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120.000 Bläserinnen und Bläser gehören dem „Evangelischen Posaunendienst in Deutschland" an. 7.000 Posaunenchöre, die für protestantische Zuversicht stehen und aus den evangelischen Kirchen nicht mehr wegzudenken sind. Doch wie hat diese große musikalische Laienbewegung einst begonnen und wie sieht sie heute aus? Reinhard Lassek erzählt kenntnisreich und unterhaltsam die Geschichte des evangelischen Blechs vom Kaiserreich bis heute. Er spart das dunkle Kapitel des Nationalsozialismus nicht aus, schildert Bläseranekdoten aus dem geteilten und wiedervereinigten Deutschland und wagt einen optimistischen Blick in die Zukunft. Ein Muss für jeden Posaunenchorler.
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Seitenzahl: 154
Reinhard Lassek
Wir vom Posaunenchor
Geschichte und Geschichten
© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (Buch) 978-3-451-61274-9
ISBN (E-Book) 978-3-451-80210-2
Inhalt
Präludium
I. Was ist ein Posaunenchor?
Eine Frage der Besetzung
Eine Frage des Auftrags
Eine Frage der Herkunft
II. Epochen und Umfelder
Geschichtliche Epochen
Gesellschaftliches Umfeld
Kirchliches Umfeld
Musikalisches Umfeld
III. Entstehungszentren und Anfangsjahre
Jöllenbecker Jünglinge
Hermannsburger Missionare
Anfangsjahre bis 1880
IV. Die Ära Kuhlo (1880–1920)
Vater und Sohn
Der General
Kaiserhuldigungen
Das Original
Spielmann Gottes
Erste Gründungswelle
Erste Zusammenschlüsse
Krieg und Frieden
V. Die Ära Müller/Bachmann (1920–1945)
Goldene Zwanziger
Neue Leitbilder
Neue Strukturen
Schwierige Dreißiger
Weitere Wegbereiter
VI. Kreuz und Hakenkreuz
Gleichgeschaltete Posaunen
Ständchen beim Führer
Treue Parteigenossen
Treulose Christen
VII. Moderne Zeiten
Auferstanden aus Ruinen
Die Ära Ehmann (1945–1970)
Bestelltes Feld
Streitkultur West
Bewahrungskunst Ost
Unter einem Dach
VIII. Klänge und Noten
Klangwelten
Geröllhalden
Lautstärken
Notenflut
IX. Bläsergesellschaften
Profis und Laien
Masse statt Klasse?
Jung und alt
Männlich und weiblich
Geisteshaltungen und Lebensformen
Dienstgemeinschaft
Spaßgemeinschaft
Zukunftsmusik
Postludium
Literatur
Für
Tina G.
Trompete/Flügelhorn
Oliver L.
Dirk B.
Anke D.
Thomas L.
Waldhorn
Susanne K.
Friedhelm B.
Alt-/Tenor-/Bassposaune
Eva L.
Wolfgang G.
Carsten L.
Jörg P.
Tuba
Am Anfang des Christentums steht bekanntlich eine Statistik: »Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe« – so heißt es in der Weihnachtsgeschichte nach Lukas. Seither sind Volkszählungen und andere Datenerhebungen nicht mehr aus der Mode gekommen. Auch innerhalb der Kirche nicht. So leben nach Angaben der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) etwa 24 Millionen evangelische Christen in der Bundesrepublik. Davon gehen sonntags 900000 in die Kirche. Und in vielen jener 19000 Gottesdienste, die hierzulande an jedem Sonn- und Feiertag stattfinden, erklingen die »Posaunen«. Beinahe jede zweite Gemeinde hat einen Posaunenchor. Laut einer stolzen Statistik des EPiD (Evangelischer Posaunendienst in Deutschland) vertritt der Dachverband aller freikirchlichen und landeskirchlichen Blechbläser rund 7000 Chöre mit 120000 Mitgliedern. Diese irdischen Bläserheerscharen bilden eine der größten Laienbewegungen des deutschen Protestantismus.
Doch was sagt uns diese Statistik? Unter männlichen Mathematikern – weibliche Leser nehmen es bitte mit Humor oder gar als Kompliment – kursiert das geflügelte Wort: »Die Statistik ist wie ein Bikini: Sie stellt anschaulich dar, was sie zeigen will; aber das, was man gern sehen möchte, verhüllt sie.«
In diesem Buch wird gezeigt, was man gern sehen möchte. Es wird hinter die nackten Zahlen der Statistik geschaut. Es geht dabei um die große Geschichte der evangelischen Posaunenchorbewegung, aber auch um die kleinen Geschichten, die sich um die wechselvollen 170 Jahre evangelischer Posaunenarbeit ranken. Glücklicherweise wird dabei mehr vom Glanz als vom Elend der Bläser zu berichten sein. Nicht nur Herkunft und Auftrag der Posaunenchorbewegung sollen erhellt werden, sondern vor allem auch die Frage, warum wir vom Posaunenchor eine so spezielle Dienst- und Spaßgemeinschaft bilden.
Was macht eine Blechbläsergruppe zum »Posaunenchor«? Ist es die Besetzung – das Instrumentarium, auf dem gespielt wird? Ist es der Auftrag – die Mission, die erfüllt werden soll? Oder ist es die Herkunft – die Gründungslegende?
Um es gleich herauszuposaunen: Es ist selbstverständlich eine Mischung der drei genannten Aspekte. Erst die richtige Kombination verleiht dem »Posaunenchor« seine unverwechselbare Note. Wer heutzutage von einem »Posaunenchor« spricht, meint jedenfalls zumeist einen evangelischen Posaunenchor. Und das allein weist bereits daraufhin, dass die Posaunenchorgeschichte vor allem eine Erfolgsgeschichte ist.
Bevor dem »Posaunenchor« die Anführungszeichen genommen werden, gilt es abzuklären, was für den evangelischen Posaunenchor – egal ob nun landes- oder freikirchlicher Prägung – eigentlich sinn- und identitätsstiftend ist. Der Begriff »Posaunenchor« lässt jedenfalls zunächst auch an eine bestimmte Art der Besetzung denken. Nämlich an eine Blechbläserformation, der ausschließlich Posaunen angehören. Doch solch ein reines »Posaunen-Stimmwerk« – bestehend aus Diskant- (Sopran-), Alt-, Tenor- und Bassposaune – ist vor allem eine musikalische Attraktion des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Das Posaunen-Stimmwerk entspricht dabei dem A-cappella-Ideal der Renaissance und des frühen Barock. »A cappella« heißt nicht nur »ohne Instrumentalbegleitung«, sondern bedeutet auch eine bestimmte Kompositionsweise, bei der im Zentrum des Klangideals das mehrstimmige kirchliche Vokalensemble mit fakultativer Instrumentalbegleitung steht. Großartige Werke für reine Posaunenbesetzungen entstehen in jener Zeit. Zu nennen sind etwa Kompositionen von Michael Praetorius, Johann Christoph Pezelius (Pezel) und Gottfried Reiche. Diese fabelhaften Blechbläser-Suiten, Pavanen, Intraden, Kanzonen und Ritornelle, Turm- und Festtagsmusiken gehören bis heute zum Repertoire evangelischer Posaunenchöre – in reiner Posaunenbesetzung gespielt werden sie allerdings so gut wie nie.
Die Altposaune ist hin und wieder noch in den Bläserchören anzutreffen, wohl kaum jedoch eine Sopranposaune. Aufführungen in der musikalisch reizvollen Originalbesetzung sind eine absolute Rarität. Sie bleiben in der Regel Profibläsern vorbehalten. Für Liebhaber der historischen Aufführungspraxis sind diese reinen »Posaunenchor-Konzerte« pure Festtagsmusiken. Die verzückten Zuhörer werden dabei nicht nur in längst vergangene Klangwelten entführt, sie werden zugleich auch daran erinnert, dass unsere heutigen »Posaunenchöre« durchaus noch in Beziehung zur Musizierpraxis der Reformationszeit stehen.
Das Posaunen-Stimmwerk ist ein »Instrumentaler Sängerchor«. An dieses Klangideal des 16. Jahrhunderts knüpfen zunächst die Chorbläser der »Herrnhuter Brüder« im 18. Jahrhundert an – zum Teil sogar mit originalem Posaunen-Stimmwerk. Später, Mitte des 19. Jahrhunderts, feiert das »gesangliche Blasen« auch in Westfalen und Niedersachsen fröhliche Urstände. Allerdings will und kann die Posaunenchorbewegung – so wie wir sie heute kennen – vom originalen Posaunen-Stimmwerk nicht mehr viel wissen. Zum einen, weil im 19. Jahrhundert die Ventil-Blechblasinstrumente aufkommen, zu Anfang des 20. Jahrhunderts bereits in jeder Stimmlage und Klangfarbe eine ansprechend große Auswahl »wohlventilierten« Blechs zur Verfügung steht – inklusive Ventilposaunen. Zum anderen ist es nicht leicht, genügend talentierte Laienmusiker zu finden, die für das Erlernen des durchaus heiklen Posaunenspiels überhaupt geeignet sind.
Letzteres ist ein buchstäblich »nachvollziehbarer« Grund, warum (Zug-)Posaunen nicht in jedem Posaunenchor den Ton angeben. Manchmal sind sie sogar überhaupt nicht vertreten.
Evangelische Posaunenchöre sind also bei weitem keine reinen Posaunen-Ensembles. Aber im Unterschied etwa zu Militär- und Tanzmusikkapellen oder Blasorchestern sind sie in der Regel doch immerhin reine Blechbläserensembles. Die Posaune gibt dem »Posaunenchor« den Namen. Sie ist stets erwünscht, doch keineswegs immer verfügbar.
»Lobet den Herrn mit Posaunen!« – Das ist aus Sicht eines evangelischen »Posaunenchorlers« die entscheidende Botschaft des 150. Psalms. Die Frage nach dem »Posaunenchor« ist somit in jedem Fall immer auch eine Frage des geistlichen Auftrags – also eine Glaubensfrage. Eine flächendeckende evangelische Posaunenarbeit, so wie wir sie heute kennen, beginnt sich erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts im engen Verbund mit der pietistischen Erweckungsbewegung in Westfalen und Niedersachsen zu entwickeln. Doch auf nachhaltige Resonanz stößt der 150. Psalm zunächst in Herrnhut, einem Städtchen der Oberlausitz. Dort siedelt sich im frühen 18. Jahrhundert eine Gemeinschaft böhmischer Glaubensflüchtlinge und deutscher Pietisten an. Die sich alsbald in ganz Deutschland ausbreitende Gemeinde der Herrnhuter Brüder hat jedenfalls das Copyright für den Begriff, unter dem sich heute das gesamte evangelische Blech versammelt. In einem Synodalbeschluss aus dem Jahre 1764 ist erstmals offiziell von einem rein kirchlichen »Posaunenchor« die Rede.
Die Herrnhuter Blechbläser, so der Musikwissenschaftler Nils Niemann, sind »keine gewöhnlichen Kirchenmusikgruppen«, sondern »sicht- und hörbare Zeichen eines lebendigen christlichen Gemeinwesens«. Ein frühes Zeugnis dafür liefert der »Posaunistenchor« in Kittlitz – heute Stadtteil des sächsischen Löbau. Die Kittlitzer Bläser geben sich 1817 eine 46 Punkte umfassende Satzung, laut der es die vornehmste Aufgabe des Chores ist, »a) den Namen Gottes sowohl selbst zu verherrlichen, als auch b) andere dazu zu ermuntern«.
Zwischen der Kittlitzer Ausformulierung des geistlichen Bläserauftrags und der Gründung des »Evangelischen Posaunendienstes in Deutschland« (EPiD) liegen grob aufgerundet zwei Jahrhunderte. Doch der Geist ist noch immer derselbe: »Der Verein«, so heißt es 1994 in der EPiD-Satzung, »hat den Zweck, das Evangelium von Jesus Christus durch die Posaunenchormusik weiterzutragen«.
In der Tat: Kirchenmusik, so Ingo Bredenbach, ist eine »Sprachschule des Glaubens«. Für den Tübinger Orgelprofessor gilt daher auch das Musizieren im Bläserchor als »gelebter Glaube, als eine zielgerichtete Arbeit hin zu einem Laut-Werden der biblischen Botschaft, eben einer Verlautbarung der Frohen Nachricht«.
Doch warum Posaunenklänge? Warum nicht Flöten- oder Streichmusik? Für bibelfeste Gründerväter der Posaunenbewegung vom Schlage eines Johannes Kuhlo, Jahrgang 1856, gibt es keinerlei Zweifel: Weil Gott selbst diese Instrumente in Auftrag gegeben hat. Im 4. Buch Mose, Kapitel 10 heißt es: »Und der HERR redete mit Mose und sprach: Mache dir zwei Trompeten von getriebenem Silber und gebrauche sie, um die Gemeinde zusammenzurufen und wenn das Heer aufbrechen soll.«
Es ist also das »heilige« Blech, das im 150. Psalm zum Dienst berufen wird. Und »Posaunengeneral« Kuhlo, der sich selbst gern als »Mitarbeiter am Psalm 150« bezeichnet, versucht seinerzeit auch alles, um den geistlichen Bläserauftrag in Verbindung zur Heilsgeschichte zu bringen. Und so listet er die biblischen Trompeten-, Posaunen- und Hörnerstellen auf: Im Alten Testament sind es 65, in den Apokryphen 13 und im Neuen Testament 20. Seinen ersten glänzenden Auftritt hat das Blech demnach bereits bei Mose. Der erste »Posaunenchor« erklingt indes erst in Jerusalem zu Zeiten König Davids. Schon damals wird der Bläserklang als Zeichen für die Gegenwart Gottes erlebt. Und von Anfang an spielt dabei das Blech eine privilegierte Rolle. Nur Priester dürfen da einst diese heiligen Instrumente benutzen. Doch echten Lutheranern wie Kuhlo ist natürlich bewusst: »Jedes Kind Gottes ist ein Priester des Allerhöchsten. Das gilt für uns als Bläser. Und das in besonderer Weise. Der alttestamentarische Priesterdienst ist Vorbild für uns.« Nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer folgt eine beinahe 2000-jährige Generalpause. Da die Herrnhuter »Posaunisten-Chöre« in Kuhlos großzügiger Überschlagsrechung nicht vorkommen, wird das Schweigen der Bläser demnach erst um 1843 durch die Jöllenbecker Erweckungsbläser beendet. In der Tat, die Tradition der evangelischen Posaunenchorbewegung wird im ostwestfälischen Jöllenbeck begründet. Die flächendeckende Posaunenbewegung, so, wie wir sie heute kennen, entsteht nicht im direkten Bezug zu den Herrnhutern. Sie vermag sich vielmehr erst im engen Verbund mit der Erweckungsbewegung zu entwickeln.
Trotz Kuhlos recht origineller Argumentation wird das »heilige Blech« selbstverständlich nicht wegen der biblischen Vorbilder als Instrumentarium ausgewählt. Es ist vielmehr genau umgekehrt: Man greift aus praktischen Erwägungen zum Blech: Die vergleichsweise leichte Erlernbarkeit, gute Transportierbarkeit und vor allem die klangliche Durchsetzungsfähigkeit im Freien. Erst nachträglich sucht man dann nach biblischer Legitimation.
Im »Posaunenchor« kann also auf die Posaune als Instrument notfalls verzichtet werden, nicht jedoch auf den Begriff. Denn der geistliche Auftrag ist allemal so wichtig wie die Besetzung. Schließlich ist es in der Lutherübersetzung stets die Posaune, die Entscheidendes zu verkünden hat. So etwa im 1. Thessalonicher 4,16: »Denn er selbst, der Herr wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen.«
Doch der Verfasser des apostolischen Sendschreibens konnte die Posaune, die erst rund eineinhalb Jahrtausende später erfunden wird, noch gar nicht kennen. In der griechischen Urfassung dieses Paulusbriefs ist denn auch von der »Salpinx« die Rede – der altgriechischen Trompete. Und im Alten Testament wiederum ist der »Schofar«, ein Widderhorn, gemeint. »Schon innerhalb der Bibel«, so Nils Niemann, »hat sich also die Vorstellung der ›Posaune Gottes‹ von dem ursprünglichen Instrument, dem Schofar, gelöst. Paulus veranschaulicht den Klang der ›Posaune Gottes‹ durch ein mächtiges Blasinstrument seiner Tage.« Und Luther wiederum verwandelt die Salpinx in die Posaune – in ein klangmächtiges Instrument seiner Zeit. Uns Posaunenchorlern kommt es jedenfalls sehr gelegen, dass Luther bei seiner Bibelübersetzung das originale, antike Lobpreis-Instrumentarium zumeist durch die Posaune ersetzt.
Die Posaunenchorbewegung lechzt geradezu nach biblischer Legitimation. Schließlich geht es beim »Dienst am 150. Psalm« im Grunde genommen auch weniger ums Musizieren, sondern vielmehr ums Missionieren. Und bei der Verkündigung des Evangeliums ist das Wort allemal wichtiger als die Noten. Daher wird – wie bereits erwähnt – anfangs auch eine ganz bestimmte Spielweise bevorzugt: Gemäß dem frühbarocken A-cappella-Ideal soll der Bläserchor dem Klang eines Sängerchores möglichst nahekommen.
Selbst wenn es um den Übungsfleiß geht, wird gern geistlich argumentiert. »Für unseren himmlischen Vater«, so in den 1930er Jahren der »Landesposaunenmeister« Schleswig-Holsteins Fritz Fliedner, »ist das Beste gerade gut genug – auch in der Musik.« Selbst 1954 heißt es in einer Hermannsburger Posaunenfestschrift noch: »Gott schenkt niemals, ohne zugleich auch zu fordern.« Heutzutage wird man diesbezüglich gewiss weniger geistlich, sondern vielmehr blaspädagogisch argumentieren wollen: Ansatz kommt von Ansetzen!
Selbstverständlich gibt es noch andere Spielvereinigungen von Blechbläsern – kirchliche wie nichtkirchliche –, die sich mit einigem Recht als »Posaunenchor« bezeichnen können. Doch diese haben entweder eine andere Besetzung oder einen anderen Auftrag – ganz gewiss jedoch eine andere Herkunft. Bei festlichen Anlässen kommen, wie könnte es anders sein, auch in katholischen Gottesdiensten Trompeten und Posaunen zum Einsatz. Doch nur wir vom »Posaunenchor« können mit einigem Selbstbewusstsein feststellen: Eine feste Institution ist das kirchliche Blech allein im evangelischen Milieu. Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Ein Protestantismus ohne »Posaunen« käme wie ein stummer Frühling daher. Er wäre wie eine Landschaft ohne die Stimmen der Vögel. Ist das, was das Wort »Stimmung« enthält – etwa auf einem evangelischen Kirchentag – überhaupt noch denkbar ohne die Stimmen der Bläser?
Gewiss, es gibt Blechbläserensembles, die eine sehr viel ältere Tradition nachweisen können, als die »Posaunen« à la Kuhlo & Co. Trotz mancherlei Überschneidungen hinsichtlich der instrumentalen Besetzung und des geistlichen Auftrags lässt sich der evangelische Posaunenchor dennoch von allen übrigen kirchlichen Blechbläserchören der Vergangenheit und Gegenwart abgrenzen. Es gibt eine ganz spezielle Herkunft und einige sich daraus ergebende Entwicklungen, die in der Summe der Merkmale zu einer ganz bestimmten, unverwechselbaren Textur werden. Eine Bestimmung des Begriffs »Posaunenchor« muss diese komplexen Zusammenhänge aus Besetzung, Auftrag und Herkunft berücksichtigen. Und daher kann eine solche Definition auch nur eine Liste von mehreren Merkmalen sein. Der Theologe, Posaunist und Chronist Wolfgang Schnabel hat mit wissenschaftlicher Akribie Auftrag und Herkunft der evangelischen Posaunenbewegung erforscht. Zum einen hat er dabei den »Markenkern« des evangelischen Blechs mit beispielhafter Systematik freigelegt. Zum anderen bietet Schnabel auch eine schlüssige Epocheneinteilung für die 170-jährige Geschichte der Posaunenchorbewegung.
Nach Schnabel machen folgende sechs Merkmale – jeweils zusammengenommen – ein Blechbläserensemble erst zu einem »Posaunenchor«: Das gemeinsame Chorblasen ist (1) eine Liebhaberei – und zwar eine von Laienmusikern. Das Instrumentarium erklingt (2) weitestgehend unentgeltlich. Musiziert wird (3) nicht nur zu liturgischen, sondern auch zu missionarischen, diakonischen und sozialen Anlässen. Bevorzugt oder zumindest angestrebt wird (4) eine reine Blechbläserbesetzung. Trotz einer gewissen Bandbreite liegt jedoch der musikalische Schwerpunkt (5) auf der Pflege des geistlichen Liedes – vom Reformations-Choral bis hin zum amerikanischen Spiritual. Ein »Posaunenchor« bewegt sich (6) im Zusammenhang christlich-kirchlicher Strukturen und ist Teil einer sich verbreiternden Massenbewegung.
Aufgrund dieser sechs Kriterien kommen weder die mittelalterlichen Bläserzünfte noch das neuzeitliche Kirchenblech (die »collegia musica«) oder die Herrnhuter Brüder als unmittelbare Vorbilder für die heutige Posaunenarbeit in Frage. Denn bei eingehender Betrachtung ergeben sich in mindestens einem der sechs genannten Merkmale – entweder bezüglich des Gruppengefüges, der Spielweise, der Literatur, des Instrumentariums oder des Aufgabenbereichs – stets einige grundlegende Unterschiede zur Posaunenchorbewegung. Gewiss, es gibt Vorläufer, doch können sie laut Schnabel bestenfalls »als indirekte Vorläufer bezeichnet werden, wobei die meisten historischen Verbindungslinien noch zu den Herrnhutern zurückreichen, kaum jedoch zu den Zunftbläsern und Kirchenmusikern«.
Die Anführungszeichen beim »Posaunenchor« sind nunmehr entbehrlich. Fortan wird nur noch von evangelischen Posaunenchören im oben ausgeführten Sinne die Rede sein.
Seit 1843 – dem Gründungsjahr des ersten Posaunenchors heutiger Prägung – wechseln in Deutschland Revolutionen, Kriege und Friedenszeiten einander ab. Das gesellschaftliche Umfeld der Posaunenarbeit wird daher mal durch gekrönte Häupter, mal durch demokratisch gewählte Staatsoberhäupter oder auch durch skrupellose Diktatoren geprägt.
Zur Erinnerung: Das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« wird 1806 – während der Napoleonischen Kriege – nach rund tausendjähriger Geschichte aufgelöst. Als Ersatz für dieses »Erste Reich« schließen sich 1815, nach der Niederwerfung Napoleons, die deutschen Einzelstaaten zum »Deutschen Bund« zusammen. Weitere Bünde und Abspaltungen folgen, bis die deutschen Einigungskriege unter Führung Preußens 1871 zu einer neuen Reichsgründung – unter Ausschluss Österreichs – führen. Ende des Ersten Weltkriegs, in der November-Revolution von 1918, wird auch das »Zweite Reich« aufgelöst. Es folgen die Kämpfe der Weimarer Republik (1918–1933) um den Erhalt der ersten deutschen Demokratie und hernach die beispiellose Barbarei des »Dritten Reichs« (1933–1945). Die ungeheuren Verbrechen der Nazi-Herrschaft bleiben eine untilgbare Last der Geschichte und eine Mahnung für gegenwärtige und künftige Generationen.
Während nach 1945 der deutsche Osten für immer verloren geht, wird das übrige Deutschland zweigeteilt: In Westdeutschland etabliert sich die Bundesrepublik Deutschland (BRD), die ehemals mitteldeutschen Regionen werden zu Ostdeutschland – genannt Deutsche Demokratische Republik (DDR). Die »Einigkeit« ist verloren, »Recht und Freiheit« gibt es nur im Westen. Erst mit dem Fall der Mauer im November 1989 und der friedlichen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 kann die staatliche Teilung Deutschlands überwunden werden.
Nicht jeder dieser historischen Abschnitte wirkt sich prägend auf die Posaunenarbeit aus. Neben dem äußeren Umfeld gibt es schließlich auch noch ein inneres Umfeld. Zu nennen sind die kirchlichen und insbesondere die kirchenmusikalischen Zeitströmungen sowie das Wirken der Väter und Mentoren der Posaunenarbeit. Wolfgang Schnabel schlägt fünf »posaunengeschichtliche« Epochen vor: (1) Die Anfänge der Posaunenbewegung: 1840–1880; (2) Die Ära Johannes Kuhlo: 1880–1920; (3) Die Ära Adolf Müller/Fritz Bachmann: 1920–1945; (4) Die Ära Wilhelm Ehmann: 1945–1970; sowie (5) Die neuere Zeit: ab 1970.
Im Folgenden wird sich dieser Epochenaufteilung angeschlossen. Mit einer Abweichung: Die Ära Ehmann – beginnend ab 1945 – wird bereits den »modernen Zeiten« zugerechnet. Für die Zeit nach Ehmann, ab 1970, ist bislang ohnehin nur ein epochemachender Trend greifbar: In modernen Zeiten ist weniger das Charisma einiger weniger, sondern vielmehr die Teamfähigkeit vieler gefragt.
Doch welches Szenario bietet sich Mitte des 19. Jahrhunderts, als es zur Gründung der ersten evangelischen Posaunenchöre kommt? Aus welchem gesellschaftlichen, kirchlichen und musikalischen Umfeld heraus vermag sich eine der größten protestantischen Laienbewegungen zu entwickeln?
Nach dem Sieg über Napoleon im Jahre 1815 kommt es zur Restauration monarchistischer Machtverhältnisse. Diese anti-aufklärerische und anti-republikanische Phase wird durch die Märzrevolution von 1848 lediglich vorübergehend unterbrochen. Als 1843 im ostwestfälischen Jöllenbeck der erste Posaunenchor moderner Prägung gegründet wird, sind die Vorboten der 1848er Revolution vielerorts – wenn auch vielleicht nicht gerade in Jöllenbeck – deutlich spürbar. Als 1849 im niedersächsischen Hermannsburg der erste Posaunenchor – genauer gesagt »Posaunenverein« – entsteht, ist die Revolution bereits gescheitert. Die Gegner bürgerlich-demokratischer Freiheiten sind bereits munter dabei, alte Herrschaftsverhältnisse zu restaurieren: Bürger werden erneut zu Untertanen.