Zwillingskräfte - Nadine Erdmann - E-Book

Zwillingskräfte E-Book

Nadine Erdmann

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Beschreibung

Die dritte Unheilige Nacht ist vorüber und nach dem Schlag gegen Carlton brechen für die Hunts neue Zeiten an. Während sie den beiden geretteten Ritualkindern helfen, sich in ihrer Familie einzuleben, müssen sie gleichzeitig weiter gegen Carlton vorgehen, um ihm das Handwerk zu legen, bevor er zu einem Gegenschlag ausholen kann. Das ist allerdings gar nicht so leicht, wenn gerade der erste Herbstnebel durch die Straßen zieht und London lahmlegt. Im Nebel ist mit Geistern nicht zu spaßen. Cam brennt außerdem darauf, endlich seine Zwillingskräfte ausprobieren zu können. Bei aller Neugier plagen ihn allerdings auch Ängste und Zweifel. Was, wenn er die Kräfte nicht kontrollieren kann? Was, wenn der Geminus seine Gefühle manipuliert und Cam nicht mehr er selbst ist, wenn er den Zwilling ruft? Enthält die ersten vier Bände der dritten Staffel.

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Impressum

Unveränderte Neuauflage der in der Greenlight Press erschienenen Originalausgabe

 

Kuneli Verlag, Forstweg 8, 63165 Mühlheim am Main

Copyright © 2024 Kuneli Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Auflage (Oktober 2024)

Coverdesign: Kuneli Verlag

Unter der Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock.com

ISBN Epub: 978-3-948194-69-7

www.kuneli-verlag.de

Die Autorin

Nadine Erdmann liebt Bücher und Geschichten, seit sie denken kann. Selbst welche zu schreiben, war aber lange Zeit nur eine fixe Idee und so sollte zunächst ein »anständiger« Beruf her. Sie studierte Lehramt, verbrachte einen Teil ihres Studiums in London und unterrichtete als German Language Teacher in Dublin. Zurück in Deutschland wurde sie Studienrätin für Deutsch und Englisch und arbeitete an einem Gymnasium und einer Gesamtschule in NRW.

 

Der »anständige« Beruf war ihr damit sicher, ihr Herz hing aber mehr und mehr daran, Geschichten zu schreiben. Nach der Krebserkrankung ihrer Schwester entschied sie sich, den Schritt in die Schriftstellerei zu wagen, weil man nicht immer alles auf später verschieben kann. Seitdem veröffentlichte sie drei Reihen (die »CyberWorld«, die »Lichtstein-Saga« und die »Totenbändiger« in ganz unterschiedlichen Genres, die zusammen mit den »Haunted Hunters« im Kuneli Verlag ab 2024 ein neues Zuhause gefunden haben.

Mehr über die Autorin und ihre Werke:

www.nadineerdmann.de

www.facebook.com/Nadine.Erdmann.Autorin

www.instagram.com/nadineerdmann

Ihre Werke im Kuneli Verlag

CyberWorld (2024 als E-Book)

Mind Ripper

House of Nightmares

Evil Intentions

The Secrets of Yonderwood

Burning London

Anonymous

Bunker 7

Lichtstein-Saga (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)

Aquilas

Andolas

Fineas

Enyas

Die Totenbändiger (2024 als E-Book, 2025 als Taschenbuch)

Sammelband 1 - Unheilige Zeiten

Sammelband 2 - Äquinoktium

Sammelband 3 - Geminus

Sammelband 4 - Samhain

Sammelband 5 - Zwillingskräfte

Sammelband 6 - Wintersonnenwende

 

Haunted Hunters (ab 2024 als E-Book und Taschenbuch)

Neue Wirklichkeit

Daemons

(noch ohne Titel)

Die Totenbändiger

Zwillingskräfte

(Sammelband 5 - Wintersonnenwende 1)

 

 

Nadine Erdmann

 

 

 

Kuneli Verlag

 

Die Totenbändiger im Kuneli Verlag

Sammelband 1; „Äquinoktium 1“ (erster Teil der ersten Staffel)

Titel: Unheilige Zeiten

Titel der enthaltenen Bände:

Unheilige Zeiten

Die Akademie

Vollmondnächte

Feindschaften

 

Sammelband 2: „Äquinoktium 2“ (zweiter Teil der ersten Staffel)

Titel: Äquinoktium

Titel der enthaltenen Bände:

Hinterhalt

Unheilige Nacht

Leichenfunde

Das Herrenhaus

 

Sammelband 3: „Samhain 1“ (erster Teil der zweiten Staffel)

Titel: Geminus

Titel der enthaltenen Bände:

Geminus Obscurus

Geister der Vergangenheit

Säuberung

Newfield

 

Sammelband 4: „Samhain 2“ (zweiter Teil der zweiten Staffel)

Titel: Samhain

Titel der enthaltenen Bände:

Das Manifest

Die Abstimmung

Nachwirkungen

Samhain

 

Sammelband 5: „Wintersonnenwende 1“ (erster Teil der dritten Staffel)

Titel: Zwillingskräfte

Titel der enthaltenen Bände:

Neue Zeiten

Zwillingskräfte

Auszeit

Geisterjagd

 

Sammelband 6: „Wintersonnenwende 2“ (zweiter Teil der dritten Staffel)

Titel: Wintersonnenwende

Titel der enthaltenen Bände:

Nebelzeit

Fatalitäten

Täuschungen

Wintersonnenwende

 

Ab 2025

Die neue Totenbändiger-Trilogie: 13 Jahre später

Wintersonnenwende

Substantiv, feminin. Oberbegriff: Sonnenwende (lateinisch: Solstitium). Die Wintersonnenwende fällt auf den 21./22. Dezember und markiert den Tag, an dem die Sonne die geringste Mittagshöhe am Horizont erreicht, was besagten Tag zum kürzesten und die darauffolgende Nacht zur längsten des Jahres macht. Die Nacht der Wintersonnenwende ist die vierte und letzte Unheilige Nacht eines jeden Jahres und gilt aufgrund der besonders langen Phase der Dunkelheit als die gefährlichste. Auch in den unmittelbaren Nächten vor und nach der Wintersonnenwende wird allerdings zu extremer Vorsicht geraten.

 

Um den dunklen Tagen entgegenzuwirken, zelebrieren die Menschen den gesamten Dezember über die Julzeit, in der sie der Finsternis mit Lichterglanz begegnen. Höhepunkt ist dabei das Julfest, das am 22., 23. und 24. Dezember gefeiert wird. Es ist ein Fest der Lichter, bei dem man mit Freunden und Familie zusammenrückt, um gemeinsam der dunkelsten und gefährlichsten Zeit des Jahres zu trotzen und gleichzeitig zu feiern, dass die Tage nach der überstandenen Unheiligen Nacht nun wieder länger werden.

Part I

Neue Zeiten

Kapitel 1

Dreizehn Jahre zuvor

 

Trübes Licht fiel durch das Sprossenfenster des kleinen Cottages auf Annas Nähtisch. Draußen kämpfte die Vormittagssonne gegen den Hochnebel, mit dem der erste Novembertag sie heute begrüßt hatte. Anna unterdrückte ein Gähnen und blinzelte ein paarmal, während sie sich das Hosenbein der Anzughose zurechtlegte, das nach dem Kürzen jetzt noch einen neuen Saum bekommen sollte. Sie fühlte sich ziemlich gerädert. Wie meistens in Unheiligen Nächten hatte sie kaum ein Auge zugetan, und wenn die Müdigkeit sie doch mal übermannt hatte, war sie von schrecklichen Träumen heimgesucht worden. Maskenmänner mit langen Messern hatten Menschen gejagt, um ihnen die Kehlen durchzuschneiden. Sie hatten Anna bei ihren Gräueltaten zusehen lassen, bis sie sich irgendwann auch ihr zugewandt und Jagd auf sie gemacht hatten.

Anna schauderte und fragte sich, ob es wirklich nur ein Traum gewesen war oder ob in London in diesem Jahr nicht genau solche Taten tatsächlich stattfanden. Gestern war die dritte Unheilige Nacht gewesen. Falls das Geminusritual funktionierte, sollten die Kinder, die Cornelius und sein Vater sich für ihr Experiment herangezüchtet hatten, jetzt Geister befehligen können. Wieder schauderte Anna und fragte sich, ob sie weniger Albträume hätte, wenn sie jemandem davon erzählen würde, was womöglich gerade irgendwo im Verborgenen in London passierte.

Aber wenn die Carltons mit ihren Ritualen wirklich erfolgreich gewesen wären, hätte das nicht längst jemand bemerken müssen? Selbst in einer Stadt wie London sollte es doch eigentlich auffallen, wenn zig Menschen verschwanden. Und wenn die Carltons dabei so geschickt vorgingen, dass wirklich niemand etwas davon mitbekam, wer würde dann ihr - einer Totenbändigerin - glauben, wenn sie den Schulleiter der Akademie und seinen Sohn beschuldigte, eine Sekte anzuführen, die Menschen opferte und grausame Experimente an Kindern vollzog?

Niemand.

Das Einzige, was sie damit erreichen würde, war, dass sie Cornelius auf ihre Spur brachte, und sie hatte in den letzten Jahren zu viel dafür getan, genau das zu verhindern.

Seufzend ließ sie von der Hose ab, nahm stattdessen ihre Kaffeetasse und sah zum Fenster hinaus. Blaine spielte im Sandhaufen, den sie in einer Ecke ihres kleinen Gartens aufgeschüttet hatte. Für ihn hatte sie all die Gefahren auf sich genommen. Er durfte Cornelius auf keinen Fall in die Hände fallen, sonst würde es ein Unglück geben. Mit ihrer Flucht hatte sie zwar dafür gesorgt, dass ihr Sohn keins der Rituale in diesem Jahr vollzogen hatte, doch der dunkle Zwilling war schon jetzt stark in ihm. Manchmal so stark, dass es ihr Angst machte. Nicht auszudenken, was womöglich passiert wäre, hätte Cornelius mit ihm dann auch noch die Rituale vollzogen.

Ihre Tasse war leer und sie ging gedankenversunken hinüber in die Küche, um sich einen neuen Kaffee zu holen.

Als Cornelius ihr vor fünf Jahren davon erzählt hatte, dass es eine Möglichkeit gab, mithilfe von speziellen Vorbereitungen Kinder zu gebären, die in der Lage sein würden, den Stand ihrer Rasse in der Gesellschaft für alle Zeiten zu verbessern, war sie sofort begeistert gewesen und hatte sich geschmeichelt gefühlt, weil er in ihr eine würdige Kandidatin für eine solche Schwangerschaft gesehen hatte.

Heute konnte sie nur noch den Kopf über ihre Dummheit und Naivität schütteln. Aber sie war noch so verdammt jung und unerfahren gewesen. Frisch in London angekommen und voller Hoffnung, dass es in der Großstadt fortschrittlicher zuging und man Totenbändiger nicht so misstrauisch betrachtete wie in dem kleinen Kaff, in dessen Nähe das Totenbändigerheim lag, in dem sie bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag gelebt hatte. Sie hatte von der Akademie in London gehört und gehofft, dass man ihr dort helfen konnte, einen Job zu finden, so wie die Akademie auch ihren eigenen Absolventen dabei half, nach ihrer Schulzeit in der Gesellschaft Fuß zu fassen.

Während sie vor dem Büro des Schulleiters auf ihren Termin gewartet hatte, war sie von seinem Sohn begrüßt worden und der charmanten Art von Cornelius Carlton sofort verfallen. Auch das war sicher schrecklich dumm und naiv gewesen, doch Cornelius war der erste Mensch, der echtes Interesse an ihr gezeigt hatte.

Er wollte wissen, wo sie herkam, was sie bisher in ihrem Leben gemacht hatte und wie stark sie sich als Totenbändigerin einschätzte. Damals waren ihr die Fragen absolut gerechtfertigt erschienen, schließlich hatte sie ja gehofft, dass man ihr helfen würde, einen Job zu finden. Da war es nur verständlich, dass Cornelius und auch sein Vater ihre Totenbändigerkräfte hatten testen wollen.

Anna hatte ihnen nur allzu gerne gezeigt, was sie konnte. Sie wusste, dass sie gut war. Sie hatten regelmäßig die Umgebung ihres Kinderheims von Geistern gesäubert, was dazu geführt hatte, dass sie von ihrer Heimleitung zur Anführerin der Säuberungstruppe gemacht worden war. Auch die Carltons waren von ihren Fähigkeiten, Geister zu bändigen, beeindruckt gewesen und ihr Lob hatte Anna unfassbar stolz gemacht.

Genauso wie das Angebot, ihnen ein Totenbändigerkind zu gebären, dem besondere Fähigkeiten mit in die Wiege gelegt werden sollten. Fähigkeiten, die dazu führen würden, dass die Totenbändiger sich nicht länger von den Normalos unterdrücken lassen mussten.

Anna erinnerte sich noch gut daran, dass sie sich nicht sicher gewesen war, ob sie wirklich an Kenwicks angebliche Forschungsergebnisse und diesen geminus obscurus glauben wollte. Ein geheimes Serum, das in Verbindung mit den seltsamen Kräften, die in Unheiligen Zeiten herrschten, während der Schwangerschaft besondere Fähigkeiten in den ungeborenen Kindern entstehen lassen sollte? Das klang doch ziemlich abstrus.

Aber ob sie es nun glaubte oder nicht, für sie war es eine perfekte Chance gewesen. Die Carltons garantierten ihr die beste Versorgung während ihrer Schwangerschaft. Gemeinsam mit den anderen ausgewählten Frauen wollte man sie in einer kleinen Pension etwas außerhalb von London unterbringen. Für Kost, Logis sowie die medizinische Versorgung wäre gesorgt und Anna könnte sich während ihrer Schwangerschaft in London einleben. Nach der Geburt würde sie sich um die Pflege ihres Kindes kümmern und es gemeinsam mit besonders geschulten Trainern auf seine große Aufgabe vorbereiten.

Anna war sofort einverstanden gewesen. Was hätte sie sich auch Besseres wünschen können? Sie liebte Kinder. Im Heim hatte sie sich oft um die Jüngeren gekümmert und immer von eigenen Kindern geträumt, da war das Angebot der Carltons wie ein Traum, der ganz unverhofft und viel schneller als sie zu hoffen gewagt hatte, wahr werden würde.

Dann war jedoch alles anders gekommen und der Traum war während der Schwangerschaft ganz schnell zum Albtraum geworden. Niemand hatte sie oder die anderen Frauen darauf vorbereitet, welch abartige Schmerzen die Behandlungen mit sich brachten. Immer wieder hatten die fürchterlichen Prozeduren ihr Verstand und Sinne geraubt. Manche der Frauen erlangten beides nicht zurück und vegetierten bis zur Geburt mehr weggetreten als wach in ihren Betten. Diejenigen, die die Prozeduren besser verkrafteten und sich beschwerten oder gar die Behandlung abbrechen wollten, wurden über Monate mit Medikamenten ruhiggestellt. Die meisten überlebten die Geburt nicht und was mit denen geschehen war, die nicht in der Nacht der Wintersonnenwende gestorben waren, wusste Anna nicht. Sie hatte keine von ihnen je wiedergesehen.

Sie selbst hatte sich während ihrer Schwangerschaft so still und unauffällig wie möglich verhalten und alle Behandlungen gehorsam über sich ergehen lassen. Sie hatte vorgespielt, weiter davon überzeugt zu sein, dass es wichtig war, den Geminus zu erwecken und mit ihm die Möglichkeit zu bekommen, ihren Stand in der Gesellschaft zu ändern. Sie hatte immer wieder betont, wie geehrt sie sich fühlte, eins der besonderen Babys in sich tragen zu dürfen, und dass sie stark genug war, all die Schmerzen auszuhalten. Die Carltons hatten ihr das hoch angerechnet. Aus diesem Grund hatte sie nach der Geburt auch bleiben und sich um die Kinder kümmern dürfen. Nicht nur um ihr eigenes. Um alle.

Auch dabei hatte sie sich kooperativ gezeigt. Ihr Körper war nach der schrecklichen Schwangerschaft stark geschwächt und auch der Kaiserschnitt, durch den ihr Sohn in der Nacht der Wintersonnenwende zur Welt geholt worden war, raubte ihr Kraft und heilte nur langsam. Trotzdem hatten die Carltons ihr nur wenige Tage nach der Geburt mitgeteilt, dass sie Anna zum nächsten Frühlingsäquinoktium ein weiteres Mal schwängern wollten. Schließlich hatte nicht nur sie sich als würdig erwiesen. Ihr Sohn war eins der stärksten Babys aus dem ersten Zyklus.

Anna hatte gute Miene zu bösem Spiel gemacht und die Carltons in dem Glauben gelassen, dass sie sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als einen weiteren Geminusträger zu gebären. Sobald sie sich jedoch kräftig genug gefühlt hatte, war sie mit ihrem Sohn aus der Pension geflüchtet.

Bis zum heutigen Tag quälte sie sich oft mit Gewissensbissen, die anderen Kinder zurückgelassen zu haben. Doch sie hätte unmöglich alle fünf mitnehmen können. Bei zweien war es ohnehin fraglich gewesen, ob sie überhaupt überleben würden. Anna hatte auch nicht gewusst, an wen sie sich hätte wenden können, um ihnen Hilfe zu schicken. Sie kannte niemanden in London und zur Polizei zu gehen - was hätte das gebracht? Es ging schließlich nur um Totenbändigerkinder. Niemand hätte sich zuständig gefühlt.

Vermutlich hätte man sie sogar für verrückt oder verwirrt gehalten und das Einzige, was passiert wäre, wäre ein Anruf in der Akademie gewesen, damit die Leute dort sie abholten und sich um sie kümmerten. Schließlich war sie eine junge Totenbändigerin mit einem Baby. Für genau solche Leute war die Akademie zuständig. Sie konnte aber auf keinen Fall zulassen, dass die Carltons sie und ihr Baby wieder in die Finger bekamen. Eine weitere Schwangerschaft hätte sie nicht durchgestanden und dass man ihr Baby womöglich mit denselben Prozeduren quälte, die sie hatte aushalten müssen, war eine unerträgliche Vorstellung.

Deshalb ging sie nicht zur Polizei. Sie lief aus London weg. Versteckte sich mit ihrem Kind immer wieder in anderen Städten. Blieb nie lange an einem Ort. Hielt sich immer unter dem Radar. Sie wusste nicht, ob die Carltons sie wirklich suchen ließen. Es hatte nie Anzeichen dafür gegeben, dass ihr jemand folgte, doch sie ging vom Schlimmsten aus. Immerhin hatte sie nicht nur einen der Geminusträger entführt, der Kleine war auch noch Cornelius' Sohn, daher würde man ihr ihre Tat ganz sicher nicht durchgehen lassen.

Sie gab sich deshalb alle Mühe, unauffällig zu bleiben und keine Hinweise zu hinterlassen. Zu Beginn blieb sie immer nur wenige Wochen an einem Ort und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, bevor sie weiterzog. Das erste Jahr war schrecklich hart gewesen, aber sie überstand es. Nach und nach wagte sie, länger zu bleiben, doch spätestens nach drei Monaten zog sie immer weiter.

Als dann vor zehn Monaten das Unheilige Jahr begonnen hatte, war sie wieder vorsichtiger geworden. Zwar hatte Blaine alle Vorbereitungen, die die Geminuskinder vor dem ersten Ritual vollziehen mussten, verpasst, aber Anna traute es Cornelius durchaus zu, dass er seinen Sohn trotzdem dazu antreten lassen würde, wenn er ihn rechtzeitig zur ersten Ritualnacht zurückbekäme. Deshalb war sie hierher auf die Isle of Skye geflüchtet. Abgelegen vor der Küste Schottlands würde hier hoffentlich niemand nach ihr suchen.

Ihr Plan war aufgegangen. Drei Unheilige Nächte hatten sie und Blaine jetzt hinter sich gebracht und niemand hatte sie ausfindig gemacht. Eigentlich wäre das ein Grund zum Aufatmen gewesen - wenn Blaine nicht seit Beginn des Unheiligen Jahres einige beunruhigende Charakterzüge an den Tag gelegt hätte.

Anna schenkte sich Kaffee nach und ging zurück ins Wohnzimmer, wo sie sich vor dem Fenster eine Nähecke eingerichtet hatte. Nähen und Kleider flicken hatte sie im Heim gelernt. Vieles war dort durch Spenden finanziert worden und Kleider wurden so oft ausgebessert und weitergetragen wie nur irgendwie möglich. Daher wusste Anna mit Nadel, Faden und Nähmaschine umzugehen und ihre Fähigkeiten hatten ihr hier auf Skye zu einer Stelle als Näherin in der örtlichen Wäscherei verholfen. Sie verdiente zwar nicht viel, aber ihre Chefin war sehr nett.

Glenda hatte keine Vorbehalte gegenüber Totenbändigern und ein großes Herz für alleinerziehende Mütter, weil sie ihre beiden Kinder auch allein hatte großziehen müssen. Sie hatte Anna Arbeit gegeben und ihr das winzige Cottage vermittelt. Es bestand bloß aus einer Küche und zwei weiteren kleinen Räumen. Einen Anschluss ans öffentliche Strom- und Wassernetz gab es nicht, nur einen Tank, den man mühsam aus dem Brunnen im Garten auffüllen musste. Heizen konnte man nur mit einem Kamin und einem alten Holzofen, auf dem auch gekocht wurde. Das störte Anna jedoch nicht. Im Heim hatte sie auch sehr einfach gelebt.

Sie trat mit ihrem Kaffee ans Fenster und sah hinaus zum Sandhaufen, wo Blaine gerade noch mit seinen Baggern gespielt hatte.

Jetzt war er verschwunden.

Alarmiert stellte Anna ihre Tasse ab und eilte aus dem Haus.

»Blaine? Wo bist du?«

Fröstelnd zog sie ihre Strickjacke gegen die feuchtkühle Luft um sich.

»Hier!«

Die Stimme kam von rechts, wo geschützt zwischen Grundstückshecke und ein paar immergrünen Sträuchern ein kleiner Hühnerstall stand.

Hastig lief Anna hinüber und hielt erschrocken inne, als sie ihren kleinen Sohn im Stall sitzen sah, auf seinem Schoß ein Huhn - mit umgedrehtem Hals.

»Tut mir leid, Mum.« Sein unbekümmerter Tonfall verriet deutlich, dass es ihm kein bisschen leidtat und er nur die Worte sagte, von denen er wusste, dass Anna sie hören wollte. »Hab wieder eins kaputt gemacht.«

Das Funkeln in seinen Augen ließ es ihr kalt den Rücken hinunterlaufen.

»Blaine.« Sie kniete sich neben ihn. »Schatz, darüber hatten wir doch gesprochen. Man macht nichts einfach kaputt. Schon gar keine Tiere.«

»Aber es macht Spaß!« Grinsend grub er seine Finger in das Federkleid und riss eine Handvoll aus. »Immer nur im Garten spielen ist langweilig.«

In Momenten wie diesen fühlte Anna sich hoffnungslos allein und überfordert. Natürlich war ihr klar, dass ihrem Sohn eine gesunde Sozialisierung fehlte, weil er durch ihre ständigen Umzüge kaum Kontakt zu anderen Menschen und schon gar nicht zu anderen Kindern hatte. Aber sie musste ihn nun mal verstecken. Besonders jetzt, im Unheiligen Jahr. Doch auch wenn das Jahr in zwei Monaten überstanden war, war sie sich nicht sicher, ob sie es wagen konnte, Blaine hier auf der Insel ein paar Spielkameraden zu suchen.

Totenbändigerkinder gingen nicht mit Normalokindern in den Kindergarten. Selbst wenn man das hier auf Skye vielleicht sogar etwas lockerer sehen würde, konnte sie das nicht riskieren. Nicht, solange es Blaine solchen Spaß machte, Dinge zu zerstören und Tiere zu töten. Damit würde er im Kindergarten sofort auffallen und das Letzte, was Anna sich leisten konnte, waren unbequeme Fragen und zu viel Aufmerksamkeit. Sie hoffte, dass sich Blaines Verhalten nach dem Unheiligen Jahr wieder bessern würde. Dass es im Moment einfach nur eine schwierige Phase war, war sich aber nicht sicher, ob sie sich damit nicht nur selbst belog.

Sie seufzte innerlich und verdrängte wie so oft den Gedanken daran, was Blaines Verhalten implizierte, wenn es nicht nur eine schwierige Phase war.

»Gib mir das Huhn, Schatz.«

Sie wollte ihrem Sohn das tote Tier abnehmen. Wenn es ihnen keine Eier mehr liefern konnte, konnte es zumindest noch als Abendessen dienen.

Doch Blaine wollte es nicht hergeben. »Nein, das ist mein Huhn!«

Er wandte sich von ihr ab, damit sie das Tier nicht erreichen konnte und riss ihm eine weitere Handvoll Federn aus.

»Es ist meins! Meins! Und ich will es noch mehr kaputt machen!«

Er klemmte sich den leblosen Körper unter den Arm und zerrte am Hals des Tieres. Seine Kraft reichte jedoch nicht aus, um ihn abzureißen, was ihn frustriert fauchen ließ.

»Blaine, hör auf!« Entsetzt versuchte Anna erneut, ihm das Huhn wegzunehmen. »So was tut man nicht!«

Wütend schrie Blaine auf, als sie ihn an den Armen packte. Er riss sich los und trat nach ihr. Gleichzeitig warf er das Huhn zu Boden und schlug mit seinen Fäusten auf den toten Körper ein. Wieder und wieder. Jeder Schlag begleitet von einem irren Wutschrei.

»Blaine, nein! Hör auf!« Tränen liefen Anna übers Gesicht, als sie versuchte, die Fäuste einzufangen, mit denen Blaine jetzt auch auf sie einschlug. »Bitte, hör auf!«

Plötzlich stoppte er und blickte über ihre Schulter.

Irritiert über die abrupte Änderung in seinem Verhalten wandte Anna sich um und folgte seinem Blick.

Erschrocken fuhr sie zusammen.

Ein Mann stand hinter ihnen an der Hausecke und sie erkannte ihn sofort.

Nathan Harris, Cornelius' rechte Hand.

Kaltes Entsetzen lähmte sie und sie hatte ihm rein gar nichts entgegenzusetzen, als er seinen Silbernebel wie einen Pfeil in ihre Stirn bohrte.

Es ist vorbei, war ihr letzter Gedanke, dann sackte sie leblos in sich zusammen.

Blaine starrte seine Mum an. Blut sickerte aus dem Einstichloch und er sah fasziniert zu, wie es über ihr Gesicht lief.

»Du hast sie kaputt gemacht!« Beeindruckt blickte er zu dem Fremden auf. »Mum hat gesagt, man darf mit der Silberenergie nur Geister kaputt machen.«

»Deine Mum hatte unrecht«, antwortete Harris.

Blaine grinste und boxte triumphierend in die Luft. »Ich wusste es.«

Stolz zeigte er dem Fremden das tote Huhn. »Das hab ich gerade kaputt gemacht.«

Harris musterte ihn. »So so.«

»Mum hat gesagt, das macht man nicht. Aber das stimmt nicht, oder? Es macht Spaß! Das findest du doch auch, stimmt's? Du hast Mum kaputt gemacht. Ich wette, das hat dir auch Spaß gemacht.«

Harris musterte ihn noch immer und zog eine Augenbraue hoch. »Hm. Also du bist ja wirklich ein interessanter kleiner Kerl. Was hältst du davon, wenn ich dich jetzt zu deinem Vater bringe? Ich bin mir sicher, es wird ihn sehr interessieren, was dir Spaß macht.«

Kapitel 2

Dreizehn Jahre später

Samstag, 2. November. Abends.

 

Blaine schob sich den letzten Bissen Tiefkühlpizza in den Mund und suchte im Chaos auf dem Tisch nach der Fernbedienung. Es war kurz vor acht und zur vollen Stunde würde LNN die wichtigsten Nachrichten des Tages bringen. Er war gerne informiert, auch wenn heute in London sicher nicht viel passiert war.

In der letzten Nacht war wie von den Meteorologen vorhergesagt dicker Nebel aufgezogen und die Behörden hatten für fast alle Stadtteile den Lockdown ausgerufen. Damit war London so gut wie lahmgelegt. Im Prinzip fand Blaine das nicht weiter schlimm. Im Gegenteil. Wenn niemand vor die Tür gehen durfte, würde auch niemand Charlene vermissen. Wobei die Nachbarn hier im Haus zum Glück ohnehin nicht sehr neugierig waren. In den vier Wochen, die Blaine jetzt hier wohnte, hatte er immer noch nicht alle Parteien zu Gesicht bekommen. Doch das war ihm nur recht.

Trotzdem würde er nicht mehr lange hierbleiben können. Irgendwann würde auffallen, dass Charlene fort war. Wenn nicht den Nachbarn, dann ihrer Familie. Ihre Eltern lebten zwar in den USA und waren zum Glück ziemlich mit sich selbst beschäftigt, aber spätestens zur Julzeit würden sie sich sicher wundern, dass sie von ihrer Tochter nichts mehr hörten. Er brauchte also eine neue Unterkunft, daher hoffte er, dass der Nebel nur ein kurzes erstes Gastspiel gab und die Stadt nicht gleich für eine ganze Woche lahmlegte.

Während eines Lockdowns war eine Wohnungssuche schwierig. Auch ein Grund, warum er die Nachrichten sehen wollte. Der Nebel war garantiert eins der Topthemen und mit Sicherheit gab es auch schon Prognosen, wie lange der Lockdown andauern sollte.

Er fand endlich die Fernbedienung und verdrehte die Augen, als er sah, dass LNN die verbliebenen zehn Minuten bis zu den Hauptnachrichten dafür nutzte, zum gefühlt hundertsten Mal die Pressemitteilung zu zeigen, die Commander Jonathan Pratt, der Leiter des Camdener Polizeireviers, in der Unheiligen Nacht bekanntgegeben hatte.

Einem Sondereinsatzkommando aus Mitgliedern der Metropolitan Police sowie externen Geisterjägern war ein Schlag gegen die Death Strikers gelungen. Dabei war ein Komplott aufgedeckt worden, bei dem die Terrororganisation die Existenz einer Totenbändigersekte vortäuschen wollte. Die Terroristen hatten einen okkult aussehenden Massenmord an Obdachlosen sowie zwei Totenbändigerkindern geplant. Diese Tat wollten sie - ebenso wie weitere Anschläge in der Stadt - den Totenbändigern in die Schuhe schieben, um die Rasse in Verruf zu bringen, weil sie jetzt einen Sitz im Stadtrat innehatte.

Ja klar.

Als Blaine am Tag zuvor von seiner Ritualnacht zurückgekehrt war, war die Pressemitteilung quasi in Dauerschleife gelaufen nur unterbrochen von Moderatoren, die mit den unterschiedlichsten Experten darüber diskutiert hatten. Dabei sorgte besonders ein Punkt in Pratts Mitteilung für viel Gesprächsstoff: die Säuberung der Verlorenen Orte, die die Death Strikers im Laufe der Jahre der Stadt zugefügt hatten.

Sowohl in den Medien als auch in Umfragen, die LNN in der Bevölkerung gestartet hatte, teilte die Mehrheit Pratts Meinung, dass es an der Zeit sei, die Orte zurückzuerobern. Viele Diskussionen drehten sich daher nun um die Frage, wie schnell die verschiedenen Säuberungen durchführbar wären, und man ließ Bauexperten für eine erste Einschätzung zu Wort kommen, welche Orte wohl durch eine Sanierung zu retten waren und welche höchstwahrscheinlich abgerissen werden mussten.

Außerdem stand natürlich die Kostenfrage im Raum. Es war ein Spendenkonto eingerichtet worden und man hoffte, dass viele Londoner gern etwas dazu beisteuerten, um die Narben, die die Death Strikers in ihre Stadt geschlagen hatten, verblassen zu lassen. Der Kontostand, der während der Interviews auf LNN immer wieder eingeblendet wurde, war bereits sehr vielversprechend. Offensichtlich wollten tatsächlich viele Mitbürgerinnen und Mitbürger dabei helfen, dem ein oder anderen Verlorenen Ort zu seinem alten Glanz zurückzuverhelfen oder eben etwas Neues entstehen zu lassen, wenn ein Gebäude nicht mehr gerettet werden konnte. Für besonders viel Furore hatte eine anonyme Spende von zehn Millionen Pfund gesorgt. Außerdem hatten sich mehrere Baustoffhersteller gemeldet, die für Restaurationsarbeiten oder einen möglichen Neubau Sachspenden in Aussicht stellten, sobald feststand, welche Materialien benötigt werden würden.

Blaine sah zu, wie Pratt noch einmal den Schlag gegen die Death Strikers sowie die fantastische Arbeit des Sondereinsatzkommandos feierte. Die Coverstory, die der Commander sich dort mit seinem Team zusammengesponnen hatte, war nicht schlecht, das musste Blaine ihnen lassen. Er ging jede Wette ein, dass sowohl beim Einsatz als auch beim Erstellen der Coverstory das infernale Dreigespann aus Hunts, Reapers und Rifkins eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Ihre Gegner wurden langsam wirklich dreist, und auch wenn Blaine sich nicht jedes Detail zusammenreimen konnte, war ihm klar, was an Samhain wirklich passiert war.

Der Sondereinsatztrupp hatte den Ritualort seines Vaters gefunden, das dritte Ritual vereitelt und sowohl die Opfergeiseln als auch die Geminuskinder befreit. Da Pratt keine genaueren Angaben dazu gemacht hatte, wusste Blaine nicht, wie viele Männer seines Vaters dabei verhaftet oder getötet worden waren. Genauso wenig wusste er, wen es getroffen hatte. Den großen Cornelius Carlton allerdings offensichtlich nicht. Und falls jemand verhaftet worden war, schien niemand gegen ihn ausgepackt zu haben, sonst wären er und Nathan Harris sicher nicht mehr auf freiem Fuß. Was gleichzeitig bedeutete, dass die Polizei keine stichfesten Beweise gegen sie haben konnte.

Blaine hätte allerdings zu gerne gewusst, wie die Metro Police den Dreizehn überhaupt auf die Schliche gekommen war. Ging das auch auf das Konto des Dreigespanns? Oder hatte man bei der Polizei eine Art Taskforce gebildet, nachdem in dem Herrenhaus, in dem vor dreizehn Jahren das erste Massaker stattgefunden hatte, erneut Leichen mit durchgeschnittenen Kehlen gefunden worden waren? Hatten sie deshalb Nachforschungen zu geminus obscurus angestellt und waren so auf die Spur der Dreizehn gekommen?

Ein boshaftes Lächeln flog über Blaines Gesicht.

Wenn Letzteres zutraf, war er nicht ganz unschuldig daran, dass sein Vater seine Geminusträger verloren hatte, schließlich hatte er sich den alten Opferraum zu eigen gemacht und »Geminus obscurus - Ich bin bereit!« über den Kaminsims im alten Ritualraum gepinselt.

Ups.

Blaine grinste schadenfroh und hatte zum ersten Mal nicht das Bedürfnis, dem dämlichen Jogger, der Schuld an der Entdeckung seines Ritualorts war, die Kehle durchzuschneiden. Vielleicht stimmte ja wirklich, dass alles aus irgendeiner höheren Bestimmung heraus passierte. Man sah sie eben nur nicht immer gleich.

Die Vorstellung, dass er damit womöglich indirekt mit dazu beigetragen hatte, dass sein Vater nun ohne die Chance auf einen Zwilling dastand, war jedenfalls herrlich und bereitete ihm tiefste Genugtuung.

Allerdings bedeutete diese Wendung auch, dass er seine eigenen Pläne jetzt womöglich anpassen musste. Ursprünglich hatte er geplant, seinem Vater nach der vierten Unheiligen Nacht mit seinem Geminus gegenüberzutreten, um ihm zu zeigen, wie wenig Ahnung der große Cornelius Carlton vom Zwillingsritual hatte und wie sehr er Blaine unterschätzte.

Vor dreizehn Jahren war Blaine die Chance, an den Ritualen teilzunehmen, von seiner verdammten Mutter genommen worden. Als er seinem Vater deshalb vorgeschlagen hatte, es in diesem Jahr zu versuchen, hatte der ihn nur mitleidig belächelt und es als verzweifeltes Lechzen nach Aufmerksamkeit abgetan. Kenwick hatte in seinen Aufzeichnungen schließlich ausdrücklich geschrieben, dass das Erwecken und Heranwachsen lassen des Zwillings nur in sehr jungen Kindern möglich war. Dass Blaine es mit fast achtzehn versuchen wollte, hatte er als lächerlich abgetan. Er hatte Blaine nicht einmal nachlesen lassen, ob diese Beschränkung hinsichtlich des Alters von Kenwick tatsächlich so niedergeschrieben worden waren. Kenwicks Aufzeichnungen waren für seinen Vater wie heilige Schriften, die einzig und allein der große Cornelius Carlton höchstselbst lesen durfte.

Blaine hatte es aber trotzdem geschafft. Zumindest bei einem Werk. Dem wichtigeren. Dem, mit den Beschreibungen und Anweisungen zum Geminusritual. Kenwicks Tagebuch hätte er auch gern abfotografiert, doch leider hatte sein Vater ihn vorher erwischt. Danach waren die Werke aus seinem Safe verschwunden. Vermutlich hatte er sie an den geheimen Treffpunkt der Dreizehn gebracht, zu dem er Blaine nie hatte mitnehmen wollen.

Ein gehässiges Lächeln umspielte Blaines Lippen.

Jetzt, da der große Cornelius Carlton nicht mehr ganz so groß war, würde sich einiges in ihrer Vater-Sohn-Beziehung ändern. Blaine musste sich nicht länger von ihm kleinhalten lassen, weil er nun beweisen konnte, wie sehr sein Vater ihn unterschätzt und wie oft er falschgelegen hatte. Und dass er jetzt sogar ohne seine Geminusträger dastand, weil die Polizei ihm auf die Schliche gekommen war - viel besser konnte Blaines Ausgangslage eigentlich gar nicht werden, um sich von seinem Vater zu holen, was er wollte.

Ursprünglich wollte er mit seinem Zwilling nach der vierten Unheiligen Nacht bei seinem Vater eine gemeinsame Regentschaft in der neuen Gesellschaft einfordern, die sie mit den Fähigkeiten seines Geminus' aufbauen konnten. Sein Vater hätte zwar über einen oder vielleicht sogar mehrere eigene Zwillinge verfügt, doch die wären nie und nimmer so stark gewesen, wie Blaines Geminus sein würde. Die Zwillinge seines Vaters wären Kindern entsprungen, die in der Nacht der Wintersonnenwende erst vier beziehungsweise fünf Jahre alt wurden.

Wie mächtig konnten die schon sein?

Mal ganz davon abgesehen, dass es für seinen Vater wahnsinnig mühsam geworden wäre, diese Zwillinge zu beherrschen, weil er für jede einzelne Anweisung über die Kinder gehen musste. Er selbst konnte dem Geminus schließlich nichts befehlen, das konnten nur die Träger.

Wie gut hätte das wohl bei Vier- und Fünfjährigen funktioniert? Wie gut wären sie überhaupt in der Lage gewesen, ihren jeweiligen Geminus kontrollieren zu können?

Vielleicht hätte Blaine ihre mickrigen Zwillinge sogar mit seinem vernichten können. Ausprobiert hätte er das auf jeden Fall.

Aber das hatte sich jetzt ja erledigt.

Obwohl Blaine felsenfest davon ausging, dass sein Vater die Schmach von Samhain nicht vergeltungslos auf sich sitzen lassen und sich die Kinder zurückholen würde, hatten sie das dritte Ritual verpasst. Er konnte es zwar zur Wintersonnenwende in der vierten Unheiligen Nacht nachholen, aber damit hätte er nur zwei unvollständige Zwillinge, mit denen er zwar Geister befehligen, nicht aber Normalos in Totenbändiger verwandeln konnte.

Letzteres würde nur Blaine ihm bieten können.

Erneut genoss er das Gefühl von Überlegenheit und tiefster Genugtuung.

Natürlich würde er sich bereiterklären, seinen Geminus zur Verfügung zu stellen.

Zu seinen Bedingungen.

Blaine konnte es kaum erwarten, seinen Vater dafür büßen zu lassen, dass er ihn all die Jahre verkannt und immer wieder erniedrigt hatte. Doch er musste seine Machtübernahme geschickt angehen. Geduld und Beherrschung waren die Zauberworte. Beides hatte er sich mühsam antrainieren müssen. Mittlerweile war er darin bis auf wenige Aussetzer allerdings sehr gut. Er würde nichts überstürzen.

Blaine zollte seinem Vater Respekt für alles, was dieser sich im letzten Jahrzehnt hier in London aufgebaut hatte. Cornelius Carlton besaß ein gut funktionierendes Netzwerk aus Leuten, die von Finanzen bis hin zu Auftragsmorden alles für ihn regelten und zwar so diskret, dass die Polizei selbst nach der Ergreifung etlicher Mitglieder der Dreizehn keine Beweise gefunden hatte, die seinen Vater in Bedrängnis gebracht hätten.

Außerdem hatte er sich in der Öffentlichkeit einen guten Namen gemacht, wurde von vielen sehr geschätzt und besaß auf politischer Ebene mittlerweile sowohl einigen Einfluss als auch etliche nützliche Beziehungen zu den verschiedenen Gilden und Behörden der Stadt.

Blaine wäre schön blöd, wenn er sich nicht von seinem Vater in all das einführen lassen würde. Sobald er sich dann überall etabliert und allem voran Zugriff auf das Netzwerk seines Vaters hatte, würde er den Machtwechsel vornehmen und seinen alten Herrn ausschalten.

Mit seinem Zwilling, den sein Vater ihm nicht zugetraut hatte.

Allein beim Gedanken daran kribbelte schon jetzt unbändige Vorfreude in ihm.

Aber er mahnte sich erneut zu Geduld und Beherrschung. Seine nächsten Schritte mussten gut durchdacht werden. Er wollte keinen einzigen der Trümpfe, die ihm zusätzlich so unverhofft in den Schoß gefallen waren, verspielen.

Auf LNN liefen mittlerweile die Nachrichten, wie erwartet gab es jedoch außer dem Nebel keine großen Schlagzeilen. Die Meteorologen gingen davon aus, dass sich der Dunst bei aufkommendem Wind in der Nacht von Montag auf Dienstag bereits wieder lichten würde.

Okay, das war aushaltbar. Bis dahin konnte er Pläne schmieden.

Und seinen Zwilling trainieren.

Normalerweise wäre Geisterjagen während Nebelzeiten zu gefährlich. Das traf für ihn allerdings kaum noch zu. Er konnte mit seinem Zwilling schließlich alle Geister, die sich auf ihn stürzen wollten, beherrschen. Es gab also eigentlich gar keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, um seine neuen Kräfte auszuprobieren. Selbst wenn er sich dabei vielleicht noch ein bisschen ungeschickt anstellte, weil ihm noch die Übung fehlte, würde sein Zwilling sein Leben schließlich schützen.

Voller Tatendrang schwang Blaine sich vom Sofa und zog sich Sneakers und Jacke an.

Die Vorstellung, dass der Geminus ihn quasi unbesiegbar machte, gefiel ihm außerordentlich gut.

Genauso wie die Vorstellung, seinem Vater seine Zwillingskraft demnächst so eindrucksvoll zu präsentieren, dass der große Cornelius Carlton plötzlich merkte, wie mickrig seine eigenen Kräfte im Vergleich zu denen seines Sohns waren.

Kapitel 3

Montag, 4. November

Morgens im Haus der Hunts

 

»Leo, was möchtest du zum Frühstück?«, fragte Cam, als er mit Jules den Tisch deckte und Teller oder Schalen verteilte. »Müsli oder Toast?«

»Müsli!« Der kleine Wirbelwind hopste mit Sherlock und Holmes im Flur vor der Küchentür herum und gab mal dem einen, mal dem anderen sein Frühstücksleckerchen. »Aber nicht das, das ich nicht mag. Das andere!«

Er kam in die Küche gewuselt, um Cam die richtige Schachtel zu zeigen. »Das da! Bitte.«

Es war für alle in der Familie eine große Freude zu sehen, wie gut der Kleine sich in den letzten drei Tagen bereits in seinem neuen Zuhause eingelebt hatte. Einen großen Anteil daran hatte sicher, dass er ein ziemlich extrovertiertes, aufgewecktes und äußerst wissbegieriges Kerlchen war. Alles Neue fand er unfassbar spannend. Er liebte es, Dinge auszuprobieren, und brannte darauf, die unbekannte Welt zu entdecken, die sich nach seiner Befreiung aus der Sekte in der Villa der Hunts für ihn aufgetan hatte.

Er mochte Playmobil spielen mit Jules und Cam, tobte wahnsinnig gern mit Sherlock und Holmes durchs Haus und kaum dass er Matt und Gabriel mit Cam und Jaz am Sandsack hatte trainieren sehen, wollte er unbedingt auch Boxen lernen. Da ihm dafür noch die passenden Boxhandschuhe fehlten, durfte er vorerst bloß gegen den Sack treten, aber auch das hatte ihm schon mächtig Spaß gemacht. Genauso wie Plätzchen backen mit Ella, Sue und Granny. Beim Puzzeln hatte er dagegen schnell das Interesse verloren und das Früchtemüsli war ein totaler Reinfall gewesen, weil da absolut unleckere Schrumpeldinger drin waren.

Cam reichte ihm das rosinenfreie Müsli mit Nüssen und Schokosplittern. »Hier, bitte.«

»Danke!«

Cam musste schmunzeln.

Das Konzept von Bitte und Danke war ihren beiden Minis unbekannt gewesen, doch nach drei Tagen intensiver Familienzeit, lief es mit den Höflichkeitswörtern mittlerweile schon erstaunlich gut.

Freudig wollte sich Leo mit der Schachtel zu seinem Stuhl durchschlängeln, aber Sky stand ihm im Weg.

»Tut mir leid, hier ist momentan der Durchgang gesperrt.« Sie hatte den Kühlschrank geöffnet und stellte mit Ella verschiedene Dinge fürs Frühstück auf den Tisch. »Aber wenn du uns hilfst, können wir die Blockade ganz schnell aufheben.«

Leo grinste. »Klar helfe ich!«

»Das ist lieb, danke.« Sky strubbelte ihm über den Kopf und hielt ihm eine Salatgurke hin. »Hier, bring die zu Connor.«

»Okay.« Leo stellte die Müslischachtel auf den Tisch und schnappte sich die Gurke, sah sich dann aber eingepfercht zwischen Sky und Ella, die am Kühlschrank standen, sowie Cam und Jules, die den Tisch deckten. Kurzerhand zwängte er sich zwischen zwei Stühlen durch und krabbelte unter dem Tisch zur anderen Seite der Küche, wo Connor den Gemüseteller vorbereitete, Matt Kaffee und Tee kochte und Granny am Ofen stand und für gerösteten Toast und warmen Kakao sorgte.

Die Küche der alten Villa war zwar nicht gerade klein, mit mittlerweile dreizehn Stühlen am Tisch war es allerdings doch ziemlich eng geworden und Sky feierte, dass sie, Connor, Gabriel und Matt entschieden hatten, in ihrem neuen Haus die Wand zwischen Küche und Esszimmer einreißen zu lassen. Das schaffte genügend Platz für einen deutlich größeren Tisch, sodass die gemeinsamen Mahlzeiten drüben stattfinden konnten, sobald das Haus fertig war.

Mark und Tom, Matt ältere Brüder, die ihre Bauleiter waren, hatten ihnen den Einzug gegen Ende des Jahres versprochen, allerdings abhängig davon, wie schnell Küche und Möbel geliefert wurden und wie viele Arbeitstage ihnen aufgrund von Nebellockdowns verloren gingen. Laut Wettervorhersage bestand zumindest für die aktuelle Ausgangssperre die Hoffnung, dass sie morgen bereits wieder aufgehoben werden konnte. Damit verloren sie heute nur einen Tag auf der Baustelle. Sky machte sich allerdings keine Illusionen darüber, dass es in diesem Herbst nur bei diesem einen Lockdown bleiben würde.

Dass der Nebel sie am Wochenende zu einer Auszeit im Haus gezwungen hatte, hatte Sky nicht weiter gestört. Die letzten beiden Wochen waren stressig gewesen, weil sie nicht nur ihre normalen Schichten als Spuks geschoben hatten, sondern zusätzlich die Sondereinsatztruppe für den Zugriff an Samhain hatte trainiert werden müssen, damit ihr zusammengewürfeltes Team so gut wie möglich aufeinander eingespielt war.

Es war anstrengend und zeitintensiv gewesen, aber die viele Arbeit hatte sich ausgezahlt und der Zugriff war ein großer Erfolg gewesen. Sie hatten nicht nur Leo und Toby befreien können und Carlton damit die Chance genommen, den Zwilling in den Kindern erstarken zu lassen. Sie hatten außerdem sechsundzwanzig Obdachlosen das Leben gerettet und all das ohne Verluste in den eigenen Reihen geschafft.

Der einzige Wermutstropfen war, dass sie niemanden aus Carltons Kreis hatten festnehmen können. Zwar hatten sie einige seiner Handlanger sowie etliche Mitglieder der Dreizehn auf frischer Tat ertappt, bevor sie diese jedoch hatten festnehmen können, hatte Gibson, eins der Sektenmitglieder, alle getötet und sich dann selbst das Leben genommen. Die Chance, über seine Mitstreiter Beweise und Zeugenaussagen gegen Carlton zu sammeln, war damit verloren. Nichtsdestotrotz konnte der Einsatz aber als großer Erfolg gewertet werden. Gegen Carlton würden sie in den nächsten Wochen eben weiterermitteln.

Wetterbedingt am Wochenende erst mal eine Pause machen zu müssen, hatte allerdings gutgetan und der gesamten Familie die Möglichkeit gegeben, ein bisschen zur Ruhe zu kommen, Kräfte aufzutanken und Zeit mit ihren neuen Schützlingen zu verbringen. Sie hatten Gesellschaftsspiele gespielt, Kinderbücher vorgelesen und es wurde gemeinsam gebacken und gekocht. Sie zockten Videogames, hatten den ein oder anderen Familienfilm geguckt und ab und an gönnte sich jeder Zeit für sich oder zu zweit. Wenn es nach Sky gegangen wäre, hätte der Lockdown gerne noch zwei Tage länger dauern dürfen.

Das Einzige, das etwas aufs Gemüt schlug, war die Tatsache, dass sie wegen der Geister die eisernen Fensterläden geschlossen halten mussten. Hin und wieder wagten sie zwar zum Lüften ein kurzes Öffnen, aber den Großteil der Zeit mussten sie ohne Tageslicht auskommen. Das machte besonders Cam zu schaffen. Aber auch Gabriel und Jaz war mittlerweile anzumerken, dass sich der Nebel für ihren Geschmack jetzt langsam wieder verziehen konnte.

»Wo ist Toby?«, fragte Gabriel, als er als Letzter in die Küche kam.

»Im Wohnzimmer«, antwortete Leo. »Ihm war es hier zu voll. Er puzzelt. Ich hole ihn.«

Er wollte sich an Matt und Connor vorbeizwängen, aber Matt hielt ihn zurück.

»Schon gut, Champ. Gabriel holt ihn. Setz du dich schon mal hin und nimm dir Müsli.«

Leo zögerte und blickte zu Gabriel.

»Okay«, nickte er dann. »Kannst du machen, dass er keine Angst hat? Er mag nicht zu der Ärztin gehen.«

Es war rührend, wie sehr Leo ein Auge auf Toby hatte. Selbst wenn die beiden nicht im selben Raum waren, wusste Leo immer, wo sich sein Freund befand und was er machte. Auch schien er immer sehr genau zu spüren, wie Toby sich fühlte und was in ihm vorging, obwohl Toby selbst mit Leo nicht viel redete.

Gabriel ging hinüber ins Wohnzimmer.

Toby hockte auf dem Boden, vor sich ein Puzzle, neben sich Watson. So wie Sherlock und Holmes völlig begeistert von dem quirligen Leo waren, hatte Watson einen Narren an dem stillen Mini-Menschen gefressen und legte sich zu ihm, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Und die bot sich oft, weil Toby gerne still bei den anderen saß und zuguckte, was sie machten.

Beim Boxtraining zum Beispiel. Zuschauen hatte ihm Spaß gemacht, aber selbst gegen den Sack treten wollte er nicht. Er schaute auch gern beim Gemüseputzen und Kochen zu und war völlig fasziniert gewesen, als Jules sich tolle Abenteuer für die bunten Püppchen ausgedacht hatte, die in einer Burg und einem Piratenschiff wohnten, ganz viele Tiere hatten und in einem Zirkuszelt Kunststücke zeigten.

Mitspielen wollte er jedoch nicht.

Nur gucken.

Auch bei den Gesellschaftsspielen hatte er eigentlich nur zuschauen wollen, Gabriel hatte es allerdings geschafft, ihn dazu zu überreden, dass sie zu zweit als Team antraten. Bei Memory war dann schnell klar gewesen, dass Toby ein Ass darin war, sich die Positionen der verschiedenen Bilder zu merken und Pärchen zu finden. Puzzeln mochte er auch sehr gern und fand die zusammenpassenden Teile erstaunlich schnell.

Das absolute Highlight war aber das Plätzchenbacken gewesen. Beim Teigausrollen hatte er wieder nur zugesehen, aber das Reindrücken der Förmchen hatte er nach Ellas gutem Zureden ausprobiert und als sie ihm gezeigt hatte, wie man die Plätzchen mit Zuckerguss und Streudeko verzieren konnte, wenn sie aus dem Backofen kamen, hatte er dabei sofort mitmachen wollen.

»Hey kleiner Mann.« Gabriel setzte sich zu ihm.

Toby sah kurz zu ihm auf, dann steckte er ein Puzzleteil in das Bild eines Bauernhofes, das schon fast fertig war.

»Die anderen sitzen schon alle am Frühstückstisch. Was magst du denn heute essen?«

Da Toby vor allem über Nicken und Kopfschütteln kommunizierte, versuchten sie in der Familie so oft es ging, Ja-Nein-Fragen zu vermeiden, wenn sie mit ihm sprachen, um den Kleinen mit Redeanlässen aus seinem Schneckenhaus zu locken. Das funktionierte allerdings nicht immer.

Wieder blickte Toby kurz zu ihm, dann hob er unsicher die Schultern und schüttelte den Kopf.

»Hmmm.« Gabriel nahm eins der Puzzleteile und hielt es ihm hin. »Was willst du mir denn damit sagen? Dass du keinen Hunger hast?«

Toby nickte, nahm das Teil und steckte es ohne lange überlegen zu müssen an seinen Platz.

»Und warum hast du keinen Hunger?«

Toby schwieg und steckte ein weiteres Puzzleteil dahin, wo es hingehörte.

»Hast du Angst davor, was bei der Untersuchung von deiner Hand passiert?«, fragte Gabriel weiter, als er keine Antwort bekam.

Als Carltons Sekte in der Nacht des Frühlingsäquinoktiums das erste Ritual mit den Kindern durchgeführt hatte, hatten Massaker und Geisterbändigen Toby so sehr traumatisiert, dass er sich danach dem Geisterbändigen verweigert hatte. Da die Sekte ihm Ungehorsam aber nicht hatte durchgehen lassen, brach man ihm zur Strafe die linke Hand und hatte sich nie darum gekümmert, die Verletzung ordentlich zu versorgen.

Die Folge war, dass Toby noch immer unter Schmerzen litt und sich in den letzten Monaten eine Schonhaltung angewöhnt hatte, die seine Hand so gut wie nutzlos machte. Phil hatte deshalb bei einer Kollegin, die auf Kinderorthopädie spezialisiert war, um einen Termin gebeten, und da heute aufgrund des Nebellockdowns einige Patienten abgesprungen waren, konnten sie nach dem Frühstück zu ihr ins Krankenhaus fahren, um Tobys Hand untersuchen zu lassen.

Schon als sie ihn vorhin beim Anziehen darauf vorbereitet hatten, war allerdings klar geworden, dass Toby die Vorstellung, ins Krankenaus zu fahren, nicht mochte. Offen dagegen protestiert, hatte er jedoch nicht. Was Ungehorsam ihm einbringen konnte, hatte er schließlich ziemlich schmerzhaft erfahren müssen. Er war aber sehr still geworden und hatte den gesamten Morgen kein Wort mehr gesagt.

Bei Gabriels Frage verharrte der Kleine und drückte den Flickenteddy, den Ella ihm geschenkt hatte, fest an sich. Der Bär war sein ständiger Begleiter, meistens eingeklemmt unter seinem linken Arm, weil er die linke Hand fast immer schützend gegen seine Brust hielt, damit nichts dagegen stoßen konnte. Angst flackerte in seinem Blick und es tat Gabriel in der Seele weh, als er sich an das erinnerte, was Leo ihnen über die Sekte erzählt hatte.

Sie hatten keine Angst haben dürfen.

Wer Angst hatte, wurde bestraft.

»Toby, es ist okay, Angst zu haben«, versicherte er. »Jeder hat mal Angst. Du, ich - sogar Matt hat manchmal Angst, obwohl er so groß und stark ist. Niemand hier in dieser Familie wird böse, wenn du Angst hast. Niemand bestraft dich deshalb oder tut dir weh. Das verspreche ich dir.«

Wieder flackerte Tobys Blick und es war nicht zu übersehen, dass er nicht sicher war, ob er Gabriel glauben konnte.

Der schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Angst ist etwas ganz Normales und manchmal ist sie absolut richtig. Du hast Angst vor Geistern, weil du weißt, dass sie gefährlich sind. Sie können dir wehtun und dich krank machen, deshalb ist es völlig in Ordnung, wenn du Angst vor ihnen hast und sie nicht mehr bändigen willst.«

Himmelblaue Kinderaugen sahen ihn groß an.

Vorsichtig.

Taxierend.

Aber zumindest nicht mehr mit diesem ängstlichen Flackern.

Das verbuchte Gabriel als Erfolg und sprach weiter. »Es gibt aber auch Dinge, vor denen hat man nur Angst, weil man sie nicht kennt. So wie die Untersuchung, zu der wir nachher fahren wollen.« Er hielt Tobys Blick fest. »Du hast Angst, weil du nicht weißt, was die Ärztin da mit dir macht und ob das vielleicht wehtut, stimmt's?«

Toby nickte zögernd.

Gabriel deutete auf die Hand, die der Kleine gegen seine Brust hielt. »Ich weiß, wie weh eine kaputte Hand tut. Als ich so alt war wie Cam und Jules bin ich ziemlich schlimm gestürzt und hab mir den Arm gebrochen. Da war er so ähnlich kaputt wie deine Hand. Soll ich dir zeigen, was mein Arzt damals mit mir gemacht hat? Dann weißt du, was die Ärztin nachher bei dir machen wird. Ich wette, dann ist die Angst vor der Untersuchung nicht mehr so schlimm.«

Er hielt Toby seine Hand hin. Der zögerte, legte dann aber seine Hand in Gabriels.

Noch ein kleiner Erfolg.

Gabriel freute sich innerlich und fuhr sanft mit dem Daumen über die verkrampfte Kinderhand.

»So ähnlich wird die Ärztin das nachher auch machen.« Ganz sacht massierte er das Gelenk. »Und sie wird die Hand ein bisschen hin und her bewegen.«

Sofort zog Toby die Hand wieder zurück.

»Ich weiß, das tut weh«, gestand Gabriel ihm zu. »Aber wenn die Ärztin herausfindet, was genau dir wehtut, kann sie dir helfen und dafür sorgen, dass es aufhört. Wahrscheinlich bekommst du eine Zauberschiene. Da kommt deine Hand rein und mit ihr wird sie wieder gesund. Dann ist sie bald bestimmt genauso stark wie deine andere Hand und du kannst wieder mit beiden Händen spielen. So wie früher. Das wäre doch super, oder?«

Einen Moment lang saß Toby ganz still da, dann schimmerten plötzlich Tränen in seinen Augen.

»Hey, was ist los?«, fragte Gabriel erschrocken.

Er hatte gehofft, Toby mit seinen Worten die Angst zu nehmen und ihn aufzumunternd. Dass er ihn stattdessen jetzt zum Weinen gebracht hatte, fühlte sich schrecklich an. Rein aus Reflex streckte er die Hand aus, um den Kleinen in den Arm zu nehmen, doch Toby wich vor ihm zurück. Gabriels Herz zog sich zusammen und er hatte keine Ahnung, was zum Henker er falsch gemacht hatte.

»Okay, ich weiß, du redest nicht gern. Aber wenn du mir sagst, was dich gerade so traurig macht, weiß ich vielleicht, wie ich dich wieder glücklich machen kann.«

Aus irgendeinem Grund schienen die Worte es nur noch schlimmer zu machen. Toby schluchzte auf und grub sein Gesicht in den Teddy, den er fest an sich gepresst hielt.

Hilflos blickte Gabriel auf das Häufchen Elend, das mit bebenden Schultern vor ihm saß. Völlig überfordert handelte er wieder bloß aus dem Bauch heraus, ohne zu wissen, ob es das Richtige war, weil Toby durch sein Zurückweichen eigentlich signalisiert hatte, dass er keine Berührungen wollte. Aber Gabriels Bauchgefühl schrie, dass dieser kleine Kerl jetzt gerade nichts mehr brauchte als Nähe und das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

»Komm her.«

Er nahm Toby in seine Arme. Der versteifte sich kurz, ließ es dann aber geschehen und sank schluchzend gegen Gabriels Brust. Gabriel schlang seine Arme um ihn und versuchte ihn mit seiner Silberenergie zu beruhigen. Solange er allerdings nicht wusste, was genau das Problem war, konnte er nur im Trüben fischen, und das hier schien keiner dieser Momente zu sein, wo da zu sein mehr zählte als Worte. Hier musste irgendetwas geklärt werden, das dem Kleinen furchtbaren Kummer bereitete.

»Toby, ich weiß, dass du ein sehr cleverer Junge bist«, sagte Gabriel sanft in den himmelblauen Haarschopf. »Wenn du mir erzählst, was los ist, finden wir zusammen bestimmt einen Weg, damit du nicht mehr so traurig sein musst.«

Er merkte, dass Toby ihm zuhörte. Einen Moment lang schien der Kleine mit sich zu ringen, dann klammerte er die Finger seiner gesunden Hand in Gabriels Pullover und sprach tatsächlich.

»B-bitte bring mich nicht weg«, schluchzte er gegen Gabriels Brust. »I-Ich will nicht in das Ha-Haus für Kranke. Ich will hierbleiben. Bei L-Leo. Bei euch. Die Hand ist nicht so sch-schlimm. Ich kann trotzdem stark sein. Bitte! Bitte bring mich nicht weg!«

Der letzte Satz ging in so verzweifeltem Schluchzen unter, dass die Worte kaum noch zu verstehen waren und der schmächtige Körper bebte in Gabriels Armen.

Gabriel fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. »Himmel, Toby, niemand bringt dich von hier weg!«

Er drückte ihn fest an sich, als ihm klar wurde, was los war. Carltons Leute hatten die Kinder, die im Training oder während der Rituale gestorben waren, weggebracht und den übrigen gedroht, sie ebenfalls wegzubringen, wenn sie zu schwach, zu ängstlich oder ungehorsam waren.

»Hast du gedacht, wir bringen dich ins Krankenhaus und lassen dich da? Weil wir denken, dass du mit der kaputten Hand nicht stark bist und wir dich deshalb nicht mehr hierhaben wollen?«

Toby antwortete nicht. So viele Sätze wie gerade hatte er noch nie an einem Stück gesprochen, seit er hier war. Weitere schienen jetzt nicht mehr drin zu sein. Er krallte seine Finger jedoch noch fester in den Stoff von Gabriels Pullover, als könnte er sich so an ihm festhalten, damit Gabriel ihn nicht weggab.

Gabriel hielt ihn im Arm und schickte dem Kleinen eine weitere riesige Welle Sicherheit und Geborgenheit.

»Toby, du musst nicht von hier fort. Ganz egal wie stark oder schwach du bist, du bleibst hier bei uns. Außerdem hat stark sein nicht nur etwas mit einem starken Körper zu tun oder wie gut jemand Geister bändigen kann. Du redest nicht gern, aber du hast mir gerade trotzdem erzählt, was los ist und was dich so schrecklich traurig macht. Über etwas zu reden, ist auch stark, denn das traut sich nicht jeder. Ich bin unglaublich stolz auf dich, dass du so stark und mutig warst, es mir zu erzählen. Und ich gebe dich ganz sicher nicht irgendwo ab. Du bleibst hier und Leo auch. Jeder von uns hat euch zwei schon wahnsinnig lieb und keiner würde euch wegbringen. Schon gar nicht, wenn einer von euch wirklich mal krank und schwach ist. Hier in diesem Haus sind die Menschen ganz anders als die Männer, bei denen du und Leo vorher gelebt habt. Wenn ihr mal krank und schwach seid, kümmern wir uns ganz besonders gut um euch, damit es euch schnell wieder besser geht und ihr wieder gesund werdet.«

Während er leise auf Toby einredete, strich er ihm versichernd über den Rücken. Das Herz des Kleinen schlug heftig gegen seine Rippen, doch sein Schluchzen war weniger geworden und Gabriel merkte, dass Toby ihm aufmerksam zuhörte.

»Deswegen fahren wir nachher mit dir ins Krankenhaus. Wir haben gesehen, dass es dir mit deiner Hand nicht gut geht. Sie tut dir weh und du kannst sie nicht so bewegen wie deine andere. Wir wollen, dass das wieder besser wird, dass du keine Schmerzen mehr hast und wieder mit beiden Händen spielen kannst. Die Ärztin im Krankenhaus weiß, was man tun muss, damit kaputte Hände wieder gesund werden. Sie guckt sich deine Hand an und erklärt uns, was wir tun können, damit es dir bald wieder gut geht. Dad und ich bleiben dabei die ganze Zeit bei dir. Wir lassen dich nicht allein und wir geben dich dort auch nicht ab. Sobald die Ärztin uns ein paar Tricks verraten hat und du die allerbeste Zauberschiene für deine Hand bekommen hast, fahren wir wieder nach Hause. Hier hin. Mit dir. Das verspreche ich dir.«

Das Schluchzen war mittlerweile verstummt, trotzdem hielt Gabriel Toby noch einen Moment länger im Arm und streichelte ihm weiter über den Rücken. Schließlich schob er ihn auf seinem Schoß jedoch ein Stück von sich, um ihm in die Augen sehen zu können.

»War das der Grund für die schlimme Angst? Du dachtest, dass wir dich wegbringen?«

Toby hielt seinem Blick nur kurz stand, dann senkte er den Kopf und nickte.

Sanft legte Gabriel ihm einen Finger unters Kinn, um Tobys Blick wieder zu heben. »Toby, alle hier haben dich gern. Und für Leo gilt genau dasselbe. Wir freuen uns, dass ihr jetzt hier bei uns wohnt und wir wären alle schrecklich traurig, wenn ihr wieder fort wärt. Deswegen würden wir niemals einen von euch wieder wegbringen. Auf gar keinen Fall. Glaubst du mir das?«

Ein paar letzte Tränen liefen ihm über die Wangen, als Toby schließlich zögernd nickte.

Gabriel hoffte aus tiefstem Herzen, dass der Kleine ihm wirklich glaubte. Hilflos gegen Kinderkummer zu sein, war ein fürchterliches Gefühl. In Ermangelung eines Taschentuchs wischte Gabriel seinem Schützling sacht mit seinem Ärmel die Tränen vom Gesicht. Vor der Fahrt zur Klinik würde er sich ohnehin noch mal umziehen müssen. Einen vollgeschnieften Pullover nahm er jedoch gerne in Kauf, wenn es Toby dafür jetzt wieder besser ging. Liebevoll strich er ihm die Haare aus der Stirn und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

»Und? Haben wir es zusammen geschafft, die schlimme Angst zu verjagen?«

Toby nickte zaghaft.

»Perfekt. Wollen wir dann jetzt zu den anderen gehen und frühstücken? Ich brauche nämlich dringend einen Kaffee und ich wette, Granny hat einen wahnsinnig leckeren Kakao für dich.«

Ein winziges Lächeln huschte über Tobys Gesicht. Er liebte Grannys Kakao und nickte erneut.

Zärtlich zauste Gabriel ihm noch einmal durchs Haar. »Na, dann komm.«

Als Gabriel sich auf die Füße gestemmt hatte, schob sich eine kleine Kinderhand in seine und Toby blickte scheu zu ihm hoch, wie um zu fragen, ob es in Ordnung war, Gabriels Hand zu nehmen.

Gabriels Herz ging auf. Bisher hatte Toby noch nie von sich aus Kontakt gesucht. Sofort drückte er die kleine Hand versichernd und kniete sich zu ihm herab, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.

»Du darfst immer meine Hand nehmen, wenn du das möchtest. Immer. Okay?«

Mit einem ermutigenden Lächeln drückte er Tobys Hand noch einmal, damit der unsichere Blick aus den Kinderaugen verschwand.

Toby erwiderte Gabriels Lächeln schüchtern und nickte.

»Gut.«

Gabriel richtete sich wieder auf und als er sich mit Toby an der Hand umwandte, sah er überrascht, dass sein Dad im Durchgang zum Flur lehnte und sie offenbar beobachtet hatte.

»Hey. Seit wann stehst du denn schon da?«

Schmunzelnd hob Phil die Schultern. »Eine ganze Weile.«

»Na toll. Du hättest gern jederzeit tatkräftig ins Geschehen eingreifen dürfen«, grummelte Gabriel, als er mit Toby zu ihm trat.

Liebevoll klopfte Phil ihm auf die Schulter und schüttelte den Kopf. »Warum? Du hattest doch alles perfekt im Griff.«

Kapitel 4

Eine gute halbe Stunde später blickte Phil auf die bunte Küchenuhr und leerte seinen Tee.

»Okay, so langsam sollten wir los.«

Gabriel wandte sich zu Toby, der neben ihm saß und Apfelschnitze gegessen hatte, bei Phils Worten jetzt aber innehielt und von ihm zu Gabriel sah.

»Bist du bereit, kleiner Mann?«, fragte Gabriel ermutigend.

Unsicher hob Toby die Schultern.

»Keine Sorge. Wir sind ganz schnell wieder zurück«, versprach Gabriel ihm. »Immerhin will Ella ja heute Nachmittag mit euch Kuchen backen.«

»Aber so was von«, bestätigte Ella sofort.

Als Gabriel mit Toby zum Frühstück in die Küche gekommen war und die anderen das verweinte Gesicht des Kleinen gesehen hatten, hatten sie natürlich wissen wollen, was los gewesen war und Gabriel hatte sie über Tobys Missverständnis aufgeklärt.

»Wegbringen?!« Ungläubig hatte Ella mit dem Kopf geschüttelt und erst Tobys, dann auch Leos Blick gesucht. »Himmel, ihr zwei seid jetzt unsere Minis! Wir geben euch nie wieder her! Und ganz sicher bringt euch keiner von hier weg!«

Auch jetzt suchte Ella wieder Tobys Blick. »Euer erster Regenbogenkuchen wird etwas ganz Besonderes.«

Toby mochte Ella. Sie hatte ihm gezeigt, wie man mit Puzzles spielte, las Bücher vor und guckte mit ihm die Bilder darin an. In einem der Bücher gab es einen Regenbogen und er hatte nicht gewusst, was das war. Er wusste oft nicht, wie die Sachen hießen, die Ella ihm auf den Bildern zeigte. Aber sie verriet ihm dann die Namen der Sachen und er versuchte, sie sich zu merken. Wie bei Memory.

Den Regenbogen fand er toll, weil er bunt und fröhlich aussah. Und weil er ihn so toll fand, hatte Ella versprochen, dass sie heute einen Regenbogenkuchen backen würden. Er hatte sich darauf gefreut und jetzt freute er sich noch mehr, weil er nicht in dem Haus für Kranke bleiben musste, wenn sie da gleich hinfuhren.

Gabriel hatte versprochen, dass er ihn wieder mit nach Hause nahm. Die anderen hatten auch gesagt, dass er hierbleiben durfte. Also brachten sie ihn wohl wirklich nicht weg und das fühlte sich in ihm drin ganz leicht und warm und glücklich an.

Und er war wirklich schon gespannt auf den Regenbogenkuchen. Er wusste, wie ein Kuchen aussah, aber er wusste nicht, wie Ella den Regenbogen vom Himmel da reinmachen wollte. Aber Plätzchen backen war toll gewesen, dann würde Kuchen backen bestimmt auch toll werden, weil Ella alles bunt und süß und fröhlich machte.

Am aller Tollsten war aber, dass er nicht von hier wegmusste.

»Komm, Toby!«, riss Leo ihn aus seinen Gedanken. »Wir holen unsere Jacken und Schuhe!«

Er schob seinen Stuhl zurück.

Connor hob eine Augenbraue. »Also ich glaube, du fährst gar nicht mit.«

»Doch natürlich«, antwortete Leo völlig selbstverständlich, während er sich an ihm und Matt vorbeizwängte. »Ich geh immer mit Toby. Immer.«

Damit lief er hinaus auf den Flur und Toby folgte ihm.

»Na, damit hätten wir das ja geklärt.« Schmunzelnd sah Matt zu Gabriel. »Ich hoffe, du siehst, wie ähnlich du und dieser kleine Mini-Beschützer euch seid.«

»Ja, klar«, schnaubte Gabriel ironisch.

»Nach Tobys kleinem Breakdown wäre es aber vielleicht wirklich gut, wenn Leo mitkommen würde«, überlegte Phil und wandte sich an Matt. »Ich weiß, eigentlich hast du den Tag Auszeit noch mehr als verdient und so ein Besuch im Krankenhaus ist kein Highlight. Aber wenn du mitkommen würdest -«

»Natürlich komme ich mit«, fiel Matt ihm ins Wort. »Leo probt sonst sicher den Aufstand, wenn wir ihn hierbehalten. Noch ist es einfach zu früh, die beiden zu trennen, selbst wenn es nur für eine kurze Zeit wäre. Außerdem hab ich nach zwei Tagen Lockdown absolut nichts gegen einen Vorwand, das Haus mal für eine Weile zu verlassen.«

Cam stöhnte. »Ich weiß genau, was du meinst.«

Hoffnungsvoll sah er zu seinem Dad. »Kann ich nicht auch mitkommen? Wenn Gabe und Matt die Minis tragen, kann ich euch beschützen. Der Nebel da draußen ist immer noch gefährlich und ich halte mich an die Absprache: Keine Zwillingsenergie bis ich sie trainiert hab.«

Phil schüttelte den Kopf. »Ich verstehe, dass dir hier drin so langsam die Decke auf den Kopf fällt, und es ist lieb, dass du uns helfen willst. Aber das ist nicht nötig. Ich kann im Krankenhaus in die Tiefgarage fahren, die ist gegen Seelenlose abgeschottet.«

»Außerdem steht für dich gleich Homeschooling an«, erinnerte Edna ihn. »Wenn wir am Donnerstag nach Cornwall fahren, wollt ihr sicher keine Aufgaben übers Wochenende mitnehmen, oder? Also werdet ihr ein bisschen vorarbeiten müssen.«

Diesmal stöhnte nicht nur Cam. Auch Jaz, Ella und Jules stimmten mit ein.

Schmunzelnd blickte Sue von den vieren zu ihrer Schwiegermutter. »Bevor du sie mit Mathe und Physik quälst, wäre aber vielleicht ein kurzes Geistertraining nicht schlecht. Das könnte man sicher als Sportunterricht verbuchen, oder nicht?«

Edna nickte großmütig. »Sicher. Ich formuliere das Stundenziel dann als Überlebenstraining im Rahmen des Begleitschutzes von Familienmitgliedern zu Nebelzeiten.«

»Yes!«

Jaz boxte in die Luft und auch Cam wirkte gleich deutlich fröhlicher. Selbst wenn sie das Haus nur kurz verlassen würden, um Phil, Gabriel und Matt den Weg zum Auto geisterfrei zu machen, wäre es eine Wohltat, mal wieder nach draußen zu kommen.

»Du sparst dir den Begleitschutz noch«, sagte Phil an Jules gewandt. »Sollte der Nebel morgen weg sein, könnt ihr mit den Reapers in den St James's Park fahren, um dort mit der Zwillingsenergie zu experimentieren. Dann darfst du mit - unter der Voraussetzung, dass du dich beim Geisterbändigen noch zurückhältst. Aber uns da draußen gleich womöglich den Weg zum Auto freizukämpfen, steht für dich noch außer Frage.«

Jules seufzte, nickte aber.

Sein Milzriss heilte zwar gut, die Verletzung war aber gerade mal drei Wochen her. Bei bestimmten Bewegungen zwickte seine linke Seite noch immer und auch sein Durchhaltevermögen ließ noch zu wünschen übrig. Es nervte, aber er war froh, dass sein Dad ihm morgen den Park erlaubte, wenn das Wetter es zuließ. Er wollte bei Cam sein, wenn der seine Zwillingskraft ausprobierte, und dafür würde er sich heute noch schonen.

»Geht ihr nur raus und stürzt euch in wilde Geisteraction«, meinte er deshalb und verzog das Gesicht. »Ich mache in der Zeit dann was anderes total Spannendes. Den Tisch abräumen zum Beispiel.«

Keine zehn Minuten später standen alle einsatzbereit im Flur und Ella schob die Riegel an der Haustür zurück.

»Alle startklar?«, fragte sie über ihre Schulter.

»Jetzt mach schon auf«, grummelte Cam ungeduldig.

Gabriel hatte von seinem Zimmer im zweiten Stock kurz die Lage gepeilt, als er nach oben gegangen war, um sich einen frischen Pullover anzuziehen. Es sah nicht so aus, als lungerten Geister im Crescent Drive herum. Allerdings war der Nebel noch immer ziemlich dicht. Die Sichtweite betrug kaum mehr als zehn oder zwölf Meter.

Ella zog die Tür auf. Sofort schlüpften Cam und Jaz als Erste hinaus, dicht gefolgt von Sky, Connor und Sue.

Cam fröstelte.

Es war kalt und feucht und der dicke Nebel tauchte alles in trübes graues Licht. Es war schon nach halb zehn und trotzdem nicht wirklich hell.

»Spürst du was?«, fragte Jaz leise.

Cam fühlte mit seinem Geistersinn hinaus in die verhangene Umgebung.

»Nein. Keine Biester in der Nähe«, antwortete er dann gerade so laut, dass alle ihn hören konnten.

Es war nicht wirklich verwunderlich, dass keine Geister hier waren. In ihrer Sackgasse war seit zwei Tagen alles abgeriegelt und niemand hatte die Häuser verlassen.

Am Samstag, dem ersten Nebeltag, hatten sich noch recht viele Geister hier herumgetrieben, doch mittlerweile waren sie weitergezogen, weil hier nichts zu holen war. Die Häuser waren zu gut geschützt und die Menschen zu clever. Sie blieben in ihren sicheren vier Wänden.

Andere, belebtere Gebiete lockten da mehr, denn auch wenn in ganz London Lockdown herrschte, gab es systemrelevante Bereiche, in denen weitergearbeitet wurde. Kliniken und Pflegeheime konnten nicht geschlossen werden, was unweigerlich dazu führte, dass dort zu Schichtwechseln Personal kam und ging. Außerdem brachten Krankenwagen Notfälle, was ebenfalls für Betriebsamkeit sorgte. Auf Geister wirkte das wie Licht auf Motten. Selbstverständlich waren diese Orte gut geschützt. Manche Biester lauerten aber heimtückisch auf abfahrende Wagen und folgten ihnen in der Hoffnung, dass sie irgendwo hinfuhren, wo es weniger sicher war.

Doch nicht nur die Bereiche mit viel Betriebsamkeit zogen Geister an. Auch der Osten der Stadt lockte. Das East End war der ärmste und damit der am schlechtesten geschützte Bezirk Londons. Auch das spürten die Seelenlosen und gingen vermehrt dort auf Opferjagd.

»Okay, da hier keine Geister lauern, lasst uns schnell machen.«

Sky scheuchte Cam und Jaz Richtung Vorgartentor, während sie, Connor und Sue sich neben dem Weg positionierten. Connor hatte seine Auraglue gezogen, die anderen hielten ihre Silberenergie bereit. Alle sahen sich aufmerksam um, viel zu sehen gab es jedoch nicht. Nur zäh und widerstrebend gab die dicke Nebelsuppe ein paar schemenhafte Umrisse frei.

Ihr Familienkombi.

Der Kombi von Matt.

Der Dienstwagen der Spuks.

Ihr Polo. Dahinter der große Baucontainer.

Die Villa auf der anderen Straßenseite sowie der Waldrand zu ihrer Linken waren dagegen vollends von den milchigen Schleiern verborgen. Auch Geräusche schien der Nebel zu schlucken. Abgesehen von ihren Schritten war es totenstill.

Jaz und Cam eilten zum Vorgartentor und traten auf den Bürgersteig. Phil war dicht hinter ihnen, in der einen Hand eine Auraglue, in der anderen den Schlüssel zum Familienkombi. Per Fernbedienung entriegelte er den Wagen und sank rasch auf den Fahrersitz, während Jaz und Cam die Türen zur Rückbank öffneten.

Vom Hausweg aus gab Sue Matt und Gabriel das Go-Signal. Da Geister besonders sensible Antennen für die Lebensenergie von kleinen Kindern hatten, hatten Gabriel und Matt mit ihren Minis im Haus gewartet, bis alles vorbereitet war. Jetzt eilten sie von der Haustür zum Wagen, Toby und Leo auf ihren Armen, eingewickelt in Silberwesten, die sie vor den Geistern abschirmten. Hastig zwängten sie sich auf die Rückbank und Jaz und Cam warfen mit einem »Bis später!« die Türen zu.

Ein frohlockender Schrei hallte von Westen aus ihrer Siedlung zu ihnen herüber, als Phil den Motor anließ. Cam und Jaz spähten in die Richtung des Schreis, aber der Nebel machte ihn dumpf und es war schwer zu sagen, wie weit der Hocus entfernt war.

»Cam, Jaz, kommt rein!«, rief Sky. »Ich weiß, es juckt euch in den Fingern, aber keine vermeidbare Geisteraction. Die Minis müssen nachher wieder unbeschadet ins Haus, da wäre es nett, wenn es dabei genauso ruhig bliebe wie jetzt und wir nicht vorher zig Geister herlocken.«

Jaz seufzte schicksalsergeben. »Okay. Aber können wir dann bitte später ein bisschen Action haben, wenn alle in Sicherheit sind?«

Sky legte ihr einen Arm um die Schultern, als Jaz auf dem Weg zur Haustür in wenig freudiger Erwartung auf die Matheformeln, die jetzt auf sie warteten, an ihr vorbeitrottete.

»Schauen wir mal.«

 

Im Wagen schaltete Phil das Radio ein und drehte die Musik auf, um die Schreie des Hocus' zu übertönen. Der erste war trotzdem zu ihnen gedrungen und hatte beide Minis erschrocken zusammenzucken lassen.

»Schon okay.« Matt schob seine Hand unter die Silberweste und legte sie beruhigend auf Leos Rücken. »Das ist nur ein Hocus so wie die von vorgestern.«

Am Samstag hatten etliche Hocusse aus dem Heath den aufziehenden Nebel mit frenetischem Kreischen und Heulen begrüßt, was sowohl Toby als auch Leo erschreckt und verstört hatte. Wo immer die Sekte sie versteckt gehalten hatte, Hocusse hatte es dort anscheinend nicht gegeben, denn dass Geister schreien konnten, war für die zwei neu gewesen.