Wo beginnt die Nacht - Sven Haupt - E-Book

Wo beginnt die Nacht E-Book

Sven Haupt

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Beschreibung

»Hören Sie«, begann das seltsame Wesen. Es nahm die Brille ab und versuchte, vernünftig zu klingen. »Aus Ihren Unterlagen geht ganz klar hervor, dass Sie keinerlei offizielle Legitimation besitzen. Der Zustand Ihrer Verwaltungseinheit ist gelinde gesagt beklagenswert. Kein Haus sollte wie ein führerloses Schiff durch die Existenzebenen treiben. Ihr sogenannter Personalstab besteht aus einem jämmerlichen Alkoholiker im Exil und einer impertinenten Katzendame, die sich für etwas Besseres hält, weil sie die Flügel des Adels trägt. Kein Wort dabei über Ihre sogenannte Haushälterin, von der Ihnen wirklich niemand abkauft, dass sie ein Mensch ist. Es wäre für uns alle viel einfacher, wenn Sie akzeptieren, dass Ihr Universum am Ende ist. Ihr Gesuch um die Rettung der letzten beiden Zeitlinien ist lachhaft, das müssen Sie doch einsehen. Die ewige Nacht wird kommen, ob Sie das nun wollen oder nicht.« Nach »Stille zwischen den Sternen« (ausgezeichnet mit dem Deutschen Science-Fiction Preis 2022) liefert Autor Sven Haupt nun mit »Wo beginnt die Nacht« eine einzigartige Scifi-Fantasy-Geschichte mit verblüffenden Charakteren und einem erstaunlichen Setting ab.

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Seitenzahl: 451

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Wo beginnt die Nacht

 

von Sven Haupt

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-946348-36-8

ISBN 978-3-946348-35-1 (Print Ausgabe)

© Eridanus Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstr. 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Helga Sadowski | Jana Hoffhenke

Korrektorat: Anke Tholl

Umschlaggestaltung | Illustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

https://eridanusverlag.de

https://www.instagram.com/eridanus.verlag.sf

https://www.facebook.com/eridanusverlag

 

01 | Suche

 

Ein Mann namens Niklas Turner stand am äußersten Rand der Realität und wartete auf den Beginn der ewigen Nacht. Die Sonne hing tief und rot am Himmel. Eine blasse, verwaschene Kugel, die in einem trüben Nebel schwamm, als wollte sie aus ihrer Form fließen, um zerschmelzend hinter den Horizont zu laufen, wie Farbe von einer Wand hinunterläuft. Auf ihrem Weg in die Nacht bedeckte sie die Welt mit tiefen Schatten, welche mit jeder Minute länger wurden.

Niklas stand regungslos und beobachtete konzentriert die Grenze des Gartens vor ihm, während er dem Haus den Rücken zuwandte. Der Übergang flackerte und die Luft darüber flirrte, wie der Horizont einer Wüste während der Mittagshitze.

Der Mann verharrte so dicht am Rande des Grundstücks, dass er beobachten konnte, wo genau die beiden Realitäten aufeinandertrafen. Die Grenze verschwamm ihm ein wenig vor den Augen, wie heiße Luft eine endlose Landstraße verschwimmen und unwirklich werden lässt. Trotzdem war es hier geradezu empfindlich kalt. Er stand schon eine ganze Weile hier, darauf wartend, dass die Welt jenseits des Gartens endlich real würde. Er zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in den Übergang. Eine unsichtbare Wand hielt den Qualm auf. Dahinter schob sich die Welt immer wieder aus seinem Fokus heraus und wieder zurück, wie das Bild in einer Kamera, das endlich scharf gestellt werden will. Er schüttelte den Kopf und zog den schweren, gefütterten Mantel enger um sich.

»Was ist los?«, fragte eine ungeduldige, weibliche Stimme. »Worauf wartest du?« Sie schien irgendwo in den Tiefen seines Mantels zu entstehen und klang tief und wohltönend. Niklas hatte schon vor langer Zeit entschieden, dass sie klang wie flüssige Schokolade.

Er war ein hoch gewachsener, hagerer Mann, soweit sich das unter den dicken Pelzschichten erkennen ließ, der im Moment sehr müde wirkte. Er fuhr sich mit der freien Hand über das Gesicht, strich durch den kurzen Vollbart und nahm schließlich die Brille ab, um sich mit dem Handrücken über die Augen zu reiben. Ohne Brille sah man, wie erschöpft er sein musste. Die Brille wieder aufsetzend, nahm er einen letzten Zug von seiner Zigarette. Mit einer lässigen, viel zu oft praktizierten Geste, schnippte er den Filter mit der letzten Glut in den Übergang hinein.

Genau an dem Punkt, an welchem die schwach wabernden Luftschichten aufeinandertrafen, blieb die Kippe in der Luft stecken. Dort hing der kleine, schimmernde Glutpunkt, als wäre er plötzlich verwirrt über seine ihm zugedachte Flugbahn. Die Glut nach außen gerichtet, qualmte sie weiter und flackerte immer wieder in und aus der Realität.

»Der Übergang ist nicht stabil«, kommentierte Niklas mit rauer Stimme. »Das Haus findet die Zeitlinie nicht.«

»Das ist kein gutes Zeichen«, erklärte die Stimme leise.

»Nein, ist es nicht«, bestätigte er.

»Ist etwas zu sehen?«

Niklas kniff die Augen zusammen. »Ein Hügel, der genau vor dem Grundstück liegt. Gekrönt von einem großen Baum.«

»Und wie sieht er aus?«

»Er kann sich noch nicht entscheiden.«

Tatsächlich wechselte der Baum durch verschiedene Phasen seiner Existenz. Er zeigte sich mal unter der Last von Schnee und dann wieder von einer strahlenden Blütenpracht bedeckt. Gelegentlich überlagerten sich die Bilder und der Schnee zusammen mit den Blüten formte eine glühende, weiße Aura.

»Das Haus bemüht sich«, kommentierte Niklas, »aber die Linie scheint sich zu wehren.«

»Es wäre nicht das erste Mal«, erklärte die Stimme mit besorgtem Unterton. »Auch hier scheint der Anker zu fehlen und ich vermute stark einen fortgeschrittenen Befall.«

Niklas nickte stumm.

»Wird es stabiler?«, fragte die Stimme.

»Du kannst es dir auch gerne selbst ansehen, weißt du?«

»Sind die Raben noch da?«

»Oh ja.«

»Verbindlichsten Dank. Ich habe keinerlei Interesse daran, hier als Frühstück zu enden. Die Viecher sind groß wie Truthähne.«

Niklas lächelte nickend. Dem konnte er nichts entgegensetzen. Die Raben waren überall. Sie flackerten noch, unschlüssig, ob eine unverrückbare Existenz den Aufwand wert wäre, gewannen jedoch zunehmend an Realität. Als der Baum sich schließlich entschieden hatte, belagerten sie ihn zu Hunderten. Sie saßen in dichten Gruppen auf den schwarz verkohlten Ästen, die sich in stummer Anklage in den Himmel reckten. Einige ihrer aufmerksamen Vertreter hatten das Anwesen bereits bemerkt und hüpften dem Mann entgegen, während sie den Neuankömmling aus rollenden Augen musterten. Das Haus jedoch schien die Vorurteile der Stimme zu teilen. Wann immer ein neugieriger Vogel die Grenze zum Grundstück überquerte, verschwand er kurz, nur um in entgegengesetzter Richtung hüpfend wieder aufzutauchen. Bei einem besonders hartnäckigen Exemplar führte dies zu einem fortwährenden Hin und Her, sodass es aussah wie ein lebender Grafikfehler im Programmcode der Zeitlinie.

Das Flimmern verschwand und die Zigarette fiel zu Boden.

»Na endlich«, grunzte Niklas.

Er tat einen großen Schritt und löschte die Glut unter seinem schweren Stiefel. Er begann, mit langen Schritten die Steigung des Hügels zu erklimmen, der schwarzen Silhouette des Baumes entgegen, begleitet und angefeuert vom aufgeregten Rufen und Flattern seiner Bewohner.

Die Luft war kalt und so trocken, dass sein Atem nicht einmal zu sehen war. Er umrundete den mächtigen Stamm und zog scharf die Luft ein.

»Was?«, fragte die Stimme. »Was ist passiert?«

Niklas griff in die Seitentasche seines Mantels und zog ein silbernes Etui hervor, dem er eine neue Zigarette entnahm.

Sein goldenes Benzinfeuerzeug schnappte mit einem Klicken auf. Erst nach einem langen Zug, als die Rauchfahne schon dabei war, sich auf der weiten Ebene zu Füßen des Hügels zu verlieren, antwortete er mit gepresster Stimme.

»Schlachtwelt.«

Dem folgte ein verdutztes Schweigen.

»Du meinst Schlachtfeld?«

»Nein. Denn ein Feld suggeriert eine räumliche Begrenzung.«

»Oh.«

Unter der teilnahmslosen roten Sonne erstreckte sich die Verwüstung bis zum Horizont. Trümmer, Krater. Schwere Metallgerüste und Maschinen, zerfetzt wie Papiertücher. Der Boden dicht bedeckt von Rüstungs- und Leichenteilen.

»Ich rieche keine Verwesung«, kommentierte die Stimme irgendwann.

»Es ist schon einige Wochen her«, erklärte Niklas. »Die Raben sind fertig und satt. Dann kam die Kälte. Für diesen Ort bricht die ewige Nacht herein und es ist nicht mehr viel Zeit.«

Mit diesen Worten ging der Mann mit langsamen Schritten den Hügel hinab, seine Augen fest auf die Zeugnisse vollständiger Zerstörung gerichtet. Er wäre fast gestürzt, als sich plötzlich der Boden unter ihm bewegte.

Das Beben war nicht stark. Es schien, als würde der ganze Planet seufzen und bis in seinen Kern hinein erschauern. Tief und bedrohlich. Ein Bersten und Grollen, das einem, selbst als es verklungen war, noch in den Knochen zu vibrieren schien.

»Oje«, machte die Stimme.

»Erdbeben?«, kommentierte Niklas.

»So in etwa.«

»Entschuldigung?«

»Schau mal nach oben. Siehst du am Himmel etwas … Ungewöhnliches?«

Niklas spähte in das Zwielicht der Dämmerung hinauf und suchte den Himmel ab.

»Siehst du da irgendwo einen schwarzen, dunklen Schatten?«

Niklas kniff die Augen zusammen.

»Ja. Schwach. Aber nur wenn man es weiß, ist er definitiv zu erkennen. Ziemlich groß sogar. Was ist das? Das hatten wir noch nicht.«

»Wenn der Befall zu weit fortschreitet, können ganze Planeten in diese Realität überwechseln. Das ist kein echter Planet. Bei so großer Annäherung würde die Erde einfach zerbrechen und meine Scans des Gravitationsfeldes sind unauffällig. Es ist eine Projektion aus der Astralebene. Das bedeutet, dass das Parasitenuniversum diese Zeitlinie fast vollständig übernommen hat. In dem Zuge, wie es mächtiger wird, desintegriert es diese Welt. Sieh mal genau hin. Siehst du Lichter auf der Oberfläche?«

Niklas studierte den Himmel.

»Ja. Sehr schwach und flackernd.«

»Das sind Feuer, in denen die Rohstoffe dieser Welt brennen. Dieser Planet hier wird vollständig zermahlen werden. Es gibt nichts mehr, was wir für diesen Ort noch tun können.«

»So weit fortgeschritten«, murmelte der Mann, »war die Zerstörung noch nie.«

»Wir nähern uns dem Ende. In Kürze werden alle Zeitlinien ähnlich aussehen. Wenn wir den Anker nicht bald finden, können wir unbegrenzt Urlaub machen gehen. Es wird ein paar verdammte Ewigkeiten dauern, bis sich neue Zeitlinien formen.«

»Wenn hier alles verloren ist, warum sind wir dann überhaupt hier?«

»Warum wohl?«, entgegnete die Stimme. »Irgendwo auf diesem Schlachtfeld liegt unser Anker! Dort und verteilt auf ein paar Hundert Mägen fetter Raben. Wir sind neuerdings immer zu spät. Etwas sabotiert uns. So langsam wird es peinlich. Siehst du Motoren oder Maschinen irgendeiner Art? Schornsteine oder Transporttiere?«

Niklas trat vorsichtig zwischen die Trümmer. Er sah Überreste menschlicher Skelette in übergroßen Rüstungsteilen, soweit das Augen reichte. Zerstörte Maschinen in merkwürdigen Formen. Leere Rüstungen. Verbogenes Metall. Mächtige Konstrukte auf Beinen mit übergroßen Greifarmen.

»Nein, nur sehr viel kunstvoll verarbeitetes Metall. Riesige Rüstungen und endlos viel verbogener Schrott, der vielleicht mal Waffen darstellte. Keine Kanonen oder andere Projektilwaffen.

»Sind die Waffen vielleicht absurd groß?«, fragte die Stimme.

Niklas musterte etwas, was er für eine Art Belagerungswaffe gehalten hatte, das sich nun jedoch bei näherer Betrachtung als Schwert herausstellte. Die Klinge hatte die Größe einer Tür.

»Möglich«, kommentierte er.

»Ich tippe auf eine technoenergetische Zeitlinie. Die sterben in der Regel am schnellsten. Zu viel Potenzial, das zu schnell eskaliert. Kannst du erkennen, welche Form energiemanipulierender Realitätsdehnung sie benutzt haben?«

»Realitätsmanipu … was?«, fragte Niklas verwirrt?

»Magie!«, rief die Stimme ungeduldig. »Welche Form der Magie?«

»Nicht schwarz«, erklärte Niklas nachdenklich. »Keine okkulten Symbole.«

Er hockte sich auf den Boden und tastete nach etwas, das aussah wie eine große juwelenbesetzte Unterarmschiene. Komplett aus Kupfer gefertigt und bis zur Unkenntlichkeit verbogen. Ein filigranes Blumenmuster zog sich am Arm entlang. Niklas hob das Gebilde vom Boden, zeichnete die Reste der meisterhaften Gravierung mit einem Finger nach.

»Ich hasse diese Zeitlinien«, murmelte die Stimme. »Sie enden immer im religiösen Wahnsinn und sind vollkommen erbarmungslos.«

Der Blick des Mannes glitt über die Trümmer.

»Ja, ich denke das ist offensichtlich.«

Ein schwaches Glühen ging von den Edelsteinen aus, welches sich in den Blüten und Rankenmotiven fortsetzte.

»Wahnsinn«, murmelte der Mann. »Dabei aber immer unbedingt stilvoll und kultiviert.«

Er erhob sich und ließ das zerstörte Rüstungsteil angewidert fallen. Es schlug mit einem dumpfen Scheppern auf dem Boden auf.

»Was? Was war das?«, fragte die Stimme alarmiert.

»Nichts«, log der Mann.

»Du hast was angefasst, nicht wahr?«

Er zögerte.

»Möglich.«

»Verdammter Vollidiot!«

»Entschuldigung?«

Das Kreischen überforderter Metallgelenke hallte über die Ebene. Gefolgt von einem donnernden Aufprall, der den Boden erneut beben ließ. Dieses Beben jedoch war weitaus furchteinflößender, denn es klang sehr nahe. Es folgten die rhythmischen Erschütterungen von schweren Schritten.

»Hörst du eigentlich jemals zu«, schrie die Stimme aufgebracht, »wenn ich dir Orientierungsstunden gebe? Religiöser Wahnsinn? Offensichtlich nicht geplünderte Schlachtfelder? Die lassen ihre verdammten Toten bewachen!«

Ein metallisches Brüllen hallte über die Ebene, das in ein lang gezogenes Heulen überging, welches irgendwo zwischen Tier und Sirene hing.

Niklas wirbelte herum und rannte den Hang hinauf.

»Das klingt groß«, rief er.

»Das klingt vor allem wütend.«

»Warum sehen wir nichts?«

»Möchtest du warten und fragen?«

Der schrille Sirenenklang schwoll an. Es klang wie eine Maschine, die versuchte, wie ein Wolf zu heulen. Das Krachen und Bersten von Metall kamen näher.

Als die Raben unter lautem Protest vom Baum aufstoben, sah es einen Moment lang so aus, als wolle sich der ganze Baum in einer schreienden Wolke auflösen und ebenfalls fliehen.

»Wieso funktioniert das Ding überhaupt noch«, keuchte Niklas. »Ich dachte für Magie braucht man Menschen.«

»Ich tippe auf Knochenmagie«, rief die Stimme.

Niklas fluchte, beschleunigte noch einmal, passierte den Baum und rannte mit langen Schritten den Hang hinab. Dem Bersten von Holz nach zu urteilen, hatte der Verfolger hinter ihm den Baum erreicht.

Er hatte die Grenze zum Anwesen kaum überschritten, als das Licht wechselte. Der Himmel wurde heller und das Geräusch hinter ihm verstummte abrupt.

Er blieb schwer atmend stehen und wandte sich um, die Hände keuchend auf seine Knie gestützt. Jenseits der Grenze verblasste die Welt und dichter Nebel zog auf. Der Hügel war verschwunden. Nur die tief stehende Sonne warf noch ihr rotes Licht auf das Anwesen.

»Wir«, japste er, »wir … wir sind bereits wieder im Transit.«

Er schnaufte einige Minuten lang, während er versuchte, zu Atem zu kommen. Schweiß tropfte ihm von der Stirn.

»Ich dachte«, brachte er schließlich hervor, »die Zeitlinien nehmen keine Notiz von uns. Wozu bin ich eigentlich ein Anker?«

»Die Menschen!«, korrigierte die Stimme. »Die Menschen ignorieren dich, weil du keinen erlaubten Platz in ihrer Welt einnimmst. Sie können deinen Anblick nur schwer einordnen. Aber nicht so ihre Schöpfungen. Eine Maschine ist leider zu blöd, um dich zu übersehen. Zu echter Blindheit bedarf es leider Bewusstsein.«

Niklas atmete noch immer schwer, aber er richtete sich auf und suchte schon wieder nach einer Zigarette.

»Ich denke, wir haben hinreichend etabliert, dass wir mal wieder zu spät sind.«

»Das wird dem Haus nicht gefallen.«

Niklas drehte sich zum Haus um und nickte.

»Sieht so aus, ja.«

»Ist es wieder eine Burg?«

»Und was für eine, schwarz, mit vier Türmen und Schießscharten.«

»Zugbrücke und Graben?«

»Nein, nur ein Tor.«

»Vielleicht haben wir Glück und schaffen es heil in die Küche.«

Niklas musterte das Haus, während er sich mit zitternden Händen die Zigarette anzündete. Die Mauern ragten dunkel vor ihm auf. Die Fenster waren klein. Je länger sein Blick auf den Mauern verweilte, desto höher und bedrohlicher wurden die Türme. Die Rosenbüsche, welche das Haus auf allen Seiten umgaben, glichen im Moment mehr einem Wall aus Dornen.

»Welche Farbe haben die Blüten?«

»Schwarz.«

»Na großartig. Sitzen Wasserspeier auf den Zinnen?«

Niklas sah zu den Türmen auf und kniff die Augen zusammen.

Er grunzte nur als Antwort.

»Bewegen sie sich?«

Er nickte.

»Mist.« Ein Seufzen. »Na gut, lass mich raus, es hilft ja alles nichts.«

Niklas, die Zigarette im Mundwinkel, öffnete den Mantel und griff in eine der geräumigen Innentaschen. Als er die Hand wieder hervorholte, hielt er eine kleine weiße Katze, die im Licht blinzelte.

Er setzte sie vorsichtig auf dem Boden ab, wo sie lange gähnte und sich ausgiebig streckte. Dabei entfaltete sie zwei Flügel auf ihrem Rücken, die probeweise flatterten und die Federn spreizten. Sie wandte sich dem Haus zu und maunzte sehr leise und unglücklich.

»Als ob es unsere Schuld ist«, klagte sie, »dass wir in keiner Linie noch einen Anker finden können.« Sie sah zu Niklas auf, der stumm mit tiefen Zügen rauchte.

»Erinnerst du dich an das letzte Mal, als es so schlechte Laune hatte?«

Der Mann nickte.

»Der Gang zur Toilette war zwei Wochen lang ein spinnenverseuchter und von Fackeln beleuchteter Tunnel. Ich hatte noch einen Monat später Verstopfung.«

»Mein Schlafplatz an der Heizung«, murrte die Katze, »war jede Nacht hinter einem dutzend Türen versteckt und die Rohre immer kalt.«

Niklas rauchte eine Weile, dann fragte er: »Warum findet das Haus niemanden mehr?«

»Ich weiß es nicht«, erklärte die Katze. »Etwas scheint gegen uns zu arbeiten.«

Der Mann schnippte die Kippe hinter sich in den Nebel und die beiden kehrten zum Haus zurück.

Hätte Niklas Zeit und Energie gehabt darauf zu achten, so hätte er bemerkt, dass ihm, kaum dass er das Gelände des Anwesens betreten hatte, etwas aus der Seitentasche seines Mantels gefallen war.

Etwas, das mit schnellen Schritten auf kurzen Beinen im Unterholz verschwunden war und dem Gespräch aufmerksam zugehört hatte und ihnen auf ihrem Weg zu der dunklen Burg mit neugierigen Augen folgte.

Bevor die Nebel das Haus vollkommen umfingen, brachen die roten Strahlen der Sonne noch einmal zum Anwesen durch und spiegelten sich auf kleinen goldenen Augen, die das Haus wachsam beobachteten.

02 | Transit

 

Die Eingangshalle erstrahlte vollständig in dunkelblauem Marmor, der von feinen silbernen Adern durchzogen wurde. In regelmäßigen Abständen hingen Gaslampen an den Wänden und Säulen, deren flackerndes Licht über den Stein tanzte.

Von der Eingangshalle aus führten Treppen in alle denkbaren und auch undenkbaren Richtungen. Sie liefen kreuz und quer, schraubten sich manchmal wie Korkenzieher gedreht empor oder liefen quer durch die endlosen Höhen, die sich über dem Betrachter öffneten. Ein absurder Himmel voller Treppen, ewig fortlaufend, endlos emporstrebend und schwindelerregend anzusehen.

Niklas legte eine Hand über die Augen und stöhnte gedehnt.

»Erinnerst du dich«, murmelte er, »dass das Haus gestern nur zwei Etagen hatte?« Den Kopf schüttelnd wandte er sich an die Katze, die das architektonische Chaos mit gelassenem Blick betrachtete. »Du riechst nicht zufällig den Weg zur Küche oder?«

Die Angesprochene warf ihm einen geringschätzigen Blick zu und flatterte kurz mit den Flügeln, wie sie es tat, wenn sie ungehalten war. Sie setzte sich anmutig in Bewegung, während der Mann ihr mit schwerfälligen Schritten die Treppe hinauf folgte. Wie immer versuchte Niklas, den Blick fest auf der weißen Katze zu halten und seine Umgebung, soweit es ging, auszublenden. Besonders in den Momenten, da er den Boden der Eingangshalle aus den Augenwinkeln etwa hundert Meter über sich sah und verzweifelt zu vergessen suchte, dass er an einem beklagenswerten Mangel an Flügeln litt. Die Katze schwebte vor ihm die endlosen Treppen hinauf wie eine kleine weiße Wolke, die über einen dunklen Nachthimmel zog.

»Ich scanne die Realitätsverschiebungen im Haus fortlaufend«, erklärte sie. »Das meiste, was du hier siehst, ist nur Illusion. Es ist tatsächlich nicht so weit.«

»Wenn wir den Anker nicht bald finden«, murrte Niklas schnaufend, »können wir uns ein Zelt im Garten aufschlagen oder auf dem Weg zur Küche verhungern.«

Tatsächliche dauerte es nur wenige Minuten, die sich für Niklas deutlich länger anfühlten, bis die Katze plötzlich davonrannte, durch einen bogenförmigen Durchgang schlüpfte und seitlich durch eine halb offene Tür verschwand.

Niklas trat erleichtert in die helle Wohnküche, welche von liebevoller Hand im Langhausstil eingerichtet worden war. Helles Tageslicht fiel durch die großen Fenster, vor denen eine weitläufige Hügellandschaft im satten Grün frischer Wiesen lag, unter einem immer blauen Himmel voller Schäfchenwolken. Dieser Anblick änderte sich nicht, selbst wenn sich das Haus im Transit aufhielt. Niemand wusste, warum. Ebenso unerklärlich blieb, wie das Licht in die Küche scheinen konnte, wenn nirgendwo am Himmel eine Sonne stand. Doch die Strahlen fielen unbeirrt auf massiv gezimmerte Holzmöbel, die auf einem polierten Boden aus grauen Steinkacheln standen. Die Einrichtung wirkte alt, geradezu antik. Neben einem gewaltigen, gusseisernen Kohleherd fanden Anrichten und Schränke Platz, welche Alter und Würde ausstrahlten. Daneben bildete ein stählerner Kühlschrank einen sehr auffälligen Kontrast, besonders, da dessen Tür durch einen schweren Riegel gesichert wurde.

Am langen, massiven Holztisch, der die Mitte des Raumes dominierte, saß eine Frau, die sich bei ihrem Eintreten mit einem Grunzen von der Holzbank erhob. Der Laut mochte auch als Begrüßung gedient haben, denn sie füllte wortlos eine Schale mit Sahne aus einem irdenen Tonkrug, der neben ihr gestanden hatte.

Sie schob das kleine Mahl mit einem geknurrten »высочество« über den Tisch, woraufhin die Katze mit einem Satz neben der Schale landete und sich wortlos über die Speise hermachte.

Die Frau wurde durch das Aufstehen nicht viel größer. Sie war stämmig und breit, soweit sich das unter dem weiten Rock und einer riesigen Wolljacke erkennen ließ, und von unbestimmtem Alter. Ihr Kopf wurde von einem geblümten Tuch umhüllt. Sie lächelte auf die Katze hinab, dabei erschien ihr Gesicht, sonnenverbannt und voller Falten, wie ein alter, freundlicher Apfel. Nur die Augen, klein, schwarz und scharf, deuteten auf etwas hin, was über das harmlose Äußere hinausging.

Niklas hängte seinen schweren Mantel an einen Haken neben der Tür. Darunter trug er einen grauen, dreiteiligen Geschäftsanzug ohne Krawatte. Seine Kleidung wirkte abgetragen, aber sauber. Die Manschetten waren ausgefranst und der Stoff des Jacketts an einigen Stellen bereits fadenscheinig.

»Und ich?«, fragte er vorwurfsvoll.

Die Frau zeigte, ohne ihn anzusehen, mit dem Daumen einer gewaltigen Hand hinter sich auf den Kühlschrank.

»Besten Dank, Ana«, entgegnete der Mann. »Es ist auch schön, dich zu sehen. Ich bin gerade fast gestorben.«

Die Angesprochene lachte mit geschlossenen Augen glucksend in sich hinein, sodass ihre breite Gestalt bebte. Sie hatte sich nicht einmal umgewandt.

»Мя́мля«, knurrte sie.

Die Katze schaute mit sahneverschmierter Nase auf und leckte sich sauber.

»Das bedeutet …«, begann sie.

»Ich weiß«, unterbrach sie der Mann. Er warf einen abfälligen Blick auf den verriegelten Kühlschrank. »Komm schon, Ana! Wie oft muss ich heute fast umgebracht werden?«

Die Frau schnaufte und deutete auf einen Schrank, welchem Niklas seufzend eine Flasche entnahm. Sie trug kein Etikett, doch Form und ein gewisser stumpfer Glanz ließen auf ein hohes Alter schließen. Der Korken wurde von einer dicken Wachsschicht versiegelt. Dem kritischen Blick des Mannes bot sich ein öliger, bernsteinfarbener Inhalt, als er die Flasche gegen das Licht hob. Er erarbeitete sich mit schnellen Griffen den Zugang zum Inhalt und fand zwei Wassergläser, in welche er sich und der Frau je eine großzügige Portion goss.

Er trank das erste Glas in einem Zug und hustete ausgiebig, während er »Oh, mein Gott!« rief, vor sich hin fluchte und Ana ein dröhnendes und ungezwungenes Lachen erschallen ließ, dem jeder Anwesende anhören konnte, dass sie sich noch nie gesellschaftlichen Regeln gebeugt hatte. Auch sie trank das erste Glas in einem Zug und Niklas schenkte nach.

Die Katze hatte derweil die Schüssel geleert, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass wirklich keine Sahne mehr in Erscheinung trat, legte sie den Kopf schief und sah den Mann kritisch an.

»Ich bin immer wieder beeindruckt, dass du aber auch wirklich alles in dich hineinschüttest, kaum dass sie eine neue Flasche besorgt hat. Niemand weiß, wo sie einkaufen geht, beziehungsweise wann oder in welchem Universum.«

»Gehört zum Reiz meiner ehrenvollen Berufung«, japste Niklas und schenkte sich erneut ein.

Er hatte gerade das Glas zum Mund gehoben, als der Boden vibrierte und das Haus einen kurzen, schwindelerregenden Moment lang zu kippen und sich zu verdrehen schien. Niklas strauchelte kurz und warf einen kritischen Blick in sein fast leeres Glas.

»Ist das der Fusel oder …«

»Ich glaube«, kommentierte die Katze, »wir verlassen schon wieder den Transit. In großer Eile, wie mir scheint. Das Haus hat kurzerhand alle Dämpfungs-Algorithmen offline genommen, um Zeit zu sparen.«

»Haus, Sorge«, grollte Ana mit breitem russischem Akzent. »Störung, unsichtbar.«

»Das haben wir auch bemerkt«, bestätigte die Katze und sah aufmerksam zur Decke empor.

»Ankunft«, bestätigte Ana. »Haus, gefunden, Anker, jetzt.«

Sie deutete unmissverständlich zur Tür und fixierte Niklas mit einem stechenden Blick aus ihren schwarzen Augen.

»Haus, schnell. Letzter Anker. Njet sterben.«

Das Letzte war ganz klar nicht als Bitte formuliert.

Die Katze lief schon auf die Tür zu.

»Komm schon, Niklas. Die Pflicht ruft.«

Niklas folgte stöhnend der Katze, nicht ohne vorher noch im Hinausgehen die Flasche vom Tisch zu angeln.

Hinter der Küchentür lag nun ein einfacher Gang, wie er in ein viktorianisches Landhaus gepasst hätte. Das schien der Zustand zu sein, welchen das Haus einnahm, wenn es sich etwas beruhigt hatte.

»Wir haben Glück«, bemerkte die Katze. »Es reißt sich zusammen. Vielleicht weil es weiß, dass wir auch nichts dafür können.«

Niklas murrte etwas Unverständliches, während er aus der Flasche trank, nur um erneut zu husten.

»Das Zeug«, erklärte die Katze sachlich, »wird dich nochmal umbringen.«

»Wir können nur hoffen«, keuchte der Mann.

Die Wände des Gangs wurden von einer dezent gemusterten Stofftapete verkleidet, an der Decke zeigte sich dunkles, poliertes Holz. Den Boden bedeckte ein langer, reich mit geometrischen Mustern verzierter Teppich. Schwere Ölgemälde säumten die Wände und präsentierten undeutliche Nebellandschaften.

»Immer noch im Transit«, urteilte die Katze, welche dem Gang folgte und den Blick über die Bilder schweifen ließ, »und es sieht nicht gut aus.«

»Was sieht heutzutage schon gut aus«, murrte Niklas, die Bilder ignorierend. Er ging um die Katze herum und schritt durch eine offene Tür in ein Arbeitszimmer. Der Raum entsprang einer deutlich moderneren Epoche. Leuchtröhren an der Decke tauchten das geräumige Zimmer in kaltes Neonlicht. Die Wände zeigten ein ungesundes Grün. Möglicherweise einst mintfarben, glich es nun eher einem Milchkaffee, der einige Wochen lang vergessen worden war. Die Katze ließ einen abschätzigen Blick über den Raum schweifen. Sie wusste, dass er einem gewöhnlichen Büroraum aus Niklas’ Zeitlinie entsprach.

Ein großer Schreibtisch mit Ledersessel dominierte den Raum. Lederne Ablagen und eine riesige mechanische Schreibmaschine, die niemals benutzt worden war, und daneben ein nicht weniger gewaltiger Aschenbecher aus Kristallglas, welcher pausenlos in Gebrauch war. Aktenschränke säumten die Wand auf der einen Seite, während auf der anderen ein großes, abgenutztes Ledersofa stand, von dem die Katze wusste, dass Niklas dort nachts schlief.

Beziehungsweise ohnmächtig wird, dachte die Katze.

Die Fensterfront an der der Tür gegenüberliegenden Wand nahm die ganze Breite des Zimmers ein. Die Katze durchquerte den Raum, sprang mit einem Satz auf die Fensterbank und starrte konzentriert in den dichten Nebel hinaus, während ihr Schwanz in schnellen Bögen hin und her zuckte.

Niklas ging derweil auf einen großen Humidor zu, der auf einem separaten Tischchen neben dem Sofa stand und entnahm ihm eine Zigarre, welche er mit einer bereitliegenden Schere kupierte und mit einem großen Tischfeuerzeug hingebungsvoll paffend in Brand setzte. Danach trat er, in eine große Wolke aus weißem Rauch gehüllt, neben die Katze und starrte ebenfalls in die graue Einförmigkeit vor dem Fenster.

Es dauerte nicht lange und Formen lösten sich schemenhaft aus dem Nebel, eine trostlose Sumpflandschaft wurde sichtbar. Niedrig gewachsene, knorrige Bäume standen in einer endlosen Wasserfläche, von Moos bewachsen und mit langen Bärten aus Flechten. Kahle Sträucher und niedriger Schilfbewuchs. Zerrissene Fahnen aus Nebel trieben über die Wasseroberfläche. Man ahnte die Bewegungen im Wasser mehr, als dass man sie tatsächlich sah. Niklas erspähte etwas wie einen gewaltigen Rücken aus zerklüftetem Holz die Oberfläche durchbrechen und sofort wieder abtauchen. Reihen langer schwarzer Holzstachel, mit klebrigen Algen behangen, pflügten durch ein Feld fauliger dahintreibender Blätter und verloren sich wieder im Strudel des ölig schimmernden Wassers.

»Sehr gut«, kommentierte die Katze und Erleichterung schwang in ihrer Stimme. »Wir sind schon wieder im Transit durch die stofflichen Existenzebenen. Das heißt, wir haben ein Ziel.«

Niklas blies eine Wolke gegen die Scheibe und nickte.

»Wir kommen von der Astralebene und steigen rauf oder runter, ich vergesse immer, was die Konvention ist. Also passieren wir gleich den Wald, nicht wahr?«

»Die Fundamentebene, ja«, bestätigte die Katze.

Tatsächlich wechselte die Sumpflandschaft jetzt zu einem Laubwald und dann zu einem Nadelwald, dessen Bäume schnell größer wurden.

Kurz darauf versperrten gewaltige Baumriesen den Blick aus den Fenstern. Stämme, so breit wie ein Haus, verloren sich weit oben im Nichts, sodass Äste oder gar Kronen im Zwielicht verborgen blieben. Nur ein vager, gleichförmiger Lichtschein fiel von weit oben herab.

»Die Bäume sind für mich«, erklärte die Katze. »Ich vermute, du siehst etwas anderes.«

Niklas legt den Kopf schief und kniff die Augen zusammen.

»Es sind«, begann er und bewegte den Kopf hin und her, »Pfeiler aus Beton. Grau und viereckig. Eine endlose Halle aus Betonsäulen. Jede so groß wie ein Hochhaus. Der Boden ist dunkel, und weit oben scheint es heller zu werden.«

Die Katze nickte.

»Metaphorische Resonanz. Ich bevorzuge Bäume.«

Niklas schwieg.

Schließlich wurde es dunkel. Der Nebel kehrte zurück, ließ aber zu, dass schemenhafte Wirklichkeit weiter Einzug in das Bild hielt. Ein blasser Mond schob sich hinter schnell ziehenden Wolken hevor. Das Haus sah jetzt von einem Hügel in ein Tal hinab, in welchem sich undeutlich Häuser abzeichneten.

»Sieht einladend aus«, bemerkte die Katze trocken.

»Niedriger Level an technologischer Entwicklung. Spätes Mittelalter vielleicht?«

»Nein, die Häuser sind zu hoch.«

Straßenlaternen blinkten nacheinander im Nebel auf, als hätte ein Schöpfer gerade eine gute Idee gehabt. Wie blasse Irrlichter, die durch das Weiß des Nebels schwammen.

Eine Straße trat aus der Dunkelheit hervor, gesäumt von blass gelblich flackernden Laternen, die sich als leuchtende Schlange in das Tal hinab wanden. Bäume flankierten die Straße zu beiden Seiten und formten eine Allee.

Die Katze kniff die Augen zusammen und bewegte den Kopf näher zum Fenster, bis ihre rosa Nase fast das Glas berührte.

»Elektrisch?«, fragte sie.

»Nein«, entgegnete Niklas. »Viel zu dunkel und zu wenig Licht. Auch nur entlang der Hauptstraße. Ich vermute Gaslicht.«

Dichter Nebel zog weiter über der Szene und verdeckte weitere Details.

»Warum herrscht noch immer Nebel?«, fragte die Katze irritiert. »Der Transit sollte längst abgeschlossen sein. Meine Scans zeigen keinen Übergang mehr. Die physikalischen Parameter bleiben konstant. Die Realität ist stabil.«

Niklas starrte konzentriert in den Nebel, dessen dichte Schwaden ein wenig ölig und träge, mehr grau als weiß, vom Schein der Laternen ungesund gelblich beleuchtet an ihnen vorbeitrieben.

»Das ist kein Nebel«, erklärte der Mann, die Zigarre selbstvergessen im Mund haltend. Während er sprach, stieß er weiße Wolken aus. »Das ist Rauch. Ich tippe auf Kohle.«

Die Katze sah ihn fragend an. »Diese Zeitlinie ist gerade in der Industrialisierung angekommen.« Er kniff die Augen zusammen. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Es fühlt sich falsch an. Es ist zu ruhig.«

»Es ist Nacht?«, warf die Katze ein.

»Es ist falsch ruhig«, betonte der Mann. »Ich kann es spüren.«

Die Katze senkte den Kopf und legte die Ohren an.

In diesem Moment wurden die Nebelschwaden im Tal durch einen Windstoß geteilt, der die Baumwipfel zwischen den Laternen sanft bewegte. Die Schwaden zerrissen und die Dächer der Häuser im Tal wurden vorübergehend sichtbar.

Die beiden Beobachter zogen synchron und scharf die Luft durch die Zähne.

Die Dächer verschwanden unter einem Meer aus Kreuzen. Als hätte jemand den Schmuck Tausender Kirchen über der Stadt ausgeleert.

Sie drängten sich dicht an dicht auf jeder freien Fläche. In allen Formen und Größen. Grob aus Holz gezimmert oder aus geschmiedetem Eisen und reich verziert. Die Häuser waren unter der Last kaum noch zu erkennen.

»Scheiße«, flüsterten Katze und Mann gleichzeitig.

03 | Anker

 

Parasitenbefall«, knurrte Niklas. »Natürlich.«

»Schon wieder«, stellte die Katze müde fest. »Es scheint, als würden wir keine einzige gesunde Zeitlinie mehr finden.« Sie nickte langsam. »Dann ist das hier auch keine gewöhnliche Nacht. Wir sind schon wieder pünktlich zum Ende einer weiteren Welt angekommen.«

Niklas’ Kopf verschwand erneut in einer weißen Wolke.

»Hast du schon mal einen so schweren Fall gesehen?«

Die Katze schüttelte nur schwach den Kopf.

»Ich vermute, wenn alle Zeitlinien zugrunde gehen, dann wird die Anfälligkeit einzelner Welten für den Befall noch größer und der Verlauf noch extremer.«

»Du vermutest?«

»Natürlich vermute ich!«, rief sie und sah den Mann vorwurfsvoll an. »Meine Erfahrungen mit dem Ende des Universums sind aus offensichtlichen Gründen eher beschränkt. Es ist ja nicht so, als hätten wir ein Handbuch ausgehändigt bekommen.«

»Das«, murrte der Mann und trat an den Schreibtisch, um sich sein Glas erneut voll zu schenken, »wäre mal eine gute Idee gewesen.«

Die Katze wandte sich wieder dem Fenster zu.

»Ob da draußen noch jemand lebt?«

Niklas trank und antwortete schließlich über sein Glas hinweg. »Die Laternen müssen jede Nacht von Hand angezündet werden. Ich würde also sagen: Ja.« Er trat an das Fenster. »Siehst du da ganz links am Ende des Tales die leuchtenden Linien?«

Die Katze folgte der Richtung, in welche die Zigarre deutete.

»Sieht aus wie Notenlinien, die flackern«, urteilte sie.

»Das sind Brandschneisen. Genauer gesagt, eilig nach Einbruch der Dämmerung ausgehobene Gräben. Wahrscheinlich mit Dampfkraft. Danach hastig befüllt und in Brand gesetzt, wahrscheinlich mit Öl. Wenn das Feuer runtergebrannt ist, werden die Gräben pünktlich zum Sonnenaufgang zugeschüttet. Was man hier halt noch Sonnenaufgang nennen kann.«

Die Katze sah irritiert in die Nacht hinaus.

»Und was brennt da?«

»Leichen«, erklärte der Mann knapp und trank sein Glas leer.

»Kenne ich noch von zu Hause.«

Die Katze schloss ihre Augen und schauderte.

Der Wind hatte zugenommen, zerfetzte den Nebel und trieb hastig ziehende Wolken über den Himmel. Ein blasser Mond wurde enthüllt, welcher fahles Licht auf die Reste des Nebels warf, der in langen zerrissenen Bänken durch das Tal trieb.

Ein leises Heulen wehte aus dem Tal zu ihnen hinauf.

Die Katze duckte sich flach auf die Fensterbank und legte die Ohren an.

»Wölfe?«, fragte Niklas, der schon wieder sein Glas nachfüllte.

»Keine Wölfe«, antwortete die Katze gepresst. »So heult kein lebendes Wesen. Falsche Frequenzverteilung. Meine Analysen zeigen außerdem Angst induzierenden Infraschall.«

Der Mann trat zurück an das Fenster und deutete mit dem Glas auf die Straße.

»Wir bekommen Besuch.«

Tatsächlich ließ sich Bewegung dort draußen erkennen.

Etwas löste sich nur widerstrebend aus der Dunkelheit. Ein Schrei hallte zu ihnen hinauf, ein Kommando. Kurz darauf ein Peitschenknall. Eine Kutsche raste die Straße entlang. Vier schwarze Pferde zogen das Gefährt mit hohem Tempo den Hügel hinauf, und noch immer trieb der Kutscher die Tiere weiter an. Details ließen sich nur schwer ausmachen. Weder der gelbe Schein der Gaslaternen noch das fahle Licht des Mondes schien die Nacht durchdringen zu können, welche sich mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu bewegte.

»Kein Laternen an der Kabine«, kommentierte Niklas, der gelassen an der Zigarre zog. »Kein Wappen.«

Die Katze spähte vorsichtig über den Rahmen des Fensters hinweg. »Siehst du die großen schwarzen Federn?«

Der Mann nickte. »Sowohl an den Ecken der Kutsche als auch auf den Köpfen der Tiere.«

»Das Diktat der Geschichte hat die Realität bereits vollkommen übernommen«, erklärte die Katze. »Das Narrative wird am Ende stärker als das Reale. Das passiert oft in den letzten Zügen eines finalen Befalls.«

Das Heulen wurde lauter. Schemen in der Dunkelheit jenseits der Straße ließen Schatten erahnen, die sich schnell mit der Kutsche bewegen.

»Jagen sie?«, fragte Niklas.

»Nein«, entgegnete die Katze. »Sie bewachen die Kutsche.«

Wie eine donnernde Flutwelle schoss das Gefährt unter dem scharfen Knallen der Peitsche an der Grenze zum Anwesen vorbei.

»Können sie uns …«, begann der Mann.

»Nein«, unterbrach die Katze. »Sie sehen nur, was sie sehen wollen.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür der Kabine und ein formloses Bündel wurde mit Schwung auf die Straße geworfen.

Es rollte einige Meter weit und blieb am Rand des Anwesens liegen.

Das Heulen kam näher.

»Großartig«, kommentierte die Katze trocken. »So weit ist es gekommen. Jetzt schmeißen uns fremde Zeitlinien schon ihren Müll vor die Tür.«

»Der Müll«, verkündete Niklas gelassen und nahm einen Schluck aus seinem Glas, »bewegt sich.«

Der Kopf der Katze ruckte herum und tatsächlich: Das Bündel, offensichtlich mit dem groben Stoff einer Decke umwickelt, fiel an einem Ende auseinander und offenbarte einen schlanken Arm, der fahrig und schwach über den Boden tastete und dabei unnatürlich weiß gegen die Dunkelheit abstach.

»Scheiße«, verkündeten Mann und Katze gleichzeitig.

Das Heulen klang jetzt sehr nahe und unförmige Schatten, knapp außerhalb der Grenze zum Anwesen, rückten langsam näher.

»Vielleicht warteten sie darauf, gefüttert zu werden«, vermutete die Katze. Ihr Blick wanderte schnell zwischen dem Mann und der Gestalt auf der Straße hin und her.

Niklas sah sie an und hob abwehrend Glas und Zigarre.

»Oh nein!«, rief er. »Vergiss es! Ich bin heute schon von einem Monster gejagt worden, und das war wenigstens verrostet und alt. Die Dinger da draußen können nicht mal durch normale Waffen getötet werden. Wenn ich von Ungeheuern zerrissen werde, bringt das genau niemandem etwas.«

»Oh entschuldige bitte«, rief die Katze sarkastisch. »Ich werde sofort hinausrennen und das arme Menschenkind selbst reintragen.«

Sie starrten sich einen Moment lang an, dann drehten sie sich gleichzeitig zur Tür um und riefen: »Ana!«

Die Frau schien ihre Gedanken bereits gelesen zu haben.

Die formlosen Schatten bewegten sich noch immer am Rand des Anwesens auf und ab, offensichtlich von der ungewohnten Realitätsgrenze verwirrt, als die Tür zum Haus aufsprang und die alte Frau sich mit schwerfälligen Schritten auf das am Boden liegende Bündel zu schleppte. Das tiefe Knurren aus den Schatten wurde lauter und war bis hinauf in das Büro zu hören. Die Schatten schlichen von mehreren Seiten auf das Bündel zu, während Ana langsam den Weg entlang hinkte. Ihre Leibesfülle machte ihr dabei offensichtlich zu schaffen, denn das Laufen fiel ihr schwer und sie wuchtete sich mehr den Weg entlang, als dass sie lief. Dennoch wirkte sie in keinster Weise von den Ereignissen beeindruckt.

Als sie bei dem Bündel eintraf, welches regungslos am Boden lag, ignorierte sie die dunklen Schatten vollkommen. Die beiden stummen Beobachter im Büro trauten sich indes kaum zu atmen.

»Das sind definitiv keine Wölfe«, erklärte Niklas leise.

»Nein, sind es nicht«, entgegnete die Katze genauso leise, während sie kaum still sitzen konnte und ihr die Nackenhaare zu Berge standen.

Ana griff fast beiläufig hinab und warf sich den eingewickelten Körper kurzerhand und ohne irgendein Anzeichen von Mühe über die Schulter. Der bleiche, kleine Arm hing ihr am Rücken herab.

Danach wandte sie sich den Schatten zu.

Die Aussicht, ihre Beute zu verlieren, hatte eines der Wesen hinreichend ermutigt, die Grenze zu überschreiten. Es näherte sich der Frau langsam. Kaum hatte sich diese wieder aufgerichtet, sprang der Schatten auf sie zu. Die alte Frau zögerte nicht einmal, sondern griff gelassen mit der freien Hand unter ihre riesige Wolljacke.

»Oje«, gab Niklas leise von sich.

Als die Frau ihre Hand hervorzog, hielt sie darin den größten Revolver, den der Mann jemals gesehen hatte. Dieser glühte silbern im Mondlicht, während sie die Waffe fast beiläufig auf den Schatten richtete.

Der Schuss kam wie ein Donnerknall und war so laut, dass die Scheiben vor den beiden Beobachtern in ihrer Fassung klirrten und beide erschrocken aufschrien. Niklas ließ die Zigarre fallen, und die Katze verschwand mit einem Aufblitzen weißer Flügel unter dem Schreibtisch.

Der Schatten jedoch war verschwunden. Ana, die sich keinen Zentimeter gerührt hatte, richtete die Waffe auf einen weiteren Schatten und zögerte, als würde sie ihm eine Frage stellen.

Das Knurren verstummte. Alle Schatten zogen sich langsam zurück und verschmolzen mit der Dunkelheit.

»Was im Namen aller Welten?«, kam die Stimme der Katze unter dem Schreibtisch hervor.

»Ja genau«, bestätigte Niklas. »Was zur Hölle war das? Wusstest du, dass sie …?«

»Nein, wusste ich nicht.«

»Ist das ein Artefakt? Das verdammte Monster ist einfach verschwunden!«

»Nein, das ist kein Artefakt«, erwiderte die Katze. Ich scanne jeden Gegenstand im Haus auf transdimensionale Signaturen. Ein Artefakt hätte ich bemerkt. Ich vermute, es ist ein Astralwesen, welches sich als Waffe tarnt.«

»Astralwesen!«, stieß Niklas hervor. »Woher …?«

»Ich habe keine Ahnung!«, rief die Katze. »Aber können wir das vielleicht später klären? Jetzt hast du erst mal andere Sorgen.«

»Wieso ich?«, fragte Niklas, der seine Zigarre aufgehoben hatte und sie kritisch musterte.

»Du bist Arzt. Schon vergessen?«

»Oh ja.« Er stellte das Glas ab, warf die Zigarre in den Aschenbecher und eilte zur Tür.

Ana, die im Eingang stand, als hätte sie nur kurz die Post reingeholt, warf ihm wortlos das Bündel in die Arme.

»Трус«, erklärte sie. Die Waffe war schon wieder unter ihrer Wolljacke verschwunden.

»Das bedeutet …«, begann die Katze von der Treppe aus.

»Ich weiß«, entgegnete Niklas laut.

Er trug das Bündel in die Küche und legte es vorsichtig auf den großen Esstisch.

Er schlug das grobe Sackleinen zur Seite und offenbarte ein sehr blasses und überdies junges Gesicht.

»Es ist ein Mädchen«, erklärte er unnötigerweise.

»Junge Frau«, korrigierte die Katze. Sie wartete stumm, während der Mann den Körper auswickelte.

»Was siehst du?«, fragte sie schließlich.

»Blut«, erklärte der Mann. »Sehr viel davon.« Er fluchte laut, drehte sich um und wollte etwas rufen, doch Ana stand bereits hinter ihm und reichte ihm wortlos seine Arzttasche. Er öffnete sie und leerte den Inhalt kurzerhand auf den Tisch.

Dann untersuchte er die Gestalt.

»Ana, ich brauche …«, er zögerte. »Ich brauche … alles! Oh, mein Gott, ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll.«

Während er mit fliegenden Händen Verbandsmaterial herrichtete, warf er einen kurzen Blick auf die Katze, die neben dem Kopf des Mädchens saß, sie kritisch beäugte und sehr vorsichtig an ihm roch.

»Ist sie?«, fragte der Mann.

Die Katze nickte.

»Kein Zweifel. Alle Scans sind positiv. Sie ist eine temporale Singularität. Ihr Synchronizitätswert ist am Anschlag. Das ist unser Anker. Mit hoher Wahrscheinlichkeit der Letzte.«

»Wundervoll«, erklärte Niklas, der nach dem Puls des Mädchens gefühlt hatte und jetzt mit zitternden Händen eine Spritze aufzog. »Sie stirbt.«

04 | Heilung

 

Die Katze hatte Niklas noch nie so konzentriert gesehen. Verstummt arbeitete er mit schnellen, hektischen Bewegungen, wohl über eine Stunde lang. Er säuberte, nähte, verband und unterbrach sein fieberhaftes Werken nur, um immer wieder Atmung und Puls seiner Patientin zu prüfen. Zwischendurch setzte er ihr Spritzen, deren Inhalt er aus verschiedenen staubigen, braunen Glasphiolen aufzog, welche Ana für ihn holte. Schließlich injizierte er sich eine der farb­losen Flüssigkeiten sogar selbst. Die Katze wusste nicht, ob der Anblick sie erschrecken oder beruhigen sollte. Danach wurde Niklas noch fokussierter, geradezu verbissen. Er hörte auf zu zittern, seine Griffe wurden sicher und sein Blick bekam etwas Manisches.

Selbst Ana, sonst nie um einen lauten Fluch verlegen, enthielt sich jeder Äußerung. Sie räumte auf, säuberte Instrumente, desinfizierte Oberflächen und zerschnitt Unmengen weißer Laken für Verbandsmaterial.

Niklas’ Gesichtsausdruck verdüsterte sich zusehends, während er immer häufiger Puls und Atmung seiner Patientin kontrollierte. Schließlich trugen sie den bewusstlosen und vollständig verbundenen zierlichen Körper in eines der Gästezimmer und legten ihn auf das Bett. Die Vorhänge waren geschlossen und im Schein der beiden Glaslampen an der Wand erschien das kleine weiße Gesicht inmitten der weißen Bettwäsche fast unwirklich. Niklas stand mit steinerner Miene und verschränkten Armen vor seiner Patientin. Sowohl Jackett als auch die Weste hatte er schon lange ausgezogen und irgendwo in der Küche fallengelassen. Die Ärmel des Hemdes waren nachlässig hochgekrempelt. Seine Hände glänzten sauber, doch das ehemals blaue Hemd war Blut verschmiert.

Die Katze hatte wieder ihre Position neben dem Kopf des Mädchens eingenommen.

»Die Korridore sehen schon wieder normal aus«, begann sie vorsichtig, »und eine erstaunliche Zahl der Zimmer steht offen.«

Der Mann quittierte dies mit Schweigen.

»Viel mehr als sonst«, versicherte die Katze erneut. »Das Haus ist zufrieden. Wahrscheinlich ist sogar deine Bar aufgefüllt.«

Niklas zeigte weiterhin keine Reaktion, was die Katze nun ernsthaft beunruhigte. Sie wandte den Kopf und roch vorsichtig an dem Mädchen, während ihre langen Schnurrhaare über das schneeweiße Gesicht strichen.

»Das waren keine Schnitte«, verkündete sie schließlich.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Sie roch nach schweren Drogen«, erklärte sie weiter und sah forschend in das Gesicht des Mannes, weiterhin bemüht, die Stille zu füllen. »In diesem Stadium des Befalls kann man eine Welt nicht mehr heilen. Man lässt sie am besten ausbrennen und fängt von vorne an. Du wirst nirgendwo auf diesem Planeten noch eine Katze finden. Die sind zu schlau und schon vor Jahrzehnten getürmt.«

Der Mann schwieg und sein Blick ruhte verschlossen und stoisch auf der Bewusstlosen.

»Wird sie es schaffen?«

Niklas schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Keine Chance. Zu viel Blut verloren. Die inneren Verletzungen sind schwer. Ihr Herz schlägt nur noch, weil ich sie mit Medikamenten vollgepumpt habe. Ich kann ihr nicht einmal eine Kochsalzinfusion legen, um den Kreislauf zu stabilisieren. Ihr Herz rast, als wäre sie ein Kolibri, aber ihr Körper wird zügig dahinterkommen, dass er eigentlich nicht mehr lebt.

Die Katze leckte vorsichtig an der blassen Wange und maunzte unglücklich.

»Es muss doch irgendetwas geben, was wir tun können.«

Niklas starrte eine Weile regungslos auf das Mädchen hinab. Schließlich schien er eine Entscheidung zu treffen und trat mit schnellen Schritten aus dem Zimmer. Die Katze hörte ihn über den Flur in sein Büro laufen. Es folgte das Geräusch von Schubladen, die aufgerissen und wieder zugeworfen wurden. Jemand wühlte durch chaotische Inhalte. Das Klirren leerer Glasflaschen drang herüber, zusammen mit ersticktem Fluchen.

Schließlich kehrte Niklas zurück und nahm neben dem Mädchen Platz. Er zog etwas mit den Händen auseinander, was sich als goldene Kette erwies. Ein Amulett fing das Licht der Gaslampen und brach es in zahllosen Regenbögen, die über den schweren Kristallanhänger tanzten.

Die Katze fauchte erschrocken und schoss wie ein Blitz davon.

»Bist du vollkommen übergeschnappt«, tönte ihre Stimme unter dem Bett hervor. »Ich dachte, wir wollten sie retten.«

»Es ist nur bei Frauen gefährlich.«

»Ich weiß«, klagte die Katze, »du warst schon lange nicht mehr in Gesellschaft anderer Menschen, deswegen erlaube mir, dich zu unterstützen. Das da vor dir auf dem Bett, das ist eine Frau! Man würde meinen, dass du das beim Verbinden ihrer Wunden bereits bemerkt hast.«

»Das ist ein Mädchen«, erklärte Niklas gelassen, »außerdem trägt sie es nur so lange, bis sie sich stabilisiert hat.«

Von den Vorwürfen ungerührt, legte er der Bewusstlosen die Kette um den Hals und positionierte den schweren Anhänger mitten auf ihrer schmalen Brust. Der Kristall hatte die ovale Form eines stilisierten Käfers. Kaum dass dieser den Körper des Mädchens berührte, atmete sie tief und stockend ein. Das Amulett begann von innen heraus weiß zu glühen und winzige Lichtfäden flossen aus dem Kristall in die Verbände des Mädchens, wie eine Pflanze, die sich im Untergrund verwurzelt. Umgehend bekamen die blassen Wangen des Mädchens Farbe.

Die Ohren der Katze tauchten über der Bettkante auf, gefolgt von zwei großen Augen, in denen schiere Panik stand.

»Du wirst uns alle umbringen«, flüsterte sie entsetzt.

»Was soll ich denn machen«, fuhr der Mann die Katze ungehalten an und starrte sie wild aus seinen blutunterlaufenen Augen an.

Die Katze schrie auf und flüchtete erneut unter das Bett.

»Sie wird sterben«, rief er, »und mir fällt nichts anderes ein. Ich bin nicht mehr in meinem Krankenhaus, wie dir vielleicht aufgefallen ist. Dort hätte ich ein ausgebildetes Trauma-Team, einen Not-OP, eine voll eingerichtete Intensivstation und eine gut ausgestattete Blutbank. Mein Vorgänger hier war Experte in Anatomie und Chemie, hat sein Wissen jedoch hauptsächlich dazu benutzt, Schmetterlinge zu sammeln. Alles, was ich im Büro meines Vorgängers habe, ist ein Schrank voller Betäubungs- und Aufputschmittel, aber wenn ich ihr noch mehr Opium spritze, schwebt sie uns von allein auf die Astralebene davon. Ich bin für jeden Vorschlag dankbar.«

Er atmete aus und rieb sich mit den Händen erschöpft über das Gesicht. »Entweder das oder wir verlieren den letzten Anker, den wir finden konnten, nachdem wir in Dutzenden sterbender Zeitlinien gesucht haben. Sie dürfen es sich aussuchen, Eure Hoheit.«

Die Katze maunzte leise und unglücklich.

»Das Ding ist unfassbar mächtig«, flüsterte sie, weiterhin tief unter das Bett geduckt. »Spürst du es nicht?«.

»Nein«, erklärte Niklas und kramte durch die Schublade des Nachttischs. Er zog eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug heraus, musterte einen Moment lang die seltsame Schrift auf der Packung und zündete sich schließlich eine Zigarette an. Er blies eine Wolke aus blauem Rauch gegen die Decke und sah dann auf das Mädchen hinab.

»Ich überwache ihre Vitalwerte und nehme das Amulett jede halbe Stunde ab. Wir lassen es weg, sobald sie stabil genug ist. Vielleicht haben wir Glück.«

»Was«, fragte die Katze, »wenn sie als wahnsinnige Gottkönigin erwacht, die uns versklavt?«

Der Mann zog tief und nachdenklich an seiner Zigarette.

»Sie wiegt keine neunzig Pfund«, verkündete er, während er kurz im blauen Rauch verschwand. »Und davon sind wahrscheinlich fünf Verbände und Nahtmaterial. Sie kann sich niemals allein auf den Beinen halten und wird große Probleme bekommen, wenn sie auch nur die Toilette erobern will. Ich fühle mich nicht bedroht. Zur Not haben wir noch Ana und ihren Revolver. Der macht mir übrigens deutlich mehr Sorgen als das Amulett.«

»Lenk nicht ab, Niklas!«, rief die Katze. »Wo hast du dieses von allen Göttern verfluchte Ding überhaupt her! Es sollte tief unten in den Tresorkammern liegen. Hinter mindestens drei Stahltüren. In einer Bleikiste! Eingelegt in Weihwasser! Ich erinnere mich deutlich, denn so haben wir beide es eingelagert.

»Private Forschung«, erklärte der Mann knapp.

»Es hat eine ganze Zivilisation zerstört!«, rief die Katze. »Bist du dement? Erinnerst du dich nicht an den Thron? Es war ein verdammter Berg! Tausende Meter hoch und niemand mehr am Leben.«

Der Mann schwieg.

Die Katze fuhr leise fort: »Du wolltest herausfinden, ob du die Macht benutzen kannst, um das Haus zu verlassen, nicht wahr?«

»Einen Versuch war es wert.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Das Amulett wird ihr die Erinnerungen nehmen«, erklärte Niklas schließlich, »und ein gesteigertes Selbstbewusstsein erzeugen. Ein praktischer Effekt in diesem Falle, findest du nicht? Arbeitet zu unseren Gunsten.«

»Niklas, unsere Aufgabe ist es, solch gefährliche Artefakte in Verwahrung zu nehmen und zu sichern, nicht sie zu missbrauchen!«

»Ich glaube nicht, dass das noch eine Rolle spielen wird, wenn die letzte Zeitlinie endet und die ewige Nacht anbricht.«

Er stand auf und verließ den Raum.

»Wohin willst du?«, rief die Katze und folgte ihm besorgt.

Niklas ging den Gang entlang und bog in einen Raum ab, dessen Tür offenstand.

Die Katze stöhnte.

»Ich will nicht da rein«, maulte sie. »Von dem fiesen Ding an der Decke bekomme ich Albträume.«

»Es ist ausgestopft«, kam die Stimme des Mannes aus dem Zimmer.

»Als ob das hier im Haus irgendetwas bedeuten würde«, murrte die Katze und schlich vorsichtig in den Raum, ohne nach oben zu sehen.

Ein ausgestopftes Krokodil hing unter der Decke, welches das ganze Zimmer durchmaß. Mehrere Gaslampen an den Wänden spendeten Licht, was die Atmosphäre nicht verbesserte. Das Tier hing kopfüber, die schuppige Haut glänzte in metallischen Grüntönen und reflektierte funkelnd das Licht der Lampen wie Edelsteine. Es beobachtete den Raum aus riesigen goldenen Augen. Die Katze hasste das scheußliche Ding und versuchte nie darunter zu stehen, sondern drückte sich so gut es ging an den Wänden entlang.

Die Wand zur rechten Seite der Tür wurde vollständig mit Bücherregalen bedeckt, die bis unter die hohe Decke reichten. Eine Leiter ließ sich auf Rädern davor hin und her bewegen. Auf der anderen Seite des Zimmers standen dicht gedrängt Kommoden mit Ausstellungsstücken, über denen mehrere Schaukästen einer großen Schmetterlingssammlung die Wände bedeckten und kaum Platz für die drei hell leuchtenden Gaslampen ließen.

Ein reich verzierter Perserteppich mit verwirrenden geometrischen Mustern bedeckte den Boden. Die Fenster gegenüber der Tür an der hinteren Querseite des Raumes wurden von schweren Vorhängen verdeckt.

Davor stand ein mit Schnitzereien bedeckter Schreibtisch aus rotem, glänzend poliertem Holz.

Natürlich gehörte zu dem Büro auch eine gut ausgestattete Bar. Die Katze hörte bereits das Klirren von Kristall-Karaffen. Niklas hatte dieses beeindruckende, wenn auch vollkommen nutzlose Talent, in jeder neuen Umgebung zielsicher als erstes den Alkohol zu finden. Als er dieses Zimmer zum ersten Mal entdeckte, hatte er den falschen Globus schon aufgeklappt, bevor er das Krokodil an der Decke überhaupt bemerkte. Die Katze war sich sicher, dass Niklas ebenfalls nicht bemerkt hatte, dass auf dem Globus einige sehr seltsame Kontinente eingezeichnet waren.

Die Katze schlich dicht am Bücherregal entlang und verschwand hinter den Vorhängen, wo sie mit einem Satz auf der Fensterbank landete.

»Wir sind schon wieder im Transit«, rief sie erstaunt. »Wir scheinen zu den oberen Ebenen aufzusteigen. Wir sind im Moment pausenlos in Bewegung.«

»Vielleicht werden wir verfolgt«, vermutete Niklas, während er kritisch den Inhalt einer Karaffe prüfte.

»Das Haus ist vorsichtig«, kommentierte die Katze hinter dem Vorhang. »Ich vermute wir werden auf einer der unteren Himmelsebenen Rast machen, damit sich unser Gast erholen kann. Sonne und so.«

Niklas stöhnte lang gezogen.

»Du kannst dich ja in deinem Büro verstecken«, schlug die Katze vor. »Bevor unser Anker nicht wieder bei Bewusstsein ist, brauchen wir wahrscheinlich gar nicht erst versuchen, das Haus zu verlassen.«

Der Mann schnaubte abfällig und trat an den Schreibtisch.

Mehrere der großen ledernen Folianten lagen dort aufgeschlagen übereinander. Lesezeichen ragten zu Dutzenden aus ihnen hervor. Die offenen Seiten waren dicht mit einer schwungvollen Handschrift bedeckt.

Niklas tippte mit einer frischen Zigarette auf die Zeilen. »Laut der Aufzeichnungen müssen wir nur noch den Übergang finden und der Anker muss mit den betreffenden Zeitlinien eine Konvergenz einleiten. Mehr steht hier nicht.«

»Großartig«, kommentierte die Katze. »Gut, dass es nicht unspezifisch und nutzlos ist.«

»Mein Vorgänger«, erklärte Niklas, »lebte scheinbar zu einer Zeit im Haus, als Frieden und Harmonie im Universum herrschten. Auch wenn man sich das nur schwer vorstellen kann. Deswegen hatte er wohl auch so viel Zeit, die Natur der Ebenen zu studieren. Was hätte er auch sonst machen sollen. In Friedenszeiten kann man seinen Hobbys nachgehen. Er schreibt in seinen Büchern, dass Anker die Fähigkeit haben, die Zeitlinien zu verbinden, wenn es absolut keinen anderen Weg gibt, diese zu retten. Er las: Zum Glücke war dies noch nimmer der Fall, da das System der Bereglung unverrücklich und ewiglich beharrt. Die oberste Geschäftsstelle trägt Sorge dafür.«

Niklas trank und stellte das leere Glas frustriert auf das offene Buch.

»Was für eine oberste Geschäftsstelle? Wie verbindet man Zeitlinien? Dutzende voll handgeschriebener Folianten über das Brutverhalten des gemeinen Dödels und der Fruchtphase des spektakulären, transdimensionalen Blumenkohls, und kaum endet das verschissene Universum, stehen wir hier und haben einen einzigen halbgaren Satz als Anleitung!«

»Tölpel«, korrigierte die Katze hinter dem Vorhang.

»Entschuldigung?«

»Der Vogel ist ein Tölpel, kein Dödel.«

»Ich setze dich auf einer Höllenebene für Hunde aus«, knurrte Niklas.

»Ich sage Ana«, konterte sie trocken, »sie soll keinen Alkohol mehr kaufen.«

»Vielleicht«, erklärte der Mann glatt, »finden wir eine andere Lösung.«

Plötzlich schlug er frustriert mit der Hand auf die Seite, sodass das Glas einen Satz machte.

»Er hat nicht einmal dokumentiert, wohin er gegangen ist!«

»Wäre auch nicht schlau gewesen«, erklärte die Katze. »Das Haus hätte wahrscheinlich mitgelesen und es zu verhindern gewusst.«

Sie zögerte einen Moment. »Ob Ana damals auch schon da war?«

»Das würde zumindest seine Flucht erklären«, murmelte Niklas leise.

»Womöglich«, mutmaßte die Katze, »ist er auch gar nicht geflohen, sondern lediglich nicht von einer seiner Expeditionen zurückgekehrt. Warum auch? Das Haus hat es wahrscheinlich gar nicht verhindert. Es brauchte ihn eventuell nicht mehr. Uns jedoch benötigt es dringend.«

»Das ist mir aufgefallen«, erklärte der Mann gepresst.

Er schlug das Buch frustriert zu. »Alle Zeitlinien sind korrupt und von Parasiten befallen. Keine Anker mehr weit und breit und der Letzte, den wir finden, ist ein halbtotes Kind!«

»Bobby hat versprochen uns zu helfen«, warf die Katze ein.

»Oh, großartig!«, rief Niklas. »Warum verlassen wir uns nochmal auf die Hilfe von Anas zwielichtigen Freunden?«

»Weil wir weder einen besseren Plan noch irgendeine Ahnung haben oder jemanden kennen, den wir fragen könnten?«

»Klingt für mich wie ein geplantes Desaster.«

»Hast du eine bessere Idee?«

Der Mann schnaubte. »Kein Wunder, dass die Menschen pausenlos Religionen erfinden. Wenn sie wüssten, welche vollständig durchgedrehten transdimensionalen Energiewesen ihre Geschicke lenken, würden sie das Bett morgens überhaupt nicht mehr verlassen.«