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Kunst, Fakes, Roboter - Fragen über Fragen! Aurelio Ferrucci, ehemaliger Meisterfälscher und nun gefragter Kunstexperte, behauptet, dass man Gemälde als echt oder falsch erkennen kann, indem man sich ihrer Aura aussetzt. Doch ist das möglich? Hat der große Michelangelo seinen Kollegen Botticelli als Stümper verspottet, der keine Füße malen kann? Ein Brief gibt Hinweise darauf. Aber ist das Autograf echt? Wurde Papst Benedikt in der Sixtinischen Kapelle vom Satan heimgesucht und wir haben aus gutem Grund nie etwas davon erfahren? Und was hat der weibliche humanoide Roboter Sofonisba Modigliani mit alldem zu tun? Können wir unseren Augen und Ohren noch trauen? Wilfried Schaus-Sahm seiner Science-Fiction-Geschichte aus dem Jahr 2008 ein literarisches Streiflicht auf ein Thema unserer Zeit.
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Seitenzahl: 172
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Im Vorfeld der Veröffentlichung dieses Romans wurden Plagiatsvorwürfe erhoben. Es wird behauptet, dass Teile des Textes der verschollenen Biografie "The Dreamborn - Leben und Tod von Sofonisba Modigliani" entnommen sein sollen, die von Artemisa Rauschenberg verfasst wurde, der inzwischen ebenfalls verstorbenen Schwester von Sofonisba Modigliani. Der Autor weist diese Behauptungen bis zum Beweis des Gegenteils zurück.
Floras wenig göttliche Füße
Frida Pollock 12.04.08
Wir sollten Ferrucci fragen
Ognissanti
Falsch! Falsch! Falsch!
Evento insolito
Flavio
Lord Hamilton braucht Geld
Michelangelos Brief
Showtime!
Sofonisba Modigliani
RoboArt
Crash
Das Begräbnis
Ananke
Das Gerücht
Anhang
„Die Welt will betrogen sein, also werde sie betrogen.“ (Sebastian Brant, 1458-1521, Das Narrenschiff)
„Ich bins, Lydia. Kannst Du vorbeikommen? Es ist wichtig! Es geht um Botticelli.“
Oliver Krol absolvierte seinen morgendlichen Spaziergang. Der Arzt hatte ihm Bewegung verordnet. Die Mahnung war deutlich. Es sei zwar löblich, dass er mit dem Rauchen aufgehört habe, aber er sollte sein Übergewicht ernst nehmen. Er war nicht der Typ, der sich im Fitnessstudio quält, und so lief es auf eine übliche Runde um den Weiher hinaus, der nicht weit hinter seinem Haus lag. Zumindest ein kleiner Sieg gegen den inneren Schweinehund.
Lydia Volland hatte er vor mehr als zwanzig Jahren während des Studiums kennengelernt. Als zielstrebiger angehender Ingenieur beschäftigte er sich mit der Geschichte des Brückenbaus, sie war Feuer und Flamme für die Geschichte der Malerei.
Damals hatte sich spontan ein Spielchen zwischen ihnen entwickelt. Während er über ihre brotlose Kunst spöttelte, konterte sie mit seinem angeblichen Kulturbanausentum.
Nach den Examina blieben sie aneinanderhängen, pflegten über zwei Nachbarstädte hinweg eine lockere Fernbeziehung. Er gründete in Köln ein Unternehmen, das sich auf Wasserwirtschaft konzentrierte. Sie lebte in Düsseldorf, machte sich einen Namen als Kunstsachverständige und führte ihre Geschäfte von einem Penthouse Apartment mit Dachgarten, das sie dank einiger günstiger Kontakte hatte erwerben können.
Beide gingen in ihren Berufen auf. Kinder und Familie gehörten nicht zum Lebensentwurf. Es ging ein paar Jahre gut. Sie konnten mit ihren Gegensätzen umgehen, aber irgendwann ließ sich ihr unterschiedlicher Blick auf die Welt nicht mehr vereinbaren. Er, nüchtern und prosaisch in seinen Urteilen, trat immer dominanter auf, sie hielt immer selbstbewusster dagegen. Während die Frotzeleien bissiger wurden, kam der sexuelle Appetit aufeinander abhanden. Es lief nicht mehr.
Seine Leibesfülle machte ihn mehr und mehr unattraktiv. Der Herr Ingenieur konnte die eigenen Längen- und Breitenmaße nicht mehr in eine stimmige Korrelation bringen. Sie ließ sich nicht gehen, wollte nicht als Fremde in der eigenen Weltanschauung wandeln und versuchte, mit einem definierten Körper ihre Schönheitsideale nicht zu verraten. Die Spannung verflog, sie unterzogen ihr Verhältnis einer nüchternen Revision, deren Resultat dennoch unterm Strich auf ein beachtliches Maß gegenseitiger Wertschätzung hinauslief. Auf dieser Basis blieben sie befreundet.
„Worum geht es genau?“
„Ich bekomme heute Mittag Besuch von Docteur Jérôme Nagelmackers, einem belgischen Kunstsammler. Ich hätte dich gerne dabei.“
Er steckte das Handy ein, ging zurück, duschte und machte sich auf den Weg.
Sie stand bereits in der Tür. Groß. Schlank. Mit dieser blonden Mähne, die ihn schon damals an ihr fasziniert und erotisch stimuliert hatte. Die Natur hatte ihr mit nicht zu bändigenden Wirbeln eine wilde Création geschenkt, die jeden Coiffeur vor Bewunderung sprachlos machte. Sie färbte das Haar jetzt einen Ton heller, um die Alterung des Hauttons zu kontern. Sie war nicht gewillt, der Verwitterung freien Lauf zu lassen. Alles war ein wenig getuned.
Auch mit dem vorsichtigen Einsatz von Botox, Fillern und Hyaluron im Gesicht hatte sie begonnen. Seit einem Jahr trug sie eine übergroße schwarze Designerbrille von Lindberg. Als einziges Accessoire fiel ein Spannring mit einem weißen Diamanten am Mittelfinger der linken Hand auf, womit sie ungewollt einen ´Fingerzeig` auf ihr wahres Alter gab. Die zunehmend faltigen Hände ließen sich nicht verbergen.
Dass Ästhetik in Vollands Leben eine wichtige Rolle spielte, war auf den ersten Blick zu erkennen, wenn man ihre Wohnung betrat. Ein kunterbuntes, aber geschmackvoll zusammengestelltes Potpourri aus Möbeln und Designobjekten, kleinen Skulpturen und Gemälden, die sie bei Atelierbesuchen erstanden hatte. All das strahlte dennoch Klarheit aus. Die Wände hatte sie in warmen, erdigen Farbtönen gehalten, die eine beruhigende Atmosphäre schufen.
Die Auswahl des Mobiliars ließ ihre Vorliebe für skulpturale Formen und zeitgenössisches Design erkennen.
Sie hatte keinen Innenarchitekten benötigt, um ihre Wohnung einzurichten, erlag auch nicht der Versuchung, ihr Heim zu einer Möbelausstellung umzufunktionieren. Sie verzichtete auf die üblichen Eames- und Le Corbusier-Versatzstücke, kombinierte stattdessen andere Klassiker mit Fundstücken und liebgewonnenen Utensilien.
Lediglich die teure Küche schien nicht recht zu passen. Da Volland meist auswärts aß, wurde sie nicht mit Leben gefüllt.
Ihr extravagantes Penthouse stand in krassem Gegensatz zu Krols sachlichem Bungalow am Rande eines Gewerbegebiets. Bei der Einrichtung fiel nur die ständig wachsende Sammlung von Flugzeugmodellen auf, die er während des Wehrdienstes bei der Luftwaffe begonnen hatte. Auf einer schlichten Kommode thronte als Prunkstück eine handgefertigte Edition der Submarine Spitfire, eines legendären britischen Jagdflugzeugs aus dem Zweiten Weltkrieg.
Das Auto parkte er auf der Straße, denn in der Garage hing mit einer Spannweite von über drei Metern sein ganzer Stolz: eine maßstabsgetreue Nachbildung des legendären Spionageflugzeugs Lockheed SR-71 Blackbird.
Krol hatte viel von seiner Freundin gelernt und mit den Jahren durch sie ein Interesse an Kunst, vor allem an der Malerei - quer durch alle Epochen - entwickelt. Aber er fremdelte mit ihr, wenn sie Gemälde, Plastiken, Installationen ´Arbeiten` nannte und dabei das Wort parfümierte, als verströme es den Duft seltener Rosen aus den mit goldenen Gittern umzäunten Paradiesgärten ihrer Kunstkennergilde.
„Danke, dass Du Dir die Zeit nimmst. Nagelmackers will wissen, ob man sicher sein könne, dass er keiner Fälschung aufgesessen ist. Er hat bei einer Auktion eine große Summe für zwei Botticelli-Zeichnungen auf den Tisch gelegt. Genaues wollte er nicht sagen, aber die Preise für Renaissance-Werke gehen durch die Decke. Nagelmackers kennt das Spiel, ihm ist klar, dass es sich um einen Wettlauf zwischen Fälschern und Experten handelt. Der Fälscher muss selbst Experte auf der Höhe der Zeit sein, wenn seine Fälschungen andere Experten überzeugen sollen. Trotz aller wissenschaftlichen Expertisen kann es vorkommen, dass die Fälscher im Zweikampf mit den Experten gerade die Nase vorn haben. Nagelmackers meint, ich könnte ihm Gewissheit verschaffen. Er hat mir die Bilder durch ein Kunsttransportunternehmen zur Vorbereitung unseres Treffens schon zukommen lassen.“
„Und wahrscheinlich für den Transport auch mit einem netten Sümmchen angemessen versichert.“
„Davon gehe ich aus.“
Er folgte ihr ins Arbeitszimmer, in dem ein mächtiger Archivschrank eine Wand des Raumes einnahm. Die lichtundurchlässig verpackten Rahmen lagen auf dem großen Arbeitstisch bereit. Mit ihren feinen noppenlosen Baumwollhandschuhen breitete Volland die beiden Werke auf der Tischplatte aus. Es war jeweils eine weibliche Figur auf rosafarben eingefärbtem Papier mit Bleiweiß gehöht dargestellt. Die skizzierten Frauen wirkten dadurch fast dreidimensional, als ob Licht auf sie fiele.
„Es sind offensichtlich Zeichnungen vom Modell, um bestimmte Positionen für spätere Gemälde zu studieren und festzulegen. Vergleichbare Skizzen von Botticelli kennt man aus der Sammlung der Medici im Archiv der Uffizien. Es könnte sich um Vorarbeiten zur Gestaltung der Flora in seinem Gemälde La Primavera handeln. Möglicherweise war das Modell Botticellis Muse Simonetta Vespucci, die Regina della Bellezza, von der Dichter wie Bernardo Pulci schwärmten, dass ihre unvergleichliche Schönheit selbst den Tod überwinde.“
Krol warf einen spöttischen Blick auf die Blätter.
„Die arme Frau.“
Sie starrte ihn verblüfft an.
„Wieso?“
„Die Füße! Deine göttliche Flora hat alles andere als göttliche Füße. Die Füße passen nicht. Es ist ein Phänomen, das mich immer schon fasziniert hat. Füße scheinen kleine Geschöpfe für sich zu sein, manchmal innige Verwandte der Person, manchmal wirken sie wie missmutige Begleiter, Fremde, Feinde. Sie haben einen eigenen Charakter, können abstoßend, aggressiv, aber auch zart, verletzlich, erotisch und vieles mehr sein. Es gibt sympathische und unsympathische Füße. Sympathische Menschen können unsympathische Füße haben und umgekehrt.“
„Du verblüffst mich. Mein großer Realist besitzt eine philosophische Ader! Wahrscheinlich hast du in all den Jahren auch schon über meine Füße sinniert. Wie fiel dein Urteil aus?“
„Ich wollte Dir nicht die Komplimente machen, die so offensichtlich sind. Aber zurück zu deinen Botticellis. Diese Füße sind nicht nur einfach unsympathisch, der Zeichnung fehlt jede ernsthafte Präzision. Wo erkennt man einen Knöchel? Die Linienführung des Rists ist unnatürlich. Insgesamt sind die Füße eher grobumrissene Fleischklumpen. So ein Pfusch!“
Sie zuckte zusammen, beugte sich näher über die beiden Blätter.
„Ein Zeh ist tatsächlich zu lang. Jetzt wo Du es sagst! Aber die Darstellung eines längeren zweiten Zehs als Ideal in der damaligen Kunst war vielleicht kein Zufall. Das Phänomen könnte auf das Interesse der Mathematiker im antiken Griechenland am Goldenen Schnitt zurückzuführen sein und wurde dann von den Renaissancemalern möglicherweise übernommen.“
„Das würde den überlangen Zeh erklären. Aber es bleibt dann noch der fleischige, klumpige Fuß. Die Füße sind erst verzeichnet und dann merkwürdig koloriert - sie erscheinen als eigenständige körperliche Gebilde - fast surreal. Du bist hier die Kunsthistorikerin, aber mir als Laien sind diese Defizite bei den anderen Malerfürsten seiner Zeit, Bellini, Mantegna etc. nicht aufgefallen.“
Es klingelte. Sie drehte sich um und verschwand. Während er weiterhin skeptisch die Zeichnungen musterte, hörte er, wie sie den Gast begrüßte und kurz darauf mit ihm den Raum betrat.
Krol schätzte den Mann auf Mitte Fünfzig. Er hatte volles graues Haar und einen sorgsam kurz rasierten ebenfalls grauen Bart. Zum blauen Leinen-Jackett mit weißem Einstecktuch im klassischen Tartan Karomuster trug er ein weißes Leinenhemd, blaue Chinos und hochwertige Lederschuhe, keine Sneakers, die in seinem Alter schnell gezwungen jugendlich wirken könnten. Für den Chef eines großen Unternehmens ein bemerkenswerter Auftritt, der sich vom standardisierten Business-Look deutlich abgrenzte, aber dennoch Seriosität und Autorität signalisierte.
Nagelmackers war Spross aus altem Industrieadel. Er stand einer Unternehmensgruppe vor, die in elf Ländern präsent war und über 2.000 Mitarbeiter beschäftigte.
Das Traditionsunternehmen hatte sich nach einigen Mutationen auf die Produktion von Turbinen spezialisiert.
Krol reichte ihm die Hand.
„Guten Tag, Herr Nagelmackers. Ich bin hier eher interessierter Zaungast. Schön jemanden kennen zu lernen, der einen so erlesenen Geschmack besitzt und es sich auch noch leisten kann, diese Kostbarkeiten sein Eigen zu nennen.“
Nagelmackers reagierte auf das Kompliment mit einer kurz angedeuteten Geste, indem er die rechte Hand zum Herzen führte.
„Ach wissen Sie, ich bin durch und durch Betriebswirt, eigentlich nicht sonderlich kunstaffin. Natürlich besaß unsere Familie eine Sammlung, die größtenteils von meinem Großvater zusammengekauft wurde. Er hatte eine große Liebe für die Impressionisten.
Mein Sammlerinteresse für Kunst ist erst bei einem geschäftlichen Besuch in China geweckt worden. Mein Büro hatte mir für ein paar Off Days ein kurzes Kulturprogramm geschnürt. Dabei habe ich auch mit einer chinesischen Delegation das ´Künstlerdorf` Dafen besucht.
Ein faszinierender Ort. Die Einwohner leben davon, Kopien berühmter Gemälde zu erstellen. Dort stapeln sich Picassos, Magrittes, Monets etc. Einen Van Gogh können Sie für 30 Euro kaufen und sich zuhause an die Wand hängen.
Ich wette darauf, dass auf verschlungenen Wegen auch der eine oder andere davon im Kunsthandel als Van Gogh-Original auftaucht. An einen van Eyck allerdings traut sich aus gutem Grund keiner der etwa 300 Kopisten dort heran.
Als ich all die Reproduktionen in Dafen gesehen habe, ist bei mir der Ehrgeiz gereift, Originale zu besitzen. Ich habe mich beraten lassen und mich auch selbst ein wenig in die Kunstgeschichte vertieft. Es wurde ein wichtiges Äquivalent in meinem Leben, denn mein Alltag ist ansonsten, wie Sie sich vorstellen können, von Zahlen, Tabellen, kurz aufeinander folgenden Meetings geprägt.
Die Malkunst der Renaissance hat mich tief beeindruckt. Ich bewundere zum Beispiel die unglaubliche Detailtreue, den Realismus und das geheimnisvolle Leuchten der Farben bei van Eyck. Irgendwann habe ich dann Botticelli für mich entdeckt und konnte die beiden Zeichnungen bei einer Auktion ersteigern. Sie sind als Wandschmuck für mein Büro in London gedacht.
Aber: Caveat Emptor, Käufer sei achtsam, rieten schon die alten Römer. Deshalb wollte ich verschiedene Meinungen von Fachleuten einholen und Frau Dr. Volland wurde mir allgemein empfohlen.“
Er lächelte sie an.
Volland reagierte ihrerseits mit einer einladenden Geste.
„Darf ich bitten?“
Sie versammelten sich vor ihrem Arbeitstisch. Krol konnte es nicht lassen, Nagelmackers direkt auf seine ´Entdeckung` anzusprechen.
„Ich möchte einmal kurz advocatus diaboli spielen. Kann es sein, dass der Künstler ein eigenwilliges Verhältnis zu weiblichen Füßen hatte? Eine Art umgekehrter Fußfetischismus? Ein Komplex, eine Macke? Das wäre dann aber schon sehr schräg. Scherz beiseite, aber Frau Dr. Volland und mir ist aufgefallen, dass Floras Füße in diesen möglichen Vorstudien zur Primavera verzeichnet sind.“
Nagelmackers stutzte, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf die Blätter. Nach einer Weile schüttelte er verwundert den Kopf.
„Sie könnten recht haben. Das ist tatsächlich merkwürdig. Ich habe mich vor kurzem mit Gustave Doré beschäftigt. Er hat genauso wie Botticelli Dantes Göttliche Komödie illustriert. Nun gut, dazwischen liegen ein paar Jahrhunderte, aber bei Doré tauchen hunderte von Füßen in allen erdenklichen Positionen auf. Alle penibel und mit angemessener anatomischer Sorgfalt gezeichnet.“
Krol brachte eine weitere Überlegung ins Spiel.
„Ich habe schon darüber nachgedacht, ob er die Partien vielleicht Schülern seiner Werkstatt zur Fertigstellung überlassen hat, nachdem er mit seiner Domäne fertig war, die Lehrlinge also die Füße verkorkst haben. Gerade weil Botticelli seine Schule auf das Designo, die Kunst der Linienführung gründete, hätte er das einem Lehrling, der sowas abliefert, doch nicht durchgehen lassen.“
Volland musste ihm beipflichten.
„Tatsächlich wissen wir, dass die Gemälde im Voraus bezahlt wurden. In den Haushaltsbüchern einiger Auftraggeber kann man heute noch die Finanzierungsposten für die Auftragswerke akribisch nachprüfen. Da werden Kosten für Farben aufgelistet, z.B. zwei Florin für Ultramarine, 38 Florin für Gold und die Vorbereitung und zum Schluss 35 Florin für den ´Pinsel`, also die Malkunst des Maestros. Der Kunde hat erstmal eine stattliche Summe auf den Tisch gelegt, die der damaligen Jahresmiete eines Hauses entsprach. Das alles ergibt keinen Sinn. Es muss eine abschließende Inaugenscheinnahme gegeben haben, bevor ein Bild aus der Werkstatt entlassen wurde.“
Krol setzte nach.
„Genau so wird es gewesen sein. Die Meister haben Hintergründe, Stillleben und architektonische Elemente an ihre Lehrlinge und Assistenten delegiert, aber, ich bin mir sicher, sie haben komplizierte Partien wie Gesichter, Hände oder Füße selbst übernommen.“
Krols Argumente zeigten bei Nagelmackers Wirkung.
„Jetzt haben Sie mich verunsichert. Ich fürchte, ich bin ab jetzt beim Anblick von Frauenfüßen für immer in selektiver Wahrnehmung gefangen. Aber Scherz beiseite, was bedeutet das für meine beiden Botticelli-Zeichnungen?“
Volland zog ein Fazit.
„Tja. Offensichtlich müssen wir uns Gedanken machen, ob diese tatsächlich auffälligen Fußpartien bei der Frage der Echtheit Ihrer beiden Botticellis eine Rolle spielen. Wir werden sehen, was wir tun können.“
Den Rest des Nachmittages verbrachte man bei Tee und Gebäck im angeregten Gespräch.
Nagelmackers erzählte von seinen Reiseerlebnissen und fand im Ingenieur Krol auch einen kompetenten Gesprächspartner, um sich über Fortschritte in der Turbinentechnologie auszutauschen, Volland sprach über ihre Buchpläne.
Man verabschiedete sich in gelöster Stimmung. Nachdem ihre Gäste gegangen waren, gönnte sich Volland ein Glas Wein, setzte sich auf die Dachterrasse, ließ den Tag Revue passieren und suchte kurz nach der passenden Musik, um den Abend abzuschließen. Sie schob die CD des Lautenisten Rolf Lislevand in den Player, der mit seinen neuartigen Interpretationen Renaissancekomponisten zum Swingen brachte.
Als es dunkel wurde, legte sie die Kopfhörer zur Seite, schminkte sich ab und ging mit Lislevands beschwingten Lautentönen im Ohr zu Bett.
Die Reihen des Kongresszentrums in Sidney waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Weltkongress der Restauratoren hatte in diesem Jahr ein besonderes Thema: Art and Human Rights. Lydia Volland saß in der ersten Reihe und wartete auf ihren Auftritt.
Nach den einleitenden Worten des Weltpräsidenten der Vereinigung der Restauratoren ging sie zum Bühnenaufgang, nahm mit betont langsamen Schritten die Strecke zum Rednerpult und wurde von den Delegierten mit höflichem Applaus begrüßt.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung, vielen Dank auch Ihnen, Herr Präsident, für die freundlichen Worte. Ich werde mich bei meinem Vortrag an die alte Regel halten, dass eine gute Rede eine kurze Rede ist. Statt langatmige Ausführungen und PowerPoint-Präsentationen über sich ergehen lassen zu müssen, werden Sie heute Zeugen einer Weltpremiere. Vorab seien jedoch einige kurze Erläuterungen zu dem, was gleich folgt, gestattet.
Das Software-Programm und die praktische Anwendung, die ich Ihnen heute vorstelle, gehen zurück auf eine Anregung der AHRO, der Advanced Human Rights Organisation. Die AHRO hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Rechte Verstorbener posthum wiederherzustellen, so sie denn in erheblichem Maße verletzt wurden. Punktgenau zum Generalthema unseres Kongresses möchte ich Ihnen zeigen, wie wir uns ganz konkret die bisher vernachlässigten Menschenrechte von Malermodellen zu Herzen genommen haben und eine Methode entwickeln konnten, die zur Restitution der Ehre dieser Personen beitragen wird. Die Zone der Korrektheit muss in die Vergangenheit ausgedehnt werden. Um Ihnen das am Beispiel zu erläutern, darf ich nun um Aufmerksamkeit für Frau Frieda Pollock 12.4.08 bitten.“
Eine junge Frau betrat die Bühne von der Seite her.
Ihre Erscheinung war auffällig und fesselnd zugleich und zog das akademische Auditorium augenblicklich in ihren Bann.
Sie hatte eine schlanke, athletische Figur, ohne übertrieben feminin oder maskulin zu wirken. Auffallend waren die symmetrischen Gesichtszüge und die großen, ausdrucksstarken Augen. Ihr leicht gebräunter Hautton schien bei seitlich einfallendem Licht einen Hauch silbern zu schimmern. Sie folgte dem Nude-Lips-Trend und hatte einen matten, hautfarbenen Lippenstift aufgetragen, eine Nuance heller als ihr Teint.
Die Frisur war ein Hingucker - ein asymmetrischer mittellanger Schnitt mit tiefem Seitenscheitel, in dem grauweiß gefärbte Haare mit violetten Strähnen kunstvoll verflochten waren. Als Oberteil trug sie eines der angesagten hochgeschlossenen Crop-Tops in Neon Pink, das ihren schlanken Bauch betonte, dazu kombinierte sie extraweite Bootcut-Jeans, die ihre blauen Plateauschuhe beinahe vollständig verdeckten. Die außergewöhnliche Kombination erweckte den Eindruck einer Verschmelzung verschiedener weiblicher Popstars.
„Sehr geehrte Damen und Herren, ich darf mich vorstellen. Mein Name ist Frida Pollock 12.4.08, ich bin eine humanoide Roboterin der neuesten Generation, was Sie allein daran erkennen können, dass sie es nicht erkennen, wenn ich mir dieses Bonmot erlauben darf.“
Sie kicherte.
„Die Programmierer haben sich bei meiner Erschaffung einen kreativen Scherz gestattet. Als Element eines Kontinuums wird mein Name durch einen Algorithmus täglich geändert und setzt sich, wie sie festgestellt haben werden, aus einer Kombination illustrer Namen der Kulturgeschichte zusammen. Die Zahlenkombination benennt das jeweils heutige Datum sowie das dazugehörige Update für all meine kleinen Sensoren, Aktuatoren und Prozessoren. Da ich noch nicht sehr viel Einfluss auf die eigene Programmierung habe, ist es mir leider nicht vergönnt, mir einen dieser Namen auszusuchen. Ausnehmend gut gefiel mir Hilma Af Klee, hätte wunderbar zu meinem Charakter gepasst.
Bitte entschuldigen Sie die Abschweifung. Ich bin aufgeregt.“
Volland meldete sich beruhigend vom Pult.
„Das verstehen wir. Man steht nicht jeden Tag vor einem derart großen Fachpublikum. Wir sehen beide der versammelten Kompetenz ins Auge. Meine Damen und Herren, Frida Pollock 12.4.08 und ich werden Ihnen jetzt anhand eines praktischen Beispiels demonstrieren, was unsere Agentur beabsichtigt.
Dazu haben wir eine Replik von Botticellis Geburt der Venus erstellen lassen. Sie wurde in den Originalmaßen und mit Originalfarben gemalt, lasiert, gefirnisst etc. Sie können sicher sein, dass wir nur die allerbesten Kopisten beauftragt haben.“
Zwei livrierte Mitarbeiter des Kongresszentrums schoben auf zwei riesigen rollbaren Staffeleien Botticellis großformatiges Werk auf die Bühne. Auf dem Display hinter Volland, das bislang nur den Titel ihres Vortrags gezeigt hatte, war das Gemälde zu sehen.
„Sehr geehrte Damen und Herren, die von uns entwickelte Software ACP steht für Art Correction Program und ist in der Lage, gemäß anatomischer Evidenz Bildinhalte materiell zu korrigieren.
Ich betone: es ist unsere feste Überzeugung, dass wir korrigieren und keineswegs verfälschen. Mit hochkomplexen, laserbasierten Eingriffen werden Partikel eines Gemäldes verschoben, also die in Lösungsmitteln eingebundenen Farbpigmente, die Lasuren, Firnisse etc. etc. Das Programm analysiert zuvor in Sekundenschnelle die historische Beschaffenheit und Herkunft der Materialien, prüft die Leinwand auf ihre Herkunft etc.
Die Software wurde gefüttert mit allen wissenschaftlich anatomischen Erkenntnissen unserer Zeit und berücksichtigt retrospektiv historische Veränderungen des homo sapiens, die der Evolution geschuldet sind. Dabei ist sie in der Lage, jede nur denkbare und anatomisch mögliche Position des menschlichen Körpers zu antizipieren und auch eventuelle Deformationen oder Knochenbrüche mit einzurechnen.
Wir haben nicht ohne Grund dieses Gemälde von Botticelli ausgewählt, weil an ihm exemplarisch gezeigt werden kann, wie ein Künstler gegen besseres Wissen das elementare Recht seiner weiblichen und männlichen Modelle auf adäquate Darstellung ihrer Körper verletzt hat.
Ich darf Sie bitten, ab jetzt ihr Augenmerk nicht auf die sattsam bekannte Meeresschaumgeborene, sondern auf das schwebende Pärchen im linken Teil des Bildes, den Westwind Zephyr und die Nymphe Chloris zu richten. Frau Pollock 12.4.08 wird nun mit ihrer Arbeit beginnen.“
Pollock 12.4.08 stellte sich vor das Gemälde und fixierte mit starrem Blick die Körper von Zephyr und Chloris