Wirklichkeit 2.0 -  - E-Book

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Beschreibung

Das Internet setzt sich mehr und mehr als neues Leitmedium durch. Die Digitalisierung erfasst alle privaten und gesellschaftlichen Lebensbereiche. Welche Vorteile und welche Risiken ergeben sich daraus? Müssen die Vorstellungen von Identität, Freundschaft und politischer Partizipation neu definiert werden? Was bedeutet Lernen, Kommunizieren und soziale Organisation im Netz? Als Begleitband zum gleichnamigen Funkkolleg des Hessischen Rundfunks stellt der Materialband grundlegende Texte namhafter Autoren zur Diskussion dieser drängenden Fragen zusammen. In acht Abschnitten werden unter Überschriften wie "Online Communities" (Soziale Medien, Verlust der Privatsphäre, Online-Freundschaften) "Vorsprung durch Technik" (Kindergarten 2.0, E-Learning und Silver Surfer), "Vom Glück der großen Zahl" (wikipedia, Flashmobs, digitale Geschäftsmodelle) und "Freiheitsversprechen und Herrschaftsformen" (Digitale Demokratie, Unabhängigkeit des Cyberspace) Chancen und Gefahren der neuen Wirklichkeit 2.0 dargestellt.

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Seitenzahl: 392

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Wirklichkeit 2.0

Medienkultur im digitalen Zeitalter

Herausgegeben vonPeter Kemper, Alf Mentzer und Julika Tillmanns

RECLAM TASCHENBUCH Nr. 20266

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Reihengestaltung: büroecco!, Augsburg

Umschlaggestaltung: Martin Völlm unter Verwendung eines Bildes von imago

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2012

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960171-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020266-1

www.reclam.de

Inhalt

Ins Netz gegangen

I. Leben im Netz: Online-Communities

Daniel Miller: Facebook und die Folgen

Mark Andrejevic: Facebook als neue Produktionsweise

Christian Heller: Das Ende der Privatsphäre

Miriam Meckel: Virtuelle Nähe – »Gefällst du mir, gefall ich dir«

Kai Dröge: Romantische Unternehmer im Netz

II. Abrechnen im Netz: Die Kosten der Kommunikation

Eli Pariser: Wie wir im Internet entmündigt werden

Constanze Kurz / Frank Rieger: Ausgekundschaftet

John Palfrey / Urs Gasser: Cyberbullying

Andy Beckett: Die dunkle Seite des Internets

III. Lesen und Schreiben im Netz: Jenseits der Gutenberg-Galaxis

Stefan Weber: Das Google-Copy-Paste-Syndrom

Christian Stöcker: Remix

Cora Stephan: Wahre Autoren verzweifelt gesucht

Nicholas Carr: Der Stellenwert des Buches heute

Kathrin Passig: Das Buch als Geldbäumchen 

Holm Friebe / Sascha Lobo: Was sind Blogs?

IV. Lernen im Netz: Vorsprung durch Technik

Manfred Spitzer: Kinder am Bildschirm

Norbert Neuß: Medienbildung im Vorschulbereich

Franz Josef Röll: Web 2.0 als pädagogische Herausforderung

Susanne Gaschke: Was Computer im Kindergarten zu suchen haben

Corinna Blobel: Silver Surfer, Internet und Web 2.0

V. Selbstverwirklichung im Netz: Das digitale Ich

Olivier Voirol: Digitales Selbst: Anerkennung und Entfremdung

Mark Greif: WeTube

Jan Krömer / William Evrim Sen: Elemente der Netzkultur

Alexandra Borchardt: Her mit den Piratinnen! – Verschlafen die Frauen gerade die digitale Revolution?

VI. Spielen im Netz: Sucht und Sehnsucht

Gerald Hüther: Der Einfluss der Computernutzung auf die Gehirnentwicklung

Wolfgang Bergmann / Gerald Hüther: Wer wird computersüchtig?

Sherry Turkle: Computerspiele als evokative Objekte

Andreas Jahn-Sudmann / Arne Schröder: Zur Faszination der Gewalt in Computerspielen

VII. Organisation im Netz: Vom Glück der großen Zahl

[Autorenkollektiv] Stefan Bußler u. a: Von Flashmobs, Love Rugs und Kissenschlachten

Don Tapscott / Anthony D. Williams: Die Prinzipien von Wikinomics

Christian Stegbauer / Elisabeth Bauer: Macht und Autorität bei Wikipedia

Jaron Lanier: Digitaler Maoismus

Martin Andree: Liebling, das Netz schrumpft

VIII. Politik im Netz: Freiheitsversprechen und Herrschaftsformen

John Perry Barlow: Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace

Jeff Jarvis: Grundrechtecharta für das Internet

Benjamin R. Barber: Wie demokratisch ist das Internet?

Alexander Siedschlag: Digitale Demokratie

Samuel Salzborn: Politische Teilhabe im Netz ist überschätzt – Das WWW ist nicht die Welt

Evgeny Morzorov: Rettet die Anonymität!

Verzeichnis der Autoren, Texte und Druckvorlagen

Zu den Herausgebern

[9] Ins Netz gegangen

Alle sozialen Sphären sind inzwischen vom Internet durchdrungen: In Gestalt von Laptops, iPads und Smartphones folgt uns das Netz auf Schritt und Tritt, in das Büro oder ins Cafe, in die U-Bahn oder in den Urlaub. Das Internet verändert unsere Art zu arbeiten, unser Konsumverhalten, es beeinflusst die Politik ebenso wie die Schöpfung gesellschaftlichen Wissens. Vor allem aber ist das Netz inzwischen integraler Bestandteil unserer privaten Kontakte und sogar Intimbeziehungen geworden.

Für digitale Aktivitäten scheint es keine Grenzen mehr zu geben: Ob ich ein neues Kochrezept suchen, die aktuellen Aktienkurse verfolgen, nach dem Wetter von morgen oder dem Film von heute suchen will, ob ich biographische Details zu meinem derzeitigen Lieblingsschauspieler bei Wikipedia abfrage, Online-News der Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine lese, Zerstreuung in virtuellen Welten von Online-Rollenspielen suche, mich durch die neuesten Musikvideos bei YouTube klicke oder dort einfach nur skurrilen Filmchen nachspüre, mich in Chatrooms mit Bekannten austausche, mein persönliches Twitter-Tagebuch führe, schaue, was der engere Freundeskreis bei Facebook gerade macht, ob ich mich auf die Suche nach einem neuen Lebens- oder Sexualpartner mache, Musikdateien tausche, die neuesten Hits herunterlade, den neuen Roman-Bestseller kaufe, mich nach einem neuen Job und/oder nach einem neuen Auto umsehen will oder den Liebesbrief an die Angebetete in Form einer e-mail schreibe – alltägliche Aktivitäten, die früher problemlos ohne das Internet möglich waren, sind heute ohne digitale Technologien kaum noch vorstellbar.

Noch nie konnten Menschen so schnell und unkompliziert an [10] eine so große Menge von Daten, Informationen, Bildern und Tönen gelangen wie heute im Internet. Längst werden im Netz mediale Inhalte nicht nur konsumiert und verteilt, sondern die Nutzerinnen und Nutzer präsentieren sich in sozialen Netzwerken oder durch Einträge in Blogs und Foren, durch private Filmchen auf Videoportalen, durch das Anbieten persönlicher Gegenstände auf Auktionsplattformen usw. selbst. Sie geben dabei – ob wissentlich oder unwissentlich – eine Menge intimer Daten auf kommerziellen Plattformen preis und hinterlassen bei all ihren digitalen Aktivitäten deutliche Spuren im Netz. So können Shoppingportale Nutzungsprofile ihrer Kunden erstellen und zu Marketingzwecken auswerten, die Staatsmacht kann durch die Ortung von Aufenthaltsorten und durch die IP-Adresse des persönlichen Computers, durch den Einsatz eines sog. »Staatstrojaners«, alle Internet-Aktivitäten der Nutzer ausspähen. Zwar ist das Netz nicht zuletzt für Unternehmen eine ideale Kontaktbörse, doch es lädt wegen des mangelnden Datenschutzes eben auch zu Missbrauch ein.

Die Transformation unserer Medienwelt schreitet ungebremst voran. Nicht nur hat sich seit der Jahrtausendwende die Nutzungszeit des Internets eines Erwachsenen in Deutschland mehr als verdreifacht. Inzwischen nutzen rund 90 Prozent aller Deutschen das Internet: Die Bedeutung des Netzes wird die aller anderen Medien (TV, Radio, Printmedien) in Zukunft überholen: Das world wide web ist auf dem Weg, zum Leitmedium zu werden. Zugleich ist das Internet dabei, alle anderen Medien zu integrieren und selbst zur zentralen Kommunikationsplattform der Gegenwart zu werden (E-Books, Internet-Radio, Internet-TV etc.). Zuallererst aber ist das Netz ein technisches Medium zur Verbreitung von Informationen ganz unterschiedlichen Typs: Diese Inhalte und deren Übertragung sind durch die Digitalisierung nicht länger an bestimmte Trägermedien gebunden.

Das Web 2.0 – an das der Titel des Funkkollegs »Wirklichkeit 2.0« angelehnt ist – steht zunächst für die benutzerfreundliche Anpassung des World Wide Web an die Bedürfnisse der Nutzer. Obwohl der Terminus »Web 2.0« ursprünglich aus dem Marketing stammt, sehen Internet-Visionäre inzwischen im [11] »Web 2.0« so etwas wie eine kollektive Intelligenz am Werk: Der Kollektivismus im Internet führe zwangsläufig zu einer Weisheit der Massen.

Heute wird das Social Web häufig mit dem Web 2.0 gleichgesetzt, doch handelt es sich bei den sozialen Webplattformen nur um einen Teilbereich des Web 2.0, das nach dem Zerplatzen der »Dotcom-Blase« im Jahr 2001 so genannt wurde, um die neuen kommerziellen Potentiale neuer Software-Architekturen zu veranschaulichen. Der amerikanische Verleger Tim O’Reilly hatte im Oktober 2004 unter dem Titel »Web 2.0 Conference« führende Vertreter der Internet-Ökonomie zu einer Tagung eingeladen. In der Folge wanderte der Begriff (der Zusatz »2.0« sollte zunächst allein neue Software-Versionen umschreiben) aus der Internet-Industrie in die gesellschaftliche Öffentlichkeit, die fortan mit der Chiffre »Web 2.0« eine Art »Mitmach-Internet« assoziierte. Das Internet war jetzt im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu »einer globalen, allgegenwärtigen Plattform für die Zusammenarbeit mit vernetzten Computern« geworden, die »beinahe jeden Aspekt menschlichen Austausches revolutioniert« (Tapscott/Williams).

Das hr2-kultur-Funkkolleg »Wirklichkeit 2.0 – Medienkultur im digitalen Zeitalter« möchte dem Umstand Rechnung tragen, dass Medienerfahrung und Medienkompetenz sich zukünftig primär auf das World Wide Web als die mediale Zentralinstanz konzentrieren, und versucht die Folgen abzuschätzen.

[12]I. Leben im Netz: Online-Communities

Eric Schmidt, einer der führenden Google-Köpfe, dachte unlängst öffentlich darüber nach, ob es nicht sinnvoll sei, dass Jugendliche ab einem bestimmten Alter ihren Namen ändern lassen, um ihre Netz-Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sobald man sich ein Profil in einem sozialen Netzwerk anlegt, gibt man persönliche Daten preis, die von Konzernen verwaltet werden. Mit fast 800 Millionen aktiven Mitgliedern – Tendenz steigend – ist Facebook derzeit das größte soziale Netzwerk mit einer »Bevölkerung«, die größer ist als die der EU. Jürgen Habermas hat Facebook deshalb eine »öffentliche Sphäre« genannt.

Worin liegt aber die Faszination sozialer Netzwerke? Werden zwischenmenschliche Beziehungen durch soziale Netzwerke einfacher und intensiver? Sind »Facebook-Freunde« echte Freunde? Oder ist das soziale Netzwerk gar eine Art »virtueller Meta-Freund«, der immer für mich da ist, sich nie eine Störung verbittet? Diesen und weiterführenden Fragen geht der am University College in London lehrende Ethnologe Daniel Miller nach.

Im Gegensatz dazu vertritt der Medienwissenschaftler Mark Andrejevic – er lehrt an der University of Iowa – die These, dass soziale Plattformen das Sozialleben ihrer Mitglieder vor allem ausbeuten, um sensible Daten für potentielle Kunden und Marketingkontakte aufzubereiten. Zugleich aber belebt »social media« Elemente traditioneller Gemeinschaft: Es ermögliche den Menschen, sich über Klatsch, Gespräche und Interaktionen zu vernetzen. Die Kehrseite dieser »Privatisierung« liegt, so Andrejevic, darin, dass Datenschutzbedenken in der Regel irrelevant erscheinen.

Ein Leben ohne Privatsphäre propagiert der Blogger und Filmkritiker Christian Heller. Für ihn ist der Datenschutz im Internet ein Kampf gegen Windmühlen, den wir nicht gewinnen können. Stattdessen macht Heller aus der Not eine Tugend und propagiert »Filtersouveränität«, die nicht mehr das Ausmaß der Mitteilungen im Netz zügeln will, sondern die Wahrnehmung der Nutzer.

[13] Die digitale Zukunft als Abgrund, auf den wir uns unaufhaltsam zubewegen? In ihrem Buch Next hat die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, die an der Universität St. Gallen lehrt, die vieldiskutierte These vertreten, dass die Zukunft nicht mehr uns, sondern den Computern gehöre. Ihr Artikel über zwischenmenschliche Beziehungen in Facebook-Zeiten zeigt, wie aus der »wahren Freundschaft« die Ware Freundschaft werden kann.

Unter dem Stichwort »Romantische Unternehmer« untersucht der Frankfurter Sozialwissenschaftler Kai Dröge neue Formen der Selbsterfahrung im Bereich der Intimbeziehungen, wie sie das Internet vermittelt. Zahlreiche Internetplattformen dienen inzwischen der Partnersuche und der Pflege von Liebesbeziehungen. Welche Identitätsangebote und Menschenbilder treten uns hier entgegen?

[14] DANIEL MILLERFacebook und die Folgen

[…] Die meisten Menschen fühlen sich in Gegenwart von Unbekannten befangen, weil sie nicht wissen, wie diese auf ihre Worte oder Taten reagieren werden. In dieser Hinsicht bietet sich Facebook gewissermaßen als Puffer an. Auf Facebook können wir einiges über potentielle Bekannte in Erfahrung bringen, ohne uns der Unbehaglichkeit eines direkten Kontakts auszusetzen. Bei sich anbahnenden Liebesbeziehungen ist die Gefahr von Peinlichkeiten und Mißverständnissen sogar noch größer. Das liegt unter anderem an unserer Erwartung, daß sich beide Beziehungspartner etwa in gleichem Maße engagieren müssen. Zahllose Romane und Filme handeln von den Problemen, die es mit sich bringt, wenn einer mehr will als der andere oder jemand das Interesse des anderen überschätzt. Auf Facebook können wir uns über den anderen informieren, bevor wir entscheiden, ob wir uns auf eine Beziehung mit ihm einlassen. Dabei bleiben wir in der Regel anonym, und der Betroffene erfährt nicht das Geringste. […] Auch für die Pflege bestehender Beziehungen ist Facebook nützlich, weil man sich vor jedem Wiedersehen über wichtige Lebensdaten oder aktuelle Geschehnisse im Leben des anderen informieren kann und die Peinlichkeit vermeidet, nicht über seine Angelegenheiten auf dem laufenden zu sein.

Das Internet hatte sich bereits vor Facebook zu einer riesigen Dating-Agentur entwickelt. Einige der wichtigsten webbasierten sozialen Netzwerke, etwa Friendster, wurden eigens für solche Zwecke errichtet. Daß [man sich] im Web stets möglichst fit und sexy präsentiert, liegt an dem Wissen, daß jede(r) potentielle Liebhaber(in) einen Blick auf ihr Facebook-Profil werfen wird. […] Unabhängig von seiner aktuellen Beziehung träumt doch jeder Mensch davon, sich zu »verbessern«.

Viele Autoren, die sich mit Facebook auseinandersetzen, kreisen unermüdlich um die müßige Frage, ob Facebook-»Freunde« nun echte Freunde sind oder nicht. Dabei übersehen sie großzügig, daß wir auch in der analogen Welt alle möglichen Leute als [15] »Freund von mir« bezeichnen, ohne das Wort auf die Goldwaage zu legen.1 Tatsächlich ist niemand so dämlich, seine 700 Facebook-Freunde für enge Vertraute zu halten. Wie ein gut belegter Aufsatz zeigt, steigt das Ansehen von College-Studenten unter ihresgleichen, je näher sie der Zahl von 302 Facebook-Freunden kommen, um dann jedoch wieder zu sinken.2 In welchem Maß Facebook-Freunde aneinander Anteil nehmen, ist vollkommen unterschiedlich. Selbst enge Freunde, die man immer nur zusammen sieht, tauschen sich unter Umständen regelmäßig zusätzlich über ihre »Pinnwände« aus und sind dann eben auch beste Facebook-Freunde. Bei anderen ist die »Freundschaft« allein der Absicht geschuldet, die Gesamtzahl der Freunde hochzutreiben, und beschränkt sich dann auch genau darauf. Allerdings haben die Nutzer schnell begriffen, daß man auf Facebook auch neue, rein »virtuelle« Freunde finden kann, deren Bekanntschaft man allein über Postings macht. Man tauscht Mitteilungen aus, begegnet sich aber nie außerhalb des Netzwerks. Als ich bei Facebook anfing, nahm ich zunächst alle Freundschaftsanfragen ehemaliger Studenten an, was ich dann rasch wieder sein ließ. Von diesen frühen Facebook-Freunden kenne ich allerdings einige inzwischen besser als zu der Zeit, als sie noch studierten. Dennoch rechne ich nicht damit, ihnen in der analogen Welt wiederzubegegnen. Ich glaube, es ist uns allen schlichtweg egal, ob man das als »Freundschaft« bezeichnen kann oder nicht.

Der Grund für das Vorherrschen solcher Debatten ist womöglich mehr als nur semantische Pedanterie. In Gesprächen über Facebook stößt man immer wieder auf einen Topos, der Innovationen der Moderne regelmäßig begleitet: die Furcht, daß alles immer oberflächlicher wird, daß in diesem Fall Facebook eine Inflation herbeiführt, die dem Wert wahrer Freundschaft abträglich ist. Ich sehe keine Indizien dafür, es scheint mir eher so, daß gute Freunde ihren Kontakt über die Seite intensivieren. Daß [16] die vielen neuen Facebook-Freundschaften keinen Verlust an Qualität bedeuten, ließe sich durch die Effizienzgewinne erklären, die uns das Netzwerk ermöglicht. Dank Facebook können wir unsere Freundschaften jederzeit und überall pflegen, ohne großen Zeitaufwand. Wahrscheinlich ist es tatsächlich ein Zeichen tiefer Bindung, wenn man zwei Stunden mit dem Auto fährt, um jemanden zu treffen. Allerdings spricht es für ein noch engeres Verhältnis, wenn man diese zwei Stunden für die direkte Kommunikation via Instant Messenger nutzt und ein Gespräch über Beziehungsprobleme oder die jeweiligen Aktivitäten führt, anstatt im Stau zu hocken, um sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.

Mehrere ethnographische Feldstudien deuten an, daß neue Kommunikationstechnologien signifikante Auswirkungen auf Paarbeziehungen haben. So hat das Mobiltelephon, das unbelauschte Gespräche erleichtert, auf Jamaika vermutlich zu einer Zunahme illegitimer bzw. multipler sexueller Affären geführt und deren Entdeckung unwahrscheinlicher gemacht,3 was wohl eine der signifikantesten Folgen der Ausbreitung dieser Technologie ist. Obwohl sich Facebook ebenfalls für geheime Verabredungen nutzen läßt, legen die Ergebnisse meiner Studie auf Trinidad nahe, daß es vorwiegend den gegenteiligen Effekt hat. Man kann beim Ausgehen jederzeit von jemandem photographiert werden, der das Bild anschließend auf Facebook stellt. Die meisten meiner Gesprächspartner wußten von Freunden zu berichten, die auf diese Weise in Schwierigkeiten geraten waren. Ich vermute, daß die Zahl illegitimer bzw. multipler sexueller Verhältnisse auf Trinidad inzwischen rückläufig ist, weil es viel schwieriger ist, diese vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Demnach würde Facebook auf diesem Gebiet erschweren, was das Mobiltelephon erleichterte.

Allerdings können bestehende Beziehungen durch diese neue Form von Öffentlichkeit auch gefährdet werden […]. Hauptsächlich weil sie nachvollziehbar macht, welche Bekanntschaften der [17] eigene Partner sonst noch pflegt. Auf Facebook kann man ihm ungestört nachspionieren, wie mir eine Teilnehmerin der Studie bestätigte: »Man guckt regelmäßig auf seinem Profil nach. Also, gestern waren es 147 Freunde, jetzt sind es 148, wer ist denn dazugekommen? Das kann echt zwanghaft werden. Ich versuche, mich zurückzuhalten, aber es ist schwer, wenn man es direkt vor Augen hat. Ich glaub sogar, daß sich manche absichtlich mit dem Partner von jemandem anfreunden, weil Trinis* stehen nun mal auf bacchanal und Chaos und daß man die Beziehung von jemandem kaputtmachen kann, auch wenn man den Typen gar nicht haben will. Das ist echt mies, finde ich.«

Facebook löst dieses Verhalten ihrer Ansicht nach zwar nicht aus, verstärkt aber dessen negative Folgen für bestehende Beziehungen.

Zur Rolle, die das Netzwerk beim Zerbrechen von Beziehungen spielt, verweise ich schließlich auf Ilana Gershons jüngst erschienene Studie Breakup 2.0. 4 Gershon zeigt im Detail, wie amerikanische Studenten Beziehungen unter Verwendung neuer Medien wie Facebook beenden. Daraus erhellt erstens, daß Facebook nicht nur für Trennungen genutzt wird, sondern auch deren Ablauf durch das erhöhte Maß an Öffentlichkeit verändert; zweitens, daß die Betroffenen anders reagieren, wenn sie von der Trennung via Facebook statt in einem direkten Gespräch oder per Telephon erfahren, und drittens, daß sie aufgrund der relativen Neuheit des Netzwerks äußerst unsicher sind, wie sie eine Trennung via Facebook interpretieren sollen, was die Gefahr von Mißverständnissen in einer ohnehin sensiblen Situation noch erhöht.

[…]

Wäre es möglich, daß viele User Facebook nicht zur Anbahnung von Freundschaften benutzen, sondern umgekehrt ihre Freunde als Mittel betrachten, um eine Beziehung zu Facebook aufzubauen? Wäre es möglich, daß jemand in die Rubrik [18] Beziehungsstatus »Verheiratet mit Facebook LOL« einträgt? Die Kulturkritik wird nicht müde zu beteuern, daß wir in einer Epoche des Materialismus und Fetischismus leben, in der Beziehungen zu Dingen an die Stelle von Beziehungen zu Menschen treten. Das beschreibt die Welt, in der wir leben, aber nur sehr oberflächlich. […] [D]ie Kultur [dient] aus ethnologischer Sicht keineswegs dazu, die Beziehungen zwischen Menschen zu erleichtern. Sondern es sind umgekehrt die Beziehungen zwischen Menschen, etwa unter angeheirateten Verwandten, die die Kultur voranbringen. Folglich wäre eine Beziehung zu einem Ding namens Facebook nicht notwendig weniger wert als eine Beziehung zu einem Menschen.

Da Facebook ein soziales Netzwerk ist, würde es innerhalb einer solchen Beziehung gewissermaßen als bester Freund auf Metaebene fungieren. In populären Fernsehserien wie Sex and the City wird der beste Freund als jemand dargestellt, an den man sich wendet, wenn man einsam, deprimiert oder gelangweilt ist. Ein solcher bester Freund wird sich nicht daran stoßen, daß ich ihn beim Essen störe oder von etwas anderem abhalte, weil er merkt, daß es mir bessergehen wird, wenn ich mit ihm über das sprechen kann, was mich umtreibt. In dieser Hinsicht zeichnet sich Facebook durch totale Zuverlässigkeit aus. Selbst um drei Uhr nachts, wenn sich auch mein allerbester menschlicher Freund eine Störung verbittet, ist Facebook für mich da. Ich kann mit anderen Menschen in Verbindung treten, um nicht mehr einsam zu sein und mich nicht länger zu langweilen – wobei ich aber auch noch deprimierter oder neidisch werden kann, sofern ich Leuten begegne, die offenbar sehr aktiv und gar nicht einsam sind. Doch das kann einem auch bei einem persönlichen Gespräch mit einem besten Freund aus Fleisch und Blut passieren. […] Manche Menschen [halten sich] für hoffnungslos unbeliebt und haben den Eindruck, daß andere sie meiden. Die Ergebnisse meiner Feldstudie deuten darauf hin, daß dies besonders bei Kindern im Schulalter recht häufig vorkommt. Diesen Menschen erscheint Facebook als weitaus zugänglicher und freundlicher als ihre Kameraden. Die Photos auf den Facebook-Seiten anderer richten sich zwar in der Regel nicht an einen persönlich, aber [19] man kann problemlos so tun, als wäre es so. Sobald man sie betrachtet, nimmt man am gesellschaftlichen Leben teil.

In den Zeitungen sind längst diverse Geschichten über negative Begleiterscheinungen von Facebook erschienen. Etwa über Männer, die ihre Frauen aus Eifersucht ermorden, und über pädophile Umtriebe. Seltener sind positive Meldungen, etwa daß Facebook jemanden am Selbstmord gehindert habe oder einem Vereinsamten Trost spende. Angesichts von mehr als 500 Millionen Usern kann man davon ausgehen, daß die meisten Berichte und Anekdoten über die Folgen der Facebook-Nutzung durchaus zutreffen. […] Man muß gar nicht behaupten, daß Facebook als virtueller Meta-Freund Depressionen kuriert oder Selbstmorde verhindert. Es genügt vollauf, anzuerkennen, daß es für einen gewissen Anteil der Bevölkerung höchstwahrscheinlich eine Art Freund ist, der die analogen Freundschaften signifikant ergänzt.

Facebook ist ein virtueller Ort, an dem man sein Herz nach Lust und Laune ausschütten kann, ob man nun Antwort erhält oder nicht. Auch können dort insbesondere Teenager das Dauerproblem der Langeweile angehen, ohne anderen Zeit zu rauben. Alle Vorzüge einer Freundschaft vermag die Seite indes nicht zu bieten: So kann man zwar vor dem Bildschirm einen trinken, doch wird dabei nur einer besoffen. Auch antwortet Facebook einem nicht immer, wenn man sich das wünscht. Und der Geschlechtsverkehr »mit« dem Netzwerk unterliegt erheblichen Einschränkungen. Doch auf einer Metaebene funktioniert es durchaus. Einschlägige Beispiele in meiner Feldstudie waren die Nutzerin, deren Posts um ihr frühgeborenes Kind kreisten, sowie ein User, dessen Vater lebensbedrohlich erkrankt war. Wie sich zeigte, störte es beide nicht, daß auch Fremde auf ihre Postings reagierten. Ihnen ging es darum, ihre Probleme mit anderen zu teilen, Facebook gewissermaßen zum Zeugen ihres Leids anzurufen, sich selbst zu erleichtern. Daß das Netzwerk aus echten Menschen besteht, macht Facebook zu einem beispiellos mächtigen und plausiblen Meta-Freund. Die Gefahren einer solchen Beziehung zeigten sich im Fall einer tatsächlich »Facebook-süchtigen« Ehefrau, die dem Netzwerk zuliebe die Beziehung zu [20] ihrem Mann vernachlässigte, woran diese schließlich zerbrach. Zweifellos können wir die Möglichkeit, daß Facebook für manchen zum Fetisch wird, nicht völlig von der Hand weisen.

Fußnoten

1Ray Pahl, On Friendship, Cambridge: Polity, 2000.

2Stephanie Tom Tong / Brandon Van Der Heide / Lindsey Langwell, »Too much of a good thing? The relationship between number of friends and interpersonal impressions on Facebook«, in: Journal of Computer-Mediated Communication 13/2008, S. 531–549.

3Heather Horst / Daniel Miller, The Cell Phone. Anthropology of Communication, Oxford: Berg, 2006.

4Ilana Gershon, Breakup 2.0. Disconnecting over New Media, Ithaca: Cornell University Press, 2010.

Worterklärungen

* Bewohner von Trinidad (Anm. d. Hrsg.).

MARK ANDREJEVICFacebook als neue Produktionsweise

Facebook ist mehr als eine Plattform für Sozialität oder eine bestimmte Organisationsform der Infosphäre. lm Wesentlichen ist es eine Produktionsweise – eine Art und Weise, Menschen zum Arbeiten zu bringen, die den Wert generieren, der es der Plattform erst ermöglicht, all die anderen Funktionen zu erfüllen, die man ihr zuschreibt. Diese Strategie des Wertgenerierens ist ebenso erstaunlich erfolgreich […] wie verblüffend unrentabel, hat Facebook doch erst vor zwei Jahren Gewinn gemacht und verdient noch immer viel weniger als Unternehmen mit weitaus geringeren Bewertungen (Jackson 2011). Mit anderen Worten: Die geschätzten Werte sind überwiegend spekulativ.

Als Produktionsweise ist Facebook folglich alles andere als solide. Wie der florierende Online-Handel, von dem es ein wichtiger Teil ist, sucht es ständig nach neuen Möglichkeiten, seine schnell wachsende Nutzerbasis zum Arbeiten einzusetzen. 2011 beispielsweise kündigte das Unternehmen Pläne an, es wolle sein Potential für das virale Marketing »zu Geld machen«, indem es Werbekunden gestatte, »Facebook-Werbebotschaften, die Nutzer aus freien Stücken über Marken posten« (Fowler 2011), zu kaufen und zu verwerten. Wenn Sie zum Beispiel zufällig eine Starbucks-Filiale aufsuchen oder – noch besser – sich Gedanken über die Freuden eines Venti-Skinny-Mocha in Ihrem Statusupdate bei Facebook machen, dann sollten Sie damit rechnen, dass Sie der (unbezahlte) Star in einer Starbucks-Werbekampagne sein werden, die sich gezielt an Ihre Freunde richtet. Oder wie es ein Nachrichtendienst formulierte:

[21] »Gesponserte Beiträge werden aufgegriffen und erneut oben auf der rechten Kolumne der Homepage neben anderen Anzeigen platziert […]. Die Nutzer erfahren gar nicht, dass ihre Beiträge gesponsert sind und als Anzeigen genutzt werden, und sie haben keine Möglichkeit, aus dem Dienst auszusteigen« (ebd.).

Das Ziel ist es, den Prozess des viralen Marketing zu automatisieren, zu rationalisieren und »zu Geld zu machen«. Während sich Konsumenten früher aufs Geratewohl über Produkte äußerten und die betroffenen Unternehmen dies nur mühsam mitbekommen und verfolgen konnten, ändert sich all dies, wenn sich die Sozialität auf eine kommerzielle Plattform verlagert, wo Verweise auf Markennamen verfolgt und für Werbezwecke eingesetzt werden können – gegen eine Gebühr.

Auf der Produktionsseite dient Facebook als Plattform zur Ausbeutung des Soziallebens von Arbeitnehmern, indem ihre sozialen Netzwerke für potentielle Einstellungen, Kunden und Marketingkontakte erschlossen werden. So wurde beispielsweise jüngst darüber berichtet, wie Facebook im Anschluss an die globale Finanzkrise von Personalvermittlern genutzt wurde. Nachdem über einen arbeitslosen Ingenieur, der monatelang nach einem Job gesucht hatte, in der New York Times berichtet wurde, bekam er ein »Jobvite« von einem ehemaligen Kollegen, der ihn durch eine Online-Personalvermittlungssoftware fand, die Seiten wie Facebook und LinkedIn durchkämmt. Derartige Anwendungen markieren einen Wandel bei den Social Networks – von heimlich genutzten Suchressourcen hin zu Personalvermittlungsdatenbanken und Dienstprogrammen für virales Marketing. Um die sozialen Netzwerke von Arbeitnehmern zu nutzen, setzen Unternehmen Anwendungen so genannter »Software as a Service«-Anbieter wie Appirio darauf an. Die Anwendung durchsucht die Netzwerke und informiert die Arbeitnehmer, »wenn neue Jobs angeboten werden und welche ihrer Freunde dafür geeignet sein könnten« (Weed 2009: 1). Wenn man einmal vom praktischen Nutzen für Arbeitssuchende und Unternehmen absieht, weiten derartige Programme die Arbeitsplatzüberwachung [22] bis ins Sozialleben von Arbeitnehmern aus. In dieser Hinsicht holt nun auch der Arbeitsplatz die Marketingindustrie ein, die sich schon länger der Macht der Interaktivität bedient, um in Bereiche des Soziallebens einzudringen, die sich bislang großenteils dem Einblick der Marktforscher entzogen. […]

Sozialität im digitalen Enclosure*

Auch wenn sich das Geschäftsmodell von Facebook im Detail weiterentwickelt, bleibt doch die zugrunde liegende Logik klar: Der Bereich des Sozialen lässt sich im Hinblick auf Informationen ausbeuten, die für gezielte Marketingbotschaften genutzt werden können. Die Gewinnung einer zunehmend breiten und tiefen Vielfalt von persönlichen Informationen setzt die Errichtung einer kommerzialisierten interaktiven Infrastruktur voraus – eine, die wie Facebook und die auf dessen Plattform laufenden Anwendungen standardmäßig und kontinuierlich Informationen liefert. Nach James Boyle (2003) könnten wir diese Infrastruktur als eine Form von digitalem Enclosure bezeichnen, in dem auf neuartige Weise Informationen aufgezeichnet und privatisiert werden. Indem wir unsere Konsumgewohnheiten, unser Arbeitsleben und unser Sozialleben in kommerzielle digitale Infrastrukturen verlagern, vermögen diese Infrastrukturen Informationen über unsere Aktivitäten zu gewinnen – Informationen, die sich sammeln und nutzen lassen, um das Konsumverhalten zu untersuchen sowie die Möglichkeiten, wie es beeinflusst werden kann. Damit sollen die Vorzüge und Annehmlichkeiten von Facebook nicht herabgewürdigt oder abgetan werden. Vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass sein ökonomisches Modell auf der digitalen Gewinnung von Informationen über unsere sozialen Interaktionen beruht, die sich wiederum dazu nutzen lassen, den Kontext, in dem sie vorkommen, gemäß den Diktaten von Marketing und Werbung umzustrukturieren.

[23] Wenn es den Anschein hat, dass Facebook Elemente der traditionellen Gemeinschaft wiederbelebt und verbessert, indem es Menschen ermöglicht, Netzwerke aus Klatsch, Gesprächen und Interaktionen zu erhalten und zu erweitern, dann geschieht dies unter Bedingungen, die von Marketing und Kommerz diktiert werden. Selbst wenn wir uns auf »traditionellere« Netzwerke von Beziehungen zu verlassen meinen, werden diese transformiert, um die mit Facebook verbundene Kommerzialisierung des Soziallebens widerzuspiegeln. Wir tratschen zwar miteinander – doch in einem Kontext, in dem wir gleichzeitig füreinander als Reklameflächen dienen. Unsere persönlichen Interaktionen werden von Marketingexperten überwacht, und die Bedingungen, unter denen diese Interaktionen stattfinden, werden ständig auf Gewinnmaximierung getrimmt. Wir könnten dies als die formale Unterordnung des Sozialen unter kommerzielle Diktate bezeichnen. Das heißt zwar nicht, dass unsere Interaktionen miteinander samt und sonders instrumentalisiert werden – wir erhalten noch immer Kommunikationsformen aufrecht, die, was unsere praktischen Zwecke angeht, scheinbar unabhängig vom kommerziellen Charakter der Plattform sind, auf der sie stattfinden. Doch unschwer kann man sich vorstellen, wie der kommerzielle Charakter der Plattform Art und Inhalt der Interaktionen selbst durchdringen könnte. Während unsere sozialen Netzwerke produktive Anlagewerte auf dem Arbeitsmarkt werden, könnte ein erweitertes soziales Netzwerk nicht bloß als eine Form von Online-Sozialkapital, sondern auch als Online-Wirtschaftskapital fungieren: als ein Informationsvermögen, das der digitale Arbeiter pflegen muss, um in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts existieren zu können. Die Vorstellung an sich, was eine »qualifizierte« Freundschaft ausmacht, wird vom Versprechen auf wirtschaftliche Kapitalrendite vereinnahmt. Das dystopische ** Szenario, das in der Kapitalisierung sozialer Netzwerke aufscheint, ist das eines rationalisierten Instrumentalismus: die Durchdringung sozialer Netzwerke durch die quantifizierende Logik des Tauschwerts und die Erschaffung einer Welt, in der sich jeder Akt der [24] Kommunikation und der sozialen Interaktion als Werbung und als Marketing-Datenpunkt verdoppelt. Im Titel einer Investmentnotiz über soziale Netzwerke, die die Lehman Brothers herausgaben, wird dieses Szenario bereits vorweggenommen: »Wie viel sind Ihre Freunde wert?« (The Independent 2007: B1).

Privatsphäre und Privatisierung bei Facebook

Wenn Facebook Gewinne erwirtschaften soll, die auch nur einem Bruchteil seiner Bewertung entsprechen, müssen wir einfach davon ausgehen, dass sich solche Strategien vervielfachen werden. Ja, sofern Facebook an der Spitze der Entwicklungen in der Online-Ökonomie bleibt, können wir erwarten, dass sein kommerzielles Modell eine wichtige Rolle dabei spielt, wie sich die vorherrschenden kommerziellen Strategien dieser Ökonomie gestalten werden. Wenn wir weiterhin zulassen, dass das von Unternehmen wie Google und Facebook entwickelte Modell des rechnergestützten Geschäftsverkehrs bestimmt, wie wir im digitalen Zeitalter auf Informationen zugreifen und sie miteinander teilen, beteiligen wir uns an der galoppierenden Kommerzialisierung des Soziallebens. In dieser schönen neuen Welt bedeutet »kostenlos« in Wirklichkeit »kommerziell unterstützt«, während wir aggressiv profitorientierte private Plattformen wie öffentliche Einrichtungen behandeln.

Den Zugang zu einer solchen Welt »bezahlen« wir, indem wir uns der kommerziellen Überwachung unterwerfen. Es gehört zu den eher irreführenden Pseudoweisheiten, die in Diskussionen über soziale Netzwerke im Internet zirkulieren, dass ihre Bewohner in einem Konflikt leben: Jede Umfrage offenbare zwar eine große Besorgnis über die Bedrohungen der Privatsphäre, doch gleichwohl würden die Leute im Netz bereitwillig immer mehr persönliche Informationen veröffentlichen. Unternehmenslobbyisten und Antiregulierungsfanatiker verweisen gern auf die Bereitwilligkeit von Konsumenten, persönliche Informationen ins Netz zu stellen, wenn sie Aufrufe zu strengeren Kontrollen des Datenschutzes abtun wollen: »Die Leute wollen doch ihre [25] Informationen zur Verfügung stellen«, behaupten sie. »Der Staat sollte sich da raushalten und ihre Freiheit, dies zu tun, nicht einschränken.« Die Botschaft dahinter lautet: »Beurteile die Vorlieben von Menschen nicht nach dem, was sie sagen, sondern nach dem, was sie tun.« Wenn, wie eine Umfrage kürzlich ergab, 85 Prozent der Internetnutzer nicht wollen, dass Informationen über ihre Online-Aktivitäten für gezielte Werbung verwendet werden, dann hält sie das anscheinend nicht davon ab, ins Netz zu gehen, wo sie höchstwahrscheinlich zu 100 Prozent gezielter Werbung ausgesetzt sind (Turow et al. 2007).

Aus kommerzieller Sicht ist der scheinbare Widerspruch produktiv, da die aufkommende Ökonomie der kundenindividuellen Massenproduktion sich auf detaillierte Porträts von Geschmack und Verhalten der Konsumenten stützt, um gezielte Werbebotschaften zu platzieren. Ein Wirtschaftswissenschaftler hat dies so formuliert: »Es ist ein absolutes Paradox […]. Die Menge an persönlichen Informationen, die dort produziert wird, ist für Marketingexperten perfekt. Es ist eine wahre Schatztruhe« (Waters 2007: 11). Anhand dieser Formulierung lässt sich dieses profitable Paradox lösen, auch wenn sie in ihrer gespielt blauäugigen Überraschung über eine verdächtig praktische Fügung die Situation genau verkehrt herum darstellt: dass nämlich genau in dem Augenblick, da die Marketingexperten mehr Informationen über Konsumenten benötigen, sich die Konsumenten spontan dazu entschlossen haben, diese Informationen in leicht zu gewinnender Form abzuliefern. Natürlich ist der Zugang zu einem zunehmend kommerzialisierten Netz bewusst so strukturiert, dass beliebte Dienstleistungen als Mittel zur Informationsabschöpfung genutzt werden können. Soziale Netzwerke und andere beliebte kommerzielle Seiten im Internet sind ja nicht bloß Dienstleistungen für Konsumenten, sondern auch produktive Ressourcen, die von privaten Unternehmen kontrolliert werden, die die Macht haben, die Bedingungen für den Zugang zu diktieren.

Aus dieser Sicht ist die Behauptung bestenfalls irreführend, dass Datenschutzbedenken angesichts des Nutzerverhaltens irrelevant wären. Viel wahrscheinlicher ist, dass derartige Bedenken aus dem wachsenden öffentlichen Wissen um die Art und Weise [26] resultieren, wie die Ausbeutung persönlicher Informationen eine Bedingung für den Zugang zu alltäglichen Kommunikationstechniken wird. Die Öffentlichkeit steht demnach vor der Wahl, sich der Überwachung zu fügen oder leer auszugehen – was in einer zunehmend informatisierten Ökonomie heißt, das Nachsehen zu haben, aus einer wachsenden Online-Gemeinschaft herauszufallen und auf die angeblich revolutionäre Macht der Interaktivität zu verzichten.

Es ist kein Zufall, dass Bedenken wegen des Datenschutzes genau in dem Augenblick zunehmen, wenn die Leute so viele Informationen wie nie zuvor der Kontrolle von Marketingexperten übereignen. Die Konsumenten stehen vor einer Wahl, die nicht von ihren eigenen Vorlieben geprägt ist, sondern von den ökonomischen Imperativen der Privatunternehmen, die neuerdings das Internet beherrschen. Ein Paradox ergibt sich dann nur, wenn Letztere mit Ersteren verwechselt werden – wenn ökonomische Imperative als simple Widerspiegelungen von Vorlieben und Wünschen der Konsumenten gedeutet werden und nicht als strukturierende Kräfte, die deren Optionen kanalisieren und einschränken. Eine solche Verwirrung ist nicht nur endemisch für das gegenwärtige Wiederaufleben der Ideologie der freien Marktwirtschaft, die sich mit dem Triumph des Neoliberalismus im Zeitalter nach dem Wohlfahrtsstaat verbindet, sondern auch für die atemlose Rhetorik, die das Aufkommen der interaktiven Ökonomie umgibt.

Literatur

Boyle, James: The Second Enclosure Movement and the Construction of the Public Domain. In: Law and Contemporary Problems Bd. 66 (2003) Nr. 1/2. S. 147–178.

Fowler, Geoffrey: Facebook Friends Used in Ads. In: The Wall Street Journal, 26. Februar 2011. Unter: http://online.wsj.com/article/SB1000142405248704013604576104532107484922.html (zuletzt aufgerufen am 10. Mai 2011).

Independent, The: Battle for Facebook. 26. September 2007. S. B1.

Jackson, Nicholas: Facebook Valuation Soars to $ 70 Billion on Secondary Market. In: The Atlantic Monthly. 26. Februar 2011. Unter: http://theatlantic.com/technology/archive/2011/02/facebook-valuation-soars-to-70-billion-on-secondary-market/71745/ [27] (zuletzt aufgerufen am 10. Mai 2011).

Turow, Joseph / Mulligan, Deidre K. / Hofnagle, Chris Jay: Research Report: Consumers Fundamentally Misunderstand the Online Advertising Marketplace. University of Pennsylvania Annenberg School for Communication and UC Berkeley Law’s Samuelson Law, Technology & Public Policy Clinic, 2007. Unter: www.law.berkeley.edu/clinics/samuelson/annenberg_samuelson_advertising-11.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. April 2007).

Waters, Richard: It’s a Total Paradox […]. An Absolute Treasure Box. In: Financial Times. 24. September 2007. S. 11.

Weed, Julie: Finding New Employees, Via Social Networks. In: The New York Times. 30. Mai 2009. Unter: www.nytimes.com/2009/05/31/jobs/31recruit.html?_r=l&scp=2&sq=appirio&st=cse (zuletzt aufgerufen am 1. Juni 2009).

Worterklärungen

*(engl.) Einschließung (Anm. d. Hrsg.).

**wie eine negative Utopie (Anm. d. Hrsg.).

CHRISTIAN HELLERDas Ende der Privatsphäre

Ob den Verdateten wirklich bewusst ist, worauf sie sich einlassen? Vielleicht nicht. Aber wie sähen die Alternativen aus? Ein vehementer Verteidiger der Privatsphäre könnte vorschlagen: »Weigere dich einfach, das Internet-Spiel mitzuspielen. Halte dich konsequent raus. Bleib in der schönen Welt da draußen, fern von Internet-Eingabe-Geräten. So wahrst du deine Privatsphäre.«

Nun besteht aber einerseits ein enormer gesellschaftlicher Druck, am Netz teilzunehmen. Fernsehsendungen enden regelmäßig so: »Wenn Sie mehr erfahren möchten, besuchen Sie unsere Website unter …« Kommentare, Wettbewerbsbeiträge und Bewerbungen sollen eingereicht werden per Online-Formular oder E-Mail. (E-Mails an Google-Mail-Adressen werden übrigens von Googles Algorithmen durchforstet, die im Text-Inhalt nach Hinweisen für passende Werbeanzeigen suchen.) Einladungen zu Veranstaltungen lassen sich verführerisch einfach über Facebook oder ähnliche Dienste abwickeln, was Außenstehende leicht ausschließt. Ein Verweigerer müsste nicht nur [28] Selbstdisziplin üben, sondern vor allem wachsenden Verzicht am gesellschaftlichen Leben.

Andererseits gibt es ein solches »Außerhalb« des Internets gar nicht mehr. Das scheint vielen in Deutschland schlagartig im Sommer 2010 bewusst geworden zu sein, als die Debatte über Googles Dienst »Street View« entbrannte.

Seit 2005 erfasst und veröffentlicht Google in seinen Diensten »Google Maps« und »Google Earth« fotografisch die Erdoberfläche. Angefangen hat alles mit Satellitenfotos sämtlicher Erdregionen, von der Antarktis bis nach Garmisch-Partenkirchen. Über die Jahre wuchs die Bildauflösung dieser Fotos beständig: Konnte man früher gerade einmal das eigene Haus ausmachen, so klappt das heute fürs eigene Auto. Menschen sind zwar bisher nur als Punkte mit Schattenwurf erkennbar. Einen interessierten Blick in Nachbars Garten kann man aber trotzdem werfen.

Dann kam »Street View«: Google fährt weltweit die Innenstädte mit Autos ab, auf deren Dach Kameras montiert sind, und zwar solche mit Rundum-Ansicht: Für alle abgefahrenen Straßen entstehen Panoramaaufnahmen aus Sicht eines Auto-Dachs. Diese Bilder sind jetzt, neben der Draufsicht von oben, als zusätzliche Perspektive auf Google Maps und Google Earth anwählbar. Bekamen wir vorher also nur Einblick in Bereiche, die uns und unseren Augen meist unzugänglich sind – Dächer, Innenhöfe, Gärten –, werden nun die Anblicke nachgereicht, die sich auch jedem normalen Fußgänger bieten: Hausfassaden, Werbeplakate, andere Passanten – der öffentliche Raum, wie ihn jeder sieht, nicht nur der Spionagesatellit.

Umso erstaunlicher war, dass sich gerade daran eine Welle der Empörung entlud. Street View macht nichts öffentlich, was nicht schon vorher öffentlich war. Aber es macht deutlich, dass die Tentakel des Netzes inzwischen den gesamten öffentlichen Raum erfassen und nicht nur ausgewählte Punkte, die man leicht meiden kann. Befeuert durch eine skandalisierende Medienberichterstattung erkannten viele Betroffene ganz richtig: Ohne mein Zutun oder meine Einwilligung reicht der Raum, der ins Internet eingespeist wird, inzwischen bis zu meiner Wohnungstür und meinem Küchenfenster.

[29] Die Gegner von Street View fanden viele gute und schlechte Argumente gegen den Dienst. Was sie nicht fanden, war eine wasserdichte rechtliche Handhabe: An öffentlichen Straßen gelegene Hausfassaden lassen sich schwerlich dem öffentlichen Raum entziehen, den jeder fotografieren und publizieren darf. Ins Bild geratene Passanten werden verpixelt – individuelle Persönlichkeitsrechte bleiben gewahrt. Google hatte aber ein Image als freundlicher Riese zu verlieren. Also schenkte es dem deutschen Datenschutz eine Geste der Demut: Bewohner und Besitzer von Häusern erhielten ein Einspruchsrecht zur Unkenntlichmachung ihrer Fassaden in Street View.

An der Netz-Bekanntheit dieser Fassaden ändert das wenig. Googles Rücksichtnahme reicht nur bis zur Zensur der Fassaden-Fotos, die es selbst geschossen hat – nicht aber bis zur Zensur dessen, was Google-Nutzer aus ihren eigenen Fotoapparaten heraus in den Dienst hochladen. Nutzer von Street View haben die Wahl, sich Googles Fassadenbilder überlagert von den Fassadenbildern der Nutzer anzeigen zu lassen – und einige besonders Eifrige füllen mit ihrer eigenen Arbeit systematisch die Bilderlücken auf, die Hausbewohner-Einsprüche in die Straßenzüge deutscher Städte gerissen haben. Und was sich an Fassaden nicht bei Google findet, findet sich vielleicht bei der Konkurrenz: Zum Beispiel bietet Sightwalk.de Panorama-Straßenansichten der wichtigsten deutschen Innenstädte an – und zwar ohne große Aufregung bereits seit 2009. Microsofts Dienst »StreetSide« macht dasselbe und befindet sich im Jahr 2011 in einer ähnlichen Kompromisssuche mit deutschen Datenschützern wie Street View. Fassaden anschauen kann man aber unzensiert schon seit Längerem bei Microsofts »Bing Maps«. Das bietet im Gegensatz zu »Google Maps« nicht nur die reine Vogelperspektive in direktem Lot von oben nach unten, sondern auch in 45°-Schrägen nach allen vier Himmelsrichtungen.

All das ist nur ein Beispiel für einen allgemeineren Trend: Ob nun durch Google-Autos oder Überwachungskameras, durch staatliche Abhörwanzen oder Handyfotos, durch Webcams oder WLAN-Ortungswagen – langsam nähert sich die Erfassung unserer Welt durch Mess- und [30] Aufzeichnungsgeräte einer Totalität an. Und was erfasst wird, wird oft genug breit weiterverteilt, vielleicht sogar jedermann zugänglich gemacht.

Allein mit einem modernen Mobiltelefon trägt bald jeder eine Foto- oder Videokamera, ein Ton-Aufzeichnungsgerät und einen Peilsender mit sich herum. Auch Internet haben diese Geräte inzwischen stets eingebaut: Die persönlichen Nachrichtenticker, die sich Twitterer nennen, berichten via Handy heute aus scheinbar jeder noch so geschlossenen Veranstaltung live. So fällt es immer schwerer, Räume gegen einen Informationsfluss nach innen oder außen abzuschotten. […]

Kaum noch ein Raum oder eine Situation scheint sicher vor den Maschinen, die die äußere Welt in Datenfutter fürs Netz verwandeln. Langfristig wirksame Abwehrmöglichkeiten gegen die Vervielfältigung der Augen und Ohren um uns herum sind nicht in Sicht. Wenn morgen in jeder Brille und übermorgen in jedem Augen-Implantat eine Kamera mit Echtzeit-Übertragung in die globalen Infoströme eingebaut ist, wollen wir dann Brillen und Augen verbieten?

Die Ohnmacht des Rechts über das Netz und die Daten

Verbote – ja, warum eigentlich nicht? Der Verteidiger der Privatsphäre könnte einwenden: »Dass Technik möglich oder sogar schon da ist, heißt nicht, dass sie eingesetzt werden sollte. Diese Entscheidung hat sich dem gesellschaftlichen Wohl zu beugen. Jenes setzt sich notfalls durch den Zwang der Gesetze durch. Privatsphäre halten wir für einen Bestandteil des gesellschaftlichen Wohls. Notfalls müssen wir das Netz zum Respekt davor zwingen.«

Es kann nicht sein, was nicht sein darf: »Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein.«1 Tatsächlich erweisen sich Gesetze [31] aber oft genug als unfähig, dem Netz wirksam etwas vorzuschreiben.

Das Recht setzt auf die Durchsetzungsmacht einzelner Staaten in ihren Territorien. Das Netz aber greift über einzelne staatliche Machtgebiete hinaus. Erlässt Deutschland Gesetze, die das Netz regeln sollen, finden die Regelverstöße halt auf Computern im Ausland statt. Dort können sie trotzdem noch von Deutschen abgerufen oder beliefert werden, denn die Verbindungen des Netzes überschreiten Staatsgrenzen. Es bräuchte also globale Rechtslösungen. Die aber kommen nur zäh voran: Weltweit gibt es zu große Unterschiede und Widersprüche zwischen den verschiedenen Rechtsnormen und -interessen. Ehe sich hier die Kräfte sammeln, hat das Netz bereits Fakten geschaffen. Politische und bürokratische Vorgänge alter Form kommen da kaum hinterher.

Traurige Zeugen dieser Entwicklung sind die Musik- und Filmindustrie sowie ihre Brüder und Schwestern der Rechteverwertungsbranche. Lange Zeit lebten sie glücklich davon, dass ihre Produkte – Musik, Bild, Film, Text – nur auf knappen, kontrollierbaren Datenträgern aus Papier oder Kunststoff verbreitet werden konnten. Dann landeten diese Produkte nach und nach als entkörperlichte Information im Netz. Dabei halfen viele Millionen Netz-Nutzer: Achselzuckend verstießen sie gegen undurchsetzbare Gesetze, als sie die Inhalte gekaufter oder auch nur geliehener Datenträger in ihre Internet-Leitungen kopierten.

Findet eine begehrte Information einmal den Weg ins Netz, dann ist sie dort nur schwer wieder herauszubekommen oder sonstwie unter Kontrolle zu bringen. Das Netz ist eine Verbreitungs-, Kopier- und Gedächtnismaschine sondergleichen. Wenn ich hier irgendwo etwas lösche, kann ich mir nie sicher sein, dass nicht andernorts bereits eine Kopie gezogen wurde. Jede Information durchquert auf ihren Wegen Dutzende Vervielfältigungs-Stationen verschiedenster Betreiber. Jeder Einzelne davon kann entscheiden, ob er sich die Information kopiert, insgeheim an Dritte weiterreicht oder gar für jedermann öffentlich macht. Aussichtslos ist die Absicht, Informationen zu entfernen, die einmal durch die Tiefen des Netzes gejagt wurden. Wer gezielt eine [32] Information im Netz zu löschen versucht, der provoziert eher Aufmerksamkeit für das, was er unterdrücken will – und damit dessen Vervielfältigung.

Die Produkte der Musik- und Filmindustrie sind ins Netz gefallen. Sie lassen sich nicht einfach wieder herausfischen. Sie entziehen sich hier der Kontrolle, die das Gesetz ihren Eigentümern eigentlich garantiert. Wild werden sie im Netz konsumiert, getauscht, verschenkt, vermischt und umgestaltet – unter Millionen von Gesetzesverstößen täglich. Um nur einen relevanten Bruchteil davon zu ahnden, müssten ganze Bevölkerungsschichten vor Gericht gezerrt werden. Dieser Kampf gegen »Raubkopierer« und »Internetpiraterie« ist so verzweifelt wie aussichtslos. Wer ihn gewinnen will, der müsste das Internet abschalten.

Genauso wie mit den Daten der Rechteverwertungsbranche verhält es sich mit unseren persönlichen Daten. Nicht nur Unternehmen wie Google oder Facebook, sondern Millionen unserer Mitmenschen befördern sie ins Netz. Geraten sie einmal in dessen Sog, dann haben wir jede Kontrolle über sie verloren. Als unbeschwerte Einsen und Nullen vervielfältigen sie sich mit Leichtigkeit, passen in jede Tauschbörse und durchqueren mühelos jedes Einfang-Gatter, das sie stoppen sollte. Wir können natürlich weiter Gesetze erlassen, die diese Wirklichkeit kriminalisieren. Das heißt aber nicht, dass diese Gesetze das Gewünschte bewirken.

Kapitulation

Unser Leben lässt sich heute aufteilen in zwei Berge von Daten: solche, die jetzt bereits in irgendeinem digitalen Speicher, in irgendeiner Datenbank lagern; und solche, die bald in einer solchen lagern werden.

Sind unsere Daten bereits irgendwo gespeichert, dann haben wir die Kontrolle über sie verloren – egal, was die versprechen, denen wir sie anvertraut haben. Wird nicht böswillig hinter unserem Rücken mit ihnen gehandelt, dann werden sie eben von Dritten gestohlen. Dass 2010 auf dem Schwarzmarkt angeblich [33] anderthalb Millionen gehackte Facebook-Profile zirkulierten,2 erscheint angesichts der riesigen Facebook-Gemeinde fast schon wie eine statistische Zwangsläufigkeit. Aber selbst moderne Staaten »verlieren« schon mal das eine oder andere: So sind etwa im Jahr 2007 Großbritannien Datenträger mit insgesamt 37 Millionen Datensätzen über seine Bürger abhanden gekommen: CD-ROM und Festplatten, die man aus Versehen frei herumliegen ließ.3 Doch was die unbeabsichtigte Freigabe sensibler Personen-Datensätze betrifft, hat vermutlich Sony im Frühjahr 2011 einen neuen Rekord aufgestellt: Als Opfer einer Hacker-Angriffswelle musste das Unternehmen beinahe wöchentlich eingestehen, Kundendaten wie Passwörter und Kreditkarteninformationen an Hacker verloren zu haben – die Zahl der betroffenen Kunden lag bei ungefähr 100 Millionen.

Wer heute Daten sammelt, speichert oder gar auswertet, kann nicht für ihre Sicherheit garantieren. Egal wie gut der Daten-Käfig aus Geheimhaltung, Verboten oder Verschlüsselung geschmiedet sein mag: Es gibt kein perfektes Sicherheitssystem. Jeder Plan hat seine Schwächen, jede Technik ihre Mängel, jede Behörde ihre Korruption. Jeder Informationsvorgang oder -Speicher ist nur so vertraulich wie die fahrlässigste oder böswilligste Hand, in die er gelangen könnte. Es ist ein Merkmal des digitalen Zeitalters, dass oft kleinste Verwundbarkeiten oder Lecks ausreichen, um die stolzesten Sicherheitsmauern vollständig zu Fall zu bringen. Und was einmal an Wissen ausläuft ins digitale Weltmeer, das lässt sich nicht wieder zurückpumpen. […]

Was aber ist mit dem Teil meines Lebens, der noch in keiner Datenbank steht? Nun, wir haben gesehen: Die Intelligenzen des Netzes müssen etwas nicht direkt gesagt bekommen, um es trotzdem mit guter Trefferquote vorherzusagen. Auch Daten, die für sich genommen harmlos wirken, erlauben unter [34] Hinzunahme von Weltwissen bemerkenswerte Schlüsse. Dieses Vermögen steigt, je mehr Daten als Statistikfutter verfügbar sind. Die Kenntnisse des Netzes über uns werden fortwährend umfangreicher und tiefgehender. Zugleich wächst die Computerintelligenz, sie auszuwerten und entlegene Stellen miteinander in Beziehung zu setzen: die Befähigung, Bekanntes zum Hebel fürs Hervorkehren von bisher Unbekanntem zu machen. Eine positive Rückkopplung: Je mehr ich weiß, desto leichter fällt es mir, das zu erhellen, was ich noch nicht weiß – also: noch mehr zu wissen. Hinzu kommt, dass die maschinellen Rechen- und Speicherkapazitäten, die all dem zugrunde liegen, seit Jahren immer weiter wachsen – und damit wohl noch einige Jahrzehnte fortfahren werden.

Fassen wir zusammen: Die Zahl der Augen und Ohren um uns herum steigt. Ebenso steigt die Zahl der freiwilligen oder unfreiwilligen, böswilligen oder einfach nur fahrlässigen Informanten. Das Verbreiten von Daten fällt immer leichter. Die Menge an Daten über unsere Welt explodiert und ist immer mehr Interessierten zugänglich. Ebenso schnell wächst die Intelligenz, sämtliche Puzzleteile zusammenzufügen, um aufzudecken, was noch geheimgehalten wird. All das staut sich auf zu einem gewaltigen Druck gegen die Privatsphäre als Raum des Verborgenen. Die Orte, Gelegenheiten und Sachverhalte, die sich vor diesem Druck sicher glauben können, schrumpfen in Zahl und Größe. Es fällt immer schwerer, sie zu verteidigen.

Die Kämpfe um Datenschutz und Privatsphäre sind Rückzugsgefechte. Privatsphäre, die einmal ans Netz verloren ist, lässt sich nicht wieder zurückgewinnen. Es geht nicht mehr darum, ihr irgendeinen Gebietsanspruch dauerhaft zu sichern. Es geht nur noch darum, den Rückzug möglichst unblutig zu gestalten – und das Unabwendbare vielleicht lange genug hinauszuzögern, damit wir uns ein wenig darauf einstellen können: Es wird keinen Bereich mehr geben, in dem wir uns vor fremden Blicken sicher glauben können. […]

[35] Zurückhaltung oder Filter?

Post-Privacy öffnet die Büchse der Pandora: Je mehr wir von uns mitteilen, desto mehr werfen wir in die Öffentlichkeit, was dort vermutlich nur wenige interessiert. Vollendete Post-Privacy wirft sorglos alle ungewaschenen Socken, alle unpassenden Intimitäten, alle unüberlegten Gedanken ins gemeinsame Forum. Zu Ende gedachte Post-Privacy verweigert die Selbstzensur entlang von Schicklichkeit, Scham und Rücksichtnahme. Post-Privacy verbannt das Private nicht in die dafür vorgesehenen Räume, sondern stellt es gleichberechtigt mit allem anderen in die Öffentlichkeit.

Aber sind getrennte Bereiche für verschiedene Themen, verschiedene Diskussionsregeln, verschiedene Sitten und Interessen nicht sinnvoll? Sorgt nicht gerade das Wegsperren unpassender Themen dafür, dass wir zivilisiert und gehaltvoll miteinander verkehren? Wird die Öffentlichkeit nicht erst dadurch benutzbar, dass das, was in ihr stören würde, ins Private abgeschoben wird?

Es gibt einen Ansatz, der versucht, das ungezügelte Schnattern der Post-Privacy unbegrenzt zuzulassen und es zugleich erträglich zu halten: die »Filtersouveränität«.

Der Ausdruck stammt von dem Blogger Michael Seemann.4 »Filtersouveränität« bezeichnet die Idee, dass nicht das Reden gezügelt werden sollte, sondern das Zuhören. Nicht das Ausmaß der Mitteilungen soll zielstrebig eingeschränkt werden, sondern ihre Wahrnehmung. Mittel der Wahl ist keine Zensur, die feststellt, was in eine Öffentlichkeit darf oder nicht, sondern mein individueller Filter, der für mein Auge allein alles ausblendet, was ich als störend empfinde.

Zensur und Regeln, was privat ist und was nicht, schränken Verbreitung an der Quelle ein, beschränken die allgemein zugängliche Informationsmenge. Der Filter dagegen setzt erst beim [36] einzelnen Zuhörer an – und beeinträchtigt dadurch weder, was gesagt werden darf, noch, was der Nebenmann in seiner eigenen Auswahl zu hören bekommt.

Der Filter gewährt größte Freiheit des Ausdrucks und größte Individualität der Lektüreauswahl. Die Kehrseite ist, dass er große Verantwortung auf den Leser ablädt. Der ist nun ganz allein dafür verantwortlich, was er an sich heranlässt, was er ignoriert, was er sich zumutet.