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Eigentlich läuft gerade alles sehr gut im Leben von Zack, Ned und dem Rest der Clique. Nach den schrecklichen Erlebnissen in CyberLondon ist der Alltag wieder eingekehrt und die Freunde testen ihr eigenes CyberGame, um es für die Veröffentlichung fertigzustellen. Doch dann tauchen Zacks Eltern überraschend in London auf und in der CyberWorld sucht ein Unbekannter die Aufmerksamkeit der Freunde – mit äußerst drastischen Mitteln. Wer verbirgt sich hinter Anonymous und was will er von Ned, Will und deren Freunden? Dich erwartet: - Cybergames - Young Adult - Future Fiction - Coming of age - Queere Charaktere - Found Family - Heartwarming
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Table of Contents
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Nachwort
Unveränderte Neuauflage der in der Greenlight Press erschienenen Originalausgabe
Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main
Copyright © 2024 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)
Alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage (Oktober 2024)
Coverdesign: Nadine Erdmann und Kuneli Verlag
Unter der Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock.com
ISBN Epub: 978-3-948194-55-0
ISBN Kindle-Format: n/a
www.kuneli-verlag.de
Nadine Erdmann liebt Bücher und Geschichten, seit sie denken kann. Selbst welche zu schreiben, war aber lange Zeit nur eine fixe Idee und so sollte zunächst ein »anständiger« Beruf her. Sie studierte Lehramt, verbrachte einen Teil ihres Studiums in London und unterrichtete als German Language Teacher in Dublin. Zurück in Deutschland wurde sie Studienrätin für Deutsch und Englisch und arbeitete an einem Gymnasium und einer Gesamtschule in NRW.
Der »anständige« Beruf war ihr damit sicher, ihr Herz hing aber mehr und mehr daran, Geschichten zu schreiben. Nach der Krebserkrankung ihrer Schwester entschied sie sich, den Schritt in die Schriftstellerei zu wagen, weil man nicht immer alles auf später verschieben kann. Seitdem veröffentlichte sie drei Reihen (die »CyberWorld«, die »Lichtstein-Saga« und die »Totenbändiger« in ganz unterschiedlichen Genres, die zusammen mit den »Haunted Hunters« im Kuneli Verlag ab 2024 ein neues Zuhause gefunden haben.
Mehr über die Autorin und ihre Werke:
www.nadineerdmann.de
www.facebook.com/Nadine.Erdmann.Autorin
www.instagram.com/nadineerdmann
Ihre Werke im Kuneli Verlag
CyberWorld (2024 als E-Book)
Mind Ripper
House of Nightmares
Evil Intentions
The Secrets of Yonderwood
Burning London
Anonymous
Bunker 7
Lichtstein-Saga (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)
Aquilas
Andolas
Fineas
Enyas
Die Totenbändiger (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)
Sammelband 1 - Unheilige Zeiten
Sammelband 2 - Äquinoktium
Sammelband 3 - Geminus
Sammelband 4 - Samhain
Sammelband 5 - Zwillingskräfte
Sammelband 6 - Wintersonnenwende
Haunted Hunters (ab 2024 als E-Book und Taschenbuch)
Neue Wirklichkeit
Daemons
(noch ohne Titel)
CyberWorld 6.0
Nadine Erdmann
Kuneli Verlag
Sonnenstrahlen brachen sich glitzernd im Wasser. Ein verheißungsvolles Versprechen auf ein Ende von Kälte und Dunkelheit.
Unzählige kleine Luftbläschen stiegen um sie herum in die Höhe und wiesen ihr den Weg.
Endlich.
Und jetzt bloß nicht mehr nach unten sehen!
Charlie war heilfroh, dass ihnen die Flucht aus der gruseligen Unterwasserwelt gelungen war, und sie wollte diese verdammte Finsternis jetzt einfach nur noch hinter sich lassen. Zurück an die Oberfläche, in Wärme und Sonnenlicht. Und so weit wie möglich fort von schuppigen, glitschigen Meermenschen und ihren Monstern, die viel zu viele spitze Zähne hatten – sowohl die Meermenschen als auch die Monster. Manchmal fragte sie sich, ob sie sich nicht vielleicht ein kleines bisschen Sorgen darüber machen sollte, auf welch düsteren Pfaden Jamies Fantasie unterwegs war, wenn er sich solche Wesen ausdachte.
Die Silhouetten der anderen strampelten neben ihr durchs heller werdende Wasser Richtung Oberfläche. Ned war dicht an ihrer Seite. Grinsend formte er mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und deutete nach oben. Selbst durch Wasser und Luftbläschen fiel es ihr leicht zu erkennen, wie happy er war.
Sie lächelte zurück und formte dasselbe Zeichen: Alles okay.
Das hier war Neds Welt. Er hatte sie gemeinsam mit Jamie, Jem, Will und Zack geschaffen. Fast ein ganzes Jahr arbeiteten sie jetzt schon daran und so langsam wurde ihr Piratenabenteuer fertig. Vieles musste nur noch getestet werden, und auch wenn Charlie sich sicher war, dass sie sich in gruseligen CyberGames niemals hundertprozentig zu Hause fühlen würde, war sie unglaublich stolz auf das, was ihre Freunde hier erschaffen hatten. Und sie liebte Ned viel zu sehr, um ihm abzuschlagen, sein Versuchskaninchen zu spielen. Schließlich verpasste er auch nie einen ihrer Auftritte, wenn sie mit ihrer Band auf der Bühne stand.
Nur noch ein paar Meter, dann hatten sie die Wasseroberfläche erreicht.
Wird auch langsam Zeit …
Avatare mussten nicht atmen, also konnten sie auch nicht ertrinken. Doch der Zauber, der sie in der Unterwasserstadt hatte überleben lassen, war erloschen, sobald sie geflohen waren. Und jetzt simulierte irgendein Tool das Gefühl, ganz, ganz dringend Luft holen zu müssen.
Noch zwei Schwimmzüge … noch einer … dann durchbrach ihr Kopf endlich die Wasseroberfläche. Neben ihr jubelten Zack und Jamie. Will hatte Jem in seine Arme gezogen und gab ihr einen Kuss.
»Du warst fantastisch!« Ned schlang seine Arme um Charlie und küsste sie ebenfalls.
»Danke. Aber weißt du, was ich wirklich fantastisch fände? Wenn wir so schnell wie möglich aus diesem Wasser verschwinden könnten. Sonst hab ich die ganze Zeit das Gefühl, jeden Augenblick zieht mich wieder irgendwas zurück nach unten, weil die Meermenschen uns all ihre Monster hinterherschicken.«
Beruhigend schüttelte Ned den Kopf. »Keine Angst, das ist nicht vorgesehen. Wenn man die Flucht aus Aquaris geschafft hat, ist die Quest vorbei und wir müssen uns nur noch die Belohnung abholen.«
Charlie schnaubte ironisch. »Nur noch … Klar! Als ob du und Jamie euch dafür nicht auch noch ein paar Fieslichkeiten ausgedacht hättet, damit das bloß nicht zu einfach wird!«
Neds Grinsen wurde noch ein bisschen breiter. »Na, alles andere wäre ja wohl auch entsetzlich langweilig, oder?« Er deutete zu den anderen, die sich bereits auf den Weg gemacht hatten und um die steile Klippe herumschwammen, die vor ihnen in den strahlend blauen Himmel hinaufragte. »Da geht’s lang zum sicheren Strand. Wenn du versuchen würdest zur Klippe zu schwimmen, um dort rauszuklettern, würde dich die Strömung nach unten ziehen und am Felsen zerschmettern.«
Charlie warf einen unbehaglichen Blick auf die imposante Felswand, an der sich unruhig die Wellen brachen. »Na, schönen Dank, dass ich das nicht testen muss.« Schnell schwamm sie in gebührendem Abstand zur tödlichen Strömung hinter den anderen her.
»Keine Sorge, das haben Jamie und ich gestern schon gemacht.« Ned schwamm neben ihr her.
»Und? Hat’s funktioniert?«
»Einwandfrei.«
»Dann danke, dass ihr zwei das alleine gemacht habt! Ich bin nämlich nicht sonderlich scharf darauf, meinen Freunden ständig beim Sterben zuzusehen, nur weil ihr ausprobieren müsst, ob alle siebenhundertachtunddreißig Todesarten, die ihr hier eingebaut habt, auch wirklich funktionieren.«
Ned schmunzelte. »Eigentlich hat das Ganze mittlerweile einen gewissen Komikfaktor.«
Charlie bedachte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Manchmal frag ich mich echt, wie finster Humor sein kann.«
»Oh, Jamie, Zack und ich perfektionieren gerade jede einzelne Nuance von Schwarz.«
Sie spritzte eine Salve Wasser nach ihm. »Ja, genau das passt zu euch!«
Keine fünf Minuten später ließ Charlie sich erschöpft auf die Knie in den warmen Sand sinken. »Himmel, das wurde aber auch Zeit!« Das Licht an ihrer Armschelle leuchtete orange, die Flucht aus den Tiefen der Keltischen See hatte sie einiges an Lebensenergie gekostet. »Ich weiß, wir leben auf einer Insel, und das, was ihr fünf da unter Wasser zusammenprogrammiert habt, ist auch total beeindruckend und so. Aber die Lust auf Meer und Strandurlaub habt ihr mir damit echt versaut.« Sie wrang ihre schwarzen Locken aus und sah an sich herunter, um den Schaden zu begutachten, den der Ausflug in die Unterwasserwelt an ihrem Piratenoutfit angerichtet hatte. Ihre Stiefel waren futsch. Das nasse Leder hätte sie auf der Flucht zur Oberfläche nur unnötig langsamer gemacht. Die wenig schmeichelhafte dunkle Pumphose war tropfnass und wies etliche Risse auf, genau wie das helle Hemd. Einzig die Korsage, die sie darüber trug, schien halbwegs unversehrt – und im Gegensatz zum dünnen Hemdstoff, der an ihren Armen klebte, war die robuste Korsage nicht durch die Nässe durchsichtig geworden.
Danke, Jem!
Sie wusste, dass Jemma für das Design der Kleidung im Spiel zuständig war. Und ihre beste Freundin hatte gewissenhaft dafür gesorgt, dass es für Mädchen in nassen Klamotten nicht peinlich wurde. Charlie blickte zu den Jungs und musste sich auf die Lippen beißen, um nicht zu grinsen. Deren Klamotten sahen nach dem Unterwasserabenteuer nämlich kein bisschen besser aus, doch bei männlichen Spielern in tropfnassen Hemden hatte Jemma dafür gesorgt, dass man als Mädchen etwas zu gucken bekam – oder als Junge, wenn man drauf stand. Vielleicht hatten da also Jamie und Zack auch ein Wörtchen mitgeredet.
Charlie wollte gerade danach fragen, als Jemma sagte: »Wäre aber schade, wenn du Meer und Strandurlaub auf ewig abschwören würdest.« Sie strich sich ein paar nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrem geflochtenen Zopf gelöst hatten. »Grandma hat nämlich heute Morgen angerufen und gefragt, ob wir in den Sommerferien für zwei Wochen nach Whitby kommen wollen. Sie und Grandpa würden die Pension dann schließen und wir hätten das Haus ganz für uns. Und sie hat gesagt, wir dürfen Freunde mitbringen. Aber da Whitby an der Ostküste liegt und man vom Haus fast direkt ins Meer fällt, hat sich die Einladung für dich wohl leider erledigt.«
Charlie blickte sie überrumpelt an. »Ist das ein Scherz? Deine Großeltern laden uns alle für zwei Wochen in ihr Bed & Breakfast ein?«
»Hey!« Empört wandte Jamie sich zu seiner Schwester um. »Die Überraschung wollten wir ihnen doch gemeinsam verraten!«
»Wie denn? Im Chor?« Jemma bedachte ihn mit einem schiefen Blick. »Und Will hab ich es sowieso schon erzählt.«
Sprachlos sah Jamie von ihr zu Will.
Der lachte und klopfte ihm gutmütig auf die Schulter. »Sorry, Kumpel. Aber es beruhigt mich gerade ungemein, dass dir eure Zwillingsmagie nicht alles über deine Schwester verrät.«
Jamie verzog das Gesicht, sagte aber nichts mehr, sondern wischte sich nur betont würdevoll die nassen Haare aus der Stirn. »Na fein! Dann wissen jetzt ja alle Bescheid. Und? Habt ihr Lust auf zwei Wochen Strandurlaub? Jem, Zack und ich fahren auf jeden Fall. Und Dad und Kate kommen auch mit. Wäre cool, wenn ihr auch dabei wärt.«
»Machst du Witze? Klar sind wir dabei!« Wie immer, wenn Charlie von etwas begeistert war, gab sie sich kein bisschen Mühe, damit hinter dem Berg zu halten. »Eure Großeltern sind genial und ich würde sie liebend gern wiedersehen! Und eure Tante wird doch bestimmt auch da sein, oder?«
»Sicher. Du glaubst doch nicht, dass Anna irgendwo hinfährt, wenn sie weiß, dass wir kommen.«
»Cool! Sag ihnen, wir freuen uns riesig über die liebe Einladung und kommen sehr gerne mit.« Charlie strahlte, blickte dann aber kurz zu Ned. »Oder?«
Ned nickte sofort. »Auf jeden Fall. Habt ihr denn schon eine Zeit ausgesucht? «
»Noch nicht«, sagte Jamie. »Dad und Kate müssen sehen, wann sie Urlaub nehmen können.«
Charlie fiel Jemma um den Hals. »Wie cool, ich freue mich riesig! Das werden bestimmt total geniale zwei Wochen! Du musst mir auf jeden Fall die E-Mail-Adresse von deinen Großeltern geben, damit ich ihnen schreiben kann. Ihre Einladung ist sooo lieb.«
»Vermutlich wollen sie einfach nur nicht, dass uns langweilig wird«, meinte Jamie. »Whitby ist ziemlich klein.«
Zack strubbelte sich durch die nassen Haare. »Whitby hat fast vierzehntausend Einwohner. So klein ist das gar nicht.«
»Verglichen mit London schon!«
»Verglichen mit London ist so gut wie jede Stadt ein Dorf, du Nuss!« Charlie versuchte ihre Hemdsärmel auszuwringen, als ihr plötzlich etwas in den Zeh zwickte. Erschrocken sprang sie einen Schritt zur Seite. Ein handtellergroßer Krebs hatte sich aus dem warmen Sand gewühlt und offensichtlich großen Gefallen an ihrem kleinen Zeh gefunden. Fröhlich krabbelte er ihr hinterher und zwickte sie noch einmal. Wieder sprang Charlie ein Stück zurück und ihr war sofort klar, wem sie den kleinen Kneifer zu verdanken hatte.
»Jaaamie … Warum versucht hier eine Krabbe mit meinen Zehen anzubandeln?«
Jamie grinste. »Darf ich vorstellen? Das ist Chester. Chester, das ist Charlie.«
Chester hob begeistert seine Scheren und wuselte wieder hinter Charlie her, die zwei weitere Schritte aus seiner Reichweite tänzelte.
»Jamie, ich schwöre dir, bei nächster Gelegenheit –«
»Hey, Chester ist total harmlos! Der will nur spielen.«
»Ja, aber nicht mit meinen Zehen! Lass ihn doch mit deinen spielen!« Charlie hob ein Stück Treibholz auf und stupste den Krebs damit von sich.
»Ähm, das würde ich an deiner Stelle lieber lassen«, warnte Ned. »Wenn du ihn ärgerst, ruft das seine Familie auf den Plan und die mögen es gar nicht, wenn ihr Baby nicht seinen Willen bekommt.«
Sofort verharrte Charlie in ihrer Bewegung und blickte von ihm zu Jamie. »Seine Familie?!«
Das unverschämte Grinsen in Jamies Gesicht sprach Bände. »Yep. Daddy Thaddeus, Mummy Lucinda und die Geschwister Roderick, Shania, Imogen, Jeremiah und Van Helsing. Letzteres ist natürlich nur ein Künstlername. Sein richtiger Name ist Hugo, aber den fand er wegen seiner Zukunftspläne unpassend. Hugo will Superheld werden und es irgendwann mit allen Meermonstern alleine aufnehmen. Deshalb sein Künstlername – Van Helsing.«
Einen Moment lang starrte Charlie ihn sprachlos an, dann wanderte eine ihrer Augenbrauen in ungeahnte Höhen. »Dazu muss ich jetzt nichts sagen, oder?«
Ned, Jemma, Zack und Will lachten, Jamie dagegen zog eine Schnute.
»Also ein kleines Lob wäre schon schön«, tat er gekränkt. »Eigentlich denkt Zack sich immer die ganzen coolen Hintergrundgeschichten aus, aber die hier stammt von mir!«
Jetzt konnte auch Charlie nicht mehr ernst bleiben. »Himmel hilf. Autsch!«
Chester hatte ihre Unaufmerksamkeit prompt ausgenutzt und war wieder auf zwickende Tuchfühlung mit ihrem kleinen Zeh gegangen.
»Okay, was muss ich tun, um dieses etwas zu aufdringliche Kerlchen wieder loszuwerden? Und ich hätte gerne eine Lösung, bei der ich nicht den Rest der Familie kennenlernen muss!«
»Heb ihn hoch, kraul ihm kurz den Bauch und dann lass ihn wieder frei«, sagte Zack. »Chester will nur ein bisschen Aufmerksamkeit und Liebe. Das ist alles.« Er legte seinen Arm um Jamie. »War auch Jamies Idee.«
Charlie sah von ihm zu Jamie und ihr Blick wurde weich. »Awww … Okay, das ist jetzt echt süß.« Sie nahm Chester hoch und kraulte ihm kurz den Bauch, was die kleine Krabbe sofort mit freudigem Scherenklappern quittierte. »Euch ist aber schon klar, dass kein Spieler von alleine auf diese Lösung kommen wird, ja?«, meinte sie, als sie Chester wieder absetzte und zusah, wie er sich im warmen Sand einbuddelte.
»Man kann auch einfach vor ihm weglaufen«, erklärte Ned. »Chester läuft einem zwar hinterher, aber er ist nicht schnell genug, wenn die Spieler rennen. Wenn sie ihn allerdings angreifen oder töten wollen, ruft das seine Familie auf den Plan und die sind schneller – und so groß wie Autoreifen.«
»Und weil alle Spieler ihre Waffen während der Gefangenschaft bei den Meermenschen verloren haben, ist ein Kampf dann verdammt schwierig. Man kann sich nur mit Treibholz und ein paar Planken verteidigen, die hier am Strand herumliegen«, fuhr Zack fort.
»Wenn man aber nett zu Chester ist, passiert das da.« Jamie wies auf die Stelle, an der die kleine Krabbe gerade verschwunden war. Einen Moment lang lag der Sand ruhig da, dann tauchte Chester plötzlich wieder auf und hielt einen alten, ziemlich rostigen Schlüssel in einer seiner Scheren. Er trippelte auf Charlie zu und hielt ihn ihr hin.
»Oh, danke!« Charlie nahm den Schlüssel und tätschelte Chester kurz über seinen Panzer. Fröhlich klapperte der kleine Krebs noch einmal mit seinen Scheren und verschwand dann endgültig im Sand.
»Das ist der Schlüssel für eine Bonustruhe«, erklärte Jamie. »Nettsein zahlt sich hier im Spiel aus.«
Charlie musste lächeln und steckte den Schlüssel in einen kleinen Lederbeutel, der von ihrem Gürtel baumelte. »Wisst ihr, manchmal überlege ich echt, ob ich nicht doch eine berühmte Rocksängerin werden sollte. Und sei es nur, damit ich der ganzen Welt erzählen kann, was für herrlich verrückte und wunderbar schräge Freunde ich habe.«
Alle grinsten, doch dann wisperte Zack aus dem Mundwinkel zu den anderen: »Mal sehen, ob sie immer noch so nett von uns denkt, wenn sie gleich mit uns in die vergessene Höhle runtersteigen muss.«
Ned führte sie an und sie kletterten über kleinere Felsen hin zur Steilwand der Klippe. Hinter einer mit glitschigen schwarzen Algen überwucherten Felsformation lag versteckt eine Höhle. Vorsichtig schlitterten die sechs die Felsen hinab und landeten knöcheltief im Wasser, das den Eingang umspülte.
»Schon wieder nasse Füße?«, grummelte Charlie, als sie den anderen zögernd in den Felsspalt folgte. Ein dunkler Tunnel schlängelte sich tiefer in die Klippe hinein. Die Wände glänzten feucht und waren bis an die Decke mit Algen, Muscheln und Schneckenhäusern überzogen. »Bitte sagt mir nicht, dass hier gleich die Flut einsetzt und die nächste Quest auf Zeit geht.« Sie bedachte Ned mit einem vorwurfsvollen Blick. »Eigentlich hatte ich geschworen, dass ich nach der grässlichen Unterwasser-Quest in Yonderwood nie wieder einen Fuß in irgendein virtuelles Gewässer setzen werde. Und jetzt?! Jetzt schreiben meine Freunde ausgerechnet ein Piratengame, das zu gefühlten achtzig Prozent der bisherigen Spielzeit in, am undunter Wasser stattfand!«
Ned bemühte sich, angemessen zerknirscht auszusehen. »Das hier ist die letzte Quest mit nassen Füßen, versprochen. Und weil wir nett zu Chester waren, bekommen wir jede Menge Ausrüstung, mit der wir die Höhle schnell genug durchspielen können, sodass uns die einbrechende Flut nicht gefährlich werden kann.«
Er wies in den düsteren Gang hinein und Charlie erkannte im schwachen Sonnenlicht, das durch den Eingang fiel, eine verwitterte Holztruhe mit rostigen Eisenbeschlägen, die keine zehn Meter von ihnen entfernt an der Tunnelwand stand. Sie trat an den anderen vorbei und kramte Chesters Schlüssel aus ihrem Lederbeutel. Mit ein bisschen Rütteln passte er ins Schloss und ließ sich trotz jeder Menge Rost auch umdrehen.
Argwöhnisch blickte Charlie zu ihren Freunden auf. »Welche bösen Überraschungen springen mich an, wenn ich den Deckel öffne?«
Jamie verdrehte die Augen. »Gar keine. Das ist eine Bonustruhe, weil du nett zu Chester warst. Da drin sind Geschenke.« Gespielt beleidigt schüttelte er den Kopf. »Immer dieses total unverdiente Misstrauen.«
Charlie lachte ironisch auf. »Ja, total unverdient! Soll ich dir jetzt wirklich auflisten, warum ich dir keinen Millimeter über den Weg traue, mein Lieber?«
»Nee, lass es«, würgte Jemma sie ab, als Charlie gerade loslegen wollte. »Wir würden hier drin jämmerlich ersaufen, bevor du die Liste auch nur zur Hälfte fertig hättest.«
»Hey, ich bin dein Zwilling! Da solltest du eigentlich automatisch auf meiner Seite sein!«
Jemma strafte ihren Bruder mit einem vielsagenden Blick. »Wäre ich vielleicht auch, wenn du es irgendwann mal schaffst, deine dreckigen Klamotten nicht überall in unserem Badezimmer zu verteilen. Heute Morgen sah es schon wieder so aus, als wäre der Wäschekorb explodiert. Ich weiß gar nicht, wie du dieses Chaos immer hinkriegst!«
Jamie winkte lässig ab. »Das ist eine meiner leichtesten Übungen.«
»Außerdem ist mein Apfelshampoo leer.«
Abwehrend hob Jamie die Hände und setzte seine treuherzigste Unschuldsmiene auf. »Dafür kann ich wirklich nichts. Das Zeug riecht einfach zu lecker. Und es macht die Haare schön.«
»Wo er recht hat, hat er recht«, pflichtete Zack ihm bei und fuhr sich überflüssigerweise durch seinen strubbeligen virtuellen Haarschopf.
Will und Ned lachten. Jemma dagegen warf einen beschwörenden Blick an die Tunneldecke und versuchte, ihr inneres Om zu finden. Sie gab die Suche allerdings schnell wieder auf. Stattdessen bedachte sie Jamie und Zack mit einem teuflischen Grinsen.
»Mach die Truhe auf, Charlie, da sind Säbel drin. Und dann solltet ihr zwei zusehen, dass ihr ganz schnell Land gewinnt!«
In der Bonuskiste waren nicht nur Säbel, sondern auch Stiefel und Öllampen, die sie mit den Feuersteinen aus ihren Lederbeuteln entfachen konnten. Rasch statteten sie sich aus und weil das Wasser im Gang immer höher stieg, verzichtete Jemma darauf, ihre Säbelspitze Bekanntschaft mit zwei Hintern machen zu lassen. Aber der Zeitpunkt ihrer Rache würde schon noch kommen.
»Ich schätze, ich soll wieder die Führung übernehmen?« Charlie leuchtete tiefer in den Felsgang hinein. Sie war die Einzige, die nicht wusste, was an seinem Ende wartete. Zumindest nicht genau. Sie hatten in der Unterwasserstadt der Meermenschen herausgefunden, dass ein nicht unerheblicher Piratenschatz hier in dieser Höhle versteckt war. Um die Quest abzuschließen, mussten sie ihn jetzt nur noch finden – und sich dabei vermutlich mit den Geistern der Piraten herumschlagen, die sich sicher wenig angetan davon zeigen würden, dass ihnen jemand das lang gehütete Gold stehlen wollte.
»Du hast immer den Vortritt.« Ned grinste. »Das ist dein Vorrecht als unser Versuchskaninchen.«
Schicksalsergeben stiefelte Charlie los. »Na, dann trage ich dieses schwere Los mal klaglos und würdevoll.«
Jamie prustete. »Ja, klar.«
»Das hab ich gehört!«
»Sollte auch kein Geheimnis sein!«
Da ihr das einströmende Meerwasser bereits um die Waden schwappte, verkniff Charlie sich ein Wortgefecht und stapfte den Tunnel entlang. Die Wände glitzerten feucht im Licht der Öllampen. Es roch salzig und nach Seetang. Ein bisschen wunderte sie sich über sich selbst. Sie war noch immer keine Heldin, was CyberGames anging. Auch wenn die Monster nur virtuell waren und ihr nicht wirklich gefährlich werden konnten, hatte sie einen Heidenrespekt vor diesen Biestern. Genauso wie vor düsteren Tunneln, Kellern, Höhlen, Verliesen und ähnlich gruseligen Orten, die man in den Spielen immer wieder erkunden musste. Ihr Herz schlug dann immer noch jedes Mal bis zum Hals, doch es war nicht mehr so schlimm wie ganz am Anfang. So langsam wurde es ein Nervenkitzel, den sie genießen konnte. Und hier im Game ihrer Freunde Versuchskaninchen zu spielen, machte sogar richtig Spaß. Vielleicht lag es daran, dass sie als Testerin anders an die Sache heranging. Nicht ganz so sehr ins Setting und die Geschichte eintauchte. Einen gesunden Abstand behielt, der deutlicher klarmachte als sonst, dass das hier nur ein Spiel war. Oder es lag daran, dass sie wusste, dass die anderen das Spiel programmiert und damit immer alles im Griff hatten.
Der Weg stieg nun an, was den Wasserspiegel sinken ließ und das Laufen leichter machte. Zwei Biegungen später liefen sie über feuchten Sand und im flackernden Schein ihrer Lampen war zu erkennen, dass der Felsgang in einiger Entfernung breiter wurde.
Charlie hob ihren Säbel und lief zügig weiter. Erst nasse Finsternis in der Unterwasserwelt, jetzt feuchte Dunkelheit hier unter den Klippen. Sie wollte endlich zurück ins Tageslicht und mit dem gefundenen Schatz einem kleinen Dorf helfen, dem es nach den Plünderungen durch eine brutale Piratengang ziemlich dreckig ging.
Der Tunnel mündete in eine Höhle und Charlie hielt ihre Öllampe hoch, um den neuen Spielort so gut es ging auszuleuchten. Die Höhle hatte in etwa die Größe eines Klassenzimmers, mit rauen schwarzen Felswänden und hellem Sandboden. Beides war feucht, was bedeutete, dass die steigende Flut ihnen immer noch gefährlich werden konnte. In der Mitte der Höhle standen drei große Holztruhen, denen die Gezeiten im Laufe der Jahre ordentlich zugesetzt hatten. Das Holz war modrig und aufgequollen, die Eisenbeschläge rostzerfressen. Die Deckel der Truhen waren aufgesprungen und unzählige Goldmünzen funkelten im Lichtschein.
»Na, das nenn ich mal eine ordentliche Beute«, meinte Charlie zufrieden. »Schade nur, dass wir sie garantiert nicht einfach so mitnehmen können, stimmt’s?«
»Wäre dann ja todlangweilig.« Jamie zog seinen Säbel und stellte seine Öllampe an der Felswand ab. »Geh einfach auf den Schatz zu, dann sorgst du für ein bisschen Spaß und Action.« Sein erwartungsfrohes Lächeln sprach Bände.
»Na, deine Definition von Spaß und Action kenne ich mittlerweile.« Charlie stellte ihre Öllampe ebenfalls ab.
»Klaglos und würdevoll«, zog Jamie sie mit einem ironischen Singsang in der Stimme auf. »Das waren deine Worte.«
Charlie rollte die Augen. Entschlossen fasste sie ihren Säbel fester und ging auf die Schatztruhen zu. Sie kam keine drei Schritte weit, da wurde der Boden um sie herum unruhig. Knochenhände tauchten auf und Skelette wühlten sich aus dem Sand. Sechs, acht – mehr Gerippe, als Charlie auf die Schnelle zählen konnte. Die Knochenmänner schwangen rostige Säbel und stürzten sich mit wütendem Geklapper auf die Eindringlinge, die ihren Schatz rauben wollten. Charlie zögerte nicht lange und zerlegte das erstbeste Gerippe mit vier schnellen Hieben. Dann schwang sie herum und nahm sich das nächste Skelett vor.
Wow, ich bin wirklich gut geworden!
Auch ihr zweiter Gegner lag innerhalb kürzester Zeit als Knochenhaufen am Boden.
»Ich will ja jetzt nicht meckern«, sagte sie, während sie sich einem dritten Knochenmann widmete, »aber wie wahrscheinlich ist es, dass Fleisch und Haare komplett weggerottet sind, die Gerippe aber trotzdem noch Kleiderfetzen tragen?«
Das Skelett vor ihr trug eine zerschlissene Hose, Reste von einem Hemd, löchrige Stiefel und um seinen Totenschädel war ein schwarzes Piratentuch geknotet.
Ned kämpfte neben ihr und musste lachen. »Ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit strebt gegen null.«
»Aber sie sehen mit den Klamottenresten einfach viel cooler aus!« Jamie kämpfte auf Charlies anderer Seite gegen ein besonders riesiges Skelett, das in einem gammeligen Kapitänsmantel steckte und einen Piratenhut plus Augenklappe trug.
Charlie hatte ihr Gerippe erledigt und wandte sich zu Jamie um. Der Kapitän war stärker als die übrigen Gebeine und konnte nur besiegt werden, wenn sie ihn als Gruppe angriffen. Typisch, dass Jamie als Erster auf ihn losgegangen war.
»Lass mich raten.« Charlie attackierte das rechte Bein des Riesenskeletts, um es zu Fall zu bringen. »Die Vorlagen für diese Knochentruppe hast du gezeichnet?«
»Exakt.«
Der Kapitän begann zu wanken, als Jemma und Will ihn ebenfalls ihre Säbel spüren ließen. Trotzdem holte er mit seinem eigenen, verdammt riesigen Säbel aus und ließ ihn auf seine Angreifer niedersausen.
Rasch duckte Charlie sich und stieß ihrem Gegner gleichzeitig ihre Klinge in die Rippen. Knochen splitterten und fielen in den Sand.
»Die Biester sind toll geworden«, sagte sie anerkennend in Jamies Richtung. »Nur ein bisschen realitätsfern vielleicht. Ich meine, war der Captain Big Foot?! Der Klappermann hier ist mindestens zweieinhalb Meter groß!«
Jamie schickte ihr einen finsteren Blick, doch bevor er etwas erwidern konnte, musste er zur Seite springen, weil ihr Gegner wieder seinen Riesensäbel durch die Luft sausen ließ.
Zack schaffte es, mit einem gezielten Hieb die Kniescheibe des Kapitäns zu zertrümmern. Das Gerippe strauchelte und geriet mehr und mehr ins Wanken. Jamie verpasste ihm einen heftigen Tritt und als der Captain vornübergebeugt in sich zusammensackte, schlug er ihm den Kopf ab. Leblos fielen die restlichen Knochen auf einen Haufen. Ihr Gegner hatte endgültig das Zeitliche gesegnet.
Jamie betrachtete die still daliegenden Überreste einen Moment lang zufrieden, dann wandte er sich zu Charlie um und dolchte seinen Säbel in ihre Richtung. »Niemand, wirklich niemand, mag Klugscheißer.«
Charlie lachte. »Ich erinnere dich bei Gelegenheit daran, okay? Außerdem willst du von mir als eure Testerin doch ehrliches Feedback hören, oder nicht?« Dann deutete sie auf die Schatztruhen. »Können wir die jetzt plündern oder warten noch weitere fiese Überraschungen auf uns, sobald wir das Gold berühren?«
»Probier es doch aus«, gab Jamie zuckersüß zurück.
»Denkst du, ich trau mich nicht?« Charlie zog einen Beutesack aus dem Lederbeutel an ihrem Gürtel und trat an eine der Truhen. Vorsichtig legte sie eine Hand an den Deckel und sah sich um.
Nichts geschah.
Sie klappte den Deckel auf und blickte sich erneut um.
Wieder blieb alles ruhig.
Die Goldmünzen funkelten im Licht der Öllampen und Charlie hätte nichts lieber getan, als ihre Finger hineinzutauchen, doch sie blieb misstrauisch.
»Keine Sorge.« Jemma trat an eine der anderen Truhen, öffnete den Deckel und begann, die Münzen in ihren Beutesack zu schaufeln. »Der Captain war der Endgegner in dieser Quest. Du kannst das Gold einfach einsammeln. Jetzt passiert nichts mehr.«
Charlie strafte Jamie mit einem bösen Blick, doch der lächelte nur unschuldig zurück und sammelte ebenfalls die Beute ein.
»Das Dorf wird sich freuen«, meinte Charlie, als sie alle Münzen in die Säcke gefüllt hatten. »Damit können sie alles kaufen, was sie zum Wiederaufbau brauchen.«
»Yep«, nickte Ned.
»Ich schätze mal, wir nehmen die Teleportringe, um ins Dorf zurückzukommen?« Etwas flackerte im hinteren Teil der Höhle auf und alle wandten sich um. »Oder vielleicht doch nicht«, fügte Charlie hinzu. »Wow. Ist das ein Portal?«
An einer der Felswände war ein gut zwei mal zwei Meter großes Loch erschienen. An den Rändern unscharf wie verzerrter Nebel sah es ansonsten aus wie ein Durchgang in eine andere Welt. Wie durch ein riesiges Fenster sah man einen Weg, der zu einem alten schmiedeeisernen Tor führte, das rostig in den Angeln hin. Dahinter lag in einiger Entfernung ein verlassenes Herrenhaus. Düster ragte es in den wolkenverhangenen Himmel. Teile der Fassade waren abgebröckelt und die Fenster und Türen des Erdgeschosses mit Brettern vernagelt. Die Fenster in den oberen Etagen waren mit Vorhängen verhangen und etliche Scheiben hatten Sprünge. Im Dach fehlten ein paar Schindeln. Rechts neben dem Haus lag ein halb verfallener Spielplatz. Eine rostige Schaukel bewegte sich im Wind. Alles wirkte düster und grau – bis auf die beiden Worte, die mit blutroter Schrift auf die Fassade geschrieben worden waren.
HELFT UNS!
Charlie schluckte. »Na, wunderbar. Das sieht ja mal so gar nicht gruselig aus. Ist das unsere neue Quest?« Sie wollte einen Schritt näher ans Portal treten, doch Ned hielt sie zurück. »Was?«, fragte sie verwundert. »Soll ich diesmal nicht vorgehen?«
Ned starrte auf das Portal und schüttelte den Kopf. »Niemand geht da durch.« Er zog Charlie ein Stück zurück. »Im Gegenteil. Wir gehen aus dem Spiel. Sofort!«
Seine Stimme klang so dringlich, dass sich Charlies Magen zusammenzog.
»Warum?«
»Weil das da nicht in unser Spiel gehört.«
Für einen Moment starrte Charlie ihn verdattert an, dann begriff sie. »Du denkst, das Ding da kommt von R.A.T.s?!« Hastig stolperte sie weg von dem, was sie für ein Portal gehalten hatte, und fasste gleichzeitig an ihre Schläfen. »Die Kontakte zum Ausloggen sind aber noch da, ich kann sie fühlen.«
»Ich auch«, bestätigte Jemma.
Ned sah zu Will, Zack und Jamie. Alle nickten.
Er selbst spürte die Kontakte ebenfalls unter seinen Fingern.
»Sollen wir dann wirklich aus dem Netz gehen?« Neugierig trat Jamie näher zu diesem eigenartigen Fenster. »Wenn die Ausloggfunktion noch da ist, können wir ja erst mal gucken, was das da –«
Zack packte ihn am Arm und zog ihn energisch zurück. »Vergiss es! Wir gehen raus und zwar sofort!«
»Aber –«
Zack funkelte ihn warnend an. »Nein! Und das diskutieren wir auch nicht!«
»Zack hat recht«, sagte Will. »Wir gehen kein Risiko ein. Log-out. Und zwar sofort. Und dann sehen wir von außen nach, was hier nicht stimmt.« Er bohrte seinen Blick in Jamie. »Oder willst du womöglich noch mal so einen Horror erleben wie vor vier Wochen?«
Ende Februar hatte eine Gruppe militanter Technikgegner von Rage Against Technology, kurz R.A.T.s, CyberLondon gekapert und die Stadt für die gefangen genommenen Besucher in einen Albtraum verwandelt. Auf diese Weise wollten die Terroristen von der britischen Regierung Lösegeld sowie die Freilassung ihres Anführers aus dem Gefängnis erpressen. Die Erpressung war jedoch gescheitert, weil Edward Dunnington, Ned und ein Team der CyberCrime-Division die Firewall, die die Ratten um die Cyberstadt gezogen hatten, durchbrechen und ein Ausloggen wieder möglich machen konnten. Doch es war leider nicht gelungen, die verantwortlichen Mitglieder von R.A.T.s dingfest zu machen. Sie waren entkommen und niemand wusste, was sie als nächstes planten – oder wie sehr sie auf Rache sannen.
Ohne weitere Diskussion fasste Jamie sich an die Schläfen, schloss die Augen und aktivierte das Ausloggmenü. Weiße Schrift erschien im Schwarz.
WELCHE FUNKTION SOLL AUSGEFÜHRT WERDEN?
SKULLS & CROSSBONES VERLASSEN.
CYBERWORLD VERLASSEN.
»CyberWorld verlassen.«
Die Schrift verschwand und für einen Moment herrschte völlige Schwärze. Dann drang das Summen der Server an sein Ohr, die zu Dutzenden im Hightechkeller der Dunningtons standen, und er spürte das alte Sofa, auf dem er saß. Jamie zog sich die CyberSpecs vom Kopf und blinzelte ein paar Mal, um seine Augen wieder an die Realität zu gewöhnen. Neben ihm taten seine Freunde das Gleiche.
Ned sprang sofort auf, lief zu einem der Terminals und gab Befehle ein. Will folgte ihm.
Zack stand ebenfalls auf, reckte sich und streckte Jamie mit grummeligem Blick seine Hand hin. »Eigentlich sollte ich dir bloß die CyberSpecs wegnehmen und dich dann hier sitzen lassen.«
Jamie grinste. Seit einer Woche hatte er von Jon, seinem Physiotherapeuten, das Okay, seinen Alltag ohne Krücken, nur mit seiner Beinschiene zu meistern. Es war anstrengend und abends war er völlig k.o., aber ansonsten funktionierte seine neue Trainingsstufe ziemlich gut. Keine schlimmen Krämpfe, keine übermäßigen Schmerzen in Rücken oder Beinen. Nur das Aufstehen war ohne Hilfe noch ziemlich mühsam und für Stufen brauchte er auch noch einen Halt.
Er fasste Zacks Arm, zog sich hoch und gab seinem Freund einen Kuss. »Warum musst du eigentlich immer so fies zu mir sein?«
»Müsste ich nicht, wenn du nicht ständig deinen süßen kleinen Hintern kamikazemäßig von einer Gefahr in die nächste stürzen würdest.« Er kniff Jamie in den Allerwertesten und lief dann schnell hinüber zu Ned, Will und den Mädchen, bevor Jamie sich rächen konnte.
»Okay, also was ist da im Spiel los?«, fragte er an Ned und Will gewandt. Einer der Monitore zeigte den Ort ihrer letzten Spieleinheit. »Wo kommt dieses Portal her?«
Zu Prüfzwecken zeichnete Ned ihre Betatests auf und auf dem Bildschirm waren ihre Avatare zu sehen, die vor dem Portal standen, das in der Höhlenwand eigentlich nichts zu suchen hatte. Auf einem anderen Monitor waren mehrere Anwendungsfenster geöffnet, über die Reihen aus Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen ratterten, die für Zack nur unverständliches Kauderwelsch waren.
Ned tippte weitere Befehle ein und neue Textzeilen erschienen.
»Ich glaube nicht, dass es wirklich ein Portal ist«, antwortete Will. Er saß neben seinem Bruder, gab ebenfalls Kommandos in den Rechner ein und las sich durch, was der Computer ihm an Infos ausspuckte. »Das dürfte technisch gar nicht möglich sein.« Er sah zu Ned. »Oder?«
»Eigentlich nicht«, murmelte der. »Aber wenn jemand den Zugang zur Sandbox gehackt hat und ein unglaublich innovatives Know-how mitbringt … dann vielleicht schon.«
Will schüttelte den Kopf. »Aber die Sandbox kann keiner hacken. Dad hat die Bereiche, in denen VanguardArts Neuheiten testet, mit den besten Firewalls abgesichert, die es auf dem Markt gibt. Da kommt keiner rein.«
»Hm.« Ned ließ seine Finger über die Tastatur flitzen und gab neue Befehle ein.
»Aber selbst wenn es jemand erst durch die Firmen-Firewall und dann in unsere Sandbox geschafft hat, kann das da trotzdem kein echtes Portal sein, oder?« Jamie betrachtete das fremde Ding auf dem Bildschirm. »Unsere Avatare sind mit unserem System und unseren Servern gekoppelt. Wenn sich jemand aus einem fremden System bei uns reinhackt und einen zusätzlichen Bereich an unser Spiel ankoppeln würde, könnten unsere Avatare dort nicht reingehen, weil es ein anderes System ist. Wir würden den Kontakt zu unseren Servern verlieren und aus dem Netz fliegen.«
Ned nickte nachdenklich und überprüfte die Daten, die sein Rechner ihm lieferte.
»Und was heißt aus dem Netz fliegen?«, fragte Charlie unbehaglich. »So wie die User, deren Avatare in CyberLondon gestorben sind? Sitzt man dann irgendwo in der Leere fest?«
»Nein«, beruhigte Will. »Wenn dein Avatar den Kontakt zum Server verliert, löst er sich einfach auf, du bekommst eine Fehlermeldung und landest im Ausloggmenü. Von dort aus kannst du das Spiel ganz normal verlassen. Das ist eine eingebaute Sicherheitsmaßnahme und so ein Austritt ist nicht gefährlich.«
»Gut zu wissen.«
Jemma runzelte die Stirn und betrachtete die Höhlenwand auf dem Monitor. »Wenn es kein Übergang ist, was ist es dann? Eine Projektion? Ein Fenster, das uns dieses gruselige Haus zeigen soll? Warum? Um uns zu erschrecken?«
»Vielleicht ist es so was wie die Hacks, die die Ratten als vermeintliche Gags in CyberLondon eingebaut hatten?« Charlie drehte eine ihrer schwarzen Locken um ihren Finger. »Ihr wisst schon: pinker Marble Arch, Softpornos an den LED-Wänden am Piccadilly Circus … Dieser ganze Kram, der eigentlich harmlos aussah, aber in Wirklichkeit waren es Trojaner, mit denen die ganzen Grausamkeiten ins Programm eingeschleust wurden, die sie dann später auf die Cyberstadt losgelassen haben.«
Zack wischte sich über die Augen und stöhnte. »Erinnere mich bloß nicht daran.« Er stupste Ned in den Rücken. »Bitte sag, dass es irgendein harmloser Fehler ist und sich nicht wirklich die Ratten in unser Spiel geschlichen haben. Mit denen will ich nämlich nicht noch mal zu tun haben.«
Ned hob die Schultern. »Ich kann noch nicht sagen, woran es liegt. Aber dass sich tatsächlich jemand durch die Firewalls von VanguardArts gehackt haben soll, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Wie Will schon gesagt hat: Dads Firma hat die besten Firewalls, die es auf dem Markt gibt.«
»Was kann denn sonst passiert sein?« Jemma wies auf den Monitor mit der Aufnahme ihrer Spielsequenz. »Für einen zufälligen Fehler sieht dieses … Bild … Fenster … was immer es ist einfach viel zu perfekt aus, oder nicht?«
Ned öffnete zwei neue Anwendungsfenster. »Vielleicht hat es einen internen Systemfehler gegeben und zwei Sandboxen überlappen.«
»Was genau sind denn eigentlich Sandboxen?«, fragte Charlie.
»Eine Sandbox ist eine Art Spielplatz, in dem man in einem abgesicherten Bereich neue Programme testen kann«, erklärte Will. »Sie sind abgeschnitten von anderen Bereichen, damit nichts nach außen ins große Netzwerk dringen kann, falls Tests mal schieflaufen. Als Schutz, damit man nicht aus Versehen die ganze Firma lahmlegt. Bei VanguardArts benutzt man diese abgesicherten Boxen aber auch, um Spiele zu testen. So sind sie doppelt gegen Produktspionage gesichert: zum einen durch die Firewall, die das gesamte Firmennetzwerk schützt, zum anderen zusätzlich noch durch die Sicherungen der Sandboxen.«
»Okay, kapiert.« Charlie wandte sich wieder an Ned. »Und du denkst, es ist irgendein Fehler im Netzwerk aufgetreten und jetzt ist unsere Sandbox mit einer anderen vermischt? Wir haben sozusagen fremden Sand in unserer Buddelkiste?«
Ned musste schmunzeln. »So ungefähr. Vielleicht sind irgendwie Daten durcheinandergeraten und falsch verknüpft worden.«
Zweifelnd kratzte Jamie sich am Kopf. »Aber dann hätte Jem immer noch recht, oder? Wenn einfach Daten durcheinandergeraten wären, würden wir dann nicht eher Grafikfehler sehen? So was wie Unschärfen oder Pixel? Aber das da …« Er zeigte auf das düstere Herrenhaus mit der blutroten Schrift. »Das ist viel zu konkret. Das sieht total nach Absicht aus.«
Will klickte sich durch ein Menü. »Vielleicht erlauben sich ein paar der anderen Programmierer einen Scherz mit uns.«
»Das finde ich heraus.« Entschlossen haute Ned neue Kommandos in die Tasten.
Charlie wuschelte ihm durch die Haare. Sie wusste, dass Neds Stolz und Ehrgeiz jetzt angestachelt waren und er nicht eher Ruhe geben würde, bis er herausgefunden hatte, wer oder was da Murks mit seinem Spiel trieb. Sie sah auf die Uhr. »Ich schätze mal, damit bist du für den Rest des Tages gut beschäftigt, oder?« Sie massierte ihm kurz die Schultern. »Und ich muss so langsam los zur Bandprobe.«
Ned wandte sich zu ihr um. »Bist du böse, wenn ich heute mal nicht mitkomme?«
Charlie rollte mit den Augen und gab ihm einen Kuss. »Ja, total.«
Ned lächelte und stahl sich noch einen Kuss. »Danke. Und viel Spaß.«
»Soll ich dir bei der Analyse helfen?«, fragte Will.
Ned schüttelte den Kopf. »Nein, ich schaff das schon. Außerdem will ich nicht schuld sein, wenn Max zickig wird, weil du nicht wie angekündigt zum Abendessen kommst. Also los, haut alle ab und lasst mich hier in Ruhe auf Fehlersuche gehen.« Er machte eine wegscheuchende Handbewegung.
»Aye, aye, Sir!«
Jemma, Charlie, Zack und Jamie sammelten ihre Schultaschen und Mäntel ein und verließen mit Will den Hightechkeller.
»Ich wünschte, ich könnte mit euch kommen«, seufzte Zack, als die fünf durch den Hauswirtschaftsraum des Herrenhauses in die angeschlossene Garage gingen. Neben den drei Wagen der Dunningtons parkte dort auch der SUV, den Zack von seinen Eltern zur bestandenen Führerscheinprüfung geschenkt bekommen hatte.
»Haben deine Eltern dir eigentlich immer noch nicht gesagt, was sie mit dir bereden wollen?«, fragte Charlie.
»Nein. Sie haben überhaupt noch nicht mit mir geredet.«
Zwei Tage zuvor waren Zacks Eltern völlig überraschend nach London gekommen und hatten ihren Sohn per E-Mail davon in Kenntnis gesetzt, dass sie ihn am heutigen Abend um halb acht zum Abendessen erwarteten, um etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen. Seitdem hatten sie nicht wieder von sich hören lassen, weil dringende Geschäftstermine ihre gesamte Zeit in Anspruch nahmen.
Genervt verpasste Zack dem Vorderreifen seines Autos einen Tritt. Jamie nahm seine Hand. Zacks Beziehung zu seinen Eltern war noch nie besonders gut gewesen, doch seit Trisha und Greg nicht zu ihm gekommen waren, als er an Silvester mit zwei lebensgefährlichen Stichverletzungen im Krankenhaus gelegen hatte, war Zacks Verhältnis zu ihnen schwieriger als je zuvor.
»Bring es einfach schnell hinter dich.« Jamie schlang seine Arme um Zacks Nacken, zog ihn zu sich herab und küsste ihn. »Und wenn sie dich nerven und wieder nur Müll labern, kommst du sofort zu uns. Ich sag Max schon mal, dass er dich beim Nachtisch mit einplanen soll.«
Zack lehnte seine Stirn kurz an Jamies und gab ihm dann einen Kuss auf die Nasenspitze. »Ich liebe dich«, wisperte er.
»Ich dich auch.«
Schweren Herzens ließ Zack ihn los und öffnete die Autotür. »Bis später!«, rief er zu Jemma und Will.
»Bis später.« Jemma schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und Zack lächelte dankbar zurück.
»Und falls du ein großer Bruder wirst, will ich sofort informiert werden, klar?«
Zack schnitt Charlie eine Grimasse, stieg in seinen Wagen und zog die Tür zu.
Himmel, bitte nicht …
Zwanzig Minuten später parkte Zack auf dem kleinen Kiesplatz vor dem Glaswürfelhaus seiner Eltern. Regen trommelte aufs Autodach und ließ den Blick durch die Frontscheibe verschwimmen. Doch das, was er sah, reichte ihm, um seine Stimmung weiter in den Keller sinken zu lassen: eine gläserne Fassade, die in der hereinbrechenden Dämmerung von gekonnt platzierten Scheinwerfern kunstvoll angestrahlt wurde. Dazu zeigten perfekt in Szene gesetzte Showrooms zur Straße hin Einrichtungsbeispiele für Schöner Wohnen.
Oder auch nicht …
Zack schnaubte zynisch.
Niemand ahnte, dass der Rest des Hauses genauso inszeniert war und man so etwas wie Gemütlichkeit, Wärme und Geborgenheit vergeblich suchte. Zack wunderte sich immer wieder, warum man seine Eltern so wahnsinnig gerne als Innenausstatter engagierte, wenn ihnen alles, was ein echtes Zuhause ausmachte, so völlig fremd war. Vermutlich lag es daran, dass die meisten ihrer High-Society-Kunden genauso oberflächlich waren wie sie. Schöner Schein war in diesen Kreisen alles, was zählte. Hauptsache, nach außen hin wurde alles möglichst spektakulär präsentiert. Innere Werte zählten in der Welt seiner Eltern herzlich wenig.
Okay, bring es einfach hinter dich.
Entschlossen nahm er seinen Rucksack und sprintete durch den Regen zur Haustür. Dezentes Licht erstrahlte in der Diele, wurde von kunstvoll eingesetzten Spiegelmosaiken gebrochen und an Wände und Decke geworfen. Doch Zack ignorierte das hübsche Lichterspiel unbeeindruckt. Er stieß die Haustür mit dem Fuß hinter sich zu und warf seinen Autoschlüssel klirrend in eine teuer aussehende Schale auf der Garderobenkommode.
»Willkommen, Zachary.« Charles, der Hightechroboter, der das Haus der Watts hütete, wenn diese in New York waren, kam durch den Korridor auf Zack zu. »Deine Eltern sind noch außer Haus. Sie erwarten dich erst um neunzehn Uhr dreißig zum Dinner. Jetzt ist es erst achtzehn Uhr sieben.«
»Danke, Charles, für dieses überaus herzliche Willkommen.« Die Ironie triefte aus Zacks Stimme. »Ich wollte auf gar keinen Fall zu spät kommen, deshalb bin ich überpünktlich.« Er hielt seinen Rucksack hoch und deutete zur Treppe. »Aber keine Sorge, ich störe dich nicht bei den Dinnervorbereitungen. Ich gehe nach oben und mache ganz still und brav meine Hausaufgaben.«
»Sehr gut.« Charles wandte sich um und verschwand wieder Richtung Küche.
Augenrollend stieg Zack die Treppe hinauf in den ersten Stock.
In seinem Zimmer war es kalt und in der zunehmenden Dunkelheit waren die Möbel nicht mehr als graue Schatten. Regentropfen liefen in Strömen das bodentiefe Fenster hinab und der Wind rüttelte an der Scheibe.
Charles hatte gewissenhaft dafür gesorgt, dass das Zimmer aufgeräumt und penibel sauber war, genauso wie der Rest des Hauses. Und genau wie der Rest des Hauses wirkte es steril und unbewohnt.
Zack fröstelte. Er ließ seinen Rucksack von der Schulter rutschen, hockte sich aufs Bett und sah sich um. Er war schon ewig nicht mehr hier gewesen. Zuletzt im Oktober, als seine Eltern London wegen einiger Geschäftstermine mit ihrer Anwesenheit beglückt hatten. Da hatte er sogar noch hier geschlafen, obwohl es damals schon ein seltsames Gefühl gewesen war, hier zu sein.
Gedankenverloren strich er über die Tagesdecke des Bettes.
Jetzt fühlte es sich noch seltsamer an.
Kalt.
Fremd.
Und irgendwie … ungut.
Hier auch nur noch eine einzige Nacht zu verbringen, stand komplett außer Frage.
Er seufzte.
Er wollte nicht hier sein. Nach all dem Desinteresse, das seine Eltern gezeigt hatten, als er im Krankenhaus gelegen hatte – warum sollte es ihn jetzt kümmern, dass sie wieder in London waren? Warum sollte er springen und heute mit ihnen abendessen, nur weil sie angeblich irgendwas Superwichtiges mit ihm zu besprechen hatten?
Egal, was es war, es interessierte ihn nicht!
Nicht mehr.
Es war nur Roberts Überredungskünsten zu verdanken, dass er jetzt hier war und dieses verdammte Abendessen durchziehen würde. Und irgendwie bereute er es jetzt schon, dass er sich dazu hatte breitschlagen lassen.
Charlies Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Als seine Eltern ihn vor zwei Tagen damit überfallen hatten, dass sie in London waren und ihn unbedingt sehen mussten, hatte sie gewitzelt, dass seine Mutter vielleicht schwanger war und die megawichtige Mitteilung lautete, dass er ein Geschwisterchen bekommen würde.
Zack ließ sich auf den Rücken sinken und starrte an die düstere Decke.
Bitte nicht …
Jemma war seine Schwester. Und auch wenn er prinzipiell nichts dagegen hatte, noch für jemand anderes ein Bruder zu sein, hatten seine Eltern es doch schon bei ihm total versaut. Da war die Vorstellung, dass sie ein weiteres Kind in die Welt setzten, das bestenfalls hin und wieder als Statussymbol herhalten musste und ansonsten zu irgendwelchen Nannys oder in teure Internate abgeschoben wurde, einfach nur grässlich.
Er wischte sich über die Augen und knipste dann die Nachttischlampe an, um die dunklen Gedanken zu vertreiben.
Leere Regale blickten ihm entgegen. Die meisten seiner persönlichen Dinge waren längst in das Zimmer umgezogen, das er sich drüben in Putney mit Jamie teilte. Hier wirkte es, als wäre jemand ausgezogen und die Zeit danach stehengeblieben. Die Poster an den Wänden zeigten Filme, Serien und CyberGames, die schon drei oder vier Jahre alt waren. Nichts, was er sich heute noch aufhängen würde. Sie passten einfach nicht mehr. Genauso wenig wie die paar übrig gebliebenen Klamotten in seinem Kleiderschrank.
Zack ließ seinen Blick über die leeren Regale wandern. Nur auf zweien gab es noch ein paar Bücher, einen Stapel Comichefte und einige Superheldenfiguren, die Jamie und er gesammelt hatten, als sie zwölf oder dreizehn gewesen waren.
Alles wirkt wie eingefroren.
Er fröstelte.
Vielleicht ist das der Grund, warum es hier in dieser elenden Bude nie richtig warm wird.
Okay, damit war eine erträgliche Dosis an trüben Gedanken definitiv überschritten. Entschieden vertrieb er sie aus seinem Kopf, stand vom Bett auf und stellte die Heizung an. Dann trat er an seinen Schreibtisch und holte seinen Schullaptop aus dem Rucksack. Das Abendessen hatten seine Eltern für halb acht angesetzt, doch er wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie es verschoben oder ganz abgesagt hätten, falls ihr Geschäftstermin länger dauerte. Er gab ihnen bis halb neun. Wenn sie bis dahin nicht da waren, war er hier wieder weg. Und dann würden sie auch keine zweite Chance mehr bekommen, egal, wie sehr Robert seine Überzeugungskraft einsetzte.
Während der Laptop startete, schnappte Zack sich Batman und Robin vom Regal, stellte sie neben sich auf den Schreibtisch und kramte den Reader mit seinen Schulbüchern aus seinem Rucksack. Bis seine Eltern kamen – falls sie kamen – konnte er die Zeit sinnvoll nutzen und die Hausaufgaben für Englisch, Bio und Sozialkunde erledigen.
Um zwanzig vor acht klopfte es an seiner Zimmertür.
»Ja?«
Charles trat ein. »Das Abendessen ist fertig und deine Eltern erwarten dich.«
»Okay, dann serviere schon mal die Henkersmahlzeit. Ich komme.«
Ohne ein weiteres Wort wandte Charles sich um und ging zurück ins Erdgeschoss, wo er die letzten beiden Stunden in der Küche verbracht hatte, um das Essen zuzubereiten.
Seufzend blickte Zack ihm hinterher und vermisste Max. Im Gegensatz zu Charles war Max mit einer künstlichen Intelligenz ausgestattet, die dazulernte, sich an die Familie anpasste, in der sie eingesetzt war, ihre Eigenarten übernahm und sogar selbst welche entwickeln konnte, wenn die Besitzer dies zuließen. Da Robert Max nach dem Unfall vor allem als Alltagshelfer für Jamie in seine Familie geholt hatte, hatte er einen Gefährten programmieren lassen, der so umgänglich und menschenähnlich wie möglich war. Charles dagegen war nur als simple Haushaltshilfe angeschafft worden. Wenn Zacks Eltern in New York waren, bewachte er das Haus, und wenn sie London besuchten, kümmerte er sich um den Haushalt und erledigte Einkäufe und Botengänge. Dafür brauchte man keine besonders menschliche Intelligenz – oder die Fähigkeit, auf Ironie und Sarkasmus zu reagieren.
Zack schaltete den Reader aus, auf dem er einen Text für Sozialkunde gelesen hatte, und packte ihn zu seinem Laptop in den Rucksack. Nach dem verdammten Essen wollte er so schnell wie möglich von hier verschwinden. Sein Blick fiel auf den Stapel Comichefte im Regal und er stopfte ihn kurzentschlossen ebenfalls mit in den Rucksack. Batman und Robin steckten schon in einer Seitentasche. Dann lief er die Treppe hinunter ins Erdgeschoss.
»Da bist du ja!«
Seine Mutter sprang vom Tisch auf, eilte auf Zack zu und nahm ihn überschwänglich in ihre Arme. Luftküsschen wurden ihm rechts und links auf die Wangen gehaucht und seine Haare zurechtgezupft, dann schob sie ihren Sohn von sich und betrachtete ihn freudestrahlend.
»Du bist so ein gutaussehender junger Mann geworden! Und so erwachsen, stimmt’s nicht, Greg?«
Gregory Watts hatte sich ebenfalls vom Tisch erhoben und zog Zack väterlich in seine Arme. »Auf jeden Fall.« Stolz klopfte er seinem Sohn auf den Rücken und schien nicht im Geringsten zu bemerken, dass Zack die gesamte Begrüßungszeremonie eher steif über sich ergehen ließ.
Trisha musterte ihren Sohn genauer, als ihr Mann ihn mit einem letzten Schulterklopfen aus seiner Umarmung entließ. »Ein bisschen blass siehst du aus.«
Zack zuckte mit den Schultern. »Verregneter Frühling in London. Hier sieht im Moment jeder blass aus.«
»Na ja, das ist ja zum Glück nichts, das ein paar Stunden im Solarium nicht ändern könnten. Ein gesunder Teint ist für die richtige Wirkung auf andere überaus wichtig«, belehrte seine Mutter ihn oberlehrerhaft.
Zack verdrehte die Augen, sparte sich aber jeden Kommentar, weil es absolut sinnlos war, mit seinen Eltern über seine persönliche Einstellung zum Thema Wichtigkeit von Äußerlichkeiten zu diskutieren.