Wirtschaftsmärchen - Patrick Schreiner - E-Book

Wirtschaftsmärchen E-Book

Patrick Schreiner

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Beschreibung

»Die Löhne sind zu hoch.« »Wachstum kommt allen zugute.« »Der Sozialstaat ist unbezahlbar.« »Private Unternehmen sind effizienter als der Staat.« »Hohe Steuern bremsen die Wirtschaft.« Derlei Behauptungen machen Stimmung – für mehr Markt und weniger Politik, für mehr soziale Ungleichheit und weniger Umverteilung, für mehr Vereinzelung und weniger soziale Sicherheit. Sie sind Ausdruck eines neoliberalen Zeitgeists, der auf »unternehmerische Freiheit«, Konkurrenz, Privateigentum und »Eigenverantwortung« setzt. In diesem Buch nehmen Patrick Schreiner und Kai Eicker-Wolf 101 solcher Wirtschaftsmärchen unter die Lupe: Sie zeigen auf, weshalb diese falsch sind oder in die Irre führen; wem sie schaden und wem sie nutzen; welche Denkmuster und Annahmen hinter ihnen stehen. Und sie veranschaulichen, wie gefährliche Feindbilder geschaffen werden: das vom teuren Hängemattenstaat etwa, von halsstarrigen Gewerkschaften, von selbstsüchtigen Politikerinnen, von faulen Armen oder von wirklichkeitsfremden Sozialromantikern. Jenseits des ­Geflunkers streitet dieses Buch für soziale und demokratische Rechte in einer solidarischen Gesellschaft.

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Kleine Bibliothek 331

Patrick Schreiner / Kai Eicker-Wolf

Wirtschaftsmärchen

Hundertundeine Legende über Ökonomie, Arbeit und Soziales

PapyRossa Verlag

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-89438-814-0 (Print)

ISBN 978-3-89438-903-1 (Epub)

© 2023 by PapyRossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln

Luxemburger Str. 202, 50937 Köln

E-Mail: [email protected]

Internet: www.papyrossa.de

Alle Rechte vorbehalten – ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

Umschlag: Verlag, unter Verwendung einer Abbildung © by klyaksun | Shutterstock [1824823190]

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Inhalt

Über dieses Buch

Arbeit und Arbeitsmarkt

01: »Sozial ist, was Arbeit schafft!«

02: »Flexiblere Arbeitsmärkte führen zu mehr Arbeitsplätzen!«

03: »Ein hoher Kündigungsschutz verhindert neue Arbeitsplätze!«

04: »Lohnzurückhaltung schafft Arbeitsplätze!«

05: »Lohnsenkungen stärken die Wirtschaft!«

06: »Wer keine Arbeit hat, muss sich mehr anstrengen!«

07: »Sozialleistungen machen Arbeitslose faul und bequem!«

08: »Die Produktivität eines Menschen bestimmt seinen Lohn!«

09: »Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze!«

10: »Manche Beschäftigte können nur dank Lohnzuschüssen Arbeit finden!«

11: »Mehr Bildung bedeutet weniger Arbeitslosigkeit!«

12: »Es braucht Niedriglöhne, weil einfache Arbeit sonst durch Maschinen ersetzt wird!«

13: »Löhne bilden sich durch Angebot und Nachfrage!«

14: »Gewerkschaften sind schädliche Kartelle!«

15: »Tarifverträge müssen auf betriebliche Besonderheiten Rücksicht nehmen!«

16: »Dieser Streik ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht angemessen!«

17: »Die Lohnnebenkosten sind zu hoch!«

18: »Niedrigere Sozialbeiträge entlasten die Arbeitnehmer!«

Sozialstaat und Sozialpolitik

19: »Der Sozialstaat wird immer teurer – und am Ende unbezahlbar!«

20: »Sozialstaat: Die einen bezahlen – die anderen kassieren!«

21: »Der Sozialstaat darf Menschen nicht passiv machen – er muss aktivieren!«

22: »Wegen drohender Soziallasten ist die wahre Staatsschuld viel höher!«

23: »Der demografische Wandel macht die Rente unbezahlbar!«

24: »Kapitalgedeckte Rentensysteme sind besser als Umlagesysteme!«

25: »Bei der Rente leben die Alten auf Kosten der Jungen!«

26: »Mehr Wettbewerb macht unser Gesundheitssystem effizienter!«

27: »Der technische Fortschritt macht das Gesundheitswesen immer teurer!«

28: »Immer mehr Alte machen das Gesundheitswesen immer teurer!«

29: »Nur mehr Wohnungsbau hilft gegen mangelnden Wohnraum!«

30: »Staatliche Eingriffe in die Mieten am Wohnungsmarkt sind schädlich!«

31: »Wohngeld ist effizienter als der soziale Wohnungsbau!«

Soziale Ungleichheit, Armut und Reichtum

32: »Es gibt keine Klassen mehr!«

33: »Es gibt bei uns keine Armut!«

34: »Besser mehr Chancengleichheit durch Bildung als mehr Umverteilung!«

35: »Soziale Ungleichheit ist Voraussetzung für unseren Wohlstand!«

36: »Soziale Ungleichheit ist unvermeidbar, denn Menschen sind verschieden!«

37: »Hinter Sozialstaat und Umverteilung steckt blanker Neid!«

38: »Globalisierung und technologischer Wandel erhöhen die Ungleichheit!«

39: »Frauen verdienen nicht schlechter als Männer!«

40: »Hohe Managergehälter sind Folge des Wettbewerbs um gute Manager!«

41: »Wachstum nützt allen!«

Internationaler Handel

42: »Wir müssen die Globalisierung gestalten!«

43: »Die Globalisierung hat viele Millionen Menschen aus der Armut geholt!«

44: »Freihandel schafft Arbeitsplätze und Wohlstand!«

45: »Freihandel nützt Unternehmen und Beschäftigten gleichermaßen!«

46: »Exportüberschüsse sind das Ergebnis guter Wirtschaftspolitik!«

47: »Flexible Wechselkurse sorgen für wirtschaftspolitische Autonomie!«

48: »Unsere Wettbewerbsfähigkeit ist bedroht!«

Wirtschaft und Konjunktur

49: »Durch die Globalisierung funktioniert Nachfragepolitik nicht mehr!«

50: »Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst!«

51: »Konjunkturpakete entfachen nur teure Strohfeuer«

52: »Wir müssen erst erwirtschaften, was wir verteilen!«

53: »Wenn es einem Unternehmen gut geht, dann auch seinen Beschäftigten!«

54: »Private-Equity-Fonds retten Unternehmen!«

55: »Längere Ladenöffnungszeiten schaffen Arbeitsplätze!«

56: »Wir sollten beim Klimaschutz auf Marktkräfte vertrauen!«

57: »Krisenländer können nur durch Strukturreformen ihre Krise bewältigen!«

58: »Zu viel Regulierung hemmt die Wirtschaft!«

59: »Der Staat sollte untergehende Branchen nicht schützen!«

60: »Pleiten von Banken und Unternehmen sind notwendige Marktbereinigung!«

61: »Freie Finanzmärkte führen zur effizienten Verwendung von Kapital!«

62: »Staatsverschuldung verdrängt Investitionen der Unternehmen!«

63: »Weniger Ersparnisse bedeuten geringere Investitionen!«

Finanzen, Geld und Steuern

64: »Man kann Geld nur einmal ausgeben!«

65: »Die Staatsquote ist zu hoch!«

66: »Statt für Konsum, sollten wir öffentliche Gelder für Investitionen ausgeben!«

67: »Noch nie waren die Steuereinnahmen so hoch wie heute!«

68: »Steuerwettbewerb sorgt für Effizienz und niedrige Steuern!«

69: »Hohe Unternehmensteuern gefährden den Standort Deutschland!«

70: »Hohe Steuern hemmen die Investitionstätigkeit der Unternehmen!«

71: »Der Markt beseitigt Übergewinne von sich aus – eine Übergewinnsteuer ist unnötig!«

72: »Höhere Mehrwertsteuern sind wirtschaftlich am wenigsten schädlich!«

73: »Einkommensteuern belasten die Leistungsträger!«

74: »Die oberen Einkommen tragen den Großteil der Steuerlast!«

75: »Die Erbschaftsteuer auf Betriebsvermögen gefährdet Arbeitsplätze!«

76: »Vermögensteuern belasten schon besteuertes Vermögen!«

77: »Steuersenkungen finanzieren sich selbst!«

78: »Es ist gut, wenn die Finanzmärkte die Staaten disziplinieren!«

79: »Ein Staat sollte nicht mehr ausgeben, als er einnimmt!«

80: »Staatsverschuldung belastet künftige Generationen!«

81: »Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen!«

82: »Wenn der Staat heute spart, ist er morgen finanziell umso handlungsfähiger!«

83: »Höhere und durch Schulden finanzierte Staatsausgaben führen zu Inflation!«

84: »Wenn die Zentralbank die Notenpresse anwirft, führt das zu Inflation!«

85: »Die Niedrigzins-Politik der Zentralbank enteignet die Sparer!«

Privat und Staat

86: »Private Unternehmen sind effizienter als der Staat!«

87: »Der Staat weiß nicht besser als der Markt, welche Technologie Zukunft hat!«

88: »Privatisierungen entlasten den Staatshaushalt!«

89: »Öffentlich-Private Partnerschaften machen Politik wieder handlungsfähig!«

90: »Öffentlich-Private Partnerschaften nutzen Effizienzvorteile der Privaten!«

91: »Wettbewerb macht den öffentlichen Verkehr billiger und besser!«

92: »Nicht Politik, sondern Verbraucher sollten den Unternehmen Regeln setzen!«

Demokratie und Gesellschaft

93: »Keine Demokratie ohne Markt und Kapitalismus!«

94: »Politik will Wahlen gewinnen, daher denkt sie nicht langfristig!«

95: »Weniger Staat bedeutet mehr Freiheit!«

96: »Der Kapitalismus ist überlegen, weil er spontane Ordnung ist – ohne Planung!«

97: »Am Markt dient der Egoismus des Menschen dem Allgemeinwohl!«

98: »Wir brauchen Reformen!«

99: »Leistung lohnt sich!«

100: »Unternehmerinnen und Unternehmer schultern besonders große Risiken!«

101: »Neoliberale sind sozial – nicht marktradikal!«

Quellenangaben

Zum Weiterlesen

Themenregister

Über dieses Buch

Dieses Buch bezieht Position: für eine demokratische, soziale, solidarische Gesellschaft und für einen nüchternen Blick auf die Wirklichkeit. Es wendet sich damit gegen jenen politischen Zeitgeist, der sich nach wie vor am besten mit dem Schlagwort des »Neoliberalismus« fassen lässt. Dahinter steht ein Denken, das sich seit Mitte der 1970er Jahren immer weiter durchsetzte, das in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren schier alternativlos erschien und das noch heute (nicht nur) die Politik dominiert. Auch wenn dieser Neoliberalismus verschiedene – teils widersprüchliche – Strömungen kennt, so teilen seine Anhängerinnen und Anhänger doch mindestens zweierlei: erstens eine marktextremistische Grundhaltung, der zufolge Markt, Konkurrenz und Privateigentum dem höchsten Wohle dienlich seien; zweitens die Überzeugung, dass dem Staat in der Durchsetzung von Markt, Konkurrenz und Privateigentum eine zentrale Rolle zukomme, er sich ansonsten aber aus dem wirtschaftlichen Geschehen herauszuhalten habe.

Märkte sind für den Neoliberalismus also nichts einfach Gegebenes. Sie werden gemacht. Gesellschaften als Markt-Gesellschaften zu gestalten, ist sein bewusstes Ziel. Und das weit über Wirtschaft im eigentlichen Sinne hinaus: Unter Schlagworten wie etwa »Selbstverantwortung«, »Freiheit«, »Leistung«, »Anreiz« oder »Wettbewerb« sollen Marktprinzipien in immer mehr Bereichen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft wirken. Dafür werden Schutzvorkehrungen an den Arbeitsmärkten geschleift, die soziale Sicherung um- und abgebaut, öffentliche Einrichtungen und Unternehmen privatisiert, Regulierungen von Märkten und Unternehmen um- und abgebaut, staatliche Handlungsmöglichkeiten beschränkt, Steuern gesenkt und nicht zuletzt bestimmte Begriffe und Vorstellungen in den Köpfen verankert. Und es werden Feindbilder geschaffen: das vom teuren Hängematten-Wohlfahrtsstaat etwa, von halsstarrigen Gewerkschaften, von selbstsüchtigen Politikerinnen, von faulen Armen und wirklichkeitsfremden Sozialromantikern.

Wer Politik in Medien und Öffentlichkeit wahrnimmt, kommt nicht umhin, sie zu hören: Die Argumente, warum neoliberale Politik sinnvoll und richtig sei; warum diese und jene Maßnahme absolut zwingend so und nicht anders umgesetzt werden müsse. Und zumindest wer politisch interessiert ist, kommt nicht umhin, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Dieses Buch will dabei unterstützen: beim Verstehen und beim politischen Argumentieren und Streiten für eine demokratischere, sozialere und solidarischere Gesellschaft.

***

Wir formulieren in den nachfolgenden Kapiteln auf der Grundlage von Zitaten aus Presse und Verbandspublikationen 101 neoliberale Märchen – also falsche oder irreführende, in jedem Fall aber verbreitete Behauptungen und Annahmen. Sie decken ein breites Spektrum verschiedenster Politik- und Gesellschaftsbereiche ab. Wir zeigen jeweils, was diese (kursiv gedruckten) Märchen zu Märchen macht. Wir zeigen, weshalb das dahinterstehende Denken gefährlich ist. Und wir zeigen, wie eine andere Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aussehen kann.

Ein kleinerer Teil der Kapitel erschien zuerst in der Zeitschrift Lunapark21, ein etwas größerer Teil in der Wirtschaftszeitung OXI. Sie alle wurden für dieses Buch nochmals überarbeitet und aktualisiert. Ein weiterer Teil sind Erstveröffentlichungen.

Arbeit und Arbeitsmarkt

01:»Sozial ist, was Arbeit schafft!«

Es war einmal ein einflussreicher Ökonom, den die SPD 2021 in einem Moment der Hellsicht aus dem Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kickte. Eine gewisse Undankbarkeit mochten manche der Partei dabei vorwerfen, hatte jener Lars Feld doch immer wieder warme Worte für die rot-grünen Sozialreformen der frühen 2000er Jahre gefunden. So auch im September 2015, als der neoliberale Hardliner auf einer Tagung des Vereins für Socialpolitik jene rot-grüne Agenda 2010 lobte: »Der Spruch ›Sozial ist, was Arbeit schafft‹ wurde hier wirklich bestätigt«.

»Sozial ist, was Arbeit schafft«: Nachdem die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft den Satz im Jahr 2000 mit einer Kampagne prominent machte, entwickelte er sich zum wahren Dauerbrenner. Aufgegriffen haben ihn etwa Angela Merkel, Edmund Stoiber und Guido Westerwelle (1961-2016), aber auch der kurzzeitige Bundesarbeitsminister Franz Josef Jung 2009 in seiner Antrittsrede im Bundestag. Auch fand er in Wahlprogramme Eingang. Seine Kernaussage: Jobs zu schaffen, das alleine sei schon sozial – die Qualität und der Inhalt der Arbeit spielten dabei keine Rolle. Sein kleiner Bruder »Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit« haut übrigens in die gleiche Kerbe.

Verhält sich jemand »sozial«, so wird dieser Person üblicherweise ein mitmenschliches, wohltätiges, uneigennütziges oder empathisches Verhalten zugeschrieben. In der Wirtschaftspolitik gelten Maßnahmen als sozial, wenn sie untere Einkommensgruppen oder benachteiligte Menschen besserstellen. Beispiele dafür sind etwa die Einführung eines Mindestlohns, die Erhöhung von Sozialleistungen oder Maßnahmen zur besseren Inklusion von Menschen mit Behinderung. Auch die Absicherung von Lebensrisiken – wie Krankheit oder Alter – durch öffentliche Sozialversicherungen ist in diesem Sinne sozial. Und nicht zuletzt wäre an die öffentliche Förderung sozialer Infrastruktur zu denken – etwa von Frauenhäusern, Jugendzentren oder Kitas.

Ganz anders denkt, wer den Satz »Sozial ist, was Arbeit schafft« gebraucht. Hier geht es darum, den Begriff des »Sozialen« umzudeuten, der üblicherweise mit eher linkem Denken verbunden ist. Es ist der Versuch, Deutungshoheit darüber zu gewinnen, was als sozial gilt. Und als sozial soll schon das bloße Schaffen eines Arbeitsplatzes gelten. Dabei soll egal sein, wie die Arbeit bezahlt wird, wie die Arbeitsbedingungen aussehen und was produziert wird: Hauptsache Arbeit. So wäre auch die Schaffung von Jobs sozial, von denen man selbst in Vollzeit nicht leben kann. Das Gleiche gälte für Jobs, die krank machen. Auch ethische Bedenken – etwa bei der Produktion von Streumunition – spielten keine Rolle.

Ja mehr noch: Schon wer nur irgendwelche Jobs »schafft«, handle angeblich sozial. Arbeit erscheint so als etwas, das Dankbarkeit verdient. Was dabei übersehen wird: Wer andere Menschen anstellt, macht dies weder aus Menschenliebe noch aus Verantwortungsgefühl. Er oder sie macht es für den eigenen Geldbeutel. Schließlich ist Arbeit im Kapitalismus Quelle von Profit – den sich diejenigen aneignen, die Arbeit »schaffen« (→ Kapitel 32).

Der Spruch »Sozial ist, was Arbeit schafft« ist aber auch aus handfesten wirtschaftlichen Gründen fragwürdig. Denn wenn Politik ihm folgt, so wird sie versuchen, irgendwelche (Billig-) Jobs zu schaffen – mit niedrigen Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen. Darauf zielen Feld & Co. auch ab, sehen sie in zu hohen Lohnkosten und Regulierungen ja die entscheidende Ursache für Arbeitslosigkeit. Eine solche Politik aber schadet letztlich dem gesellschaftlichen Wohlstand. Der nämlich ist dann am größten, wenn möglichst viele Beschäftigte nicht irgendwo, sondern an möglichst produktiven Stellen tätig sind (→ Kapitel 23). Schließlich stellen sie nur dann die größtmögliche Menge an hochwertigen Gütern und Dienstleistungen her. Warum es »sozial« sein soll, den Wohlstand zu senken, wissen wohl nicht einmal die Befürworterinnen und Befürworter einer solchen Politik.

Erfunden hat die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft den Spruch übrigens nicht. Dieser hat vielmehr eine tiefbraune Vergangenheit. Es war Alfred Hugenberg (1865-1951), Chef der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), der im Sommer 1932 in einer Rundfunkansprache sagte: »Gesunde Wirtschaft bedeutet heute vor allem Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Derjenige ist wirklich und wahrhaft sozial, der Arbeit schafft.« Seine Rolle als Steigbügelhalter der Nazis hatte der Großkapitalist und Medienmogul da längst gefunden.

02:»Flexiblere Arbeitsmärkte führen zu mehr Arbeitsplätzen!«

Es war einmal eine Stiftung, die sich mit der Unterstützung neoliberalen Gedankenguts schon immer ganz besonders hervortat. So auch 2014, als jene Bertelsmann-Stiftung einen Bericht zur deutschen Arbeitsmarktpolitik veröffentlichte, in dem es unter anderem hieß: »Durch die stärkere Verbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und von Niedriglohnjobs ist der deutsche Arbeitsmarkt insgesamt flexibler und damit aufnahmefähiger geworden.«

Dieses Loblied zielte auf die so genannte Agenda 2010, ein politisches Programm, das von der früheren rot-grünen Bundesregierung Mitte der 2000er Jahre umgesetzt wurde. SPD und Grüne wollten den Arbeitsmarkt für Unternehmen angenehmer machen: Leistungen für Erwerbslose beispielsweise haben sie gekürzt und mit Strafen bei »Fehlverhalten« unterlegt, den Kündigungsschutz geschwächt, den Niedriglohnsektor ausgeweitet, atypische Beschäftigung erleichtert. Arbeit sollte billiger und flexibler werden. Hierdurch entstünden neue Jobs, hieß es; der Arbeitsmarkt werde »aufnahmefähiger«.

Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. Zwar stieg die Zahl der Erwerbstätigen und der abhängig Beschäftigten in den Jahren nach der Agenda 2010 an. Allerdings war ein nennenswerter Teil dieser Entwicklung schlicht darauf zurückzuführen, dass Arbeit auf mehr Köpfe verteilt wurde. Die Zahl der abhängig Beschäftigten ist in Deutschland zwischen 2005 und 2017 um 14,5 Prozent angestiegen, die Zahl der gearbeiteten Stunden aber nur um 8,5 Prozent.

Und selbst dieser verhaltene Anstieg der Arbeitsstunden war keineswegs auf die Arbeitsmarkt-Flexibilisierung zurückzuführen. Vielmehr wuchsen die Reallöhne in Deutschland damals nach langer Zeit wieder. Der Aufschwung und die positive Beschäftigungsentwicklung seit etwa 2012 waren also ganz wesentlich von der Binnennachfrage getragen. Diese positiven Folgen steigender Löhne widersprachen den Annahmen der Agenda 2010: Ihr zufolge sollten ja niedrigere Arbeits- und Lohnkosten zur Schaffung von Arbeit führen, nicht höhere.

Hinzu kommt, dass Deutschland seit der Agenda 2010 seinen Exportüberschuss stark ausgeweitet hatte. Damit exportierte es seine Arbeitslosigkeit in andere Länder. Eine solche Politik ist weder vernünftig noch nachhaltig, sondern bildet die Saat zukünftiger Krisen (→ Kapitel 46). In den 2000er Jahren trug sie wesentlich zur so genannten Eurokrise bei (→ Kapitel 05).

Berücksichtigt man all dies, dann bleibt vom angeblichen Beschäftigungswunder der Agenda 2010 nichts übrig. Aber auch losgelöst von diesem viel diskutierten deutschen Beispiel kann die These von der beschäftigungsfördernden Wirkung flexibler Arbeitsmärkte nicht überzeugen. Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Philipp Heimberger zeigte 2020, dass die internationale Forschungsliteratur einen Zusammenhang zwischen hoher Arbeitslosigkeit und hohen Arbeitsschutz-Bestimmungen nicht nachweisen kann. Der deutsch-niederländische Ökonom Alfred Kleinknecht belegte 2013, dass die Arbeitslosigkeit in Ländern mit höherer Flexibilität des Arbeitsmarkts durchschnittlich höher ist als in anderen Ländern.

Kleinknecht und der italienische Wirtschaftswissenschaftler Paolo Pini wiesen 2013 auf einen weiteren Zusammenhang hin: Eine höhere Flexibilität des Arbeitsmarkts führt zu einer geringeren gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität (→ Kapitel 23). Überraschen kann das nicht. Denn wenn Arbeit billig und flexibel ist, reduzieren Unternehmen ihre Investitionen in Maschinen und Weiterbildung. Die kosten schließlich Geld, das man sich sparen kann, wenn man Beschäftigte billig und flexibel einstellt und feuert. Für Beschäftigte wiederum ist es in flexiblen Arbeitsmärkten vorteilhafter, Innovationen zurückzuhalten. Diese könnten schließlich ihren Job kosten. Und auch Loyalität und Vertrauen bleiben in unverbindlicheren Arbeitsverhältnissen unterentwickelt, was zu ineffektiver und unmenschlicher Überwachung führt.

Eine Arbeitsmarktpolitik, die auf billig und flexibel setzt, führt also mittel- und langfristig zu geringerer Produktivität, weniger Innovationen und damit zu einem geringeren Wohlstand. Statt immer wieder das Märchen von den segensreichen Arbeitsmarkt-Flexibilisierungen zu singen, wäre daher eine stärkere Regulierung des Arbeitsmarktes angezeigt – mit dem Ziel, die Löhne und die Sicherheit der Arbeitsplätze zu erhöhen. Dies würde den privaten Konsum stabilisieren und Innovationen voranbringen: Binnennachfrage statt Billigarbeit also, Aufschwung statt Agenda.

03:»Ein hoher Kündigungsschutz verhindert neue Arbeitsplätze!«

Es war einmal ein benediktinischer Abtprimas, der mit göttlichem Segen den Arbeitgebern immer wieder gerne zur Seite sprang. In einem Interview mit dem katholischen Domradio verkündigte jener Notker Wolf seinen Schäfchen im Juli 2007: »Inzwischen ist bekannt, dass Kündigungsschutz auch Arbeitsplätze verhindert. Wenn ich als Arbeitgeber keinen Arbeiter mehr entlassen kann in Zeiten der Not, dann stelle ich in anderen Zeiten auch keinen anderen mehr ein.«

Was Wolf hier als neue Erkenntnis präsentiert, ist tatsächlich ein uraltes neoliberales Märchen. Ein starker Kündigungsschutz, so heißt es, erhöhe die Kosten für Entlassungen in schlechten Zeiten. Dies führe schon in guten Zeiten zur Zurückhaltung bei Einstellungen und treibe so die Arbeitslosigkeit nach oben. Der Arbeitsmarkt spalte sich auf: Wer Arbeit habe, müsse kaum fürchten, sie wieder zu verlieren. Und wer keine habe, der werde auch keine finden.

Seit den späten 2000er Jahren ist es zwar eher still geworden um dieses Argument – zumindest in Deutschland. In anderen Ländern allerdings sieht es anders aus. Der angeblich zu hohe Kündigungsschutz war noch in den 2010er Jahren etwa in Italien und Frankreich Anlass für drastische »Reformen« am Arbeitsmarkt. In Italien war es eine sozialdemokratische Regierung, die 2014 den Kündigungsschutz schliff, in Frankreich 2016 zuerst ebenfalls eine sozialdemokratische, 2017 dann eine liberale.

Was aber ist dran an dem Argument? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Kündigungsschutz in keinem Land absolut gilt. Auch in Deutschland können Unternehmen Menschen entlassen. Kleine Betriebe haben es dabei besonders leicht, aber auch mittlere und große Unternehmen können jederzeit Menschen rauswerfen. Das ist sowohl bei Krankheit oder Fehlverhalten als auch aus betrieblichen Gründen (etwa zur Kostensenkung) möglich. Wer also so tut, als ob der Kündigungsschutz absolut gilt, der erweckt einen falschen Eindruck.

Es trifft allerdings zu, dass der Willkür der Arbeitgeber Grenzen gesetzt sind. So müssen sie in Deutschland etwa Formen und Fristen beachten und bei betriebsbedingten Kündigungen eine Sozialauswahl treffen. Auch wird oftmals spätestens vor Gericht eine Abfindung für die Gekündigten fällig.

Diese Vorkehrungen sind geeignet, den Beschäftigten eine gewisse Sicherheit zu geben: Ihr Arbeitsverhältnis und ihre Einkommen werden verlässlicher – und damit ihr ganzes Leben einfacher. Mutter oder Vater zu werden, Immobilien anzuschaffen oder einen Urlaub frühzeitig zu buchen, solche Vorhaben sind dann besser planbar. Ein Kündigungsschutz auf hohem Niveau nützt vor diesem Hintergrund aber nicht nur den Beschäftigten, sondern auch der ganzen Gesellschaft. Denn er fördert die Konsumbereitschaft und damit die Binnennachfrage.

Und es gibt weitere Gründe für einen guten Kündigungsschutz. Wenn ein Arbeitgeber weiß, dass er eine beschäftigte Person nur mit einigem Aufwand wieder loswird, so erhöht dies die Bereitschaft, Geld etwa für Weiterbildung auszugeben. Dies gilt umso mehr, als ein hoher Kündigungsschutz die Beschäftigten zumindest indirekt stärker an das Unternehmen bindet (es sinkt ja die Zahl der anderswo durch Entlassung freiwerdenden Stellen). Zudem steigt die Bereitschaft der Beschäftigten zum Erwerb spezifischer Qualifikationen, für die sich andere als der eigene Arbeitgeber nicht interessieren. Auch kann ein Kündigungsschutz das Interesse aller Beteiligten an einem kollegialen Miteinander steigern. All das nützt letztlich allen: Das Qualifikationsniveau und die Qualität von Arbeitsbeziehungen verbessern sich.

Daneben spricht aber auch eine sehr grundsätzliche Überlegung für einen guten Kündigungsschutz: Unternehmerische Risiken hat das Kapital zu tragen. Schließlich begründen diese Risiken kapitalistische Profite. Ein Aufweichen des Kündigungsschutzes hingegen verletzt diesen Grundsatz, führt es doch dazu, dass Beschäftigte unternehmerische Risiken übernehmen. Denn sie sind es dann, die bei unternehmerischen Fehlentscheidungen oder Krisen (schnell) entlassen werden.

Es gibt also gute Gründe für einen hohen Kündigungsschutz. Ein letzter soll nicht unerwähnt bleiben: Es gibt schlicht keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass der Kündigungsschutz nennenswerten Einfluss auf das Einstell-Verhalten von Unternehmen hat. Auch wenn Wolf & Co. gerne anderes behaupten.

04:»Lohnzurückhaltung schafft Arbeitsplätze!«

Es war einmal ein Wirtschaftsforschungsinstitut, das seine Geldgeber schon im Namen trug: Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Neoliberale Thesen zu verbreiten war sein Auftrag, Umverteilung von unten nach oben seine liebste Forderung. Und so nahm es sich regelmäßig die Einkommen der abhängig Beschäftigten vor. Im Dezember 2005 wusste der Tarifexperte Hagen Lesch in einer IW-Veröffentlichung bis auf die erste Nachkommastelle genau zu verkünden, was Lohnverzicht an zusätzlicher Beschäftigung bringe: »Nimmt die Lohnzurückhaltung um 1 Prozentpunkt zu, steigen Erwerbstätigkeit und Arbeitsvolumen ein Jahr später um etwa 0,4 Prozent oder um 130.000 Personen. Eine mehrjährige Lohnzurückhaltung, bei der die Tariflohnvereinbarungen hinter dem Produktivitätswachstum zurückbleiben, würde demnach zu einer spürbaren Entlastung des Arbeitsmarktes beitragen.«

Lesch schlägt vor, dass der Anstieg der Löhne über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinter dem Anstieg der Arbeitsproduktivität (→ Kapitel 23) zurückbleiben solle. Dies würde bedeuten, dass die Produktion pro Kopf lange Zeit stärker zunimmt als die Löhne. Dahinter steht folgende Annahme: Während immer mehr produziert würde, würde der Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an diesem Kuchen immer kleiner. Durch diese Lohnzurückhaltung würden sich zunächst die Gewinne und in einem zweiten Schritt die Investitionen der Unternehmen erhöhen. Hieraus folge dann letztlich ein Anstieg der Beschäftigung.

Dieser Zusammenhang ist so einfach wie falsch. Tatsächlich wäre das Gegenteil der Fall – die Ökonomie würde in eine kaum beherrschbare Abwärtsspirale geraten. Die Frage ist: Wie würden die Unternehmen reagieren? Wenn sie die Preise der gestiegenen Warenmenge unverändert lassen, dann werden sie einen Teil der Produktion nicht absetzen können. Schließlich sind die Löhne nicht im erforderlichen Umfang mitgewachsen. Es fehlt Binnennachfrage. Die Menschen können die zusätzliche Produktion nicht kaufen – ihnen fehlt das Geld. Der US-Automobil-Unternehmer Henry Ford (1863-1947) packte diesen Umstand einst in die prägnante Formel »Autos kaufen keine Autos«. Wenn aber der Absatz fehlt, ist gerade nicht mit zusätzlichen Investitionen zu rechnen, und damit auch nicht mit neuen Arbeitsplätzen (→ Kapitel 70). Denn wenn Unternehmen ihre Produktion nicht verkaufen können, dann signalisiert ihnen das: Runter mit der Produktion!

Die Unternehmen könnten allerdings auch anders verfahren. Sie könnten die höhere Produktionsmenge und den geringeren Lohnanstieg dazu nutzen, ihre Preise zu verringern. Ökonomisch spricht man im Fall eines länger anhaltenden Preisverfalls von einer »Deflation« (also dem Gegenteil einer »Inflation«). Sinkende Preise für Güter und Dienstleistungen: Aus Sicht eines einzelnen privaten Haushalts mag dies verlockend klingen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist ein solches Szenario allerdings aus zwei Gründen problematisch. Zum einen würden sehr viele Unternehmen in ernste finanzielle Nöte geraten – und viele in die Pleite schlittern. Denn sie haben Kredite in ihren Büchern stehen, für die sie vertraglich festgelegte Zinsen und Tilgungen leisten müssen. Diese Kreditverträge haben sie auf der Grundlage von Einnahme-Erwartungen abgeschlossen, die keine sinkenden Preise vorsahen. Sinken nun wider Erwarten die Preise, so sinken auch die Umsätze – was Zins- und Tilgungszahlungen erschwert. Insbesondere Unternehmen mit hohen Kreditschulden sind dann von der Pleite bedroht.

Zum anderen schieben Privathaushalte, Staat und Unternehmen bei sinkenden Preisen ihre Käufe auf. Schließlich werden die Waren in Zukunft ja noch billiger, da lohnt es sich zu warten. Dies schwächt zumindest kurz- und mittelfristig die Nachfrage nach Konsumgütern wie auch nach Investitionsgütern. Die Unternehmen machen in der Folge geringere Absätze und geringere Umsätze – mit schon bekannten Konsequenzen: Sie geraten in finanzielle Schwierigkeiten, bauen Arbeitsplätze ab und schränken ihre Produktion ein (→ Kapitel 06).

Wie man es also dreht und wendet: Lohnzurückhaltung, wie Lesch sie fordert, schafft keine Arbeitsplätze, sondern bedroht sie. Letztlich beruhen Forderungen wie seine auf einer einzelwirtschaftlichen Perspektive. Ein einzelnes Unternehmen mag sich Vorteile am Markt verschaffen können, wenn es seine Beschäftigten zu Lohnverzicht nötigt. Aber was aus der Froschperspektive eines einzelnen Unternehmens vorteilhaft erscheint, erweist sich aus der Vogelperspektive der Gesamtwirtschaft als verheerend (→ Kapitel 15).

05:»Lohnsenkungen stärken die Wirtschaft!«

Es war einmal ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler mit unbändigem Drang zu medienwirksamer Verkürzung. Sein Name war Hans-Werner Sinn, sein Beruf Professor und Leiter des Münchner ifo-Instituts. Im Juni 2012 antwortete er in einem Interview für Focus Online auf die Frage, was die Krisenländer der Europäischen Union zur »Selbstheilung« tun könnten: »Die Löhne sollten gekürzt werden, denn damit sinken die Preise. Ein Land, das zu teuer geworden ist, muss billiger werden.«

Hintergrund des Interviews war die so genannte Eurokrise in den frühen 2010er Jahren. Der Professor unterstellte, dass zu hohe Löhne etwa in Griechenland und Portugal für die großen Krisen in diesen Ländern verantwortlich gewesen seien. Er stand damit nicht alleine: Zu hohe Verdienste in Südeuropa galten (neben zu hohen Staatsausgaben) vielen in Politik, Medien und Wissenschaft als wichtigste Ursache der Krise in Europa. Letztlich war diese Annahme die Grundlage und Begründung der neoliberalen Kürzungspolitik, die die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten den Ländern Südeuropas aufzwangen (→ Kapitel 57).

Nun haben Unternehmen aus Ländern mit niedrigeren Kosten tatsächlich einen Konkurrenzvorteil, da sie ihre Güter und Dienstleistungen günstiger anbieten können. Insbesondere in einer Währungsunion sind dabei die Lohnstückkosten von Bedeutung, die wesentlich durch die Lohnhöhe bestimmt werden (→ Kapitel 48). Die Möglichkeit, durch die Abwertung der eigenen Währung Nachteile in dieser »Standortkonkurrenz« gegenüber anderen Volkswirtschaften wettzumachen (→ Kapitel 47), gibt es in einer Währungsunion nicht. Bestehen Konkurrenznachteile gegenüber dem Ausland dauerhaft, so wird ein Land Jahr um Jahr weniger Güter und Dienstleistungen exportieren, als es importiert. Es verzeichnet permanente Außenhandels-Defizite. In der Folge verschuldet es sich immer mehr, um diese zu finanzieren. Spiegelbildlich entwickelt sich in Ländern mit Konkurrenzvorteilen ein Außenhandels-Überschuss – sie exportieren mehr, als sie importieren (→ Kapitel 46).

So weit, so zutreffend – aber dennoch ist des neoliberalen Professors Behauptung falsch, und zwar aus zwei Gründen. Erstens führen Lohnsenkungen zu einem Ausfall volkswirtschaftlicher Nachfrage; es werden weniger Güter und Dienstleistungen gekauft (→ Kapitel 06). Unternehmen produzieren dann weniger, und ein Teufelskreis aus niedrigeren Löhnen, Preissenkungen, Entlassungen und Produktionsrückgängen kommt in Gang (→ Kapitel 04). Lohnsenkungen führen also nicht aus der Krise heraus, sondern sie verschärfen sie. In der oben erwähnten Eurokrise war dies am drastischsten in Griechenland zu sehen.

Zweitens blendet des Professors Behauptung Folgendes aus: Wenn ein Land »zu teuer« ist, so möglicherweise schlicht deshalb, weil ein anderes Land zu billig ist. Tatsächlich gab es Länder in Europa, die sich in den Jahren vor der Großen Krise durch eine grottenschlechte Lohnentwicklung Konkurrenzvorteile erschlichen. Das größte und wichtigste war Deutschland, das Land des Professors. Hier lagen die Lohnstückkosten 2008 noch immer auf dem Niveau des Jahres 2000. In fast allen anderen Ländern hingegen waren diese richtigerweise und erwartbar angestiegen. Fatalerweise beanspruchte Deutschland nach Ausbruch der Krise, mit seiner Billig-Strategie Vorbild für andere zu sein. Dabei trug es schon aufgrund seiner schieren Größe die Hauptschuld daran, dass in der Europäischen Währungsunion (und darüber hinaus) eine ungesunde Abwärtsspirale bei den Löhnen in Gang kam. Womit es wiederum die Hauptverantwortung für die Ungleichgewichte im Außenhandel trug, die letztlich zur Verschuldung der Defizitländer und damit zur großen Krise in Europa führten.

In einer solchen Situation sind Lohnerhöhungen in zu billigen Ländern (mit Außenhandels-Überschüssen) ökonomisch sinnvoller als Lohnsenkungen in angeblich »zu teuren« Ländern (mit Außenhandels-Defiziten). Denn dies stärkt die Wirtschaft in beiden Ländergruppen: Überschussländer können durch die stärkere inländische Nachfrage einen größeren Teil ihrer Produktion selbst verbrauchen; Defizitländer im Idealfall durch die stärkere ausländische Nachfrage mehr produzieren und dann exportieren.

Dazu wäre aber eine enge europäische und internationale Kooperation und Koordination notwendig, also das Gegenteil von Standortkonkurrenz. Die neoliberale Mehrheit in Politik, Medien und Wissenschaft will von beidem nichts wissen. Und der Professor schon gar nicht.

06:»Wer keine Arbeit hat, muss sich mehr anstrengen!«

Es war einmal ein deutscher Bundeskanzler, der zwei Fliegen mit einer Klappe schlug: Er bot seinen Wählerinnen und Wählern eine bequeme Erklärung für die Arbeitslosigkeit im Land an, mit der sich zugleich weiterer Sozialabbau rechtfertigen ließ. Der Name des Kanzlers war Gerhard Schröder, seine Partei die SPD und als Sündenböcke wählte er Menschen ohne Arbeit. Im April 2001 sagte er dem Boulevardblatt Bild: »Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.«

Gerhard Schröder unterstellt hier – teils ausdrücklich, teils stillschweigend – einiges: Wer keine Arbeit habe, der sei faul (→ Kapitel 07) und müsse sich mehr anstrengen. Denn wer Arbeit finden wolle, der finde sie auch. Es brauche daher mehr Anreize zur Arbeitsaufnahme. Geringere staatliche Unterstützungsleistungen und mehr Druck auf Arbeitslose seien solche Anreize. Bekanntlich setzte die damalige rot-grüne Bundesregierung eine entsprechende Politik mit den so genannten Hartz-Reformen auch um. Und das sicher mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung, waren und sind entsprechende Vorurteile gegen Arbeitslose doch weit verbreitet. Auch schwirren sie fast regelmäßig durch den Blätterwald – nicht nur im Boulevard.

Das macht sie allerdings nicht richtiger. Denn in einer kapitalistischen Volkswirtschaft hängt die Zahl der Arbeitsplätze nicht davon ab, wie sehr sich Arbeitslose um Arbeit bemühen. Entscheidend ist vielmehr die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeit. Wenn sie ihre (Mehr-) Produktion verkaufen können, werden sie Menschen einstellen. Der Arbeitsmarkt ist also von den Gütermärkten abhängig: Die Nachfrage nach Arbeit hängt davon ab, wie stark jene Güter und Dienstleistungen nachgefragt werden, die von den (zusätzlichen) Beschäftigten hergestellt werden. Treibendes Motiv der Unternehmen ist bei alldem der Profit. Sie wollen durch die Arbeitskraft ihrer Beschäftigten Gewinne machen. Deshalb werden sie Arbeitslose nicht einstellen, weil diese sich besonders um Arbeit bemühen. Einstellen werden sie vielmehr, wenn sie die zusätzlich produzierten Güter und Dienstleistungen am Markt auch mit Profit verkaufen können – an private Haushalte, an den Staat, an andere Unternehmen oder an das Ausland.

Tatsache ist auch: Die meisten Arbeitslosen finden binnen kurzer Zeit wieder Arbeit. Es ist eine Minderheit, die keine findet, und hier liegen zumeist Vermittlungshemmnisse vor. Bei dieser Minderheit gibt es also klare, nachvollziehbare Gründe dafür, dass eine Arbeitsaufnahme schwierig oder unmöglich ist. Ihnen fehlt beispielsweise ein Schulabschluss oder eine Ausbildung, sie haben gesundheitliche oder psychische Probleme, sind älter, haben ein Kind zu betreuen oder Angehörige zu pflegen, oder ihre Deutschkenntnisse sind schlecht. All das (und noch mehr) verringert die Chancen auf einen Job. Durch Fördermaßnahmen und Weiterbildung können die Betroffenen diese Chancen verbessern, was sie in der Regel auch tun. Vorurteile vieler Arbeitgeber, bei denen sie sich bewerben, werden sie dadurch allerdings auch nicht los.

Viele Arbeitslose entwickeln im Laufe der Zeit ein Bewusstsein dafür, durch Gesellschaft, Medien, Politik und Arbeitgeber stigmatisiert zu werden. Das eigene soziale Umfeld spielt dabei eine wichtige Rolle. Eine Studie der Universitäten Würzburg und Hannover zeigte 2020: Die Betroffenen nehmen sich selbst als negativ wahr, ihre Leistungen werden schlechter, sie neigen stärker dazu, sich sozial zu isolieren. Und nicht zuletzt kann auch Antriebslosigkeit mit diesem Stigma-Bewusstsein einhergehen – die Betroffenen geben sich in gewisser Weise auf. Die Chancen auf einen Job sinken dadurch deutlich. Das Stigma-Bewusstsein verstärkt sich durch wiederholte Arbeitslosigkeit und durch die Pflicht zur (erfolglosen) Arbeitssuche.

Helfen würde also, Menschen zu unterstützen und in Arbeit zu bringen. Das aber dürfte kaum das Ziel der Hetze gegen Arbeitslose sein – sondern vielmehr, Menschen in noch so üble Arbeitsplätze zu pressen. Generell geht es Schröder & Co. nicht darum, Arbeitslosenzahlen zu drücken, sondern die Löhne. Und tatsächlich zeigt das Beispiel Deutschland genau das: Nicht nur, aber auch wegen der Hartz-Reformen explodierte die prekäre Beschäftigung geradezu, und der Niedriglohnsektor wurde zu einem der größten in Europa. Was wiederum erklärt, weshalb sich auch Arbeitgeber- und Unternehmensverbände regelmäßig für einen starken Druck auf angeblich faule Arbeitslose aussprechen.

07:»Sozialleistungen machen Arbeitslose faul und bequem!«

Es war einmal ein deutsches Nachrichtenmagazin mit Gespür für den Zeitgeist. Der drehte sich ab den 1970er Jahren. Da wollte Der Spiegel nicht hintanstehen! Und so fand das Blatt im Mai 1977 in seiner Titelstory »arbeitslos – arbeitsscheu?« eine einfache neoliberale Erklärung für die damals stark zunehmende Arbeitslosigkeit: »Immer häufiger wird der Verdacht laut, daß viele der bei den Arbeitsämtern Registrierten eigentlich gar keinen Job suchen, sondern sich im enggeknüpften Netz der in 30 Jahren Nachkriegsgeschichte erlassenen Sozialgesetze entspannen wollen. Von Parasiten ist da die Rede, von Arbeitsscheuen und Schmarotzern, die auf Kosten der Gemeinschaft sich ein geruhsames Leben einrichten. Und rasch sind dann die Konsequenzen gezogen: Das Arbeitslosengeld sollte gekürzt, die Auszahlung an notorisch Faule gestrichen werden. In der Tat: Vom Stempelgeld läßt es sich leben.«

»Stempelgeld«? Ein Begriff aus einer anderen Zeit. Der beleidigende Zungenschlag des Zitats aber ist auch ein halbes Jahrhundert später noch brandaktuell – »Parasiten«, »Schmarotzer«, »notorisch Faule« … Tatsächlich ist die Debatte um Arbeitslosigkeit und Armut mindestens so alt wie der Kapitalismus: Gibt es für Erwerbslose wirklich keine Arbeit, oder sind sie schlicht zu faul? Und wenn sie zu faul sind, liegt das möglicherweise an zu hohen Sozialleistungen?

Auf den ersten Blick klingt es schlüssig: Wer für das Nichtstun Geld erhält, habe keinen Anreiz, sich Arbeit zu suchen. Doch greift ein solches Denken viel zu kurz. Dies zum einen, weil Arbeitslosigkeit im krisenhaften Auf und Ab des Kapitalismus mehr Normalfall als Ausnahme ist. Entsprechend zeigen Erhebungen immer wieder: Die übergroße Mehrheit der Erwerbslosen ist um Arbeit bemüht oder kann aus verständlichen (etwa gesundheitlichen) Gründen keine Erwerbsarbeit aufnehmen. Zum anderen aber auch, weil Arbeit mehr ist als Broterwerb. Sie bedeutet oft auch soziale Teilhabe und Anerkennung. Längere Erwerbslosigkeit führt folgerichtig bei vielen Betroffenen in einen Teufelskreis aus Frust, Resignation und Enttäuschung (→ Kapitel 06).

Gleichwohl steckt hinter all dem Gerede von Anreizen ein Kernchen Wahrheit – das die Neoliberalen allerdings bis zur Unkenntlichkeit verdrehen. Denn auch wenn Menschen mehr als nur finanzielle Gründe für die Aufnahme von Erwerbsarbeit haben, so stellt eine (ausreichende) sozialstaatliche Absicherung doch eine Sicherung gegen zu niedrige Löhne dar. Sie stärkt die abhängig Beschäftigten, indem sie diese in die Lage versetzt, besonders üble Arbeit abzulehnen. Je niedriger das soziale Sicherungsniveau hingegen ausfällt, desto mehr sind Beschäftigte schlecht bezahlten, gefährlichen und ausbeuterischen Jobs ausgeliefert.

Weil sich aus ihrer Sicht die Löhne »an den Märkten« bilden sollen, und zwar zu Gunsten des Kapitals auf möglichst niedrigem Niveau, ist Neoliberalen all dies ein Dorn im Auge. Deshalb hetzen sie gegen Arbeitslose und Sozialleistungen, und deshalb fordern sie ein »Lohnabstandsgebot«: Sozialleistungen sollen einigen Abstand zu den Löhnen wahren. Dass die Löhne sich allerdings grob an den Sozialleistungen orientieren und nach unten rutschen, wenn Sozialtransfers hinter ihnen zurückbleiben, verschweigen die Fans des »Lohnabstandsgebots« geflissentlich.

Fatal ist bei alldem, dass die Hetze gegen Arbeitslose keineswegs nur von Seiten des Kapitals und seiner Helfershelfer betrieben wird. Sie ist vielmehr weit verbreitet. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigte 2016: Fast jede/r Zweite in Deutschland stimmte der Aussage zu, dass »die meisten Langzeitarbeitslosen […] nicht wirklich daran interessiert« seien, »einen Job zu finden.«

Genau das unterstellte Der Spiegel 1977 in seiner Titelstory auch mehreren Arbeitslosen. So auch einem Elektromeister, den er wie folgt zitierte: »Ich denk’ nicht mehr daran zu arbeiten. 24 Jahre lang war ich in derselben Firma. Dann haben die uns entlassen, uns Alte zuerst. Ich war was in dem Betrieb, habe mich hochgearbeitet, und jetzt soll ich womöglich als Hiwi irgendwo rein. […] Wegen hundert oder zweihundert Mark mehr gehe ich doch nicht wieder irgendwo ganz unten rein.«

Was viele verkennen: Arbeitslose wie dieser Elektromeister schützen die Löhne, indem sie sich nicht alles gefallen lassen. Gedankt wird es ihnen am wenigsten von denen, die davon am meisten profitieren. Denn ausgerechnet bei Menschen mit geringem und mittlerem Einkommen ist die Verachtung gegenüber Arbeitslosen am größten, wie die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigte.

08:»Die Produktivität eines Menschen bestimmt seinen Lohn!«

Es war einmal ein Arbeitgeberpräsident, der engagiert für niedrigere Löhne und Gehälter stritt. Dafür war ihm kein Argument zu abwegig. Und so sagte Martin Kannegiesser, damals Boss von Gesamtmetall, im Oktober 2007 der Zeitung Die Welt: »Auf Dauer kann kein Arbeitgeber gegen den Markt die Löhne drücken und kein Arbeitnehmer gegen den Markt Löhne durchsetzen, die nicht durch seine Produktivität gedeckt sind.«

Mit anderen Worten: Das Entgelt eines Arbeitnehmers könne nicht dauerhaft über seiner Produktivität liegen. Vorgebracht wird dieses Märchen regelmäßig in Diskussionen rund um Lohnpolitik, Mindestlöhne und Arbeitslosigkeit – vorrangig mit dem Ziel niedrigerer Arbeitsentgelte. Die Produktivität, so heißt es dann, stelle eine Art Obergrenze dar. Liege ein Lohn darüber, so rechne sich das Arbeitsverhältnis für den Arbeitgeber nicht. Er werde es beenden (oder gleich gar nicht beginnen). Arbeitslosigkeit sei die Folge. Besonders groß sei diese Gefahr bei Geringqualifizierten, da diese eine besonders niedrige Produktivität aufwiesen.

Was aber ist diese »Produktivität«? Zunächst: Gemeint ist die individuelle Arbeitsproduktivität. Sie misst den Ertrag, der pro Zeiteinheit (in der Regel pro Stunde) durch die Arbeit eines bestimmten Menschen erzeugt wird. Was aber ist dieser Ertrag? Zunächst ist festzuhalten, dass verschiedene Personen Unterschiedliches herstellen: Die einen Stühle, die anderen Bücher, wieder andere Haarschnitte und nochmal andere betreuen Kleinkinder. Ist jemand, der einen Stuhl pro Stunde herstellt, produktiver als jemand, der in der gleichen Zeit zwei Köpfe frisiert? Und was ist der Maßstab für den Ertrag in der Kinderbetreuung – die Anzahl der Kinder, der Brüll-Situationen, der gewechselten Windeln?

Die Beispiele zeigen: So kann der Ertrag (und damit die Produktivität) weder einheitlich ermittelt noch verglichen werden. Die Kannegiessers dieser Welt wählen deshalb einen Umweg. Sie leiten den Arbeitsertrag aus dem erzielten Umsatz bzw. Einkommen ab, gemessen in Geldeinheiten. Wenn ein Haarschnitt 25 Euro einbringt und eine Person zwei davon pro Stunde schafft, dann beträgt ihre Arbeitsproduktivität 50 Euro. Sie ist folglich weniger produktiv als jemand, der in der gleichen Zeit einen Stuhl herstellt, der am Markt 60 Euro erzielt.

Spätestens damit ist Arbeitsproduktivität keine »Eigenschaft« eines einzelnen Menschen mehr. Sie kann keiner Person mehr zugerechnet werden. Denn erstens ist der Umsatz eine Kategorie, auf die einzelne Beschäftigte allenfalls bedingt Einfluss haben. In ihm schlagen sich zum Beispiel Moden und Trends, allgemeine Krisen, der technologische Wandel, Jahreszeiten, das Wetter, die Wettbewerbssituation und das Image eines Unternehmens nieder. Zweitens werden Güter und Dienstleistungen heutzutage mit ganz wenigen Ausnahmen arbeitsteilig hergestellt – allen voran in Unternehmen. Dort kann der Umsatz folglich nicht auf Personen heruntergebrochen werden. Zudem sind Leistungsfähigkeit und Produktionsmengen Einzelner erheblich von der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen sowie den Arbeitsumständen abhängig.

Die »Produktivität« einzelner Menschen bestimmen und vergleichen zu wollen, ist daher Unsinn. (Hingegen ist es sinnvoll, Arbeitsproduktivität etwa auf der Ebene eines Unternehmens oder eines Landes zu messen, → Kapitel 23.) Aber nehmen wir für einen Moment an, es gebe eine individuelle Produktivität und sie sei messbar: Auch in diesem Fall bliebe Kannegiessers Aussage ein Märchen. Denn erstens fließen in die Höhe des Lohnes auch Faktoren wie etwa diskriminierende Ansichten (zum Beispiel gegenüber Frauen, Migrantinnen und Migranten) oder das Ausmaß des Machtgefälles zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten ein. Und zweitens können Unternehmen die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft ihrer Bewerberinnen im Bewerbungsverfahren gar nicht kennen. (Zeugnisse erlauben allenfalls eine Annäherung). Der Einfachheit halber bezahlen sie deshalb meist branchenübliche Löhne, losgelöst von der jeweiligen Person. Oft werden die durch Tarifverträge festgelegt.

All das führt dazu, dass ein Lohn nicht systematisch eine individuelle »Produktivität« widerspiegelt – eine Produktivität wohlgemerkt, die es ohnehin nicht gibt. Was auch den Neoliberalen klar ist, wenn sie ehrlich sind. Sie sprechen deshalb lediglich von einem Modell, von einem vereinfachten Abbild der Wirklichkeit. Was sie nicht daran hindert, Empfehlungen für eine sehr konkrete und komplexe Wirklichkeit abzuleiten: Löhne senken (→ Kapitel 04), Mindestlöhne (→ Kapitel 09) und Tarifverträge (→ Kapitel 14) abschaffen, Niedriglohnsektor einführen.

Übrigens ist es noch aus einem weiteren Grund fragwürdig, die Produktivität eines Menschen oder auch die eines Betriebs aus dem Umsatz bzw. Einkommen am Markt abzuleiten: Auch Tätigkeiten, die für eine Gesellschaft weder produktiv noch nützlich sind, können Umsätze bzw. Einkommen bringen. Patent-Trolle etwa kaufen Patente einzig, um von dessen Nutzerinnen und Nutzern (Straf-) Gebühren zu erheben. Sie schaffen damit genauso wenig etwas gesellschaftlich Nützliches wie die immer größeren PR- und Rechtsabteilungen der Konzerne, deren einziger Zweck darin besteht, zu verhindern, dass der eigene Konzern angesichts der ebenfalls immer größeren PR- und Rechtsabteilungen anderer Konzerne ins Hintertreffen gerät.

09:»Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze!«

Es war einmal ein Professor der Ökonomie im Ruhestand, der glauben machen wollte, seine größte Sorge sei die Arbeitsmarkt-Integration von Menschen mit geringen Arbeitsmarkt-Chancen. Sein Name war Horst Siebert, und er war nicht irgendwer: Von 1990 bis 2003 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, von 1989 bis 2003 Präsident des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung warnte er im Januar 2008: »Für die Unternehmen ist […] der Vergleich von Mindestlohn und Produktivität ausschlaggebend. Wird der generelle Mindestlohn so gewählt, dass er über der Produktivität eines Arbeitnehmers liegt, so macht das Unternehmen einen Verlust. […] Auf Dauer wird das Unternehmen den Arbeitsplatz abbauen müssen.«

Mindestlöhne vernichten nach Meinung des Herrn Professor also Arbeitsplätze, weil Unternehmen an manchen Mindestlohn-Beschäftigten zu wenig verdienen. Deren individuelle Produktivität sei zu gering, um einen (zu hohen) Mindestlohn refinanzieren zu können. Wobei mit Produktivität hier die Arbeitsproduktivität gemeint ist – also der Ertrag einer beschäftigten Person in einem bestimmten Zeitraum (meist einer Stunde).

Alleine war und ist Horst Siebert (1938-2009) mit dieser Behauptung nicht. Vielmehr ist die Zahl derer groß, die sich mit solchen Verlautbarungen an der Wirklichkeit blamierten. Am 1.1.2015 führte Deutschland einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn ein, allen Warnungen von Arbeitgebern und Neoliberalen zum Trotz. Es war, wenn man so möchte, ein wirtschaftspolitisches Großexperiment. Die Folge: Die Zahl der Arbeitsplätze ist danach nicht eingebrochen, wie manche vorhersagten, sondern sogar angestiegen. Letzteres erklärten die Gegnerinnen und Gegner dieser Maßnahme mit der damals rundlaufenden Konjunktur. Ohne Mindestlohn, so sagten sie, hätte sich der Arbeitsmarkt sogar noch besser entwickelt. Hätte, hätte, Fahrradkette – mehr als Schutzbehauptungen sind das nicht. Denn die Arbeitsplatzgewinne fanden vor allem in klassischen Niedriglohn-Branchen statt, in denen der Mindestlohn besonders zum Tragen kommt: etwa im Gastgewerbe und in Call Centern, in der Lager- und der Landwirtschaft. Auch die Berichte der Mindestlohn-Kommission zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns zeigen klar, dass der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland die Beschäftigungsentwicklung nicht hemmt.

Gegen die Behauptung, dass ein Mindestlohn Arbeitsplätze vernichte, sprechen aber nicht nur schnöde Daten, sondern auch gute Gründe. Siebert & Co. unterstellen, dass Arbeitgeber für alle Beschäftigten fortwährend die individuelle Produktivität berechnen, also den durchschnittlichen individuellen Ertrag pro Stunde. Das ist eine absurde Annahme (→ Kapitel 08). Denn wie wollte man den individuellen Ertrag (oder Umsatz) etwa einer Reinigungskraft, eines Bandarbeiters oder einer Buchhalterin in Euro und Cent bestimmen? (Natürlich können die Bosse alle, die sie für faul oder unsympathisch halten, durch jemand anderen ersetzen. Mit einem Vergleich in Euro und Cent hat das aber nichts zu tun, und der Arbeitsplatz als solcher bleibt dann erhalten.)