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Vor Jahren wurde die Leiche einer Frau in einem von Nägeln durchbohrten Fass gefunden – und nun hat der Mörder ein neues Ziel ...
Sechs Monate nach der dramatischen Suche nach seiner Tochter ist bei Kristoffer Bark eines unverändert: Er blättert immer noch in den staubigen Akten ungelöster Cold Cases. Gerade befasst er sich mit dem Fall Emelie Kartmann, die vor Jahren grausam ermordet wurde. Das Opfer hatte zuvor angegeben, gestalkt zu werden. Doch bevor Kristoffer sich in den Fall vertiefen kann, wird plötzlich der Mann seiner ewig krankgeschriebenen Kollegin Sara Bredow ermordet, und im Zuge seiner Ermittlungen stellt Kristoffer fest, dass Sara ähnlichen Belästigungen ausgesetzt ist wie einst Emelie. Gibt es eine Verbindung zwischen den Fällen? Wenn ja, schwebt seine Kollegin in tödlicher Gefahr …
Die »Kommissar Bark«-Reihe:
Band 1: Leichenschilf
Band 2: Witwenwald
Band 3: Puppenblut
Band 4: Mädchenfeuer
Alle Bände können auch unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 611
Buch
Sechs Monate nach der dramatischen Suche nach seiner Tochter ist bei Kristoffer Bark eines unverändert: Er blättert immer noch in den staubigen Akten ungelöster Cold Cases. Gerade befasst er sich mit dem Fall Emelie Kartman, die vor Jahren grausam ermordet wurde. Das Opfer hatte zuvor angegeben, gestalkt zu werden. Doch bevor Kristoffer sich in den Fall vertiefen kann, wird plötzlich der Mann seiner ewig krankgeschriebenen Kollegin Sara Bredow ermordet, und im Zuge seiner Ermittlungen stellt Kristoffer fest, dass Sara ähnlichen Belästigungen ausgesetzt ist wie einst Emelie. Gibt es eine Verbindung zwischen den Fällen? Wenn ja, schwebt seine Kollegin in tödlicher Gefahr …
Autorin
Die Schwedin Anna Jansson gehört zu den erfolgreichsten Schriftsteller*innen ihres Landes. In mehr als zwanzig Jahren hat sie über 60 Bücher geschrieben; als gebürtige Gotländerin ist sie bekannt für ihre Krimireihe Maria Wern, Kripo Gotland. Allein in ihrem Heimatland haben sich Janssons Bücher über vier Millionen Mal verkauft, und sie werden in 17 Sprachen übersetzt. Mit dem Polizisten Kristoffer Bark hat sie einen neuen charismatischen sowie abgründigen Ermittler geschaffen, der im schwedischen Örebro Cold Cases löst, wo Jansson lebt und an den malerischen Originalschauplätzen recherchiert.
Von Anna Jansson bereits erschienen
Leichenschilf
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ANNA JANSSON
Ein Kommissar-Bark-Krimi
Aus dem Schwedischen
von Susanne Dahmann
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Skuggan bakom dig« bei Norstedts, Stockholm.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright der Originalausgabe © Anna Jansson 2020
by arrangement with Grand Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022
by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Ingola Lammers
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com
(Palsur, lakalla,, Polarpx).
JS · Herstellung: sam
Satz: KCFG-Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-26362-1V002
www.blanvalet.de
Es war ein warmer Sommermorgen am Baggersee in Lanna. Die Wasseroberfläche lag völlig still und spiegelte die hohen weißen Badeklippen und den Wald dahinter wider. Ein Lastwagen mit Anhängerkupplung stand am Ufer. Der Taucher wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer, ehe er hinaus auf den Steg ging und sich bereit machte, in die smaragdgrüne Tiefe des ehemaligen Kalksteinbruchs zu steigen. Tags zuvor war ein junger Mann unter Drogeneinfluss mit seinem Motorrad geradewegs von der Badeklippe ins Wasser gefahren, um seine Gang zu beeindrucken. Er überlebte, wenn auch mit geplatzter Milz, weil er beim Aufkommen auf der Wasseroberfläche das Lenkrad in den Bauch bekommen hatte. Aber das Motorrad lag immer noch da unten und verlor Öl und Benzin. Der Taucher war im Auftrag der Gemeinde Lekeberg geschickt worden, um das Fahrzeug zu bergen. Das Wasser war kristallklar und die Sicht gut – das hier würde nicht lange dauern.
Der Taucher glitt hinunter und ortete das Motorrad. Es war neben einer alten Holztonne mit Eisenbeschlägen gelandet. Die Tonne lag im Weg, genau in der Richtung, in der er das Motorrad hochziehen wollte, und der Taucher stellte verärgert fest, dass er sie zuerst raufholen musste. Er befestigte das Seil und verfluchte die schlechte Angewohnheit der Leute, einfach Gegenstände ins Wasser zu werfen. Hier konnte man im Grunde alles finden: Fahrräder, Wasserkocher, Autoreifen und jetzt eine große, unförmige Tonne. Allerdings sah sie aus, als wäre sie einigermaßen intakt und würde halten. Der Taucher stieg wieder zur Wasseroberfläche auf und gab dem Fahrer ein Zeichen, der daraufhin anfing, den Fang hochzuwinschen. Eine Säule aus Luftblasen bahnte sich den Weg aus der Tonne, als sie langsam aufstieg. Der Fahrer holte das Seil Stück für Stück ein. Dann tauchte sie auf. Die Stille wurde von dem kratzenden Geräusch unterbrochen, als die Tonne über die Kante des Steinbruchs gezogen wurde, Holz knackte und die rostigen Eisenbänder brachen. Der Fahrer sah es zuerst. Das lange rote Haar, die entblößten Zähne unter den tiefen Höhlen der Augen und die aufgequollenen, gelblich bleichen Reste einer Leiche, die plötzlich mit grotesker Deutlichkeit dem Tageslicht ausgesetzt war.
Nach einem langen warmen Sommer schlich sich nun der Herbst mit seinem gelberen Ton in die Kronen der Bäume, und kühlere Winde bewegten die Luft. Es war Freitagmorgen und bereits Mitte September, als Kriminalinspektor Kristoffer Bark das Turmzimmer ganz oben im Gerichtszentrum verließ, um mit Regina Zimmermann, der Polizeichefin der Region, zu sprechen. Seit seiner Rückkehr aus dem Sommerurlaub hatte er alle Hände voll damit zu tun gehabt, die noch ausstehende Papierarbeit zu einem Fall zu erledigen, an dem er im Frühjahr gearbeitet hatte – dem Fall, der schließlich auch das langjährige Rätsel um das Verschwinden seiner Tochter gelöst hatte. Jetzt war er so weit, diese Ermittlung hinter sich lassen zu können.
Bark klopfte an die bereits offen stehende Tür und trat ein. Regina Zimmermann stand hinter ihrem breiten Schreibtisch. Sie war platinblond und hatte das lange Haar zu einem großen Dutt mitten auf dem Kopf gedreht. Ihre Kleidung war gut geschneidert und wahrscheinlich sehr teuer.
»Setz dich, Bark«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zu dem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. Sie selbst blieb stehen. »Ich habe einen Auftrag für dich. Ein ungelöster Fall von 2011, der etwas für deine Gruppe sein könnte.«
»Ich höre«, sagte er gedämpft und setzte sich.
Die Gruppe, für die man Kristoffer Bark die Verantwortung übertragen hatte, bestand aus Kollegen, die aus verschiedenen Gründen als problematisch angesehen wurden. Ziel war, dass sie in einem etwas ruhigeren Tempo an alten, unaufgeklärten Fällen arbeiten sollten. Arbeit in der Gruppe war noch nie Barks Ding gewesen, da verlief ihm der Prozess vom Gedanken bis zur Entscheidung und zur Tat zu langsam.
»Sagt dir der Name Emelie Kartman etwas?«
»Aber ja!« Kristoffer Bark schauderte es. »Die ist doch 2011 im Baggersee in Lanna gefunden worden. In der Tonne.«
Er erinnerte sich sehr gut an den aufsehenerregenden Fall. Emelie Kartman war eine junge Grundschullehrerin, die 2008 vermisst gemeldet worden war. Ihre Leiche wurde dann drei Jahre später in einer Tonne gefunden, die von der Außenseite mit ungefähr hundert 7,5 Zentimeter langen Nägeln durchbohrt worden war. Todesursache war nicht Ertrinken gewesen – sie hatte kein Wasser in der Lunge –, sondern Blutverlust. Laut Aussage der Techniker war die Tonne herumgerollt und die Nägel so in den Körper getrieben worden. Mit den Händen hatte sie versucht, ihr Gesicht zu schützen.
»Sie ist einer Misshandlung ausgesetzt worden, die das Leiden Christi am Kreuz wie die reinste Wellnessbehandlung aussehen lässt. Soll der Fall jetzt wieder neu aufgemacht werden?«, fragte er.
»Ja, die Ermittlung ist 2013 eingestellt worden, weil wir keinen Verdächtigen hatten.
Leiter der Voruntersuchung war Mikael Pettersson, der leider im Frühjahr dieses Jahres verstorben ist. Krebs. Aber bei der Vermisstenanzeige 2008 war Ulf Gunnarsved der leitende Ermittler, und er gehörte auch zur Gruppe, die 2011 in dem Mord ermittelt hat.
Du kannst mit ihm reden, er ist ja gerade wieder eingestellt worden. Ich brauchte seine Kompetenz bei den Wirtschaftsverbrechen.«
Jetzt konnte sich Bark nicht mehr beherrschen. »Der faule Sack. Ulf Gunnarsved rührt keinen Finger, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Ich habe dieses Frühjahr im Fall Camilla Hörlin hinter ihm aufgeräumt, und jetzt willst du, dass ich die Ermittlung eines zweiten Mordfalls, in dem er ganz bestimmt genauso schlecht gearbeitet hat, wieder aufnehme. Warum?«
»Weil ich dich noch nicht an vorderster Front haben kann, Bark. Bevor du in die Abteilung für Gewaltverbrechen zurückkehren kannst, brauche ich ein Zeichen von deiner Therapeutin. Diese Gruppe ist als eine Ressource gebildet worden, die Cold Cases bearbeiten soll. Jetzt mach mal nicht so ein beleidigtes Gesicht! Es ist keine Strafe, sondern notwendige Arbeit.«
»Und warum hast du ausgerechnet diesen Fall ausgesucht?«, fragte er. »Ist etwas Neues passiert?«
»In der Lokalzeitung erscheint eine Serie über alte, ungelöste Fälle in der Region Berslagen. Die hängen das ziemlich hoch, und wie du dir vorstellen kannst, wirft so was kein gutes Licht auf die gesamte Truppe. Der Fall Emelie Kartman ist spektakulär, und wenn die anfangen, da drin zu graben, dann müssen die großen, überregionalen Zeitungen nur mal Saure-Gurken-Zeit haben, und schon stehen sie hier.«
»Okay. Aber ich will alle Informationen. Auch den Müll, jede einzelne Notiz.«
»Verstanden. Dann haben wir das hier geklärt.«
Kristoffer Bark verließ das Zimmer seiner Chefin und die Polizeistation und spazierte das kurze Stück zur Fredsgatan, wo Mia Berger ihre Psychotherapeutenpraxis hatte. Er war nervös und erwartungsfroh. Sie hatte spät Urlaub gemacht, und heute sahen sie sich zum ersten Mal nach der Sommerpause. Anfänglich hatte er die Entscheidung der Polizeiführung, ihn zum Psychologen zu schicken, als reine Bestrafung aufgefasst. Und im Grunde genommen waren die regelmäßigen Sitzungen die Bedingung, die seine Chefin gestellt hatte, wenn er seinen Job bei der Kriminalpolizei behalten wollte. Anlass für die Besuche beim Psychologen war eine mangelnde Impulskontrolle, die bei mindestens einer Gelegenheit so ernste Konsequenzen gehabt hatte, dass Bark Gefahr lief, wegen Misshandlung angezeigt zu werden. Der Arzt, dem er angedroht hatte, ihm mit einem Gartenschlauch den Magen auszupumpen, und dessen Kopf er möglicherweise in die Kloschüssel gedrückt hatte, saß jetzt in Untersuchungshaft, denn der alte Mistkerl hatte seine Pension aufgebessert, indem er Rezepte für Morphium, Amphetamine, Tramadol und Benzodiazepine an allerlei unglückliche Figuren der Gesellschaft ausstellte. Aus verständlichen Gründen hatte der Arzt ihn nicht anzeigen wollen, aber dennoch anonym bei Regina Zimmermann angerufen, die sich veranlasst gesehen hatte, hier energisch einzuschreiten. Kristoffer Bark selbst plagte allerdings kein schlechtes Gewissen, weil er Doktor Tod behilflich gewesen war, Einsicht zu zeigen und seine Sünden zu bekennen.
Zimmermann hatte Bark nur deshalb nicht sofort suspendiert, weil sie der Meinung war, dass er nach dem Tod der Tochter psychisch aus dem Gleichgewicht geraten sei. Vera war vor knapp fünf Jahren an ihrem Junggesellinnenabend verschwunden, und Kristoffer hatte die Suche nach ihr nicht aufgegeben, bis er im Frühjahr ihre Leiche in einem Brunnen gefunden hatte. Ermordet von einem verwirrten armen Ding, das jetzt für eine längere Zeit in der Forensischen Psychiatrie gelandet war. Nun versuchte Kristoffer, wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Was auch immer das bedeutete. Er hoffte, dass die Psychologin Mia Berger ihm helfen konnte, darauf eine Antwort zu finden.
Im Laufe des Frühjahrs hatten sich die Sitzungen bei der Therapeutin zu etwas entwickelt, das vielleicht noch furchteinflößender war als eine Strafe: Kristoffer hatte sich verliebt. Plötzlich erlebte er ganz andere starke Gefühle als die Ohnmacht und die Wut, die sein Leben so viele Jahre lang bestimmt hatten. Aber wahrscheinlich funktionierte diese Bedürfnispyramide von Maslow so. Erst wenn man seine schlimmsten Dämonen in den Griff bekommen, gegessen und geschlafen und ein gewisses Maß an Sicherheit erfahren hatte, dann gab es Platz für wärmere Gefühle wie Verliebtheit und Liebe. Wurden seine Gefühle erwidert? Er wusste es nicht. Jetzt stand er vor dem schweren Dilemma, dass er nicht offenbaren durfte, was er für sie empfand. Denn wenn er auch nur andeuten würde, dass er sich verliebt hatte, dann konnte sie nicht länger seine Therapeutin sein. Und dann würde sie womöglich aus seinem Leben verschwinden, was eine Katastrophe wäre, denn sie war sowohl in der Wirklichkeit wie auch im inneren Dialog, wo seine Fantasie ihr eine Stimme gab, zu seiner wichtigsten Gesprächspartnerin geworden.
Doch wenn sich entgegen allen Erwartungen eine wundersame Lösung der Situation mit Mia Berger ergab, dann würde er es vielleicht wagen. Seit seiner Trennung von Ella vor knapp dreizehn Jahren hatte er keine ernsthafte Beziehung gehabt. Zwar waren sie noch weiterhin in Kontakt geblieben, doch als die gemeinsame Tochter verschwand, hatte Ella ihren Schmerz mit Alkohol und Tabletten betäubt, und Kristoffer war immer mehr in die Rolle ihres Pflegers geraten. Seit die quälende Ungewissheit vorbei war und sie wussten, was Vera zugestoßen war, hatte Ella sich schließlich entschieden, nüchtern zu leben und einen Platz in einer Klinik akzeptiert, in der sie sich jetzt befand. Kristoffer hoffte von ganzem Herzen, dass sie es schaffen würde.
Natürlich hatte es andere Frauen in seinem Leben gegeben, doch immer nur vorübergehend. Er hatte einfach keine Kraft gehabt, sich zu engagieren. In den ersten Jahren nach der Scheidung, als Vera bei ihm lebte, hatte er sich ganz auf das Vatersein konzentriert. Danach nahm die Suche nach der Tochter all seine Kraft in Anspruch. Die Gelegenheiten, bei denen er in den letzten Jahren mit jemand im Bett gelandet war, konnten eher als Gesundheitspflege denn als Beziehung betrachtet werden, dachte er zusammenfassend. Weder Reue noch Erinnerung. Abgesehen von dem fatalen Ereignis mit Gaby im Frühjahr. Sex mit einer Kollegin zu haben war nie eine gute Idee, aber Sex mit einer rachelustigen Staatsanwältin war reiner Wahnsinn.
Kristoffer schauderte es, und er versuchte, an etwas anderes zu denken. Ihm war eben die Ermittlungsleitung im Fall des Mordes an Emelie Kartman übertragen worden, und auch wenn die ihm zugeteilten Ressourcen in Gestalt einer ziemlich verkrachten Truppe daherkamen, würde er dennoch sein Bestes geben.
Bei der Praxis an der Fredsgatan angekommen, tippte er den Türcode ein, stieg die Treppe hinauf und wurde von Mia Bergers warmem Lächeln empfangen. Ihr Handschlag war fest und gleichzeitig sanft. Sie trug ein kurzes graues Jackett, eine weiße Bluse, dunkelgraue Jeans und Sneakers. Das braungelockte Haar war zerzaust und die Wangen rot, als wäre sie nach einem raschen Spaziergang durch den Wind gerade wieder reingekommen. Ihm lag ein Kompliment auf den Lippen, doch er beherrschte sich.
»Willkommen, Kristoffer«, sagte sie und führte ihn in das sparsam möblierte Zimmer. Weiße Wände, ein Bücherregal mit Fachliteratur und eine grüne Pflanze am Fenster – alles war ihm vertraut. Er nahm ihr gegenüber am Schreibtisch Platz, wo sie schon so viele Male vorher gesessen hatten. Und er war doch tatsächlich nervös wie ein Teenager.
»Danke. Schön, sich wiederzusehen.« Ihm war bewusst, dass er Distanz halten musste, und er sah kurz aus dem Fenster, um sich nicht in ihrem freundlichen, warmen Blick zu verlieren.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie mit einem kleinen Lächeln. »Es ist eine Weile her, seit wir uns gesehen haben. Was ist seit dem letzten Mal passiert?«
»Alles ist gut. Ich war eben bei meiner Chefin und habe einen neuen Auftrag bekommen, einen unaufgeklärten Fall. Das fühlt sich spannend an. Und Ella – meine geschiedene Frau, wie Sie wissen – ist in der Entzugsklinik. Es geht vorwärts. Sie ist jetzt seit drei Monaten nüchtern. Ich habe gestern mit ihr telefoniert, und da hat sie erzählt, dass sie, sowie die Behandlung beendet ist, wieder als Krankenschwester arbeiten möchte. Ich hoffe wirklich, dass sich alles löst.«
»Bezahlen Sie immer noch ihre Miete?«, erkundigte sich Mia sachlich. In ihrem Tonfall schwangen weder Lob noch Kritik mit.
»Ja, sonst wäre sie schon seit Langem am Ende. Aber sie hat gute Nachbarn, die sich noch daran erinnern, wer sie war, ehe Vera verschwand. Die haben ein Auge auf sie.«
»Genau wie Sie die letzten fünf Jahre. Sie übernehmen viel Verantwortung für Ihre Exfrau.«
»Wenn ich das nicht getan hätte, wäre sie jetzt tot. Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft ich sie in die Notaufnahme gefahren habe, weil sie sich bewusstlos getrunken hatte oder misshandelt worden war. Ich habe das Gefühl, es Vera schuldig zu sein, mich um ihre Mutter zu kümmern.«
Mia beugte sich vor. »Es geht hier nicht nur um einzelne lebensrettende Einsätze, sondern um viele Jahre der Bereitschaft. Was meinen Sie, was hat das mit Ihnen gemacht?«
»Ich war natürlich wütend auf Ella, aber ich konnte meine Wut nicht an ihr auslassen, weil sie ja schon am Boden war.« Kristoffer verstummte.
Auch Mia sagte nichts. Wahrscheinlich erwartete sie eine eingehendere Antwort.
»Mein Leben hat in den letzten Jahren auf Stand-by gestanden. Ich konnte nichts planen und habe es kaum gewagt, mal mit Freunden ein Bier zu trinken, falls Ella meine Hilfe gebraucht hätte.« Bark versuchte ein Lächeln, damit das, was er sagte, nicht allzu düster erschien. »Ich hoffe, die Zukunft wird besser aussehen«, fügte er hinzu, »sonst laufe ich Gefahr, zum echten Abstinenzler zu werden.«
Mias Blick funkelte, und sie lächelte etwas ausgedehnter, wurde dann aber wieder ernst. »Sie haben mir früher schon mal erzählt, dass Sie im letzten Gymnasiumjahr von der Schule abgegangen sind, weil Ihre Mutter Krebs bekam. Sie haben sie zu Hause gepflegt, bis sie starb. Erkennen Sie da ein Muster?«
»Ich tue nur, was ich muss. Nicht ich wähle das Elend, es wählt mich.«
»Sie sind nicht allein, Kristoffer. Sie können um Hilfe bitten.«
»Wen sollte ich bitten? Alle haben ihre eigenen Sorgen. Das ist schwer.«
»Ja, aber notwendig. Wir haben über Ihr Kontaktnetz gesprochen. Sie haben eine Schwester und einen Bruder und einen Vater, der nur wenige Kilometer entfernt wohnt. Fangen Sie mal damit an, sich bei denen zu melden. Wenn Sie die ganze Zeit nur für andere da sind und sich selbst und Ihre eigenen Bedürfnisse nicht ernst nehmen, dann besteht die Gefahr, dass die Wut, die Sie in Ihrem tiefsten Innern empfinden, sich andere Auswege sucht. Sind wir uns da einig?«
Er lächelte sie an. »Wenn ich Ja antworte, werde ich dann als geheilt betrachtet?«
»Nein, Kristoffer. Wir sind erst am Anfang.« Mia hatte die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt und lehnte sich ein wenig weiter vor, sodass ihr schönes Gesicht einladend näher kam. »Wenn Sie mal aufhören, Verantwortung für jemand anderes zu übernehmen, und stattdessen an sich selbst denken, was würden Sie dann gerne tun?«
Ihn schwindelte ein wenig, als ihm die Antwort klar wurde. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sich vorgebeugt und seine Therapeutin auf den einladenden roten Mund geküsst.
»Muss ich dafür fünfzig Jahre alt sein, so wie jetzt, oder darf ich fünfunddreißig und etwas attraktiver sein?«
»Sie bekommen die Jahre nicht zurück. Sie sind fünfzig, und das Leben beginnt jetzt.« Sie lehnte sich zurück und wartete interessiert auf seine Erwiderung.
»Okay. Dann will ich meine Arbeit als Ermittler im Gewaltdezernat zurückhaben und nicht in der Ecke im Turm sitzen und alte, unaufgeklärte Fälle lösen und hinter anderen aufräumen, die ihre Arbeit nicht vernünftig erledigt haben. Und dann will ich Zeit haben, um Freunde zu treffen und vielleicht jemanden zu finden, mit dem ich leben kann.« Das war eine zurechtgelegte Antwort und so nahe an der Grenze, wie er nur wagte.
»Im Frühjahr haben Sie mir erzählt, dass Sie von Ihrem Vater einen Weinschössling bekommen haben, mit der Aufgabe, ihn an dem Ort einzupflanzen, wo Sie leben möchten. Ich fand, das war ein schönes Geschenk und ein kluger Rat.«
»Die Blaue Bergslagen«, sagte Kristoffer mit einem Nicken. »Ja, das ist eine widerstandsfähige Sorte, die sowohl Kälte als auch widrige Umstände aushält.«
»Genau wie Sie. Wo ist die Pflanze jetzt?«, erkundigte sich Mia mit einem kleinen Lächeln.
»Im Büro«, erwiderte Kristoffer, weil ihm keine Notlüge einfiel.
»Das sollten Sie vielleicht ändern. Vielleicht sollten Sie bewusst das Leben aufsuchen, das Sie leben wollen«, sagte Mia Berger, ohne den Blick von ihm zu wenden. Und für einen schwindelerregenden Moment hoffte er, dass in dem, was sie sagte, eine verborgene Botschaft läge.
Kristoffer Bark verließ die Praxis auf der Fredsgatan und kehrte ins Polizeihaus zurück, um vor dem Wochenende seine Sachen zusammenzupacken, denn er plante, am Nachmittag zu Hause zu arbeiten. Die bürokratischen Angelegenheiten, die vom Fall Camilla Hörlin noch ausstanden, wollte er Henrik aufbürden, der in den Zeiten, in denen er sich gerade mal im Büro befand und nicht wegen der Kinder zu Hause war, in seinem eigenen Rhythmus arbeitete. Selbst brauchte er jetzt einen aufgeräumten Schreibtisch für die Ermittlung im Mordfall Emelie Kartman. Bark versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was er von dem Fall noch wusste. Zur Zeit ihres Verschwindens war Emelie zweiunddreißig Jahre alt gewesen und alleinerziehend mit einem fünfjährigen Jungen, der Kim hieß und jetzt also fünfzehn sein musste. Emelies Ehemann war nur wenige Monate vor ihrem Verschwinden an einer Überdosis Fentanyl gestorben, einem mit Morphium vergleichbaren Präparat, das inzwischen zu einer alltäglichen Partydroge mutiert war. An viel mehr erinnerte er sich nicht und stellte schlechtgelaunt fest, dass er eine Menge mit Ulf würde abstimmen müssen.
Als Kristoffer in das große Turmzimmer zurückkehrte, war keiner seiner Kollegen mehr da. Die Arbeitsplätze standen verlassen, und der große ovale Tisch in der Mitte des Raumes, den alle als Ablageplatz benutzten, war mit Geschirr, Papierstapeln und anderen eher unerwarteten Dingen wie einem Kinderhandschuh, einer Snus-Dose und einem Schal in den Farben des örtlichen Fußballvereins von Örebro bedeckt. Henrik Larsson war bereits gegen zehn Uhr morgens gegangen, nachdem die Kindertagesstätte angerufen hatte. Das jüngste Kind, Nisse, hatte wieder Fieber. Mit fünf Kindern in fünf Jahren war es mehr die Regel als die Ausnahme, dass Henrik wegen der Kinder zu Hause bleiben musste. Seine Frau, die Ärztin und Wissenschaftlerin war, sprang nie ein. In der letzten Zeit hatte Henrik ungefähr fünfzig Prozent Anwesenheit gezeigt und lebte in ständiger Angst, dass seine Frau wieder schwanger werden könnte.
Sie sollten in der Gruppe zu fünft sein, doch nur vier von ihnen waren im Dienst. Abgesehen von ihm selbst und Henrik, die zur älteren Garde der Ermittler gehörten, war ihnen ein junger Kollege namens Alex zugeteilt worden. Im Laufe der Zeit hatte Kristoffer den Verdacht gewonnen, dass er an galoppierendem ADHS oder einer anderen Buchstabenkombination litt. Doch damit nicht genug, war Alex einem höhnischen Schicksal zufolge auch noch der Sohn von Kristoffers Therapeutin. Das hatte er aber erst im letzten Sommer erfahren, als Mia plötzlich bei Alex’ Einweihungsfest in der Küche gestanden und Lasagne gekocht hatte. Alex hatte keine Ahnung davon, dass Kristoffer bei seiner Mutter in Therapie ging – und er durfte das auch keinesfalls je erfahren. Was Mia ihrerseits von Alex über ihn gehört hatte, wagte Bark nicht einmal zu denken. Alex und Kristoffer waren nicht immer gut miteinander ausgekommen, und ihre Geschichte begann mit einem richtigen Zusammenstoß, als Alex versucht hatte, sich in einer Klub-Schlange mithilfe seiner Polizeimarke vorzudrängeln. Damals war der Junge noch Anwärter gewesen. Inzwischen hatte er seine Ausbildung beendet und seinen Dienst in der Polizeizentrale begonnen. Wegen seiner schwer zu vermittelnden Fähigkeiten war er ohne Umwege in Kristoffers Gruppe gelandet.
Dann war da Ingrid, eine Kollegin, die auf die sechzig zuging und eigentlich beim Kriminalpolizeilichen Nachrichtendienst KND tätig war. Wegen ihrer direkten Art und ihres Unwillens, sich zurückzuhalten, war sie – weit unter ihrer Kapazität als Organisatorin und Kommunikatorin – in die Abteilung für Fundsachen versetzt worden. Kristoffers einzige Bedingung bei der Zusammenstellung seiner Gruppe war gewesen, dass er Ingrid dazubekommen würde. Zwar war sie Zivilangestellte, aber Virtuosin, was die operativen Systeme anging. Auch wenn manch einer fand, sie sei keine richtige Polizistin und habe deshalb einen solchen Posten nicht verdient, war Kristoffer doch von ihrer Kompetenz und ihren sozial-ermittlerischen Fähigkeiten überzeugt. Sie verfügte über ein umfangreiches Kontaktnetz, und die Informationen, die sie nicht über den Computer herausfinden konnte, vermochte sie verblüffend oft auf andere Weise über Bekannte von Bekannten aufzutreiben. Um von den anderen nicht gestört zu werden – und sie nicht von ihr –, hatte Ingrid inzwischen ihren Arbeitsplatz in der Abseite neben der Pantry. Wenn sie schlecht geschlafen hatte, konnte sie bis mittags schrecklicher Laune sein. Später am Tag dann war besser Kirschen essen mit ihr.
In der rechten Ecke des Turmzimmers gab es noch einen leeren Stuhl vor einem ebenso leeren Schreibtisch. Dort hätte Sara Bredow sitzen sollen, eine 34-jährige Kriminalinspektorin. Sie war langzeitkrankgeschrieben, und Bark hatte sie überhaupt noch nicht gesehen. Somit waren sie also keine wirklich große Gruppe, konnten aber durchaus schon gute Ergebnisse vorweisen.
Der Fahrstuhl begann sich mit quietschenden Lauten nach oben zu bewegen und hielt mit einem Pling! im obersten Stockwerk. Alex tauchte mit einer Tasse Kaffee in der Hand im Turmzimmer auf. Er nickte Bark zu und eilte zu dem großen Tisch, wo er die Tasse schwungvoll und krachend abstellte, sodass der Kaffee überschwappte.
»Ui, was ist jetzt passiert?«, fragte er mit einem entwaffnenden Lächeln.
»Es ist nichts passiert, Alex. Das war kein Zufall, kein Fluch von oben. Du hast Kaffee verschüttet, weil du dich nicht konzentriert hast.«
Es geschah andauernd, dass dieser Tölpel etwas umwarf, in etwas hineinstolperte oder etwas verschüttete. Jetzt wischte er den Fleck routiniert mit einem Zipfel seines bereits schmutzigen T-Shirts weg. Er war groß und so mager, dass die Schulterblätter herausstachen, das konnte man sogar durch den Pullover sehen. Das dunkle Haar war hinten und an den Seiten zurückgegelt, doch der Pony war lang, und die haselnussbraunen Augen sprühten vor Energie. Er setzte sich hin und begann mit der Hand auf dem Oberschenkel zu trommeln, während der Fuß den Takt zu einer Melodie stampfte, die nur er selbst in seinem Kopf hören konnte. So viele irritierende Geräusche in einem so dünnen Kerl. Bark seufzte.
»Jemand hat eine Scheibe zerschlagen und Schaufensterpuppen gestohlen«, erklärte Alex. »Heute Nacht, auf der Drottninggatan. Keine Ahnung, welcher Kleiderladen es war. Hast du was davon gehört? Warum klaut man Schaufensterpuppen, wenn es da Markenklamotten und andere weniger umständliche Sachen zu klauen gibt, die aber mehr wert sind?« Noch ehe Bark antworten konnte, stürzte er sich schon auf das nächste Thema: »Was hast du dir überlegt, womit wir im Herbst arbeiten sollen? Kriegen wir einen neuen Fall?«
»Ich war heute bei Zimmermann. Wir sollen eine Mordermittlung wieder aufnehmen, die 2013 zu den Akten gelegt worden ist. Der Fall Emelie Kartman.«
»Oh, verdammt, die in einer Nageltonne gefunden worden ist?« Alex stand auf und begann im Zimmer auf diese planlose Art herumzuwandern, die so typisch für ihn war und die Kristoffer nach einer Weile immer unsäglich auf die Nerven ging.
»Ja. Ich möchte, dass du alles zusammensuchst, was du im Netz finden kannst, dann hole ich das, was es in Papierform gibt, und dann muss ich mit Ulf sprechen, der damals mit an dem Fall gearbeitet hat.«
»Ulf Gunnarsved?«, fragte Alex.
Bark nickte. »Ja, wieso?«
»Nur, weil ich vorige Woche was über ihn gehört habe«, sagte Alex. »Es ging um Sara, die eigentlich mit uns hier arbeiten soll.«
»Ach ja?« Bark konnte seine Neugier nicht verbergen. Er hatte ein paarmal versucht, Sara Bredow anzurufen und zu fragen, wie es ihr ging und wann sie plante, wieder zu arbeiten. Doch bisher hatte er kein einziges Gespräch mit ihr zustande gebracht. Einmal war sie selbst rangegangen und hatte dann einfach aufgelegt – hoffentlich im Glauben, dass es sich um jemand anders handelte. Ansonsten waren immer eine Schwägerin oder ihre Mutter ans Telefon gegangen und hatten ihm beschieden, dass Sara nicht mit ihm sprechen könne.
»Ich habe mich mit Lisa Wadenberg unterhalten. Sie ist ja Ermittlerin, arbeitet aber jetzt im Streifendienst und kennt Sara offensichtlich ziemlich gut. Vorige Woche bin ich in der Kantine an ihrem Tisch gelandet und habe die Gelegenheit genutzt, mich ein bisschen nach Sara zu erkundigen. Lisa bezweifelt, ob sie jemals wieder als Polizistin arbeiten wird. Du weißt schon, Sara hat in der Ermittlergruppe von Ulf Gunnarsved an dem Fall Camilla Hörlin gearbeitet. Das war, bevor du den übernommen hast. Irgendwas ist da passiert. Lisa wollte es nicht erzählen, aber Sara ist jedenfalls seither krankgeschrieben, und Gunnarsved musste mit unmittelbarer Wirkung seinen Abschied nehmen und einen zivilen Job in Skåne annehmen.«
»Das stimmt, ich hatte im Frühjahr Kontakt zu ihm. Da hat er noch für ein Unternehmen gearbeitet, das in Malmö Schließ- und Sicherheitslösungen angeboten hat. Aber jetzt ist er wieder hier und soll im Dezernat für Wirtschaftskriminalität arbeiten. Da kann man sich nur wundern …«
»Vielleicht solltest du Ulf mal fragen, was zwischen ihm und Sara passiert ist«, unterbrach ihn Alex. »Wenn so gar niemand darüber reden will, muss es ja richtig übel gewesen sein.«
»Vielleicht weiß Ingrid was«, meinte Bark.
Im selben Moment ging die Tür auf, und da stand Ingrid Johansson in ihrer ganzen respekteinflößenden Person. Sie hatte ihr langes graues Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und wechselte wie immer zwischen der Erscheinung als Waldhexe in Erdfarben und einem kleinen, elfengleichen Mädchen hin und her, je nachdem, wie das Licht einfiel und in welcher Stimmung sie zufällig gerade war.
»Habe ich da soeben meinen Namen gehört?«, fragte sie und grinste übers ganze Gesicht.
»Komm rein und setz dich. Wir sprechen über Sara. Was kann ich als ihr Chef tun, um ihr die Rückkehr zu erleichtern?«, fragte Kristoffer.
Ingrids Gesichtsausdruck verwandelte sich sofort, und sie sah aus, als würde sie einen inneren Kampf ausfechten. »Soweit ich gehört habe, ist sie ziemlich ausgebrannt, aber wie schlimm es genau ist, das wage ich nicht zu spekulieren. Vielleicht sollte sie die Möglichkeit bekommen, sich hier in ihrem eigenen Tempo wieder einzuarbeiten. Ich kenne Saras Mutter Gunilla, sie arbeitet zusammen mit der Tochter einer meiner Cousinen in der Apotheke in Nora. Die kann ich bitten, Gunilla mal zu fragen, ob Sara einen Besuch schaffen würde. Ich glaube, es ist besser, wenn du hier mit ihr sprichst, von Angesicht zu Angesicht. Ich versuche, das zu arrangieren. Aber du musst geduldig sein, Bark.«
»Gehört nicht zu meinen starken Seiten.«
Bark sammelte das Material über den Fall Emelie Kartman zusammen, in das er sich übers Wochenende einlesen wollte, und nahm die enge Treppe vom Turm hinunter in »Das Gericht«, wie die Kantine von Polizei und Gerichtszentrum so einfallsreich getauft worden war. Es war jedes Mal gleichermaßen spannend, ob die Treppe sein Gewicht aushalten würde oder ob ihr Gebrauch eine einfache Fahrt in die Notaufnahme bedeutete. Alex blieb im Turmzimmer zurück. Er und Ingrid hatten angefangen, sich über den Klimawandel zu unterhalten. Ingrid betrieb in ihrer Freizeit einen kleinen Buchladen im Gemeinschaftshaus Vintrosa, und an diesem Wochenende hatte sie zu Debatte und Buchverkauf zum Thema Umweltfragen eingeladen. Alex würde ihr helfen. Er war immer sofort mit dabei, wenn jemand sich für die Umwelt einsetzte. Wenn er nicht Polizist geworden wäre, dann wäre er sicher heute Berufsaktivist in der Umweltbewegung.
Kristoffer holte seine Lunchbox aus dem Kühlschrank und war gerade dabei, sie in seine Aktentasche zu schieben, als er eine wohlbekannte Stimme das Menü kommentieren hörte. Er drehte sich herum, und da stand Ulf Gunnarsved und studierte die Auswahl an Mittagsgerichten auf der Wandtafel. Gunnarsved war kränklich und ein bisschen kleiner als Bark. Wie üblich trug er schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Das Haar, das früher einmal blond und dick gewesen war, hatte er abrasiert, als es schütter wurde, und jetzt glänzte der Schädel im Neonlicht. Er hatte sich seit ihrer letzten Begegnung eine Reihe von Tätowierungen auf den Armen zugelegt, dazu ein hässliches blaues Ding im Nacken. Was genau es darstellte, war schwer zu sagen, weil das halbe Kunstwerk in der Nackenfalte verschwand, wenn er so leicht zurückgelehnt dastand.
»Ulf! Lange nicht gesehen. Ich dachte, du wärest tot und begraben«, sagte Bark.
Ulf drehte sich herum. »Unkraut vergeht nicht, das solltest du doch wissen, der du hier nur auf Abruf bist. Wie ich gehört habe, gehst du zum Psychologen und programmierst dein impulsgesteuertes Gehirn um«, konterte Gunnarsved mit seiner charakteristischen nasalen Stimme.
»Sagt wer?«
»Hier gibt es keine Geheimnisse, Bark. Wir sind eine einzige große Familie, sagt doch Zimmermann immer.«
»Ich dachte, du wärst endgültig ausgezogen. Aber jetzt bist du also zurück?«
»Ja, Zimmermann hat mich so hübsch gebeten und mit einem Gehalt gelockt, bei dem dir schwindlig würde. Sie brauchen Ermittler im Wirtschaftsdezernat, und wie du vielleicht weißt, habe ich da schon mal gearbeitet. Irgendein Schlauberger hat ausgerechnet, dass wir unser Gehalt zehnmal wieder reinholen, wenn wir die Lecks im ausblutenden Wohlfahrtsstaat entdecken. All die kriminellen Netzwerke, die unser Beitragssystem ausnutzen. Und das ist in gewisser Weise meine Spezialität, möchte ich sagen. Gewaltverbrechen sind für meinen Geschmack etwas zu primitiv. Ich bin lieber drinnen, wenn der Winter kommt. Jetzt im Moment geht es um Identitätsdiebstahl. Das ist im letzten halben Jahr vor allem unter Studenten in die Höhe geschossen.«
Kristoffer hatte die Kollegen schon davon sprechen hören. Jugendliche, die beim Gerichtsvollzieher gelandet waren, weil jemand in ihrem Namen große Kredite aufgenommen hatte. Aber war ein höheres Gehalt wirklich die ganze Wahrheit? Der einzige Grund dafür, dass Ulf zurückgekehrt war? Oder gab es möglicherweise Probleme an der Beziehungsfront? »Wie läuft es denn mit deiner Freundin in Skåne?«
»Filippa? Mit der ist Schluss. Es war wohl schon Schluss, ehe es wirklich anfing. Sie ist Tätowiererin. Solange ich ein unbeschriebenes Blatt war, fand sie mich interessant. Dann hat sie die Nadel in mich gesetzt, und als ich wie eine wandelnde Litfaßsäule aussah, wurde ich in die Wüste geschickt. Wenn es nicht so teuflisch wehtun würde, würde ich jede einzelne Tätowierung wegmachen lassen.«
»Vielleicht kannst du später mal jemanden bitten, das zu tun, wenn du im Zusammenhang mit einer anderen Operation sowieso eine Narkose brauchst«, schlug Kristoffer nicht ganz ohne Mitleid vor. »Die nehmen einen scharfen Käsehobel und schälen Schicht für Schicht ab, habe ich gehört.«
Ulf antwortete nicht, sondern stand einen Moment lang still da und sah Bark unschlüssig an. »Es tut mir leid, was mit deiner Tochter passiert ist«, sagte er schließlich.
Darauf war Kristoffer nicht gefasst. Sofort war der Schmerz wieder da, und sein Körper erstarrte in Verteidigungshaltung. »Es ist jetzt, da wir wissen, was passiert ist, etwas leichter«, sagte er, um das Unbehagen abzuschütteln, ehe er das Thema wechselte. »Ich bräuchte einiges an Material von dir. Der Fall Emelie Kartman soll neu aufgerollt werden.«
»Oh, verdammt.« Plötzlich sah Ulf müde aus. »Und dann ist das auch so eine Verschwendung von Ressourcen. Du wirst nichts finden. Als sie im Sommer 2011 tot im Baggersee gefunden wurde, haben wir zu siebt an dem Fall gearbeitet. Ich weiß nicht, inwieweit du dich noch daran erinnerst. Als deine Tochter 2013 vermisst gemeldet wurde, brauchte man Ressourcen, und die Ermittlungen im Mordfall von Emelie wurden eingestellt. Ich glaube nicht, dass ihr den Mörder finden werdet. Wir haben alles versucht. Und jetzt ist die Zeit darüber gegangen, und die Zeugen erinnern sich an nichts mehr.«
»Trotzdem ist mir der Fall übertragen worden, und ich brauche alles Material, das du hast. Notizen, Kram, Abfall. Hast du das hier?«
»Könnte sein, dass ein Teil davon noch bei mir zu Hause ist.«
»Gut, dann komme ich später heute Abend bei dir vorbei, wenn ich mich in den Fall eingelesen und die wichtigsten Fragen gesammelt habe.«
»Zum Teufel, Bark! Das machen wir am Montag zur regulären Arbeitszeit. Hast du kein Privatleben?«
Bark sammelte sich einen kurzen Augenblick und nickte, rang aber noch mit sich selbst. Dann sprach er es aus: »Ich muss mit dir über Sara Bredow reden.«
Ulfs Blick wirkte plötzlich unruhig und gequält. »Nicht jetzt, ich habe grade keine Zeit. Lass uns später darüber reden. Ich verstehe, dass du Fragen hast. Aber soweit ich es sagen kann, handelte es sich um ein Missverständnis. Unter uns gesagt, war sie überempfindlich und schwer umgänglich.«
Kristoffer verließ die Polizeizentrale durch den Haupteingang. Es ärgerte ihn, dass er keine Klarheit darüber bekommen konnte, was zwischen Ulf und Sara geschehen war, aber als die Herbstsonne ihn mit ihrem warmen Licht umfing, beschloss er, an seiner Geduld zu arbeiten und die Sache übers Wochenende loszulassen. Irgendwann würde die Wahrheit schon rauskommen. Er ging Richtung Schloss, um den 7er-Bus nach Westen zum Friedhof Längbro zu nehmen, wo Vera begraben lag. Es war Längbro geworden, damit Ella zu Fuß zum Grab gehen konnte, denn manchmal hatte sie nicht einmal Geld, um ihre Buskarte aufzuladen. Für ihn war der Weg etwas weiter, aber das störte ihn nicht. Am vorigen Freitag hatte Kristoffer Rosen dabeigehabt, aber als er tags drauf wieder hinkam, musste er feststellen, dass Rehe die Knospen abgeknabbert hatten und nur noch die Stiele dastanden. Bestimmt lächelte Vera in ihrem Himmel darüber.
Er stieg aus dem Bus und folgte dem Weg zwischen den hohen Kiefern hindurch, bis er zu einem lichteren Platz mit nur einigen wenigen Birken und einer frisch gemähten Wiese kam. Hier hatten die meisten Gräber runde Steine und keine Marmorplatten. Das wirkte nicht so kalt und steif. Er ließ sich auf der Bank an Veras Grab nieder. Sie war nur zwanzig Jahre alt geworden. »Geliebt, vermisst«, stand auf dem Grabstein. Das verriet nichts über das Schreckliche, was in der Unwetternacht vor fünf Jahren geschehen war, als sie auf ihrem Junggesellinnenabend ermordet worden war. Hätte er sie retten können? Vielleicht, hätte er nur auf die nagende Stimme in seinem Kopf gehört, die ihm zugeflüstert hatte, dass irgendetwas schrecklich falschlief.
Kristoffer begann zu frieren. Die Trauer lag wie ein Fels auf der Brust, und er spürte einen schmerzenden Kloß im Hals. Er schloss die Augen und ließ die Tränen kommen. Die Sinnlosigkeit drohte ihn zu ersticken.
Er weinte so sehr, dass er zitterte, als er plötzlich eine Hand auf seinem Arm spürte. Erstaunt sah er auf. Er hatte auf dem Gras keine Schritte gehört, doch neben ihm auf der Bank saß nun eine schwarz gekleidete Frau in seinem Alter. Sie war mager, und das helle Haar war dünn und strähnig, das Kinn fliehend und der Mund schmal und unnatürlich hell. Die Augen waren himmelblau und ihr Blick sanft.
»Ich sehe, dass Sie traurig sind«, sagte sie. Die Stimme war unerwartet tief und melodisch. »Ist das Ihre Tochter?« Sie nickte zum Grabstein hin.
»Ja.« Kristoffer war von der Frage so überrumpelt, dass er es nicht schaffte, sich zu wehren. Das hier war ein sehr privater Moment.
»Vera Bark, 23. Februar 1993 bis 28. März 2013«, las die Frau laut vor. »Eltern sollten niemals ihre Kinder begraben müssen.«
»Nein«, sagte er und wusste plötzlich nicht, ob er wollte, dass sie ging und ihn in Frieden ließ oder blieb, damit er nicht allein sein musste.
Die schwarz gekleidete Frau sprach weiter, ihre Stimme wirkte fast hypnotisierend. »Es ist fünf Jahre her, seit Ihre Tochter gestorben ist. Aber es geht niemals wirklich vorbei, nicht wahr? Die Trauer ist noch da und macht sich bemerkbar, während das Leben für alle anderen wie immer weitergeht.«
»Haben Sie jemanden verloren?«, fragte er, um nicht weiter über Vera sprechen zu müssen.
»Meinen Sohn. Aber das ist lange her. Jetzt arbeite ich als Trauertherapeutin. Das Bestattungsinstitut Abend empfiehlt mich in der Regel und gibt meine Visitenkarte seinen Kunden. Ich heiße Ulla Haugren. Wenn Sie das Gefühl haben, mit jemandem sprechen zu wollen, dann dürfen Sie gern Kontakt zu mir aufnehmen.« Mit einer festen Bewegung schob sie ihre Visitenkarte zwischen seine auf dem Schoß gefalteten Hände.
»Danke, aber ich glaube nicht.« Er öffnete seine Fäuste, schlug sich auf die Oberschenkel, als würde er einen Beschluss fassen, und stand auf, um zu gehen. Nun würde er zwar noch eine gute Zeit an der Haltestelle warten müssen, bis der nächste Bus kam, aber das war weniger schlimm, als in ein Kreuzverhör zu geraten.
Ulla Haugren beugte sich vor und reichte ihm die Visitenkarte, die zu Boden gefallen war. »Kein Problem. Sie können es sich gern anders überlegen, wenn Sie möchten.« Sie lächelte ihn überlegen an. »Notieren Sie meine Telefonnummer. Ich fühle, dass wir uns wiedersehen werden. Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
Die Septembersonne knallte vom Himmel, als Sara Bredow die Wohnung an der Ekersgatan verließ und den Bus in die Stadt nahm. Nicht einmal das kurze Stück konnte sie gehen. In der Nacht war sie mehrere Male aufgewacht und hatte sich Sorgen gemacht. Die anonymen Anrufe, die verschwundenen Rechnungen, die dann beim Gerichtsvollzieher landeten, die Anzeigen beim Jugendamt – es war zu viel in der letzten Zeit passiert, als dass es Zufälle sein konnten. Sie hatte das Gefühl, jemand war darauf aus, ihrer Familie zu schaden, aber sosehr sie auch überlegte, konnte sie doch keine Antwort finden.
Ängstlich und mit dem Gefühl, verfolgt zu werden, beobachtete sie ihre Mitreisenden im Bus. Ein Mann mit Kapuzenjacke und tief heruntergezogener Kappe stieg ein, warf ihr einen Blick zu und setzte sich schräg hinter sie. Das fühlte sich nicht gut an. Könnte er es gewesen sein, der angerufen hatte? Die Anrufe kamen immer von einer verborgenen Nummer und nur, wenn Josef nicht zu Hause war. Die Male, an denen sie rangegangen war, hatte man in der Leitung nichts gehört, außer dass jemand atmete.
Der Bus schaukelte über die von Schlaglöchern übersäte provisorische Fläche an der Stelle, wo die Straße wegen Bauarbeiten umgeleitet worden war. Ab und zu warf Sara einen Blick über die Schulter. Der Mann hinter ihr erwiderte jedes Mal ihren Blick, und sie drehte sich wieder um. Wenn er keine bösen Absichten hatte, musste er sie komisch finden. Was, wenn er meinte, sie würde mit ihm flirten? Sie riss sich zusammen und richtete den Blick geradeaus.
Sara war auf dem Weg zur Krankenkasse, wo sie eine neue Betreuerin treffen sollte, was ein weiterer Grund dafür war, dass sie schlecht geschlafen hatte. Je nachdem, was die Betreuerin entschied, würde sie noch eine Frist bekommen, oder die Familie wäre finanziell ruiniert. Seit bald zwei Jahren war sie wegen Burnout und schwerer mentaler Erschöpfung krankgeschrieben. Bevor ihr Leben in Scherben lag, hatte sie in Vollzeit als Polizistin gearbeitet und war privat eine aktive Person gewesen, die Amateurtheater spielte und viele Freunde hatte. Aber die Arbeit unter der Leitung von Ulf Gunnarsved im Mordfall Camilla Hörlin hatte sie völlig fertiggemacht.
Gleichzeitig war es auch zu Hause eine schwere Zeit gewesen. Moa hatte sich geweigert, nachts zu schlafen, weil sie Angst vor Dackeln unter dem Bett hatte, und Sara hatte sämtliche Nächte übernommen, um ihren Mann Josef zu entlasten, der seinerseits in das IT-Unternehmen, das er zusammen mit seinem Bruder betrieb, stark eingebunden war. Vielleicht hätten sie es auch geschafft, wenn nicht Saras Mutter zur selben Zeit einen Herzinfarkt bekommen und zwischen Leben und Tod geschwebt hätte. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war dann eine anonyme Anzeige beim Jugendamt gewesen. Jemand hatte sie beschuldigt, ihre elterliche Verantwortung für Moa nicht wahrzunehmen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte das Sara getroffen.
Nach einer gründlichen Untersuchung durch das Jugendamt und Wochen schrecklicher Sorge wurde die Anzeige für gegenstandslos erklärt. Doch Sara war am Boden zerstört. Ihr Gedächtnis war beeinträchtigt, alle Codes waren wie ausgelöscht, alle Vereinbarungen und Termine weg. Es war, als wäre sie plötzlich um hundert Jahre oder noch mehr gealtert. Und des Nachts grübelte sie darüber nach, wer sie wohl angezeigt haben könnte. Doch niemand wusste etwas. Niemand gab sich zu erkennen. Seither hatten sie noch zwei weitere anonyme Anzeigen bekommen.
In der ersten Zeit hatte sie wirklich gekämpft, um wieder arbeiten gehen zu können. Manchmal schaffte sie einen halben Tag, manchmal zwei Tage hintereinander, ehe sie wieder zusammenbrach. Ulf Gunnarsved übte Druck aus und deutete an, sie würde simulieren. Dann kam der Tag, an dem das Scheußliche passierte und sie beide zum Chef gerufen wurden. Nein, sie wollte nicht daran denken. Sie musste sich auf den Termin bei der Krankenkasse konzentrieren.
Sara stieg am Schloss aus dem Bus und überquerte die Kreuzung von Fredsgatan und Slottsgatan, wo die Krankenkasse ihre Büros hatte. Sie versuchte sich mental auf das Gespräch vorzubereiten, war aber so gestresst, dass sie sich nicht einmal mehr an den Namen der neuen Betreuerin erinnern konnte, obwohl der in der Terminvereinbarung gestanden hatte. Sie meldete sich an der Rezeption und setzte sich dann hin und wartete. Zu ihrer ersten Betreuerin hatte Sara großes Vertrauen gehabt, doch die hatte gekündigt, weil sie die Entscheidungen der Politiker für weitere Kürzungen im Gesundheitsbereich, die noch mehr Menschen ohne Versicherung und Geld dastehen lassen würden, nicht mittragen wollte. Danach hatte Sara mehr Betreuerinnen kennengelernt, als ihr Gedächtnis noch abspeichern konnte. Die neue, die sie schon einmal gesprochen hatte, schien klug und einfühlsam zu sein. Die Minuten verstrichen, aber das Gehirn stand still. Als Sara schließlich von ihrer Betreuerin abgeholt wurde, war ihr deren Name immer noch nicht eingefallen. Die Frau war um die fünfzig und kräftig gebaut. Sie hatte eine etwas schaukelnde Art zu gehen. Sara wurde in ihr Zimmer gebeten, wo sich jede auf einer Seite des Schreibtischs niederließ. Da fiel ihr der Name ein. Eva Kulitz hieß sie.
Die schwarze Lesebrille der Betreuerin war mit Strass-Steinchen geschmückt und saß wie ein Diadem auf ihrem Haar. Mit einem tiefen Seufzer schob sie sich die Brille auf die Nase und schaute auf den Computerbildschirm vor sich. Sara hatte das Gefühl, als würde sie die unangenehmen Nachrichten, die sie zu überbringen hatte, rausschieben wollen.
»Nun, Sara«, sagte sie schließlich, »was würden Sie sagen, wie läuft es?« Sie schaute weiterhin auf den Bildschirm, ohne Sara anzusehen.
»Etwas besser. Ich hoffe, Anfang nächsten Monats wieder auf 25 Prozent zu kommen. Oder vielleicht Mitte nächsten Monats. Mein Mann übernimmt zu Hause nach wie vor das meiste. Aber ich wünsche mir nichts sehnlicher, als wieder als Polizistin arbeiten und die Hausarbeit zu gleichen Teilen übernehmen zu können.«
»Ich glaube, wir müssen da umdenken. Ich habe Sie heute hierher bestellt, um mit Ihnen über die Aussteuerung des Krankengeldes zu sprechen.«
Einen Moment lang verschwamm alles vor Saras Augen, und sie blinzelte ein paarmal, um den Nebel zu vertreiben.
»Ich verstehe nicht.«
»Das bedeutet im Klartext, dass Sie kein weiteres Geld von der Krankenkasse bekommen.«
»Was sagen Sie? Ich werde kein Geld mehr bekommen? Wovon sollen wir dann leben?«
»Es tut mir leid. Sie haben eine Anstellung als Kriminalinspektorin im Dezernat für Gewaltverbrechen. Wie uns Ihr Arbeitgeber sagte, mit dem wir uns besprochen haben, kann man Ihnen dort keine Arbeit anbieten, die Sie bewältigen könnten. Deshalb muss Ihre Arbeitskraft dem gesamten Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt werden. Konkret bedeutet das, wenn Sie nicht in Ihrem bisherigen Beruf arbeiten können, müssen Sie sich einen einfacheren Job suchen. Hier in Örebro oder irgendwo anders in Schweden.«
Es war deutlich zu erkennen, dass es Eva Kulitz widerstrebte, diese Entscheidung mitteilen zu müssen. Sara merkte, wie ihr der Boden unter den Füßen wegsackte.
»Sie meinen, ich soll meine Festanstellung bei der Polizei kündigen und mich Arbeit suchend melden? Ich bin krank, ich kann nicht arbeiten.«
»Ja, das meine ich, und es ist eilig. Sowie das Krankengeld ausgesteuert ist, müssen Sie wieder arbeiten gehen oder sich beim Arbeitsamt melden. Ich muss Ihnen dazu sagen, dass es einen riesigen Graben zwischen der Krankenkasse und der Arbeitsvermittlung gibt. Wenn Sie sich Arbeit suchend melden und sagen, dass Sie nicht voll einsatzfähig sind, dann landen Sie in der Kategorie ›Arbeit suchend mit Einschränkungen‹.«
»Was bedeutet das?« Das verhieß nichts Gutes, so viel konnte Sara der Miene der Betreuerin schon ablesen.
»Das bedeutet laut Arbeitsamt, dass man nicht arbeiten kann, und dann verliert man sein nach dem Einkommen berechnetes Krankengeld. Man wird auf null gestellt und bekommt auch in Zukunft kein Krankengeld, selbst wenn man von einer neuen und schlimmeren Krankheit heimgesucht würde oder schon, wenn man nur in Elternzeit ginge. Sie müssen dafür sorgen, dass Sie in Gruppe 10 kommen: ›Aktiv Arbeit suchend ohne Einschränkungen‹. Das ist mein Rat.«
»Das heißt, ich soll lügen und sagen, ich sei gesund, um nicht auf null gestellt zu werden? Ich kann mir keinen Job vorstellen, den ich bewältigen würde. Ich kann mich fünfzehn oder höchstens zwanzig Minuten konzentrieren, dann bin ich völlig fertig. Sie raten mir also zu Schein-Jobs, die es gar nicht gibt. Wie soll ich das schaffen? Wie soll ich meine Tochter versorgen? Bekomme ich denn Sozialhilfe?«
»Während einer Zeit, die Karenzzeit genannt wird, können Sie Unterstützung bekommen, während Sie Dinge von Wert, die Sie besitzen – zum Beispiel Ihr Wohnanrecht und Ihr Auto – verkaufen. Wenn die verkauft sind, dann haben Sie Geld für Ihren Unterhalt.«
Sara dachte fieberhaft nach. »Wir haben für den Bausparvertrag gespart, uns überhaupt nichts gegönnt. Haben Steuern gezahlt.« Sie rang nach Atem und versuchte Argumente zu finden. »Ich begreife es einfach nicht. Ich war doch gerade erst bei meinem Arzt und habe die Krankschreibung verlängert bekommen. Haben Sie die vielleicht noch nicht bekommen?«
Ihr Arzt in der Gesundheitszentrale war etwas älter und schickte immer Briefe mit einer Kopie an Sara, und jetzt fiel ihr ein, dass sie noch keinen Brief von ihm im Postkasten gehabt hatte.
Eva hielt einen Brief hoch. »Ich habe die Krankschreibung bekommen und auf dieser Basis Ihr Arbeitsvermögen beurteilt. Außerdem habe ich mich mit unserem Arzt hier bei der Krankenkasse beraten. Gemeinsam mit ihm und unseren Spezialisten bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich Ihre Krankschreibung nicht anerkennen kann. Ich denke, Sie sollten sich eine Arbeit suchen, die Sie bewältigen können.«
Sara wurde es heiß und so schwindlig, dass sie sich mit den Händen am Tisch festhalten musste. Jetzt konnte sie Verzweiflung und Tränen nicht mehr zurückhalten. »Kann ich mit dem Arzt sprechen? Ich kann es erklären.«
»Nein, es ist nicht vorgesehen, dass unsere Ärzte die Krankgeschriebenen treffen. Sie sind ausschließlich Berater für uns.«
»Wie kann der Arzt dann eine Beurteilung vornehmen?«
»Er hilft uns, die Bescheinigungen zu interpretieren, die wir von anderen Ärzten bekommen. Aber wir Betreuer sind es, die Ihre Arbeitsfähigkeit beurteilen und Entscheidungen treffen.«
»Kann ich die Bescheinigung von meinem Arzt mal sehen?«
Eva reichte ihr den Brief, und Sara las mit wachsendem Entsetzen. Dort stand in vagen Sätzen, dass sie manchmal morgens etwas müde war und ab und zu nachts wach lag. Das war alles. Der Arzt bei der Gesundheitszentrale war mit ihren Problemen sehr wohl vertraut. Diese Bescheinigung konnte nichts anderes als ein Betrug sein.
»Kann ich davon eine Kopie bekommen?« Sara merkte, wie der Schwindel zunahm. »Ich möchte meinen Arzt noch einmal kontaktieren. Das hier stimmt nicht! Ich kann kaum glauben, dass er das wirklich geschrieben haben soll. Ich will gesund werden, und ich will als Polizistin arbeiten. Ich kämpfe und tue jeden Tag mein Bestes, um das zu schaffen.«
Eva lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vorm Bauch. Plötzlich wirkte sie resigniert. »Da gibt es noch etwas, was ich mit Ihnen besprechen muss, Sara. Für unsere Einschätzung hier hat es keine Bedeutung, aber die Krankenkasse hat Hinweise zu Ihrer Arbeitsfähigkeit bekommen. Jemand hat gesehen, wie Sie den Garten umgegraben haben.«
»Okay. Bei meiner Mutter in Nora? Ja, das ist genau so eine Sache, die ich eine Viertelstunde lang tun kann. Dazu brauche ich meinen Kopf nicht. Wenn ich umgrabe, muss ich keine Entscheidungen treffen. Ich versuche die ganze Zeit, das zu tun, was ich kann. Wer hat Ihnen da irgendwelche Hinweise gegeben?«
»Ich weiß es nicht. Es ist ein Brief gekommen, oder um ehrlich zu sein, mehrere. Mit Fotos von Ihnen – wie Sie Ihre Tochter tragen, sie schaukeln. Ein Foto, auf dem Sie mit Tüten eine Treppe hinaufgehen. Der Absender ist anonym.«
Sara verspürte einen Druck über der Brust. »Ich werde von einem Verrückten verfolgt. Das habe ich doch schon erzählt!«
Die Beraterin sah noch resignierter aus. »Ich wollte nur, dass Sie es wissen. Ob Sie einen Garten umgraben oder nicht, hat keinen Einfluss auf meine Einschätzung, aber ich muss nach der Beurteilung des Arztes gehen. Sie können von hier keine weiteren Zahlungen bekommen. Es tut mir leid, Sara. Wenn Sie mit der Entscheidung nicht einverstanden sind, gibt es die Möglichkeit, Widerspruch einzulegen. Dazu haben Sie drei Wochen Zeit.«
Sara versuchte sich zu beherrschen, aber es ging nicht. Die Tränen liefen. Es fiel ihr schwer, Worte zu finden. »Wir werden uns nicht leisten können, weiter in der Wohnung zu wohnen, wenn ich kein Einkommen habe. Einen Umzug schaffe ich nicht, alles zu packen und wieder auszupacken und alles, was geregelt werden muss. Moa verliert ihre Freunde und die Betreuung in der Tagesstätte, die sie kennt. Bitte, Sie müssen uns helfen. Ich kann nicht mal die Schlagzeilen in einer Zeitung lesen und verstehen, was da steht, wie soll ich es da schaffen, Widerspruch einzulegen?«
»Es tut mir leid. Ich muss mich an die Regeln halten.«
»Was mir jetzt passiert, kann also jedem passieren, auch wenn man vom Arzt krankgeschrieben wurde. Haben Sie niemals Angst, dass es auch Ihnen passieren könnte?«
»Ehrlich gesagt, ja! Wir haben durchaus Mitarbeiter bei der Krankenkasse, die einen Burnout haben.«
Am liebsten hätte Sara den Bus nach Hause genommen, eine Schlaftablette geschluckt und sich die Decke über den Kopf gezogen. Aber sie hatte sich mit ihrer besten Freundin und Polizeikollegin Lisa verabredet, und das konnte sie unmöglich absagen. Lisas Mutter war vor einigen Wochen plötzlich und sehr unerwartet nach einer Medikamentenvergiftung gestorben. Da Lisa das einzige Kind war, gab es niemanden, mit dem sie ihre Trauer teilen konnte, und Sara wusste, dass die Freundin jetzt ihre Unterstützung brauchte.
Der Septembertag war ungewöhnlich mild. Auf dem kurzen Weg über die Brücke, unter der das Wasser des Svartån hindurch und weiter am Schloss vorbeifloss, wärmte die Sonne Saras Gesicht. Lisa saß vor der Vasa-Konditorei und wartete. Sie trug Jeans und Pullover, und das kurze braune Haar glänzte in der Sonne. Als sie die Arme ausbreitete und lächelte, konnte man die Lücke zwischen den Vorderzähnen erkennen, und die grau-grünen Augen funkelten. Lisa war ein Gefühlsmensch. Sara kannte niemanden, der so fröhlich und albern sein konnte, um dann im nächsten Moment vor Frust über eine Ungerechtigkeit zu explodieren oder jemanden auszuschimpfen, der lahm war und es an Unterstützung fehlen ließ.
»Herrlich, dich zu sehen, Sara.«
»Ja, ich freue mich auch, dass wir uns treffen.«
Sie umarmten sich. Lisa roch wie immer ein bisschen nach Pferd, obwohl sie, seit sie im Stall gewesen war, geduscht und sich umgezogen hatte. Sie hatte eine Reitbeteiligung an einem Traber mit Namen »Dreamcatcher«. Das Tier war ihr Augenstern. An den Wochenenden wohnte sie in der Wohnung ihrer Mutter in Nora, um es nicht zu weit zum Stall zu haben, und während der Arbeitswoche in einer Einzimmerwohnung auf der Hertig Karls Allee, nur wenige hundert Meter von Sara entfernt.
Sie bestellten sich drinnen in der Konditorei Kaffee und jede ein Sandwich. Lisa nahm ein großes Krabbenbrot und Sara ein einfaches Brötchen mit Käse, weil es das billigste war. Lisa nahm das Tablett, und sie gingen wieder hinaus in die Sonne.
»Wie geht es dir?«, fragte Sarah, als sie sich hingesetzt hatten.
»Ich vermisse Mama so unglaublich.« Lisa stiegen die Tränen in die Augen. »Ich bin gerade dabei, ihre Sachen durchzugehen. Das weckt natürlich Erinnerungen, fröhliche ebenso wie traurige. Ihre Wohnung habe ich gekündigt, aber noch nicht fertig ausgeräumt … Es dauert alles viel länger, als ich dachte.«
»Wenn ich gesund wäre, würde ich dir helfen, das weißt du. Es fühlt sich so furchtbar an, dir nicht zur Hand gehen zu können. Musst du die Sachen irgendwo unterstellen?«
»Ja, im Grunde schon. Ihr habt nicht zufällig Platz übrig, oder?«
»Meine Mutter hat doch den großen Schuppen. Ich kann sie sofort fragen, wenn du willst.« Saras Mutter wohnte auch in Nora. Allein in einem Haus, in das die Eltern gezogen waren, nachdem Sara die Schule beendet hatte.
»Das wäre perfekt. Danke dir.«
Sara rief an. Ihre Mutter ging sofort nach dem ersten Klingeln ans Telefon.
»Gunilla.«
»Hallo, Mama, ich bin’s.«
»Sara! Wie lief es heute bei der Krankenkasse?« Die Stimme verriet die Sorge, die in ihren Gesprächen ständig gegenwärtig war und die Saras Nervosität noch verstärkte.
»Darüber sprechen wir später«, unterbrach sie. »Hast du im Schuppen noch Platz für ein paar Sachen?«
»Ja, der steht ja fast leer. Warum? Geht es um Lisa? Ich habe gehört, dass sie die Wohnung ausräumt. Wenn sie die Sachen vorübergehend irgendwo unterstellen möchte, kann sie das gerne bei mir tun.« Gunilla redete weiter.
»Danke, Mama«, unterbrach Sara sie nach einer Weile. »Ich rufe dich heute Abend an.« Sie beendete das Gespräch und wandte sich Lisa zu.
»Du kannst morgen Nachmittag mit den Sachen vorbeikommen. Da ist Mama zu Hause.«
»Gunilla ist ein Schatz!« Lisa blies auf den heißen Kaffee. »Übrigens habe ich gehört, dass Kristoffer Bark den Fall Emelie Kartman wieder aufnehmen wird. Hat er sich noch nicht gemeldet?«
»Nein, ich habe immer noch nicht mit ihm gesprochen. Irgendwie bin ich noch nicht so weit. Emelie Kartman, also?«
»Ja. Die Gruppe würde deine Kompetenz wirklich gut gebrauchen können, Sara.« Lisa senkte die Stimme. »Ich bin Emelies Sohn ein paarmal begegnet. Kim heißt er. Ein netter Junge, aber schwierig. Es ist ihm nicht sonderlich gut ergangen. Jetzt ist er in einer Pflegefamilie gelandet.«
»Das tut mir leid.« Sara wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Sie wollte nicht über Dinge reden, an denen sie nichts ändern konnte. Das machte ihr nur noch mehr Angst.
»Und dein Stalker?«, fuhr Lisa fort. »Oder wie man ihn nun nennen soll. Ist es wieder vorgekommen?«
Sara sank in sich zusammen. »Ja es hat sich jemand anonym bei der Krankenkasse gemeldet und gesagt, ich würde alles nur faken und wäre in Wirklichkeit durchaus in der Lage zu arbeiten. Beweisfotos lagen auch bei.« Sara hatte nicht vorgehabt, über ihr eigenes Elend zu reden. Jetzt war Lisa mal an der Reihe, Unterstützung und Hilfe zu bekommen. Aber es ließ sich nicht zurückhalten. »Bald kann ich nicht mehr.«
Lisas Miene verfinsterte sich. »Du musst das zur Anzeige bringen, Sara, es darf nicht so weitergehen!«
»Das werde ich auch. Aber jetzt muss ich erst mal mit meinem Arzt sprechen. Die Krankschreibung ist die reine Katastrophe.«
Als Kristoffer Bark am Freitagnachmittag nach Hause kam, ließ er sich mit dem Ermittlungsmaterial am Küchentisch nieder. Er loggte sich in seinen Bürocomputer ein, setzte Kaffee auf und holte eine Tüte Muffins heraus, die er unten am Tybble torg in Mathildas Konditorei gekauft hatte.
Emelie Kartman hatte vor knapp zehn Jahren, im Mai 2008, einen entsetzlichen Tod erlitten. Sie war in eine Tonne gezwängt worden, und danach waren in die verschlossene Tonne knapp hundert 7,5 Zentimeter lange Nägel von außen durch das Holz in ihren Körper geschlagen worden. Danach war die Tonne gerollt worden, was die durch die Nägel verursachten Verletzungen noch verschlimmerte. Todesursache waren Blutverlust und wahrscheinlich auch Schmerzschock.
Mit wachsendem Entsetzen betrachtete Kristoffer die Bilder von der rechtsmedizinischen Obduktion. Emelies Körper war zerfetzt. Vergebens hatte sie versucht, ihr Gesicht zu schützen. Ein Nagel war durch die Hand und in die Wange gedrungen, ein anderer ins Auge. Es war schrecklich! Wer war imstande, einen solch bestialischen Mord zu begehen? Es war offensichtlich, dass dieses Verbrechen nicht in einem plötzlichen Zornesausbruch geschehen, sondern gründlich geplant gewesen war. Die unterschwellige Wut war jedoch nicht zu übersehen. Richtete sich der Hass direkt gegen Emelie oder gegen Frauen im Allgemeinen? War das hier der einzige Mord dieses Täters, oder gab es frühere Opfer, die dasselbe Schicksal erlitten hatten? Was tat der Mörder jetzt? Handelte es sich um eine sozial angepasste Person oder jemanden, den man als merkwürdig und furchteinflößend bezeichnen würde?
Kristoffer würde das sehr gern mit Mia Berger diskutieren. Sie besaß die fantastische Fähigkeit, sein Denken zu schärfen und mit klugen Reflexionen beizutragen.
Als Emelie Kartman an jenem Tag im Mai 2008 verschwand, war sie gerade Witwe geworden und alleinerziehende Mutter eines fünfjährigen Sohnes namens Kim. Der Sohn lebte jetzt in einer Pflegefamilie, und zwar schon der vierten in Folge. Ehe Bark Kontakt zu ihm aufnahm, musste er sich in das Material einarbeiten, um nicht mehr Fragen zu stellen als notwendig. Und vor allem musste er die richtigen Fragen stellen.
Er begann ganz von vorne mit den grundlegenden Fakten. Emelie Kartman war 1976 geboren, wäre heute also zweiundvierzig Jahre alt, wie er feststellte. Sie war in Vallsta, einem kleinen Dorf in der Provinz Hälsingland nördlich von Stockholm, aufgewachsen. Kristoffer stach die Zeugenaussage eines Nachbarn aus ihrer Kinderzeit ins Auge. Er blätterte durchs Verhörprotokoll. Emelie Kartman war so ein süßes kleines Mädchen, als sie in die Schule ging. Zu süß für ihr eigenes Bestes. Sie wurde nie in Ruhe gelassen, alle wollten ihre Aufmerksamkeit und mit ihr befreundet sein. Als sie dann im Laufe der Jahre zu einer blendenden Schönheit heranwuchs, führte das zu viel Neid und Intrigen.
Kristoffer warf einen Blick auf die Fotografie, die im Zuge der Suche nach ihr veröffentlicht worden war. Emelies welliges langes Haar, das herzförmige Gesicht und die traurigen braun-grauen Augen erinnerten ihn an das Gemälde Die Geburt der Venus