang seinen Arm um ihn in der Hoffnung, seinen Sohn so dazu zu bringen, ihnen noch ein bisschen Ruhe zu gönnen. »Was hältst du davon, die Augen noch mal zuzumachen und zu kuscheln? Vielleicht träumst du dann ja noch mal von Finn und eurem Zauberspielplatz.«

Henry schüttelte den Kopf und setzte sich auf. »Nein. Ich bin fertig mit schlafen. Außerdem ist schon Morgen. Da guck!«

Er zeigte auf den Spalt zwischen den beiden Vorhängen, durch den fahles Licht ins Zimmer fiel. »Es ist schon hell draußen!«

Mit einem innerlichen Stöhnen verfluchte Ayden, dass die Sommertage hier im Norden Schottlands so lang waren. Richtig dunkel wurde es nachts momentan für kaum mehr als zwei Stunden. Er hatte versucht, Henry das Konzept zu erklären, doch seinem Söhnchen war es egal, was die Uhr anzeigte. Wenn er sich ausgeschlafen fühlte und es hell war, war Morgen und Zeit aufzustehen.

Will sah das aus irgendeinem völlig irren Grund genauso und hatte Henry in den letzten Wochen mitgenommen, wenn er in aller Herrgottsfrühe zum Joggen gegangen war. Während er ein paar Runden um die Insel lief, fuhr Henry auf seinem Fahrrad vor ihm her. Ayden liebte sehr, dass die beiden nicht nur in punkto Bewegungsdrangs am frühen Morgen so gut zusammenpassten. Henry liebte Will und Will liebte Henry. Ayden hätte nicht in Worte fassen können, wie glücklich ihn das machte.

Doch es ging nicht nur um Henry. Auch Ayden spürte, wie unfassbar gut Will ihm tat. Ayden war ruhiger und ausgeglichener geworden, und obwohl er fast jeden Tag auf der Farm schuftete – und dabei Muskelkater an Stellen seines Körpers erlebte, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass da Muskeln saßen – fühlte er sich so erholt wie lange nicht mehr. Die Schatten unter seinen Augen und der gehetzte Blick darin waren genauso verschwunden wie seine Blässe und das Gefühl von ständiger Erschöpfung und Überforderung. Stattdessen war er sonnengebräunt und seine Lieblingsjeans saß nicht mehr so schrecklich locker wie noch vor einem Monat, als sie hierher gezogen waren. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich zuletzt so fit, gesund und positiv gefühlt hatte. Das Leben auf Ciùineas tat ihm verdammt gut und Will machte ihn so glücklich und unbeschwert, dass Ayden sich manchmal kneifen musste, um sich zu vergewissern, dass das hier echt war.

Henry rüttelte an seiner Schulter, weil allein der Hinweis darauf, dass schon Morgen war, offensichtlich nicht reichte, um seinen Dad munter werden zu lassen.

»Komm schon, Daddy. Wir müssen aufstehen und Finn suchen. Ich hab ihm versprochen, dass wir zu ihm kommen und ihm helfen. Er hat keinen Dad und keine Mum und er ist nicht glücklich, da, wo er wohnen muss. Da sind viele Leute und alles ist ganz schrecklich gefühlig.«

Ayden schüttelte seine Schläfrigkeit ab und setzte sich jetzt ebenfalls auf, weil es hier anscheinend etwas gab, das er mit seinem Sohn klären musste. Er zog Henry auf seinen Schoß und strich ihm ein paar schlafzerzauste Haarsträhnen aus der Stirn.

»Äffchen, du hast nur geträumt. Finn gibt es nicht wirklich. Du –«

»Nein, das stimmt nicht!«, fiel Henry ihm ins Wort. »Den Spielplatz gibt es nur im Traum, aber Finn ist echt. Und es geht ihm nicht gut, da, wo er wohnen muss. So wie es uns nicht gut ging, als wir in der Sporthalle wohnen mussten. Aber bei Finn ist es noch schlimmer.«

Henry klang jetzt zunehmend bestürzter, als er zwischen seinem Dad und Will hin und her blickte. »Er hat keinen Dad, der auf ihn aufpasst. Und keine Mum. Er hat gar keinen. Er ist ganz allein, und die Leute, die im Heim bei ihm sind, mögen ihn nicht, weil er manchmal schlimm träumt und dann alles wackeln lässt. Die Leute sagen dann böse Wörter zu ihm und sie wollen, dass er weggeht. Aber Finn ist noch klein. Er kann noch nicht alleine weggehen. Deswegen müssen wir zu ihm fahren und ihm helfen. Bitte! Ich hab ihm das versprochen!«

Wieder blickte er zwischen Ayden und Will hin und her. Ayden war kein Empath, trotzdem konnte er spüren, dass sein Sohn absolut überzeugt davon war, dass Finn nicht nur ein imaginärer Freund aus seinem Traum war. Genauso konnte er spüren, wie unglaublich wichtig es Henry war, ihm zu helfen.

Ayden konnte es ihm nicht verdenken. Was Henry von Finn erzählte, ging auch ihm ans Herz. Doch nur, weil Henry felsenfest davon überzeugt war, dass Finn nicht nur geträumt war, bedeutete das nicht, dass es ihn tatsächlich gab. Vielleicht hatte Henry sich nur einen imaginären Freund erschaffen, um besser mit erlebten Ängsten und Sorgen umgehen zu können.

Das war allerdings genau das, was sie auch bei den Krakenmonstern angenommen hatten, von denen Henry im Schlaf heimgesucht worden war, und die hatten sich als mantische Vorwarnungen zu sehr realen Monstern herausgestellt.

Bedeutete das, dass Finn womöglich doch existierte und sie ihn tatsächlich finden mussten, weil ein kleiner Junge Hilfe brauchte?

Ratlos suchte Ayden Wills Blick und erkannte in dessen Gesichtsausdruck, dass ihm ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen.

»Denkst du, es könnte Mantik sein?«

Unschlüssig hob Will die Schultern. »Schwer zu sagen. Es klingt nicht nach einer Vorwarnung. Allerdings müssen Träume und Visionen ja auch nicht zwangsläufig immer eine Warnung enthalten.« Er sah kurz zu Henry. »Und es ist erstaunlich, wie deutlich er sich an alles erinnert. Für einen normalen Traum ist das eher ungewöhnlich.«

»Das war kein normaler Traum!«, widersprach Henry sofort heftig.

Er verstand nicht, worüber sein Dad und Will redeten, aber er fühlte, dass sie immer noch nicht so richtig glauben wollten, dass Finn echt war. Aber das mussten sie! Sie mussten ihm helfen, Finn zu finden!

»Nur der Spielplatz war ein Traum, aber Finn nicht«, beharrte er. »Er ist mein Freund! Genauso wie Luke und Evie. Die sind auch echt. Und man muss Freunden helfen, wenn sie traurig sind und es ihnen nicht gut geht. Deshalb muss ich Finn finden. Aber ich kann das nicht allein. Ihr müsst mir helfen!«

Er wandte sich an Will und in seinem Blick lag etwas Flehendes. »Du bist Polizist. Da weißt du doch bestimmt, wie man Leute finden kann.«

Sein Herz schlug jetzt schneller und es tat in seiner Brust ganz schrecklich weh, weil er im Traum gefühlt hatte, wie weh es Finn tat, weil er keinen hatte, der ihn liebte und auf ihn aufpasste.

»Bitte, wir müssen ihn finden.« Seine Stimme klang plötzlich gar nicht mehr wütend, sondern ganz kratzig und in seinen Augen brannten Tränen. Rasch schmiegte er sich an seinen Dad und grub seine Finger in dessen Schlafshirt. »Bitte, Daddy. Es tut weh, wenn Finn so traurig und alleine ist.«

Betroffen schlang Ayden seine Arme fester um ihn und drückte ihn tröstend an sich, als Henry ihn fühlen ließ, wie unglücklich und besorgt er war.

»Schon okay, Äffchen. Wir versuchen, Finn zu finden.« Hilfesuchend blickte er zu Will.

Der hatte sein Handy vom Nachttisch genommen und eine Notiz-App geöffnet.

»Du hast recht«, sagte Will an Henry gewandt. »Ich bin Polizist und wir helfen dir. Deshalb machen wir es jetzt so, wie ich es bei der Polizei mache, wenn ich versuche, jemanden zu finden, okay?«

Sofort setzte Henry sich wieder auf und nickte eifrig. »Wie geht das?«

»Ich stelle dir Fragen und du erzählst mir alles, was du über Finn weißt.«

Wieder nickte Henry. »Okay.«

»Hat Finn dir seinen Nachnamen gesagt?«

Henry zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Aber er heißt eigentlich Finlay. Finn mag er aber lieber. So wie Jo lieber Jo mag als Joanna.«

Will notierte sich den vollen Namen, obwohl ihm der ohne einen Nachnamen nicht viel helfen würde. »Und weißt du, wie alt Finn ist?«

Jetzt nickte Henry wieder. Er hob seine Hand und zeigte alle Finger. »Fünf. So wie ich. Aber er ist ein bisschen größer als ich.«

»Ist er so groß wie Luke?«

Henry überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »So wie Evie. Luke ist noch größer.«

»Du bist wirklich gut«, lobte Will und machte sich weitere Notizen. Empathen hatten oft eine gute Beobachtungsgabe und ihm war schon öfter aufgefallen, dass Henry sowohl seine Umgebung als auch die Menschen, die ihm begegneten, sehr aufmerksam betrachtete.

»Und welche Hautfarbe hat er? Ist er so schwarz wie Jo oder braun wie Evie? Oder ist er vielleicht so weiß wie du?«

Henry sah auf seine Arme. »Ich bin nicht weiß!« Er hielt Will seinen sonnengebräunten Arm hin. »Da, guck! Ich bin auch braun!«

Ayden schmunzelte. »Ja, von der Sonne. Im Winter geht das wieder weg. Evies Haut ist immer braun, weil ihr Dad weiße Haut hat und ihre Mum schwarze. Das meinte Will. Ist Finns Haut immer braun so wie Evies?«

Henry schüttelte den Kopf. »Nein. Er ist ganz hell. Viel heller als ich.«

»Und welche Farbe haben seine Haare?«

»Schwarz. Wie deine.« Henry zeigte auf Wills Haarschopf.

»Prima. Du bist ein sehr guter Beobachter. Weißt du vielleicht auch die Farbe von seinen Augen?«

Henry nickte eifrig. »Grün. Ganz, ganz doll! So grüne Augen hab ich noch nie gesehen. Die sehen spektakulär grün aus!«

Will schmunzelte, als er spektakuläre grüne Augen in sein Handy tippte. Dann wurde er wieder ernster. »Du hast gesagt, Finn hat keinen Dad und keine Mum?«

Sofort wurde auch Henry wieder ernst. »Er hat auch keine Tante wie Riley. Er hat gar keinen«, sagte er bedrückt.

Ayden zog ihn an sich und gab ihm einen Kuss auf den Kopf, weil der Gedanke, dass ein Junge in Henrys Alter ganz allein war, an seinem Herz riss.

»Hat er seine Familie verloren, als der böse Mann die Raketen auf die Städte geworfen hat?«, fragte er sanft.

Unsicher hob Henry die Schultern. »Ich weiß nicht. Ich hab ihm erzählt, dass unser altes Zuhause weg ist, und dass es eine ganze Zeit nicht so schön war. Aber jetzt wohnen wir hier auf der Insel und alles ist toll. Dann hat Finn gesagt, dass es bei ihm nicht toll ist, weil er keinen Dad und keine Mum hat und in einem Heim mit anderen Kindern wohnt. Jetzt ist es da aber ganz voll, weil auch noch Familien da wohnen, die kein Zuhause mehr haben. Finn mag die vielen Leute nicht, weil dann alles voller Gefühle ist.«

Henry sah wieder zu Will. »Ich hab ihm gesagt, dass er so ist wie ich und du. Und wie Riley und dein Dad. Wir sind Empathen. Aber Finn wusste gar nicht, was das ist. Und er wusste auch nicht, dass es nicht schlimm ist, wenn man aus bösen Träumen aufwacht und alles wackeln lässt. Die Leute in seinem Heim finden das aber sehr schlimm und sie sagen dann böse Sachen zu ihm und die anderen Kinder dürfen nicht mit ihm spielen. Die wollen das aber auch gar nicht. Die mögen Finn alle nicht. Er darf auch nicht mehr bei ihnen im Zimmer schlafen, weil alle Angst haben, dass sie sich wehtun, wenn Finn alles wackeln lässt. Er hat erzählt, dass er jetzt allein in einem Schrank unter der Treppe schlafen muss.«

Ayden presste die Kiefer aufeinander.

Ernsthaft?!

Auch Wills Miene hatte sich verfinstert, während er rasch alle Anhaltspunkte, die Henry ihm lieferte, in sein Handy tippte.

»Finn mochte es nicht, davon zu erzählen«, fuhr Henry fort. »Es hat ihn wütend und traurig gemacht. Das konnte ich fühlen.« Er legte sich eine Hand auf die Brust. »Hier drin. Und dann war ich auch traurig und ich hab ihm versprochen, dass wir ihn finden und ihm helfen.«

Er suchte wieder Wills Blick und etwas Flehendes lag jetzt in seiner Stimme. »Kann Finn bitte auch hier auf der Insel wohnen? Er kann bei mir schlafen. Als wir heute Nacht müde vom Spielen waren, sind wir in eins der Baumhäuser geklettert und haben uns ein Bett mit ganz vielen Kissen, Decken und zwei Teddys gewünscht. Das war toll! Finn kann gerne immer bei mir schlafen. Und er wäre hier nicht mehr allein und glücklich, weil keiner böse wird, wenn er Sachen wackeln lässt. Es wäre wirklich das Allerbesteste, wenn er bei uns wohnen darf. Ja? Bitte!«

Der hoffnungsvolle Blick in Henrys Augen und wie sehr er seinem neuen Freund helfen wollte, trafen Will mitten ins Herz. Er war sich noch immer nicht sicher, was er von Henrys Traum halten sollte, doch er würde definitiv ein paar Nachforschungen anstellen.

»Erst mal müssen wir ihn finden«, bremste Ayden seinen Sprössling behutsam.

»Aber Will ist doch Polizist!«, gab der prompt zurück. »Du weißt doch jetzt bestimmt, wo wir Finn finden, oder?«

Will lächelte schief. »Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten ehrt mich, aber ich fürchte, ganz so schnell und einfach geht das nicht. Es gibt viele Heime, in denen Finn sein könnte. Da muss ich ein bisschen herumtelefonieren. Und heute ist Sonntag. Da erreiche ich sicher nicht überall jemanden. Aber ich verspreche dir, ich gebe mir Mühe«, fügte er hinzu, als er Henrys wenig glückliches Gesicht sah, und strubbelte ihm aufmunternd durchs Haar. »Jetzt ziehen wir uns erst mal an und machen Frühstück. Wenn der Rest unserer Familie zum Essen kommt, erzählst du ihnen auch von Finn. Vielleicht haben Mum und Dad dann auch noch ein paar Ideen, wie wir ihn finden können.«

Sofort wurde Henry wieder fröhlicher und sprang tatenfroh auf. »Ja, so machen wir das!«

2

»Das ist definitiv eine völlig verrückte Geschichte.« Jo blies die Backen auf und stieß die Luft aus, während sie den Wasserkocher füllte, um noch einmal für Tee zu sorgen. Henry hatte ihnen beim Frühstück von Finn erzählt und es war klar, dass sie darüber noch reden mussten.

Durchs Küchenfenster sah Jo Granny hinterher, die sich mit Henry zu den Angwins aufgemacht hatte, um sich wie jeden Tag um die jüngeren Kinder der Insel zu kümmern. Jetzt zur Erntezeit war ein Sonntag auf der Farm ein ganz normaler Arbeitstag.

»Denkt ihr, dass dieser Finn wirklich existiert und Henrys Mantik ihn zu ihm führen will, weil es dem Kleinen in diesem Heim so schlecht geht?«

Riley hatte die letzten Teller des Frühstücksgeschirrs in die Spülmaschine geräumt und lehnte sich jetzt gegen die Küchenzeile. »Henry ist sich bei Finn genauso sicher wie ich es bin, wenn meine Mantik mich warnt. Es ist schwer, das zu erklären. Wenn meine innere Stimme sich meldet, weiß ich einfach, dass das, wovor sie mich warnt, eine reale Gefahr ist, die wirklich passieren wird. Bei Henry kann ich genau diese Gewissheit auch spüren. Deshalb bin ich mir sicher, dass Finn existiert.«

Grace nickte. »Diese Gewissheit, die du beschreibst, kenne ich von meinen Träumen auch. Allerdings haben mir meine Traumbilder keine Eins-zu-eins-Realität gezeigt. Sie waren abstrakter. Meine Mantik ist allerdings sicher auch nicht sehr ausgeprägt. Da sie sich bei Henry schon so früh zeigt, scheint sie bei ihm deutlich stärker zu sein. Das könnte ein Grund sein, warum seine Träume so detailreich, länger und realer sind. Ein anderer Grund wäre, dass Kinder in seinem Alter schlichtweg noch nicht so abstrakt denken können. Vielleicht träumt er deshalb so real.«

»Klingt plausibel.« Jo stellte die Kanne mit dem frisch aufgebrühten Tee auf den Tisch und setzte sich.

Parker nickte. »Ich schätze, es ist nicht verwunderlich, dass Henrys Mantik ihn ausgerechnet einem Jungen helfen lassen will, der anscheinend paranormale Fähigkeiten hat, mit denen in seinem Umfeld niemand umzugehen weiß. Sicher gibt es noch zig andere Kinder, die gerade auch kein gutes Zuhause haben und unglücklich sind, aber wenn Finn wie Henry paranormal begabt ist, besteht darüber eine besondere Verbindung zwischen den beiden.«

Ayden hatte die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und massierte seine Stirn. »Dass Henrys Mantik eine Verbindung zu einem anderen paranormalen Kind hergestellt hat, um ihm zu helfen, kann ich nachvollziehen. Auch dass er so klar geträumt hat und sich an so viele Details erinnern kann, ist vermutlich erklärbar, wenn wir davon ausgehen, dass die Mantik in Henry stark ist. Bei seinen Träumen von den Krakenmonstern war es ja ganz ähnlich. Aber erklärt das auch, dass er mit Finn reden konnte? Es klingt ja fast so, als hätten sie sich diesen Traum geteilt und die Nacht gemeinsam auf diesem Spielplatz verbracht. Selbst wenn Finn auch ein Mantiker ist, wie sollte das funktionieren? Wie können sie ihre Träume verbinden? Ist das bei zwei starken Mantikern normal?«

»Gute Frage.« Will schenkte erst Ayden, dann sich selbst einen Tee ein.

Sam verzog das Gesicht und das schlechte Gewissen stach ihn in den Magen.

»Hey, was ist los mit dir?«

Er zuckte zusammen, als Riley sich wieder auf ihren Platz neben ihm setzte.

Sie musterte Sam prüfend, während sie Will ihre Tasse hinschob, damit er ihr auch einen Tee einschenkte. »Du bist auffallend still und wirkst so, als würde dir irgendwas auf der Seele lasten. Ist alles okay?«

Wieder verzog Sam das Gesicht. Er wich ihrem Blick aus und sah stattdessen zu Will und Ayden, die ihnen gegenübersaßen.

»Was ist los?« Ganz automatisch hatte Will seine Empathie nach seinem Bruder ausgestreckt, ohne dabei dessen persönliche Grenze zu überschreiten. Doch Sam blockte ihn nicht. Will musterte ihn stirnrunzelnd. Riley hatte recht. Etwas lastete auf Sams Seele – und er hatte ein schlechtes Gewissen. »Ist irgendetwas passiert?«

Sam schüttelte den Kopf und blickte kurz in die Runde, als jetzt alle besorgt zu ihm sahen.

»Nein, es ist nichts passiert«, versicherte er schnell. »Aber ich hab euch etwas verschwiegen. Nicht, weil ich es euch nicht sagen wollte. Ich wusste nur nicht so richtig, wann. Die letzten Wochen waren endlich mal ein bisschen ruhiger und ohne irgendwelche Katastrophen. Das wollte ich nicht kaputt machen. Und ich dachte, dass es vielleicht auch gar nicht mehr so wichtig ist. Das IPS existiert ja schließlich nicht mehr. Aber Henrys Traum von Finn …« Unsicher hob er die Schultern. »Vielleicht hab ich eine Erklärung dafür.«

Alle am Tisch starrten ihn überrumpelt an.

»Na, die würden wir dann jetzt definitiv gern hören«, meinte Jo, die als Erste ihre Stimme wiederfand.

Will ließ seinen Bruder nicht aus den Augen. »War auf den beiden besonders gut verschlüsselten Festplatten, die Kathy für uns geknackt hat, noch etwas anderes als die Aufzeichnungen zu den Daemons?«

Sam nickte knapp und sein Blick glitt von Will zu Ayden. »Es gab eine strenggeheime Versuchsreihe, in der es darum ging, mit möglichst vielversprechendem Genmaterial Super-Paras zu zeugen.«

Aydens Augen weiteten sich geschockt. In ihrem Abschiedsbrief hatte Sarah ihm gestanden, dass das IPS sie auf Ayden angesetzt hatte. Als ungewöhnlich starke Empathin sollte sie von ihm, der sowohl Pyro- als auch Cryokinese beherrschte, schwanger werden, um damit ein Kind zu zeugen, dass über außergewöhnlich starke paranormale Begabungen verfügte. Ayden hatte gewusst, dass es darüber eine Akte gab. Diese hatte sich jedoch auf den nur einfach verschlüsselten Festplatten befunden, die Kathy und ihre Leute schnell hatten hacken können.

Zwei Festplatten waren dagegen eine echte Herausforderung gewesen und es hatte länger gedauert, auf ihre Daten zugreifen zu können. Auf ihnen war die Dokumentation einer Versuchsreihe mit künstlich erschaffenen Geistern gespeichert, mit denen man Menschen manipulieren, in den Wahnsinn treiben oder zu Mördern machen konnte. Ein paar dieser Kreaturen waren nach der Zerstörung Edinburghs aus dem IPS entkommen und die Hunters hatten sie vor gut zweieinhalb Wochen ausfindig gemacht und vernichtet. Zuvor hatten die Daemons acht Menschen den Tod gebracht und neun waren durch sie verletzt worden. Eine der Betroffenen lag noch immer in einer Art Wachkoma.

Keinen hatte gewundert, dass das IPS die Dokumentation eines so gefährlichen Experiments wie den Daemons besonders geheim gehalten hatte. Ayden zwang sich, tief durchzuatmen, und keine Panik zuzulassen, als ihm jetzt unweigerlich die Frage durch den Kopf schoss, warum man die Aufzeichnungen zu den besonderen Para-Kindern genauso sicher verschlüsselt hatte.

»Warum hast du uns das denn nicht sofort erzählt?«, ranzte Riley Sam wenig begeistert an.

Sam wand sich sichtlich unter ihrem anklagenden Blick. »Ihr wart k. o. vom Einsatz gegen die Daemons und dann war das Wochenende mit Henrys Geburtstag. Den wollte ich keinem versauen. Und bei den Experimenten mit den Kindern ist ja keine Gefahr mehr im Verzug. Nicht so wie bei den Daemons. Die Kinder lebten in einer der Villen, die in derselben Straße stand wie das IPS. Wir können ihnen nicht mehr helfen. Sie sind bei dem Anschlag gestorben.«

»Trotzdem hättest du uns früher etwas sagen sollen«, stellte Will klar. »Henrys Geburtstag war vor zwei Wochen.«

Unglücklich verzog Sam das Gesicht. »Ich weiß.«

Er sah von seinem Bruder zu Ayden. »Es tut mir leid. Aber wir konnten alle sehen, wie du hier endlich angekommen bist und es dir immer besser ging. Das wollte ich nicht kaputt machen und wieder all die furchtbaren Erinnerungen bei dir hochbringen. Und da Sarah noch vor Henrys Geburt weggelaufen ist, war er nur minimal Teil der Experimente und es geht ihm gut.«

Ayden bohrte seinen Blick in ihn. »Ich bin kein rohes Ei, also behandle mich nicht wie eins. Ich komme klar. Und Henry ist mein Sohn. Wenn es irgendetwas über ihn zu wissen gibt, dann will ich das erfahren. Sofort. Klar? Nicht erst nach ein paar Wochen oder wann immer du denkst, dass es passt. Das ist meine Entscheidung und ich will alles, was mein Kind betrifft, sofort wissen. Verstanden?«

Sam schluckte und nickte. »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich noch einmal. »Ich wollte dich nicht bevormunden. Ich – ich hab es nur gut gemeint.«

Will nahm Aydens Hand. »Ich schätze, das hier ist ein klassischer Fall von Gut gemeint – schlecht gemacht.«

Er liebte seinen Bruder dafür, dass er Ayden hatte schützen wollen, verstand aber auch, dass Ayden das als Bevormundung empfand, die er, besonders wenn es Henry betraf, entschieden ablehnte.

Sam verzog das Gesicht. »Ich hab es kapiert. Wenn ich noch mal irgendetwas herausfinde – egal, worüber – erzähle ich es euch sofort. Versprochen. Und wenn ich geglaubt hätte, dass für Henry oder irgendein anderes Kind eine akute Gefahr besteht, hätte ich direkt etwas gesagt.«

Er suchte wieder Aydens Blick. »Ich mag Henry sehr und ich würde nie zulassen, dass ihm etwas passiert. Dich mag ich auch und ich will nicht, dass jetzt irgendwas komisch zwischen uns ist. Sag mir, was ich tun soll, damit du nicht mehr sauer auf mich bist.«

Ayden atmete tief durch und rang sich dann ein kleines Lächeln ab, weil er Sam mochte und es Wichtigeres gab, als nachtragend zu sein.

»Wir haben die Sache geklärt. Lass sie uns also einfach abhaken.« Er fuhr sich über die Augen und versuchte sich für das zu wappnen, was er gleich hören würde. »Und jetzt erzähl uns alles über diese Forschungsreihe und was das für Henry bedeutet.«

3

Will drückte versichernd Aydens Finger, als er spürte, wie der die Mauern in seinem Inneren hochfuhr, um das, was Sam ihnen offenbaren würde, nicht zu sehr an sich heranzulassen.

Sam war erleichtert, dass Ayden bereit war, ihm zu verzeihen, und er verstand, dass Ayden jetzt Informationen wollte.

»Du und Sarah wart nicht das einzige Match«, begann er deshalb unumwunden. »So haben sie die Paare genannt, die man aufgrund von vielversprechenden paranormalen Begabungen miteinander kombiniert hatte. Insgesamt gab es zehn. Bei einem weiteren dieser Matches lief es wie bei dir und Sarah. Die Frau war eine starke Empathin und hat bei dem Mann Samenraub betrieben. Soweit es in den Akten steht, hat er davon aber nie etwas erfahren. Seine Match-Partnerin war wie Sarah eine Mitarbeiterin des IPS, die sich für diese Versuchsreihe zur Verfügung gestellt hatte. Nach der Geburt übergab sie das Kind dem IPS und wurde dafür wie eine Art Leihmutter bezahlt. Bei sieben weiteren Frauen lief es ganz ähnlich. Vier waren Mitarbeiterinnen, drei weitere hatten nichts mit dem IPS zu tun. Alle sieben waren von der Institutsleitung aufgrund ihrer starken paranormalen Begabungen angesprochen worden und erklärten sich bereit, wie bei einer Leihmutterschaft für das Institut Kinder zu bekommen. Sie mussten aber niemanden vergewaltigen, sondern wurden mit Samenspenden von starken Paras geschwängert. Die Samenspenden kamen von Mitarbeitern, die ebenfalls dafür bezahlt wurden. Alle Frauen wurden innerhalb von knapp anderthalb Jahren schwanger. Man wollte, dass die Kinder ungefähr gleichalt sind, um gemeinsam mit ihnen zu experimentieren und sie miteinander vergleichen zu können. Henry war das vorletzte Kind, das geboren wurde.«

Riley runzelte die Stirn. »Das waren aber nur neun Matches. Hast du nicht gesagt, es gab zehn?«

»Ja, sorry, das war ungenau«, gestand Sam. »Das zehnte war eigentlich kein Match. Die Eltern des ersten Versuchskinds waren wirklich ein Paar. Rhona und Glen Ferguson. Sie haben das Projekt der Super-Paras vorgeschlagen, vorbereitet und geleitet. Sobald Rhona schwanger war, wurden auch die anderen Schwangerschaften eingeleitet. Außerdem kaufte das IPS eine der Villen, die in derselben Straße standen wie das Institut. Sobald eins der potenziellen Super-Para-Kinder geboren wurde, brachte man es zu den Fergusons. Gemeinsam mit einer Handvoll Mitarbeiter haben die beiden die Kinder großgezogen.«

»Klingt ja nach einer wahnsinnig tollen Familie«, ätzte Riley. »Ich weiß, nach dem, was wir im Keller des IPS gesehen haben, sollten mich weitere Menschenversuche eigentlich nicht wundern. Aber haben diese kranken Arschlöcher wirklich Experimente mit Babys gemacht? Was zum Henker sollten die Kleinen denn machen? Schon in der Wiege Feuerbälle entstehen lassen?«

Unglücklich verzog Sam das Gesicht. »Es war sogar noch krasser. Es ging den Fergusons in ihrer Versuchsreihe nicht nur darum, Kinder mit den bestmöglichen paranormalen Veranlagungen zu erschaffen und diese dann möglichst früh zu wecken und zu fördern. Sie hatten auch ein Mittel entwickelt, mit dem das Bewusstsein erweitert und ungenutzte Areal des Gehirns aktiviert werden sollten. Zum einen wollten sie damit einen Weg finden, Telepathie in den Kindern zu wecken, zum anderen hofften sie, auf diese Weise bisher noch völlig unbekannte paranormale Fähigkeiten entstehen zu lassen. Ihre Theorie war, dass dieses Mittel während des Wachstums des Gehirns verabreicht werden musste, um die entsprechenden Gehirnareale zu aktivieren.«

Er sah zu Ayden und hoffte, er würde ihm mit seinen nächsten Worten nicht den Boden unter den Füßen wegziehen.

»Die ersten drei Dosierungen dieses Mittels bekamen die Kinder schon pränatal im Mutterleib.«

Kaltes Entsetzen krallte sich in Aydens Inneres. Auch die anderen am Tisch waren von dieser Offenbarung sichtlich geschockt.

»Die haben mit ungeborenen Babys herumexperimentiert?!«, keuchte Jo voller Wut. »Kein Wunder, dass sie die Aufzeichnungen darüber so gut gesichert haben. Hätte davon jemand Wind bekommen, wäre das das Ende des IPS gewesen.«

»Haben alle Kinder die Verabreichung dieses Mittels überlebt?«, fragte Grace um Fassung bemüht.

Sam nickte schnell. »Ja. Alle Geburten verliefen problemlos und auch später traten keine Entwicklungen bei den Kindern auf, die Anlass zur Sorge gegeben hätten. Die Fergusons haben das regelmäßig untersucht.«

Er blickte wieder zu Ayden.

Tiefe Erschütterung stand in dessen Gesicht geschrieben. »Nichts davon stand in Sarahs Brief«, murmelte er tonlos.

»Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass du Henry nicht annehmen würdest, wenn sie dir neben all dem anderen auch noch offenbart, dass man schon vor seiner Geburt mit einem Mittel an ihm experimentiert hat, dass sich auf sein Gehirn und seine paranormalen Fähigkeiten auswirken könnte«, mutmaßte Parker. »Wenn du befürchtet hättest, das Baby, das du zu dir nehmen solltest, könnte davon geistige Schäden haben – oder entwickeln – wäre es nicht abwegig gewesen, dass du ihn stattdessen zur Adoption freigegeben hättest. Du warst immerhin erst neunzehn und ohnehin schon nicht auf einen Sohn vorbereitet. Wenn du ihn aber nicht angenommen hättest, wäre er mit Sicherheit im IPS gelandet. Das wollte Sarah offensichtlich um jeden Preis verhindern. Ich schätze, deshalb hat sie dir nur das Nötigste offenbart.«

»Aber Henry hat keine geistigen Schäden«, fügte Sam schnell hinzu, weil er hasste, wie besorgt Ayden dreinblickte. »Er ist echt clever und jeder kann sehen, dass mit ihm alles in Ordnung ist.«

Will strich mit dem Daumen über Aydens Finger, die eiskalt geworden waren. »Sam hat recht. Henry ist geistig völlig gesund. Und paranormal begabt zu sein, ist auch nichts Schlimmes. Das wissen wir schließlich selbst. Natürlich ist es nicht leicht, seine Kräfte in den Griff zu bekommen. Vor allem, wenn man mehrere hat. Aber das bekommt Henry hin und wir können ihm dabei helfen.«

»Wir können ihm aber nur mit den Fähigkeiten helfen, die wir auch haben.« Ayden kämpfte damit, seine Beunruhigung nicht überhandnehmen zu lassen, sondern einen kühlen Kopf zu bewahren.

»Hat dieses Mittel denn tatsächlich funktioniert?«, wollte Riley von Sam wissen. »Hat es Telepathie – oder andere Fähigkeiten – in den Kindern geweckt?«

»Das ist schwer zu sagen, weil die Kinder noch so klein gewesen sind«, antwortete Sam. »Einige schienen allerdings tatsächlich eine gewisse telepathische Gabe zu entwickeln. Man hat Experimente mit Spielkarten mit ihnen gemacht, auf denen verschiedene Symbole abgebildet waren. Die Kinder konnten nur die Rückseite der Karten sehen und sollten versuchen, die Gedanken der Person zu lesen, die die Karte in der Hand hielt und an das Symbol dachte.«

»Und das hat funktioniert?«, fragte Parker.

»Nicht bei allen Kindern. Und es funktionierte nur, wenn die Kinder es untereinander versuchten, nicht wenn die Fergusons oder jemand anderes aus dem Versuchsteam an das Symbol dachte.« Sam hob die Schultern. »Man war sich nicht sicher, ob das so bleiben würde ober es nur am Anfang auf die Kinder beschränkt war, weil ihre Gehirne ja noch nicht voll entwickelt waren und sie erst nach und nach die kognitiven Fähigkeiten mitbringen, abstrakter zu denken. Man hoffte, dass sie dann auch die Gedanken anderer lesen können würden.«

»Das heißt, man hat ihnen noch weiter dieses Mittel verabreicht, das die Entwicklung des Gehirns und die Aktivierung ungenutzter Areale fördern sollte?«, hakte sein Vater nach.

Sam nickte. »Es wurde außerdem diskutiert, ob man ihnen etwas zur Förderung ihrer Konzentrationsfähigkeit geben sollte. Einige aus dem Forscherteam waren ungeduldig und fanden es frustrierend, dass die Kleinen meist schon nach zehn Minuten das Interesse am Gedankenlesen verloren haben. Dann funktionierte es gar nicht. Genauso wenig, wenn die Kinder generell keine Lust darauf hatten. Sie waren halt noch sehr jung und nicht allen im Forscherteam war anscheinend klar, dass ihre Super-Paras ein echtes Langzeitprojekt waren.«

Riley schnaubte, behielt aber für sich, was sie über die Forschenden dachte.

»Gibt es Aufzeichnungen darüber, ob noch andere Fähigkeiten außer einer gewissen telepathischen Begabung in den Kindern geweckt wurden?«, fragte Grace. »Wurden vielleicht Auffälligkeiten in ihrem Schlafverhalten oder bei ihren Träumen entdeckt?«

»Du meinst etwas, das Henrys Traum von Finn erklären könnte?« Sam schüttelte den Kopf. »In den Akten steht nichts über außergewöhnliche Träume.«

Will sah zu seiner Mutter. »Du denkst eins der ungenutzten Areale, die dieses Mittel im Gehirn der Kinder aktiviert haben könnte, könnte so etwas wie Traumwandeln oder kollektives Träumen bei ihnen auslösen?«

Grace hob die Schultern. »Es wäre nicht so abwegig. Während wir schlafen und träumen sind Bereiche unseres Gehirns aktiv, die wir im wachen Zustand nicht benutzen. Was genau beim Träumen passiert, versucht die Forschung schon seit Langem genauer herauszufinden. Nach meinen mantischen Träumen habe ich eine Menge dazu gelesen, um mir Techniken wie das luzide Träumen beizubringen. Ich hoffe, das hilft mir, besser damit umzugehen, falls ich noch einmal einen mantischen Traum haben sollte.«

»Luzides Träumen?«, hakte Jo nach. »Was ist das?«

»Eine Technik, bei der man sich im Traum bewusst macht, dass man träumt. Sobald man das schafft, soll man in der Lage sein, das Geträumte besonders klar und detailreich wahrzunehmen, um es nach dem Aufwachen besser analysieren zu können. Und wenn man diese Technik richtig gut beherrscht, ist man angeblich auch in der Lage, Träume zu steuern oder sogar zu verändern.«

Grace seufzte. »Mir würde der erste Schritt schon reichen. Wenn ich bei einem weiteren mantischen Traum in der Lage wäre, ihn besonders klar und detailreich aufzunehmen, würde mir das vielleicht helfen, besser zu verstehen, wovor er mich warnen will. Bisher funktionieren die Übungen, die ich dafür mache, aber nur bedingt.«

Sie wandte sich an Ayden. »Dass Henry sich an den Traum der letzten Nacht so klar erinnern kann, könnte ein Anzeichen für luzides Träumen sein. Auch dass er und Finn Dinge im Traum ändern und sich im Baumhaus ein Bett erschaffen konnten, spricht dafür.«

Ayden zog seine Hand aus Wills, stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und verbarg sein Gesicht in den Händen. »Aber wenn stimmt, was Sam erzählt hat, hat Henry dieses Mittel doch nur dreimal bekommen, als er noch nicht mal geboren war.«

Er presste sich die Finger auf die Augen und schauderte beim Gedanken daran, dass irgendein experimenteller Drogenmix in Henrys Kopf herumgepfuscht hatte.

»Kann sich das wirklich schon so sehr auf sein Gehirn ausgewirkt haben?«

Grace betrachtete ihn mitfühlend, als er jetzt wieder aus seinen Händen auftauchte und ihren Blick suchte. »Ja, es gibt Mittel, die sich sehr gravierend auf die Gehirnentwicklung eines Fötus auswirken können. Ich werde mir die Unterlagen dazu ansehen, vielleicht verrät mir das mehr.«

Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Ich gebe Sam aber recht. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass dieses Mittel Henry geschadet haben könnte. Er ist ein aufgewecktes Kind und abgesehen von seinen paranormalen Begabungen zeigt er keine Auffälligkeiten.«

»Aber wenn er zu viele Begabungen hat – darunter womöglich welche, die wir noch gar nicht kennen und einschätzen können … Was, wenn ihn das irgendwann völlig überfordert?«

Aufgewühlt raufte Ayden sich die Haare.

»Riley kann ihm beibringen, die Emotionen anderer zu blocken, damit die nicht auf ihn einprasseln. Aber wer soll ihm beibringen, sich dagegen zu wehren, falls dasselbe irgendwann mit den Gedanken anderer passiert? Oder wenn er sich nachts in irgendwelchen Traumwelten verliert und keine Ahnung hat, wie er damit umgehen soll?«

Er stützte erneut die Ellbogen auf den Tisch und vergrub sein Gesicht wieder in den Händen.

Behutsam strich Will ihm über den Rücken. »Bisher zeigt Henry keine Anzeichen von Telepathie. Ich vermute aber, falls er sie irgendwann zeigen sollte, wird ihm das Blocken, das er für seine Empathie lernt, auch bei der Telepathie helfen. Er muss sich dann nur gegen Gedanken, nicht gegen Gefühle abgrenzen. Es ist zwar nicht exakt dasselbe, aber die Technik wird ähnlich funktionieren.«

Quentin nickte nachdenklich. »Ja, das sehe ich auch so.«

»Außerdem hat die Telepathie doch nur zwischen den Versuchskindern funktioniert, oder nicht?«, fragte Jo bei Sam nach.

Der nickte. »Und sie haben das Mittel auch nach ihrer Geburt noch bekommen. Henry nicht. Es ist gut möglich, dass die drei Verabreichungen, die er erhalten hat, nicht ausgereicht haben, um ihn zu einem Telepathen zu machen.«

»Trotzdem hatte er letzte Nacht diesen seltsamen Traum.« Ayden tauchte wieder aus seinen Händen auf. »Das mag vielleicht keine Telepathie gewesen sein, aber normal war das auch nicht. Das klingt doch ganz nach irgendeiner neuen, bisher unbekannten paranormalen Fähigkeit.«

»Die Sache mit dem Traum ist noch deutlich seltsamer, wenn diese neuen Para-Fähigkeiten nur zwischen den Versuchskindern funktionieren.« Riley wandte sich wieder an Sam. »Bist du dir sicher, dass alle Versuchskinder in dieser Villa beim Institut waren, als die Raketen fielen? Wenn die Kinder wirklich kollektiv träumen können, müsste Finn ein Versuchskind sein, das den Anschlag überlebt hat.«

Sam seufzte bitter. »Die Versuchskinder waren mit Sicherheit alle in der Villa, als Edinburgh zerstört wurde. Laut der Aufzeichnungen haben sie die Villa nie verlassen. Damit wollte man gewährleisten, dass man alle Reize, mit denen die Kinder konfrontiert werden, kontrollieren kann. Das machte sie besser vergleichbar.«

»Klingt nach top Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung«, schnaubte Jo ironisch. »Vermutlich wären die Kleinen irgendwann zu Psychopathen geworden, die das gesamte Forscherteam mit der Kraft ihrer Gedanken gegrillt hätten.«

»Aber wenn sie alle gestorben sind und Finn damit kein Versuchskind ist, wie kommt er dann in Henrys Traum?«, grübelte Riley.

»Ich hab nicht gesagt, dass Finn kein Versuchskind ist«, stellte Sam klar. »Henry ist ja schließlich auch eins.«

»Willst du damit sagen, es gibt noch ein Kind wie Henry, das dem IPS entkommen ist?«, hakte Will ungläubig nach.

Sam nickte.

Alle am Tisch starrten ihn perplex an.

»Himmel, und das sagst du uns nicht?!«, ranzte Riley ihn an.

Zerknirscht biss Sam sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid. Aber viel stand zu dem Jungen nicht in den Akten. Er hieß Arron. Seine Mutter hat ihn aus der Villa entführt, als er fünf Monate alt war. Sie hieß Julie. Den Nachnamen weiß ich nicht mehr. Sie war eine Mitarbeiterin des IPS und besonders stark in Mantik und Empathie. Deshalb hatte man sie für ein Match ausgewählt. Wie vereinbart übergab sie ihren Sohn nach der Geburt dem Institut. Der Vertrag darüber befindet sich in ihrer Akte. Dann gab es nur noch den Vermerk, dass sie fünf Monate später mit dem Baby verschwunden ist. Vielleicht waren es Muttergefühle und sie hat es bereut, das Kind abgegeben zu haben. Oder sie fand erst später heraus, welche Experimente man mit den Babys gemacht hat, und sie hat nicht ertragen, dass man ihrem Sohn dasselbe antut. Vielleicht hat auch ihre Mantik sie gewarnt. Das weiß ich nicht. Dazu gab es keine Infos.«

Er blickte zu Ayden. »Es ist ähnlich wie in den Akten zu dir und Sarah. Es gab nur kurze Vermerke, dass Julie gemeinsam mit ihrem Baby verschwunden ist und die beiden deshalb aus der Versuchsreihe ausgeschieden sind. Es scheint nicht so gewesen zu sein, dass man sie hat suchen lassen. Ich schätze, weil das womöglich unerwünschte Aufmerksamkeit mit sich gebracht hätte. Vermutlich waren sie einfach froh, dass Julie nicht zur Polizei gegangen ist und dort von den Experimenten an den Kindern erzählt hat. Alle Beteiligten mussten zwar Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen und es drohten hohe Strafen, wenn sie sich nicht daran gehalten hätten, aber eine hundertprozentige Sicherheit, dass nicht doch jemand zur Polizei geht und einen Deal macht, war das nicht.«

Einen Moment lang schwiegen alle, dann wandte Parker sich an Will. »Du kannst doch sicher in den Datenbanken der Polizei herausfinden, ob eine gewisse Julie mal Anschuldigungen gegen das IPS erhoben hat.«

Will nickte und richtete sich an Sam. »Wir gehen gleich hoch und du zeigst mir alle Dateien. Mal sehen, was ich dann zu Julie und ihren Sohn herausfinden kann.«

»Klar«, versicherte Sam sofort.

»Schick mir die Akten auch zu«, bat Grace. »Ich sehe mir dann die medizinischen Details an.«

»Sicher.« Sam blickte von ihr zu seinem Dad. »Ich schick sie euch beiden.«

»Mach das.« Quentin wandte sich von seinem Jüngsten zu seinem Ältesten. »Sobald du irgendwelche Anhaltspunkte hast, wo wir den Jungen finden können, sag Bescheid.«

»Aber wenn Finn wirklich Arron ist und er in einem Heim lebt, würde das ja bedeuten, dass Julie tot ist, oder nicht?«, warf Jo ein.

»Nicht unbedingt.« Mitgefühl stand in Aydens Gesicht geschrieben. »Vielleicht hat Julie ihn in dem Heim abgegeben, weil sie sich mit dem Baby überfordert gefühlt hat. Wenn sie keine Hilfe bei ihrer Flucht hatte, muss das furchtbar für sie gewesen sein. Ich hätte es allein mit Henry auch nicht geschafft.«

Er wandte sich an Sam. »Ich komme auch mit rauf. Ich will das alles selbst lesen und helfen. Egal, ob Finn Arron ist oder bloß ein Kind, das zufällig mit paranormalen Fähigkeiten geboren wurde, wir müssen ihn finden. So wie es bei Henry klang, scheint Finn noch nichts über paranormal begabte Menschen zu wissen. Dann machen ihm seine telekinetischen Ausbrüche wahrscheinlich ziemlich Angst, weil er nicht weiß, was da mit ihm passiert. Wenn er dann auch noch dafür bestraft und zum Außenseiter gemacht wird …«

Wütend brach er ab, presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Seine eigenen Eltern hatten ganz ähnlich reagiert, als Ayden kurz nach seinem siebten Geburtstag seinen ersten telekinetischen Ausbruch gehabt hatte. Auch sie hatten ihm Strafen angedroht, wenn er das Gewackel nicht seinließ. Sie hatten schließlich einen anständigen Sohn und keinen Freak haben wollen.

Er schluckte hart, schüttelte dann erneut den Kopf und verbannte entschieden die Erinnerungen daran. Er hatte seinen Eltern zu viel Macht gegeben, indem er zuließ, dass sie ihn fertigmachten. Damit war jetzt Schluss. Es gab Wichtigeres, um dass er sich kümmern musste.

Er stand auf und sah auffordernd zu Sam. »Los komm. Wir sollten keine Zeit mehr verschwenden.«

4

19:47 Uhr

 

»Ihr sucht Finn morgen wirklich weiter?«, vergewisserte Henry sich, während Ayden ihn ins Bett steckte.

»Natürlich. Das haben wir dir doch schon versprochen.« Ayden setzte sich neben ihn auf die Bettkante und reichte ihm den grünen Teddy mit dem Glückskleeblatt auf dem Bauch, den Henry von Granny zum Geburtstag bekommen hatte und der seitdem jede Nacht mit in Henrys Bett schlief. »Drück den hier heute Nacht ganz fest, dann haben wir morgen bei unserer Suche sicher mehr Glück. Heute waren leider viele Leute, die uns hätten weiterhelfen können, nicht da. Es ist Sonntag. Da haben sie frei. Aber wenn sie morgen zurück zur Arbeit in ihren Büros sind, helfen sie uns sicher, Finn zu finden.«

Henry zog den Glücksteddy zu dem Teddy, der schon immer bei ihm war, und drückte beide an sich. Es hatte ihn sichtlich niedergeschlagen, als Ayden und Will ihm am Nachmittag hatten sagen müssen, dass sie noch nicht wussten, wo Finn war. Henry hatte daraufhin nicht mehr mit den anderen spielen wollen und sich allein mit seinen Dinos und Drachen zwischen die Felsen beim Spielplatz zurückgezogen. Auch bei den Vorbereitungen für das allabendliche Grillen vor dem Haus der Angwins hatte er nicht helfen wollen, obwohl er es sonst toll fand, wenn die Kohlen angezündet wurden und sie alle gemeinsam den Tisch deckten.

Heute hatte er das alles nicht gewollt. Auch Essen nicht. Er hatte keinen Hunger gehabt, und obwohl Ayden und Will ihm schon mehrfach versichert hatten, dass sie morgen weiter nach Finn suchen würden, hakte Henry immer wieder nach. Finn zu finden, lag ihm offensichtlich wirklich sehr am Herzen.

»Ich gehe gleich im Traum wieder zu ihm«, verkündete er jetzt, als Ayden ihn zudeckte. »Und dann frage ich ihn, wie er mit Nachnamen heißt.« Er sah zu Will. »Den wolltest du heute Morgen wissen. Wenn ich ihn dir morgenfrüh sagen kann, können wir Finn dann finden?«

Es klang hoffnungsvoll und wie ein Plan, über den er lange gegrübelt hatte.

Will hatte die Vorhänge zugezogen und setzte sich jetzt zu den beiden aufs Bett. »Finns Nachname würde auf jeden Fall helfen.« Er musterte Henry nachdenklich. »Denkst du wirklich, du kannst den Traum mit Finn heute Nacht noch einmal träumen?«

Henry nickte eifrig und deutete auf die Wand neben seiner Kinderzimmertür. »Bestimmt. Ich muss mir nur wünschen, dass meine Zaubertür wieder da ist. Wenn ich durch sie durchgehe, bin ich wieder bei Finn auf dem Spielplatz.«

Dann legte sich jedoch ein Schatten über sein Gesicht und plötzlich schimmerten Tränen in seinen Augen. »Aber vielleicht will er gar nicht mehr mit mir spielen. Ich hab versprochen, dass wir zu ihm kommen, damit er nicht mehr alleine ist. Und jetzt hab ich mein Versprechen nicht gehalten und das fühlt sich ganz schrecklich an.« Tränen kullerten und seine Stimme klang schrecklich gepresst. »Bestimmt ist Finn deshalb traurig und ich will nicht, dass er sich so fühlt. Das tut weh – hier drin.«

Er drückte seine Hand auf seine Brust und begann zu schluchzen.

»Oh, Äffchen«, seufzte Ayden mitfühlend. Er holte Henry noch mal aus der Decke und nahm ihn auf den Schoß. Sofort klammerte Henry seine Finger in Aydens T-Shirt und schmiegte sein Gesicht an die Brust seines Dads. Ayden schlang seine Arme um ihn und gab ihm einen Kuss auf den Haarschopf.

»Ich verstehe, dass es sich nicht gut anfühlt, dass wir noch nicht wissen, wo Finn ist. Mir gefällt das auch nicht. Aber bitte denk nicht, dass du dein Versprechen nicht hältst. Du hast versprochen, Finn zu helfen, und das tust du ja immer noch. Es ist nur eben leider nicht so einfach, ihn zu finden. Deshalb dauert es ein bisschen länger, das Versprechen zu erfüllen. Manchmal lassen sich Probleme leider nicht sofort lösen und man muss länger daran arbeiten. Das ist nicht schön, aber davon darf man sich nicht abschrecken oder entmutigen lassen. Wenn uns etwas wirklich wichtig ist, müssen wir hartnäckig bleiben. Oft hilft es auch, sich andere Leute zur Verstärkung zu suchen. So wie du es heute gemacht hast. Und morgen suchen wir noch mehr Verstärkung bei Leuten, die Experten für Kinder sind, die keine Eltern mehr haben und in Heimen wohnen. Die können uns ganz bestimmt weiterhelfen.«

Er gab Henry noch einen Kuss auf den Kopf. »Also fühl dich nicht schlecht. Du hast alles richtig gemacht und wir arbeiten zusammen weiter daran, dass du dein Versprechen an Finn hältst. Erzähl ihm das, wenn du ihn siehst und er traurig ist. Ich bin mir sicher, er versteht, dass manche Dinge ein bisschen länger dauern. Aber wir bleiben hartnäckig. Das ist das Wichtige. Okay?«

Will hatte seine Hand auf Henrys Schulter gelegt und drückte sie aufmunternd. »Ayden hat recht. Und du bist eine wirklich große Hilfe, wenn du Finn nach seinem Nachnamen fragst. Der hilft uns sicher weiter. Denkst du, du könntest ihm noch ein paar andere Fragen stellen? Je mehr wir über ihn wissen, desto einfacher wird es, unser Versprechen zu erfüllen.«

Während Aydens Worten hatte Henry sein Gesicht weiter an dessen Brust geschmiegt, jetzt setzte er sich jedoch wieder auf und drehte sich zu Will um.

»Welche Fragen?« Er hatte aufgehört zu weinen und zog die Nase hoch. Ayden pflückte ein Taschentuch aus der Box, die zwischen Henrys Drachen und Dinos auf dem Nachttisch stand, und reichte es seinem Sohn.

»Frag Finn, ob er weiß, in welcher Stadt er wohnt.«

Henry wischte sich Schnief und Tränen vom Gesicht und runzelte die Stirn. »Wohnt er nicht in Aberdeen?«

»Das wissen wir nicht. Es würde aber sehr helfen, wenn wir es wüssten, daher wäre es toll, wenn du ihn das fragen könntest.«

Sie hatten sich heute alle relevanten Aufzeichnungen zu Projekt Darwin angesehen. Das war der Name, unter dem das Langzeitprojekt der Super-Para-Kinder gelaufen war. Eine Erklärung zu dieser seltsamen Traumebene, auf der Henry und Finn in Kontakt treten konnten, hatten sie nicht gefunden. Doch jeder von ihnen war bereit, die Existenz dieser Traumwelt auch ohne Beweis hinzunehmen, wenn sie damit einen unglücklichen kleinen Jungen finden konnten.

»Klar frag ich ihn«, versprach Henry sofort. »Soll ich ihn noch mehr fragen?«

Liebevoll zauste Will ihm durchs Haar. »Traust du dir denn noch eine Frage zu? Du musst dir ja nicht nur die Fragen merken, sondern auch Finns Antworten. Und manchmal ist es schwer, sich an Dinge aus seinen Träumen zu erinnern.«

Henry nickte eifrig. »Drei Fragen schaffe ich! Finn ist ja wichtig und wichtige Sachen merk ich mir immer. Ich kann Finns Antworten ja die ganze Nacht mit ihm üben. Dann vergesse ich sie bestimmt nicht.«

Will schmunzelte gerührt. »Okay. Dann frag Finn noch, ob das Heim, in dem er wohnt, einen Namen hat.«

Wieder nickte Henry eifrig. »Ja, das ist eine gute Frage!« Er deutete zu Ayden. »Daddy hat mit mir geübt, wie unser Zuhause im Caravan Park hieß und was ich sagen soll, wenn ich verloren gehe. Finn weiß den Namen von seinem Zuhause bestimmt auch und dann kann er ihn mit mir üben.«

Er löste sich aus Aydens Armen und krabbelte wieder unter seine Decke. »Ich schlaf jetzt besser schnell, damit Finn und ich ganz viel Zeit zum Üben haben.«

Hilflos rang Ayden sich ein Lächeln ab. Es berührte ihn tief, wie sehr Henry Finn helfen wollte – und vermutlich hätte jedes andere Elternteil dieser Welt einen Satz wie »Ich schlaf jetzt besser schnell« von seinem Nachwuchs gefeiert.

Ayden dagegen kämpfte damit, das flaue Gefühl in seinem Magen nicht schlimmer werden zu lassen. Er gab sich Mühe, der seltsamen Traumwelt, in der Henry anscheinend wandeln konnte, offen und unvoreingenommen gegenüberzustehen. Besonders, weil er Henry nicht beeinflussen wollte. Sein Sohn liebte offensichtlich die Zaubertür und diesen Spielplatz, auf dem er und Finn sich Dinge herbeiwünschen konnten. Er wollte Henry seine kindliche Freude an diesem Ort nicht nehmen, konnte jedoch nicht leugnen, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn sein Sohn keinen solchen Traum gehabt hätte.

Er behielt seine Bedenken aber für sich und hoffte, er verbarg sie gut genug vor Henry. Wenn sein kleiner Empath spürte, dass sein Dad der Traumwelt misstrauisch gegenüberstand, trieb ihn das womöglich in einen Zwiespalt, und Ayden wollte auf keinen Fall, dass Henry sich zwischen ihm und Finn entscheiden musste. Dafür hatte Henry heute zu sehr darunter gelitten, seinem neuen Freund nicht helfen zu können. Außerdem wollte auch Ayden Finn so schnell wie möglich helfen, und wenn der schnellste Weg durch diese Traumwelt führte, dann sollte Henry es dort versuchen.

Er zog seinem Sohn die Decke über die Schulter und streichelte ihm zärtlich durchs Haar, als Henry sich mit seinen Teddys eingekuschelt hatte. »Ich hab dich unglaublich lieb und ich bin sehr, sehr stolz auf dich, weil du dich so für Finn einsetzt.«

Henry lächelte zu ihm hoch. »Ich hab dich auch lieb.« Dann sah er zu Will. »Und dich auch.«

Will lächelte gerührt. »Ich hab dich auch lieb und ich bin genauso stolz auf dich wie dein Dad.«

Henry grinste glücklich.

»Dein Dad und ich setzen uns jetzt noch ein bisschen auf den Balkon. Und später schlafen wir wie immer nebenan. Wenn irgendwas ist, kannst du immer zu uns kommen. Oder du rufst ganz laut. Dann kommen wir zu dir. Okay?«

»Okay. Aber ich komme bestimmt erst morgen früh, wenn ich alle Antworten weiß.«

Wieder lächelte Will. »Okay. Dann schlaf jetzt schön.«

»Mach ich.« Henry schloss die Augen.

Zärtlich strich Ayden ihm noch einmal durchs Haar. »Schlaf gut.«

Dann ließ er sich von Will auf die Füße ziehen und die beiden verließen leise das Zimmer.

5

Riley saß am Strand und blickte hinaus aufs Meer. Das Wasser schwappte um die Felsen, die Ciùineas wie ein Schutzwall umgaben. In der Ferne war vage die schottische Küste als dunkles Band am Horizont zu erkennen. Nachts verwandelte sich das dunkle Band dagegen in eine Lichterschlange, die aussah als würde sie sich über die unruhige Nordsee schlängeln.

Riley mochte den Anblick sehr. Sie saß nach dem Abendessen gern hier auf ihrem Lieblingsfelsen und genoss ein bisschen Zeit für sich. Sie liebte ihre Familie. Auch die anderen auf Ciùineas waren echt nett. Sie arbeitete gern mit ihnen und das gemeinsame Barbecue abends vor dem Haus der Angwins sorgte für ein Gefühl von Gemeinschaft und Dazugehörigkeit, von dem sie nie gedacht hätte, dass es ihr Ding sein könnte.

Genauso wenig hätte sie vor ein paar Wochen geglaubt, dass ihr die Arbeit in einem landwirtschaftlichen Betrieb Spaß machen würde. Ja, es war anstrengend, Beete umzugraben, Unkraut zu jäten, zu ernten, einzulagern, neu auszusäen und gefühlt ständig irgendetwas von A nach B zu schleppen. Aber es war unglaublich befriedigend zu sehen, wie sich die Mühe auszahlte und überall Obst und Gemüse wuchs, das dafür sorgen würde, dass sie gut durch den nächsten Winter kamen.

Das machte die Arbeit sinnvoll und wichtig und gab Riley dasselbe Gefühl von Erfüllung und Zufriedenheit, das sie spürte, wenn sie einen Ort von Geistern, Mutanten oder anderen Gefahren befreit hatte. Hier fehlte zwar der Nervenkitzel, den sie definitiv ab und an brauchte, doch dafür schenkte die Arbeit auf der Insel ihr einen inneren Frieden, der offensichtlich dafür sorgte, dass sie ein Leben in einer größeren Gemeinschaft nicht mehr so abschreckend und anstrengend fand. Sie würde zwar sicher nie eine große Menschenfreundin werden, aber die, die hier mit ihr auf Ciùineas lebten, fand sie ziemlich okay.

Das bedeutete allerdings nicht, dass sie abends nicht gern Zeit für sich allein hatte. Still hier am Strand zu sitzen, tat einfach gut und lud ihren Akku so gut auf, wie ihn noch nie zuvor etwas hatte aufladen können. Sie schloss die Augen, lehnte den Kopf zurück gegen den Felsen und atmete tief durch.

Genoss den Wind, der über ihr Gesicht und ihre nackten Arme und Beine strich.

Roch Salzwasser und Lagerfeuer, die er in sich trug.

Lauschte den Wellen, die ans Ufer spülten und um die Felsen schwappten.

Seelenfrieden pur.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so dasaß. Alle anderen hatten sich längst für die Nacht zurückgezogen.

Alle – bis auf einen.

Mit ihrer Empathie spürte sie seine Präsenz, als er über den Strand auf sie zu kam. Sie spürte auch, dass ihm etwas auf dem Herzen lag.

»Hey«, sagte Sam entschuldigend, als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war. »Tut mir leid. Ich weiß, das hier ist deine Alleinzeit. Wenn ich dich nerve, bin ich ganz schnell wieder weg. Ich würde aber gern kurz mit dir reden.« Er deutete neben sie, wie um zu fragen, ob er sich setzen durfte. »Wenn das für dich okay ist.«

»Sicher.«

Er schien erleichtert, dass sie ihn nicht wegschickte, was Riley irritierte, denn warum zum Henker hätte sie das tun sollen, wenn er offensichtlich wegen irgendetwas Redebedarf hatte. Sie wartete, bis er sich etwas umständlich neben sie gesetzt hatte. Er hatte sich nach seinem Unfall zwar einen großen Teil seiner Beweglichkeit zurückerkämpft, gewisse Bewegungsabläufe fielen seinem linken Bein aber noch schwer.

»Worum geht’s?«, fragte sie, als er saß und sich neben ihr an den Felsen lehnte. »Habt ihr in den Dateien vom IPS noch irgendwas entdeckt?«

»Nein.« Er suchte ihren Blick. »Ich wollte bloß klären, ob du noch sauer auf mich bist. Wenn ja, dann sag mir, wie ich es wieder in Ordnung bringen kann. Ich will nicht, dass es jetzt komisch zwischen uns ist, weil ich Mist gebaut hab.«

Sie erwiderte den Blick überrumpelt. »Warum sollte ich sauer auf dich sein? Weil du uns nicht sofort von Projekt Darwin erzählt hast? Das hatten wir doch heute Morgen schon geklärt.«

Sam verzog das Gesicht. »Haben wir das? Du bist nicht mitgekommen, als ich meinen Eltern, Ayden und Will die Dokumente gezeigt hab.«

»Weil du uns das Wichtigste ja erzählt hattest. Dass Ayden das alles selbst lesen musste und Will ihn dabei nicht allein lassen wollte, war total verständlich. Aber damit sind die beiden bei der Ernte ausgefallen, genauso wie deine Eltern. Die zwei sind gut vernetzt, deshalb war klar, dass sie helfen wollten, eine Spur zu Finn zu finden. Parker, Jo und ich hätten dabei aber nichts ausrichten können. Wir tragen weder euren Namen, noch gehören wir der Polizei an. Uns hätte niemand Auskunft gegeben. Völlig zurecht. Dafür gibt es den Datenschutz. Also haben wir uns stattdessen bei der Ernte nützlich gemacht. Salate und Erdbeeren wuchern gerade wie blöde und es gab viel für die Auslieferungen einzupacken. Das können wir ja nicht erst alles morgen früh machen.«

Sie betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Hast du echt gedacht, ich bin sauer auf dich und geh dir aus dem Weg?«

Unsicher hob Sam die Schultern. »Du hast weder in der Mittagspause noch beim Abendessen mit mir geredet.«

»In der Mittagspause hab ich die Zusammenfassung gelesen, die du Parker, Jo und mir zu den IPS-Dateien geschickt hattest. Und beim Abendessen hab ich mich mit Beth unterhalten, weil ich ihr heute zum ersten Mal beim Imkern geholfen hab. Das war ziemlich cool und ich hatte dazu noch Fragen.«

Freundschaftlich rempelte sie ihm gegen die Schulter. »Tut mir leid, wenn das für dich so rüberkam, als wäre ich sauer und würde dich links liegenlassen. Aber das ist nicht meine Art. Wenn ich sauer bin oder mich irgendwas nervt, dann spreche ich das an. Jemandem die kalte Schulter zu zeigen oder ihn mit eisigem Schweigen zu bestrafen, ist nicht mein Ding.« Sie grinste. »Du weißt schon, ich bin Gewitter. Ich kläre lieber, wenn dicke Luft herrscht. Alles andere ist mir zu nervig und unnötiges Drama.«

Sam musste lächeln. »Ich schätze, ich bin dann wohl eher ein harmoniesüchtiger Sonnenschein, der Streit zwar nicht komplett aus dem Weg geht, ihn aber definitiv vermeidet, wenn möglich.« Dann verzog er das Gesicht. »Und ich hab offensichtlich ein Händchen dafür, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen, unbequeme Nachrichten zu überbringen.«

Riley lachte. »Na ja, ich wage zu bezweifeln, dass irgendjemand jemals denkt: Hey, jetzt gerade wäre der perfekte Zeitpunkt für ein paar unbequeme Nachrichten.« Wieder rempelte sie ihm sanft gegen die Schulter. »Mach dir also keinen Kopf darüber, dass du ihn verpasst hast. Wenn man mit Harmoniesucht und Sonnenschein sein zu kämpfen hat, ist es sicher doppelt und dreifach schwer.«

Jetzt musste Sam ebenfalls lachen und Riley mochte sehr, dass er sich nicht mehr so bedrückt anfühlte.

»Ja, vermutlich. Aber ich werde daran arbeiten, versprochen.«

Riley wurde wieder ernster und schüttelte den Kopf. »Es ist völlig okay, ein Sonnenschein zu sein und auf Harmonie zu stehen. Jo ist genauso. Sie geht Streit zwar auch nicht aus dem Weg, aber sie mag ihn nicht. Außerdem sie ist eine unglaubliche Optimistin. Henry ist ebenfalls Sonnenschein und Harmonie pur – und ich bete, dass er so bleibt, wenn er älter wird und noch mehr von der Welt mitbekommt. Diese verdammte Welt braucht nämlich harmoniesüchtige Sonnenscheine. Ihr macht sie besser. Und ihr seid Seelenbalsam für Gewitter wie mich, die oft zu zynisch, skeptisch und misstrauisch sind, oder Dinge zu negativ sehen. Dafür übernehme ich dann gern das Meinunggeigen für euch. Oder das Überbringen von unbequemen Nachrichten.«

Einen Moment lang sah Sam sie sprachlos an.

»Wow«, brachte er dann heraus. »Ich hatte befürchtet, ich müsste darum kämpfen, dass du nicht mehr sauer auf mich bist. Stattdessen machst du mir das berührendste Kompliment, das ich je bekommen habe.«

Riley lachte auf. »Gewöhn dich nicht dran. Wenn du das nächste Mal bei solchen Infos wie denen von heute nicht sofort zu mir kommst, gibt’s Gewitter, klar? Und zwar heftig. Dass du Ayden damit nicht gleich den nächsten Schlag verpassen wolltest, kann ich nachvollziehen und ich rechne es dir hoch an, dass du dir solche Gedanken um meinen Bruder machst. Aber mich hätte es nicht so getroffen und ich hätte dir sagen können, dass er das aushält und die Infos wissen will.«

»Ich wollte es dir sagen«, ächzte er. »Direkt am Tag, nachdem ich es herausgefunden hatte. Aber das fühlte sich irgendwie falsch an. Nicht nur, weil ihr gerade erst von dem anstrengenden Einsatz gegen die Daemons zurückgekommen wart und ich Henrys Geburtstag nicht versauen wollte. Ich fand auch, dass ich es zuerst Ayden sagen sollte. Wegen Henry und Sarah betrifft ihn die ganze Sache ja am meisten. Mir ist klar, dass er dir dann davon erzählt hätte – und es ist ganz sicher nicht so, dass ich dir nicht vertraue«, fügte er schnell hinzu. »Aber …«

Er brach ab und suchte nach den richtigen Worten.

»Keine Ahnung.« Hilflos hob er die Schultern. »Es kam mir so vor, als würde ich ihn hintergehen und ein Geheimnis weitererzählen, wenn ich es ihm nicht zuerst sage.«

Riley musste lächeln und wusste, warum Sam es auf ihre Favoritenliste geschafft hatte.

»Okaaay«, seufzte sie gedehnt. »Du machst mir das Gewittern bei dir echt nicht leicht. Dass du Privatsphären und Geheimnisse respektierst, muss ich dir hoch anrechnen. Der einzige Grund, den ich jetzt noch hab, um dir die Hölle heiß zu machen, ist, dass du ernsthaft geglaubt hast, ich wäre beleidigt und dir heute aus dem Weg gegangen.«

Sam grinste und diesmal war er es, der ihr gegen die Schulter rempelte. »Ich verspreche, das passiert nie wieder. Allein die Vorstellung, dass ich deinen Gewitterzorn mal zu spüren bekommen könnte, findet mein harmoniesüchtiges Sonnenscheingemüt nämlich schon ätzend.«

Er stützte sich am Felsen ab und stemmte sich auf die Beine. »Genau deshalb lass ich dich jetzt auch wieder deine Alleinzeit genießen.« Er zwinkerte ihr zu. »Deine Privatsphäre respektiere ich nämlich auch.«

Riley schenkte ihm ein Lächeln. »Danke. Das weiß ich zu schätzen. Du kannst aber gern bleiben. Ich hatte schon entspannte Alleinzeit, bevor du gekommen bist, und ich hab nichts dagegen, den Platz hier weiter mit dir zu teilen.«

Sam spürte ein freudiges Kribbeln in seiner Magengegend, in der es sich heute den ganzen Tag über eher flau angefühlt hatte, weil er befürchtet hatte, er hätte es sich übel mit Riley verscherzt. Trotzdem schüttelte er zu ihrem Angebot den Kopf und wies an sich herunter. »Es ist verlockend, aber ich trage die Sportklamotten nicht zum Spaß. Heute Morgen sind meine Trainingsrunden ausgefallen, deshalb will ich sie jetzt nachholen. Das Joggen klappt ganz gut. Da will ich nicht einknicken.«

Bisher hatte er seine Runden um die Insel in einem zügigen Nordic-Walking absolviert. Vor zwei Wochen war seine Physiotherapeutin bei seinem Kontrollbesuch aber so begeistert von seinen Fortschritten gewesen, dass sie ihm grünes Licht gegeben hatte, auf kleineren Abschnitten seiner Runden langsames Joggen auszuprobieren. Die ersten paar Mal hatte er kaum fünfzig Meter durchgehalten, bevor sein Bein zu schmerzen begonnen hatte. Mittlerweile schaffte er eine halbe Runde problemlos und er war hochmotiviert, heute wieder ein paar Meter mehr zu meistern.

»Hast du was dagegen, wenn ich mitkomme? Dann geh ich schnell hoch und zieh mich um.«

Sam hob zweifelnd eine Augenbraue. »Du willst wirklich in meinem Schneckentempo mitlaufen?«

»Ich trainiere ja nicht für Olympia. Ich laufe, weil ich es mag, mich auszupowern. Oder um den Kopf freizukriegen.« Riley stand auf. »Und jetzt gerade hätte ich große Lust, herauszufinden, wie weit du es heute schaffst. Oder wir könnten ausprobieren, ob du joggen hier im Sand hinbekommst. Ich weiß, dass du dich an diesen Abschnitt deiner Runde bisher noch nicht herantraust. Aber wenn du fällst, fällst du weich, und ich kann dir wieder auf die Füße helfen, ohne dass du bis zum nächsten Felsen krabbeln musst, um eine Stütze zu haben.«

Sam blickte den Strand entlang, vor dem er wirklich noch ziemlichen Respekt hatte, weil ihm an schlechten Tagen selbst normales Laufen im Sand manchmal noch schwerfiel.

Allerdings hatte er in letzter Zeit keine schlechten Tage mehr gehabt. Warum also nicht einen ersten Versuch wagen, auch hier zu joggen? Mit Riley an seiner Seite konnte ja nicht viel passieren.