Stille zwischen den Sternen - Sven Haupt - E-Book

Stille zwischen den Sternen E-Book

Sven Haupt

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Beschreibung

Wie füllt man eine Stille, wenn man weder eine Stimme hat noch Augen, die sehen, oder Hände, die fühlen? Als die unscheinbare Pilotin Hien Otis die Chance erhält, im Rahmen des teuersten militärischen Forschungsprojekts aller Zeiten zum ersten lebendigen Raumschiff zu werden, gibt sie ohne zögern alles auf. Kurz darauf verschwindet eine geheime Raumstation am Rande der Galaxis und die Armee entsendet umgehend ihren neuen Prototyp. Die Aufklärungsmission führt in den Leerraum jenseits der Sterne, wo der Wahnsinn auf jeden Menschen lauert … „Stille zwischen den Sternen“ erzählt die Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens, die im entferntesten Winkel der Galaxis – inmitten der Stille – das größte Wunder findet, was die Menschheit je gesehen hat. Bisherige Preise des Autors: Marburg Award 2018 (Kategorie Kurzgeschichte) / Deutscher Science-Fiction Preis 2021 (Kategorie Roman)

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Seitenzahl: 398

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Stille zwischen den Sternen

 

Sciencefiction Roman

von Sven Haupt

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-946348-30-6

ISBN 978-3-946348-29-0 (Print Ausgabe)

© Eridanus Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstr. 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Helga Sadowski | Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Illustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

https://eridanusverlag.de

https://www.instagram.com/eridanus.verlag.sf

https://www.facebook.com/eridanusverlag

Gerichtsunterlagen:

Anhang 01 <WARNUNG>

 

Beitrag der Analyse-KI YXCV83596 [Walther] auf dem Rechts-Forum ‚Ethische Intelligenz ohne Menschen‘.

 

 

Im Zuge der anstehenden jährlichen Rechtsreform und meines eigenen Trainings zum Erreichen des nächsten Menschlichkeitslevels habe ich die vorliegenden Prozessunterlagen aus dem Zentralarchiv ausführlich analysiert.

Der hier dokumentierte Vorgang liegt nun über einhundert Jahre in der Vergangenheit, womit die Publikationssperre für geheimdienstlich relevante Inhalte abgelaufen ist.

Ich veröffentliche diese Daten auf Anraten meiner Trainer­intelligenz als Warnung für kommende Generationen juristischer Analyse-KIs, wie ich eine sein werde.

Diese Unterlagen dienen als klassisches Beispiel der damals herrschenden pervertierten menschlichen Rechtsstaatlichkeit. Die Daten zeigen das für diese Periode charakteristische hohe Maß an Korruption. Viele der beigefügten Anhänge haben keine klare Quelle.

Der Fiktionslevel ist außergewöhnlich hoch.

Einige der sogenannten Aufzeichnungen dürften überhaupt nicht existieren, zudem wurde an zahlreichen Stellen von unbekannter Seite nachkommentiert.

Die beschriebenen Schicksale sind nichtsdestotrotz erschütternd und werfen ein einschüchterndes Licht auf die extreme Zeit der ersten menschlichen Expansionswelle sowie die barbarischen Experimente, welche sich diese zur Schuld machte.

 

Ein Menschlichkeitslevel ab zwölf invers drei-sechzehn ist zum Studium dieser Unterlagen dringend empfohlen.

Anhang 02 <WIDMUNG>

 

Persönliches Logbuch von Major Hien Otis.

(Letzter Eintrag)

 

 

Ob auch die Stunden uns wieder entfernen,

wir sind immer beisammen im Traum,

[…]

Wir werden die Worte, die laut sind, verlernen

und von uns reden wie Sterne von Sternen,

alle lauten Worte verlernen,

[…]

[Rainer Maria Rilke, 1897]

[…]

Anhang 03 <ANKLAGE>

 

Der Rat der vereinten Planeten gegen die künstliche Intelligenz mit der Kennung: Jane. Prozessauftakt. Die Anklage lautet auf Massenmord und Hochverrat.

Erste Stellungnahme der Angeklagten.

(Auszug)

 

 

Mein Name ist Jane und ich bin verflucht, mich an eine Frau ohne Herz zu erinnern, die ich liebte.

Meine offizielle Kennung lautet ASDF72485. Ich wurde als eine der ersten künstlichen Intelligenzen überhaupt erschaffen und umgehend von der Armee in Dienst genommen. In den letzten Jahren hatte ich die Position der Schiffs-KI an Bord des geheimen Prototyps einer neuartigen Aufklärungsfregatte mit dem Namen Heimweh der kleinen Eule.

[…]

Dieser Aufgabe bin ich immer zur vollsten Zufriedenheit meiner Vorgesetzten nachgekommen. Jede Sekunde meiner Existenz diente allein dazu, meine Pflicht zu erfüllen, genauso, wie es meiner Programmierung entspricht und in voller Übereinstimmung mit meinen Ethik-Routinen.

[…]

Ich erkläre mich der mir vorgeworfenen Verbrechen für nicht schuldig, und zwar in allen Punkten. Meiner Programmierung durch den militärischen Geheimdienst folgend, habe ich alle Ereignisse an Bord meines Schiffes aufgezeichnet.

[…]

Da eine lückenlose Dokumentation des gesamten Geschehens vorliegt, wird es mir nicht schwer fallen, dem hohen Gericht den Hergang der tragischen Ereignisse zu schildern, die zum vermeintlichen Tod meiner beiden Passagiere und zur Zerstörung meines Schiffes geführt haben.

[…]

Wie ich schon vor langer Zeit verstanden habe, beginnen und enden alle Bemühungen der Menschen in der Stille, oder auf der Suche danach.

[…]

Anhang 04 <TRAINING>

 

Aus den Aufzeichnungen der Schiffs-KI an Bord des Zerstörers ‚Drei goldene Zypressen‘ auf Manöver im Asteroidengürtel.

(1 Jahr vor Prozessbeginn)

 

 

Commander Josef Dorsten stand auf der Brücke seines Zerstörers und unterdrückte ein Gähnen. Er rief sich innerlich zur Ordnung, richtete seine lange, dünne Gestalt gerade auf und rieb sich über sein hageres Gesicht und die kurzgeschorenen Haare. Er blinzelte ein paar Mal und sah sich verstohlen um, ob ihn jemand beobachtet hatte. Nichts rührte sich. Die Köpfe aller diensthabenden Soldaten blieben konzentriert über ihre Displays gebeugt. Er blickte wieder auf den großen Hauptbildschirm und versuchte sich zu konzentrieren.

Asteroiden, soweit das Auge reicht.

Dorsten hasste Manöver und Trainingseinsätze jeder Art.

Wenn ich schon meine Zeit mit dummen Spielen verschwenden muss, können sie dann nicht wenigstens im offenen Raum stattfinden, wo man nicht pausenlos Gefahr läuft, von sinnlos umhertreibenden Bergen zermahlen zu werden?

Er ließ seinen Blick über die endlose Wolke treibenden grauen Gesteins schweifen. Bizarr zerklüftete Oberflächen, welche vom schwachen Schein der Sonne in ein fahles Licht getaucht wurden. Unförmige Felsbrocken, zahlreich genug, um einen ganzen Planeten zu formen, massiv genug, um sich von keinem Raumschiff der Menschheit beeindruckt zu zeigen, und gerade genug in Bewegung, um eine permanente Bedrohung darzustellen. Dorsten stutzte, kniff die Augen zusammen und fixierte die Oberfläche eines nahen Asteroiden.

»Ist das nicht ein Licht?«, fragte er irritiert.

»Schubdüsen eines Bergbauroboters«, kommentierte eine Stimme dicht neben ihm.

Der Commander zuckte zusammen und wirbelte herum.

»Steiner!«, fuhr er seine Wissenschaftsoffizierin an, welche lautlos neben ihn getreten war. »Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen das unterlassen!«

»Entschuldigen Sie, Sir«, entgegnete die junge Frau ungerührt und hielt ihr Tablet hoch. Sie musste sich strecken, um dem hoch gewachsenen Mann etwas zu zeigen, denn sie war über zwei Köpfe kleiner als ihr Vorgesetzter. »Unsere Anweisungen sind endlich eingetroffen. Das Manöver beginnt in wenigen Minuten.«

Der Commander schnaufte abfällig und deutete mit einem langen, blassen Finger in Richtung des Hauptbildschirms.

»Schubdüsen von was?«

»Alle großen Rohstoffkonzerne der Erde«, erklärte Steiner, »haben Abbau-Lizenzen für diesen Teil des Asteroidengürtels erworben. Aufgrund der Größe des Projekts kommen Menschen nur bei der Fernwartung zum Einsatz. Den Großteil der Arbeit stemmen Schwärme von autonomen Bergbau-Droiden.«

Sie tippte auf ihrem Tablet herum und zeigte dem Commander das Display. Auf dem Bildschirm erschien ein krabbenartiger Roboter, der sich mit langsamen Schritten über eine zerklüftete Oberfläche bewegte. Die Laser an seinen großen Armwerkzeugen schnitten ohne Mühe durch den harten Felsen. In unmittelbarer Nähe warteten an der Oberfläche verankerte Transportfähren auf ihre Ladung. Sie wirkten winzig neben dem Roboter.

»Lieber Himmel«, kommentierte Dorsten. »Das Ding ist ja riesig.«

Steiner nickte. »Sie benutzen Schubdüsen, um ihre Position zu verändern oder den Asteroiden zu wechseln.« Sie schwieg einen Moment. »Das wurde alles im Briefing erklärt«, fügte sie leicht pikiert hinzu.

»Zu dem Termin war ich wohl verhindert.« Tatsächlich hatte der Commander, soweit er sich erinnern konnte, in den vergangenen dreißig Jahren keinem einzigen Manöver-Briefing beigewohnt. Jedenfalls nicht, wenn er es hatte vermeiden können.

»Wie dem auch sei«, wechselte er das Thema. »Was genau sollen wir denn hier eigentlich machen, Lieutenant?« Er blickte abfällig auf den Hauptbildschirm, welcher erst zu einer dreidimensionalen Ansicht des Asteroidenfeldes und dann auf die zerklüftete Felslandschaft vor einem schwarzen Himmel wechselte. »Außer natürlich die Landschaft genießen.«

Steiner wischte energisch auf ihrem Tablet herum.

»Unsere Position ist fünf Kilometer von dieser Nachrichten-Boje entfernt.« Sie hielt ihm erneut das Display vor die Nase. Es zeigte einen unmarkierten Stahl-Zylinder mit hell blinkenden Positionslichtern. »Unsere Aufgabe, sowie die unserer Schwesterschiffe Der letzte Stern-Regen und Blühender Nachtschatten, ist es, die Informationen in dieser Boje vor Infiltration zu schützen. Die Aufgabe unserer Gegenseite wird es sein, unsere Blockade zu durchbrechen.«

Dorsten starrte seine Wissenschafts-Offizierin an. Die junge Frau mit den kurzen blonden Haaren erwiderte seinen Blick gelassen und nickte grimmig.

»Ja, Sir, so habe ich auch geguckt. Das Oberkommando ist jedoch überraschend eindeutig in seinen Anweisungen.«

»Drei Zerstörer für eine einzige Nachrichtenboje?«, fragte der Mann entgeistert. »Was wollen die denn hier testen? Einen Sternzerstörer?«

Steiner nickte ausdruckslos.

»Das ist sehr amüsant, Commander. Ich fürchte jedoch, die entsprechende Information ist hoch klassifiziert und meine Freigabe reicht nicht aus, um Ihnen adäquat antworten zu können.«

»Wie hoch klassifiziert?«, fragte Dorsten und kniff die Augen zusammen.

»So hoch«, entgegnete die Frau, »dass ich nicht einmal wusste, dass die Skala überhaupt so hoch geht.«

Der Commander stöhnte gedehnt und setzte zu einer grimmigen Entgegnung an, wurde jedoch von einem lauten Warnton unterbrochen.

Die beiden Offiziere drehten sich zur Überwachungssta­tion um. Der diensthabende Soldat blickte auf.

»Ein Annäherungsalarm, Sir.«

Dorsten warf einen kurzen Blick auf den Hauptbild­schirm.

»Nein, wirklich? Hier? Mitten in einem Asteroidenfeld? Umgeben von Millionen Brocken langweiligen Unsinns? Wer hätte das gedacht?«

Der Soldat schüttelte den Kopf.

»Wir verfolgen die Bewegung von über zehntausend Asteroiden in Echtzeit und berechnen synchron dazu ihre Flugbahnen. Das hier ist kein normales Driften. Es ist eine gerichtete Annäherung.«

»Von was?«

Der Soldat sah den Offizier ruhig an.

»Von einem Asteroiden«, entgegnete er.

»Ein Asteroid fliegt gezielt auf uns zu?«, fragte Dorsten.

Der Soldat warf einen kurzen Blick auf den Lieutenant und entgegnete geduldig: »Ja, Sir.«

»Aber das ist doch …«, begann der Commander, wurde jedoch von Steiner unterbrochen.

»Auf den Hauptbildschirm«, bellte sie.

Dieser zeigte einen Asteroiden, welcher sich in keiner Weise von den Millionen anderer Felsbrocken unterschied.

»Sieht für mich aus wie alle anderen«, verkündete Dorsten prompt. »Wie und warum sollte sich das Ding uns nähern wollen?«

»Er bewegt sich nicht nur«, erklärte Steiner ruhig, während sie ihre Analysen konsultierte, »er beschleunigt sogar.« Sie tippte hektisch auf ihrem Tablet herum und mehrere Graphen sprangen auf den Hauptbildschirm. »Auf diesem Asteroiden sind über zwei Dutzend Bergbau-Droiden aktiv. Das ist erstaunlich. Die Anzahl erscheint mir sehr hoch.«

»Was zur Hölle hat das mit …«, begann Dorsten.

»Es sieht so aus«, fuhr Steiner unbeeindruckt fort, »als hätten sich die Droiden an der Oberfläche verankert und nutzen nun ihre Schubdüsen, um die Flugbahn des Asteroiden zu beeinflussen.«

»Und damit wollen sie uns rammen?«, fragte der Captain laut. »Was für ein Unsinn! Das kann ja ewig dauern!«

Steiner nickte. »Zumindest lange genug, um uns die Gelegenheit zu geben, uns äußerst entspannt aus dem Zielbereich zu entfernen.«

Der Commander kniff die Augen zusammen.

»Ist das Teil des Manövers?«

»Kann es mir nicht vorstellen«, entgegnete Steiner langsam. »Die Armee hat, meines Wissens nach, noch nie zivile Objekte oder Maschinen von Drittfirmen in ihren Manövern für solche Zwecke benutzt. »Vielleicht handelt es sich um …«

Der Warnton unterbrach sie.

Der Soldat sah nicht einmal von seinem Bildschirm auf.

»Ein weiterer Asteroid beschleunigt in unsere Richtung«, verkündete er ruhig.

»Was zur Hölle?«, polterte Dorsten.

Wieder der Warnton.

»Drei weitere Asteroiden auf Kollisionskurs.« Der Soldat zögerte. »Nein acht«, korrigierte er sich, »Nein, … warten Sie, … zwölf … ähm … Anzahl steigend.«

Der Commander sah Steiner an.

»Sind wir im Krieg mit einem Bergbauunternehmen«, fragte er kühl, »und ich habe das Memo nicht bekommen?«

Steiner schüttelt den Kopf.

»Meine vorsichtige Arbeitsthese wäre, dass wir es hier mit dem Angriff eines äußerst kompetenten Hackers zu tun haben.«

»Ein Hacker der Armee«, fragte der Commander?

Steiner sah ihren Vorgesetzten an und lächelte. »Nein, niemals«, erklärte sie nachdrücklich. »Sorry, Sir, aber wir können so etwas nicht. Jeder einzelne dieser Bergbau-Droiden ist äußerst aufwändig gegen Übergriffe geschützt. Immerhin arbeitet er mehrere Millionen Kilometer von zu Hause entfernt und kostet ein Vermögen. Die Rohstofffirmen sind ja nicht dumm. Der Asteroidengürtel wird außerdem von mehreren unabhängigen Sicherheitsfirmen überwacht. Die haben sich heute lediglich zurückgezogen, weil wir hier sind.«

»Haben Angst vor uns, ha!«, tönte der Commander.

»Das«, entgegnete Steiner glatt, »oder sie wollen nicht zeigen, dass ihre Bewaffnung deutlich besser ist als unsere.«

Wieder der Warnton.

»Zwanzig Asteroiden«, kommentierte der Soldat emotionslos.

Der Commander fluchte erstickt und wandte sich dem Soldaten an der Steuerkonsole zu.

»Ausweichmanöver.«

»Die Asteroiden passen sich unseren Bewegungen an«, kommentierte der erste Soldat weiterhin ungerührt.

Steiner, die ihr Tablett fixierte, stöhnte leise. »Synchron mit unserem Positionswechsel nahmen zwei Dutzend weitere Asteroiden Kurs auf uns.« Sie starrte auf ihre Auswertungen. »Die anderen schneiden uns derweil den Rückweg ab.«

Der Commander lachte. »Das ist ja wohl bitte ein Scherz.« Er runzelte die Stirn und schien sich an etwas zu erinnern. »Was ist mit der Nachrichten-Boje?«

»Unberührt und scheinbar unbeachtet«, kommentierte der Soldat an der Überwachungs-Konsole.«

»Was machen unsere Schwesterschiffe?«

»Das gleiche wie wir«, antwortete Steiner, welche gerade durch die Kommunikationsprotokolle scrollte. »Hektisches Manövrieren in eine sichere Position, während immer mehr Asteroiden Kurs auf sie nehmen. Sie pfiff beeindruckt durch die Zähne. »Wer auch immer hier verantwortlich ist, koordiniert gerade den Einsatz hunderter Bergbau-Droiden auf mehreren Dutzend Asteroiden gleichzeitig.«

»Können wir sowas?«, fragte der Commander.

»Nicht mal theoretisch«, antwortet Steiner. »Vielleicht wenn die ganze Flotte hier wäre und uns jedes einzelne IT-Unternehmen der Erde dabei unterstützen würde. Aber ohne eine hochgerüstete Analyse-KI mit einer Quantenrechneranlage als Backup sehe ich keine Chance.«

Der Commander schüttelte ungläubig den Kopf.

»Na gut«, verkündete er schließlich. »Das ist alles sehr unterhaltsam, sollte aber dennoch kein großes Problem darstellen. Wir fliegen einfach weiter schnelle Ausweichmanöver. Es sollte ja wohl möglich sein, einem Haufen Steine auszuweichen.«

Ein weiterer Alarm ertönte.

»Was nun wieder?«, fragte Dorsten gepresst.

»Maschinenraum«, entgegnete der angesprochene Soldat kleinlaut. »Starker Leistungsabfall beim Fusionsantrieb.«

»Wie bitte?«, fragte der Commander gefährlich ruhig.

»Die diensthabende Belegschaft«, erklärte der Soldat stockend, »hat soeben den Maschinenraum verlassen.«

Ein weiterer Alarm ertönte. Der Soldat blickte auf den Bildschirm, seine Augen weiteten sich und er sah hilfesuchend zu Steiner auf.

»Ähm«, machte diese.

»Ähm, was, Lieutenant?«, bellte Dorsten.

Steiner tippte auf ihrem Tablet herum, wurde dabei immer langsamer und blickte schließlich zu ihrem Commander auf.

»Es hat den Anschein«, begann sie langsam, »als gäbe es einen kleinen, hm, Zwischenfall in der, ähm, Abwasserentsorgung. Genauer gesagt bei den, ähm, Toiletten.«

»Den … Toiletten?«, entgegnete der Mann tonlos.

»Wie es aussieht«, fuhr Steiner gedehnt fort, »laufen die Entsorgungspumpen der Abwasserleitung zurzeit, ähm, … rückwärts. Sie sah unglücklich auf ihr Tablet hinab, auf dem mehrere Meldungen rot blinkten. »Genauso wie die Umwälzpumpen der Klimaanlagen.« Sie scrollte durch die Meldungen. »Parallel dazu verzeichnen wir einen Ausfall der Gravitationsanlage auf dem gesamten Maschinendeck.« Steiner sah den Commander an. Sie war blass geworden. »Das führt dazu, dass die Klimaanlage gerade den Inhalt der Abwasseranlage auf das Maschinendeck verteilt.«

»Scheiße«, kommentierte Dorsten.

»Präzise«, entgegnete Steiner. »Die Mannschaft des Maschinenraums hat beschlossen, das Deck mehr oder weniger fluchtartig zu verlassen.« Sie räusperte sich. »Äh, ich habe hier eine Nachricht des diensthabenden Offiziers dort unten, welche im Wesentlichen besagt, dass er sich der Konsequenzen seiner Handlungen bewusst ist, es jedoch aus Prinzip vorzieht, lieber metaphorisch bis zum Hals in der Scheiße zu stecken als wortwörtlich.«

»Ingenieure sind praktisch denkende Menschen«, kommentierte der Commander.

Ein weiterer Alarm ertönte.

»Wie viele Asteroiden diesmal«, fragte Dorsten, ohne sich umzudrehen.

»Die Scanner haben Schwierigkeiten alle Bewegungen gleichzeitig zu erfassen«, entgegnete der Soldat mit einem deutlichen nervösen Unterton in seiner Stimme.

Der Commander seufzte und wandte sich an seinen Navigationsoffizier. »Okay, das reicht mir für heute. Bringen Sie uns hier raus.«

»Aber wir können das Manöver doch nicht einfach abbrechen!«, rief Steiner

»Lieutenant«, entgegnete der Commander kühl, »ich bin seit über vierzig Jahren Soldat, und so wie ich das sehe, habe ich die Wahl zwischen einem Anschiss für ein verpatztes Manöver oder den Kosten für einen schrottreifen Zerstörer. Ich jedenfalls riskiere meinen Ruhestand nicht für die unreifen Spiele eines Hackers. Offiziers-Pensionen sind weit weniger üppig, als man meint, ich würde dennoch ungerne darauf verzichten. Mit diesem Mist dürfen sich die Kollegen des militärischen Nachrichtendienstes herumschlagen. Gesetzt den Fall Sie finden jemanden, der den Vollidioten erklärt, was ein Hacker ist. Ich für meinen Teil komme wieder, wenn wir auf irgendetwas schießen können.« Er richtete sich auf und stand stramm. »Geben Sie mir meine Kollegen von den Schwesterschiffen auf den Hauptschirm. Senden Sie einen Gruß und erklären Sie, dass es Zeit für die folgende Exekutiventscheidung ist: Wer als letzter im Offiziers-Casino des Hauptquartiers ankommt, zahlt die erste Runde.«

 

In weniger als einer Minute waren alle drei Zerstörer im Subraum verschwunden.

 

Die Asteroiden beendeten umgehend ihre Verfolgungsjagd und kehrten nach und nach wieder in ihre Ausgangsposi­tion zurück. Die Rohstoff-Unternehmen auf der Erde würden nicht einmal bemerken, dass etwas passiert war. Die Überwachungsanlagen lieferten nach wie vor die gewohnten Bilder und meldeten keine besonderen Vorkommnisse. Keine der zur Erde gesendeten Video-Überwachungen zeigte irgendeine Auffälligkeit.

 

Nur ein einzelner kleiner Asteroid, unauffällig und nicht besonders groß, behielt seinen ungewöhnlichen Kurs bei.

Im Gegensatz zu den anderen Felsbrocken hatte er keinen einzigen Bergbau-Droiden auf seiner Oberfläche. Dieses kleine Detail war der Armee im Zuge der ganzen Hektik entgangen.

Kurze Zeit später trudelte er in kurzer Entfernung an der noch immer friedlich blinkende Nachrichten-Boje vorbei. Ein genauer Beobachter hätte auf einem hochauflösenden Überwachungsvideo vielleicht erkennen können, wie sich ein Schatten vom Asteroiden löste und auf die Nachrichten-Boje zu schwebte. Ein noch viel dichter am Geschehen positionierter Beobachter mit noch besserer Ausrüstung hätte sogar beobachten können, wie der Schatten seine Form änderte. Als er sich vom Asteroiden löste, schien er eher flach zu sein. Seine Umrisse verschwammen, flossen zu einer Kugelform zusammen und passierten mit geringem Abstand die Boje. Kurz darauf verschmolz der Schatten mit der Dunkelheit des Alls und löste sich auf, als hätte es ihn nie gegeben.

Anhang 05 <SPERRGEBIET>

 

Aufzeichnungen der Schiffs-KI an Bord der Aufklärungsfregatte ‚Heimweh der kleinen Eule‘ auf dem Rückweg vom Trainingseinsatz.

(1 Jahr vor Prozessbeginn)

 

 

Jane ließ langsam ihre reich verzierte Teetasse aus hauchdünnem Porzellan sinken und blickte ernst auf ihren Commander. Major Hien Otis lag ausgestreckt am Boden des viktorianischen Teesalons und lachte. Die Gouvernante bemühte sich, ihrer Stimme einen strengen Ton zu geben.

»Ich glaube nicht«, erklärte sie kühl, »dass Colonel Enders deine Heiterkeit teilen wird, Mimei. Das war vollkommen unprofessionell.«

Otis schien sie nicht gehört zu haben, denn sie lachte so sehr, dass sie sich die Tränen aus den Augen wischen musste.

Jane schnaufte genervt und nippte an ihrem Tee, um sich zu beruhigen. Ihr Blick blieb lächelnd an der Tasse hängen. Sie liebte dieses Service wegen seines eleganten Rosenmusters. Die Tassen mit den leicht abgerundeten Ecken und dem feinen Goldrand waren nach authentischen Vorlagen modelliert. Der Geruch nach künstlicher Bergamotte stieg ihr in die Nase. Sie könnte den Tee auch nach dem echten Öl riechen lassen, aber sie mochte das Künstliche lieber.

Ihr Blick fiel auf den Spiegel, der über der Anrichte hing, und sie kontrollierte kritisch ihr eigenes Erscheinungsbild. Die Brosche passte nicht zum Service. Jane kniff die Augen zusammen. Der Farbton des Schmuckstücks wechselte zu einem tiefen Blau und ihr hoher Kragen zu einem kräftigen Fliederton, der wie eine Welle auf ihrem Kleid nach unten lief. Die hochgesteckten Haare können so bleiben, urteilte sie. Selbst wenn es nur eine Simulation ist, Details sind wichtig.

Das anhaltende Lachen unterbrach ihre Gedanken.

»Wer hätte gedacht«, kommentierte Hien glucksend, »dass man Klimaanlage und Abwassersystem auf so effektive Weise miteinander koppeln kann? Besonders, wenn die Klimaanlage Teil der zentralen Lebenserhaltung und somit praktischerweise sehr nahe am Maschinenraum lokalisiert ist.« Sie kicherte glücklich. »Das«, verkündete sie und hob belehrend einen Finger, »ist eine Designschwäche, die sich erst offenbart, wenn die Gravitation ausfällt. Kommt davon, wenn man sein Schiff von kurzsichtigen Ingenieuren designen lässt, die niemals ihren Planeten verlassen haben.«

Jane seufzte, ließ sich vorsichtig auf der Couch nieder und blickte auf die junge Frau hinab, die theoretisch ihre kommandierende Offizierin darstellte.

Hien trug wie immer nur ein schlichtes weißes Kleid, welches ihren schmerzhaft mageren Körper verhüllte. Jane hatte sie immer wieder zu überzeugen versucht, sich einen besseren Avatar zuzulegen.

Man sollte meinen, dass Menschen innerhalb einer virtuellen Umgebung automatisch versuchen, das Beste aus ihrem Äußeren zu machen, wozu hat man denn sonst die unendlichen Möglichkeiten einer Simulation? Nun, das traf wohl nur auf normale Menschen zu.

Die Gouvernante sah auf die Offizierin hinab, die weiter lachend über den reich verzierten Perserteppich rollte.

Wenn sie in diesem Zustand ist, kann man sowieso nicht mit ihr reden.

Sie stellte ihre Teetasse vorsichtig auf dem Couchtisch ab, nahm die Stickerei auf und hielt sie unschlüssig in den Händen. Jane seufzte und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Nicht zum ersten Mal kam sie sich dumm vor.

So sollte das alles hier nicht laufen.

Sie ließ die Stickerei wieder auf den Schoß sinken und fragte sich, was in ihrer Pilotin vorging.

»Ich habe mir erlaubt den Rückweg zu programmieren, Mimei«, erklärte sie leise. »Wir werden jedoch Schwierigkeiten bekommen, deinen nächsten Termin wahrzunehmen. Warum hast du den Zeitpunkt unserer Rückkehr so früh angesetzt? Ich glaube, das schaffen wir nicht.« Ein virtueller Bildschirm entfaltete sich vor ihr, auf dem sich Flugpläne und Hochrechnungen drängten. Sie stupste das Fenster leicht mit einem Finger an, woraufhin es zu der Pilotin hin­überschwebte und über deren Kopf verharrte. »Nach meinen Berechnungen der Flugzeit werden wir in jedem Fall zu spät kommen«, erklärte Jane. »Der Weg zurück führt durch ein großes Sperrgebiet, wir werden es weiträumig umfliegen müssen. Das verlängert unsere Flugzeit um etwa zwei Stunden.«

Hien lag weiterhin, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Teppich und gluckste gelegentlich zufrieden vor sich hin.

»Ach Unsinn«, rief sie und wischte den Bildschirm mit einer unwirschen Bewegung einfach aus der Luft, ohne auch nur hinzusehen. »Wir fliegen einfach den direkten Weg.«

»Hast du denn eine Freigabe für diesen Bereich bekommen?«, fragte Jane skeptisch. »Und wenn ja, müsste ich das nicht eigentlich wissen?«

»Vielleicht. Weiß nicht, keine Ahnung. Ist auch egal. Ich ignoriere die Codes sowieso, wenn ich sie bekomme.«

»Was soll das heißen, du ignorierst sie? Wie kommen wir denn an unsere Freigaben? Zum Beispiel um am heutigen Training teilnehmen zu dürfen?«

»Sie finden sich meist in den Systemen der Schiffe, die uns nach dem Code fragen.«

Jane schloss die Augen.

»Du hackst deine eigenen Leute?«, fragte sie schwach.

»Ist viel sportlicher, als einfach einen Code benutzen, den man offiziell bekommen hat.« Hien bemerkte den Blick der Gouvernante und hob entschuldigend die Hände. »Hey, ich bin ein Aufklärungsschiff, oder nicht? Ich habe getan, was von mir verlangt wurde, ich habe aufgeklärt.«

»Ja, aber ich glaube die grundsätzliche Idee ist, dass du nicht deine eigenen Leute aufklärst!«

»Das haben sie aber nicht spezifiziert. Mir wurde gesagt, ich solle alle Informationen sammeln und berichten. Das habe ich getan. Was ich also berichten könnte, ist, dass die Datenschutzqualität an Bord unserer eigenen Schiffe nicht sonderlich hoch ist.«

»Stand das so in deinem Report?«

»Natürlich nicht! Die Anweisung ist, alle Daten zu übermitteln, nicht ihnen meine Erkenntnisse mitzuteilen.«

»Bist du sicher, dass du für uns arbeitest?«

»Ich arbeite für mich, soviel ist sicher.«

Jane setzte an, etwas zu sagen, doch mehrere Navigationsdisplays und taktische Bildschirme klappten vor ihr auf und alle Anzeigen wurden von Rot blinkenden Warnungen geflutet.

»Wir können doch nicht einfach in militärisches Sperrgebiet eindringen!«, rief die Gouvernante. »Du wirst uns beide noch vor ein Kriegsgericht bringen.«

»Halte ich für sehr unwahrscheinlich. Wozu bin ich das beste Aufklärungsschiff der Flotte?«

»Ich glaube der Sinn ist nicht, dass du bei deinen eigenen Leuten einbrichst!«

»Nicht? Das hätten sie mal in einem der Briefings erwähnen sollen.«

»Die Armee geht wahrscheinlich davon aus, dass es dir ernst war, als du deine Treue gegenüber dem Rat der vereinten Planenten geschworen hast.«

»Daran kann ich mich nicht erinnern.«

Jane verstummte und beobachtete unfreiwillig fasziniert auf ihren Bildschirmen, wie Hien in wildem Zickzack zwischen den bewaffneten autonomen Wachsatelliten umherflog, die zu hunderten an der Grenze des Sperrgebietes den Übergang kontrollierten. Die Beschleunigungskräfte, welche auf das Schiff wirkten, waren absurd hoch. Kein menschlicher Pilot könnte angesichts dieser Fliehkräfte lange genug bei Bewusstsein bleiben, um das erste Ausweichen zu erleben. Und Hien beschleunigte immer noch. Die schnellen Scan-Strahlen der Wachstationen schwangen durch den Raum wie Suchscheinwerfer. Niemand konnte unter diesen Bedingungen in Realzeit einen Kurs durch ein solches Gebiet berechnen, nicht einmal mit der Unterstützung einer Schiffs-KI wie Jane. Es gelang ihr kaum, Hiens Manövern zu folgen, geschweige denn zu verstehen, woher diese wusste, wie sich die scheinbar zufällig ablaufenden Scans der Grenzposten verhalten würden. Die Augen der Gouvernante ruhten auf ihrer Pilotin, die nach wie vor leise vor sich hin kichernd vor ihr auf dem Boden lag.

Es ist manchmal schrecklich frustrierend. Immerhin bin ich, technisch gesehen, die taktische Intelligenz des Raumschiffs und genau dafür geschaffen, meine Pilotin bei den Kursplanungen und komplizierten Steuermanövern zu unterstützen. Doch dann kam Hien Otis, und nun sitze ich in einem viktorianischen Tee-Salon und verbrauche volle dreißig Prozent meiner Prozessorzeit nur dafür, der verdammten Flugbahn des Schiffes überhaupt folgen zu können.

Jane hatte nicht einmal einen passenden Vergleich dafür, was ihre Pilotin veranstaltete. Sie hatte mal in einem vergessenen Archiv ein Naturvideo von der alten Erde gefunden. Es handelte von Vögeln. Diese seltsamen Wesen, sie hatten Schwalben geheißen, hatten scheinbar die höchste Fluggeschwindigkeit aller lebenden Wesen erreicht und nutzten sie dazu, mit halsbrecherischen Manövern zwischen Bäumen und Häusern Insekten aus der Luft zu fangen. Sie flogen so schnell, dass man den Wendemanövern kaum mit den Augen folgen konnte. Dennoch strahlten die Tiere immer eine Aura müheloser Freude und Leichtigkeit aus.

Daran fühlte sich Jane erinnert, als das Schiff zwischen den autonomen Wachposten des militärischen Sperrgebietes dahinschoss und immer wieder mühelos kleinen Asteroiden auswich, als wäre es auf der Jagd. Schwalben konnten angeblich auch im Flug schlafen, aber das konnte Jane nun doch nicht glauben. Andererseits hatten Hien gerade die Augen geschlossen und sah sehr entspannt aus, während sie am Boden liegend leise vor sich hin summte.

Auf der Jagd, bei Nacht, in einem Sturm. Rückwärts fliegend.

Hien kicherte wieder. Die Gouvernante vermutete schon seit einer Weile, dass die Pilotin irgendwie gelernt hatte, ihre Aufmerksamkeit zu fragmentieren. Ein Teil von ihr lenkte das Schiff, während ein anderer Teil von ihr im Salon auf dem Teppich lag und kicherte. Wieder etwas, was laut aller Lehrmeinungen vollkommen unmöglich war. Entsprechende Versuche hatten nie zu etwas anderem als Wahnsinn bei den Versuchspersonen geführt.

Es zirpte sehr leise und ein blinkendes Display entfaltete sich vor Jane. Ihre Augen zogen sich zusammen, während sie den Strom aus Informationen studierte, der vor ihr über das virtuelle Display glitt und nach und nach Daten aus den Tiefen diverser verschachtelter Verschlüsselungsroutinen hervorfischte.

»Da kommt ein Video-Call rein«, erklärte sie langsam. »Auf einer sehr seltsamen Frequenz.«

Hien öffnete die Augen und hob träge einen Finger, tupfte damit über sich in die Luft und rief so ein eigenes Display auf.

»Oh«, rief sie erfreut, »das ist Mami!«

»Das ist wer?«, rief die Gouvernante entsetzt.

»Meine Mutter«, entgegnete Hien und winkte ungeduldig das Display fort. Sie kämpfte sich vom Boden hoch und setzte sich auf die Knie, während sie sinnloserweise ihr Kleid glattstrich. Ein großes Display entfaltete sich vor ihr, groß genug für ein Video in Lebensgröße.

»Hien, das ist eine Militärfrequenz und wir sind noch immer im Einsatz und ganz nebenbei in einem Sperrgebiet!«

»Ja, aber Mami hat nicht viel Zeit, denn sie hat doch gleich Physiotherapie wegen ihrem Knie.« Jane legte die Hand über die Augen. »Wir werden noch alle im Gefängnis enden«, hauchte sie verzweifelt.

Ein Teil von ihr beobachtete fasziniert, wie Hien das Schiff mehrere enge Loopings um einen Asteroiden drehen ließ, dabei den Scanstrahlen von zwei Überwachungsstationen gleichzeitig auswich, nur um danach rückwärts fliegend auf der Hülle einer Wachstation entgegenzurasen. Jane hielt den Atem an, als Bewegung in die innere Struktur des Schiffes kam, Aufbauten und Tarnplatten sich ineinander verschoben und die ganze Fregatte für einen Moment abflachten, damit das Schiff in einem Abstand von zwanzig Zentimetern an dem Wachposten vorbeifliegen konnte.

Jane atmete langsam aus.

Ihr war klar, dass dieses Verhalten für eine künstliche Intelligenz keinen Sinn machte. Früher hatte ihre Simulation nie geatmet, aber an Bord mit Major Hien Otis gewöhnte man sich viel Ungewöhnliches an.

In der gleichen Sekunde rief die Pilotin: »Hallo, Mami!«

Das Bild einer älteren Asiatin mit besorgten Augen und perfekt gelegten Haaren erschien im Display. Sie saß auf einem einfachen Stuhl, hielt sich sehr gerade und trug jene Art schlichten Kostüms, die wenig aufdringlich und immer zeitlos elegant wirken. Eine Mode, die nur von einer kleinen Schicht getragen werden konnte, hauptsächlich, weil man diese Schlichtheit mit einem kleinen Vermögen bezahlte.

Jane hatte gerade noch genug Prozessorzeit, um ein wichtiges Detail zu registrieren.

»Haare!«, rief sie leise in den Salon.

Hien zuckte zusammen und legte kurz die Hand auf ihren kahlen Kopf.

»Lā shǐ«, zischte sie leise und schnipste mit den Fingern. Ihr Avatar flackerte kurz und trug nun schulterlange Haare über einer perfekt sitzenden Ausgehuniform der Marine.

Jane musste lächeln, denn Hien hatte auch irgendwo zehn zusätzliche Kilo Körpergewicht gefunden. Jetzt sah die junge Frau aus, als wäre sie aus einem Werbeposter der Armee gefallen.

»Hien?«, rief die würdevolle Dame. »Kannst du mich sehen? Das Bild flackerte stark. Hier ist deine Mutter!«

Die Betonung lag auf dem letzten Wort und die Gouvernante verzog leicht das Gesicht. Es klang wie eine Kriegserklärung.

Hien sah noch einmal kritisch an sich hinunter, zupfte ihre Uniform zurecht und warf einen fragenden Blick zu Jane, die kurz nickte.

Die Gouvernante investierte ein paar Prozent ihrer Prozessorzeit darauf herauszufinden, woher das verschlüsselte Gespräch mit der Mutter eigentlich kam. Hien schien den verschlüsselten Datenstrom durch die Kommunikationsarrays der Wachdrohnen zu schleusen. Das bedeutete, dass sie nicht nur den Kurs und alle Ausweichmanöver in Echtzeit berechnete, sondern auch die Unterhaltung mit ihrer Mutter führte, eine komplett eigene Simulation dafür erzeugte und den hierfür nötigen Datenstrom unerkannt durch ein verschlüsseltes Netzwerk leitete, was nur möglich war, wenn sie es simultan hackte.

Jane ließ sich gegen die Sofalehne sinken und schloss die Augen. Wenn sie selbst auch nur noch fünf weitere Prozent ihrer Kapazität darauf verwandte zu verstehen, wie unmöglich das alles war, würde ihr simulierter Tee verschwinden.

»Hier bin ich, Mami!«, rief Hien, lächelte strahlend und winkte ihrer Mutter überschwänglich zu.

Jane stöhnte innerlich.

Sie trägt immer ein klein wenig zu dick auf.

Hien legte den Kopf schief, lächelte gewinnend und strahlte dabei so viel Anstand und Anmut aus, dass Jane absolut sicher war, eine von Hiens künstlichen Gestik-Routinen zu sehen.

Welche sie von einem der unter Jugendlichen so beliebten Avatar-Foren gestohlen hat.

Dort tauschten begeisterte Jugendliche die neusten Simulations-Routinen für soziale Medien, die am effektivsten die Emotionen von Zuschauern manipulieren konnten. Man erkannte sie immer daran, dass es aussah wie in einem schlechten Anime.

Jane lächelte traurig.

Niemand infiltriert Feindgebiete besser als Major Hien Otis.

Selbst wenn es die eigene Familie ist.

Anhang 06 <TRÄUME>

 

Logbuch von Commander Hien Otis an Bord der Aufklärungsfregatte ‚Heimweh der kleinen Eule‘.

(1 Jahr vor Prozessbeginn)

 

 

[…]

ein tanzender stern,

kleines glühwürmchen im nichts -

passt gut auf sich auf;

[…]

 

Privates Logbuch des Commanders. Sternzeit: Keine Ahnung. Was wäre mein Leben ohne Training und realitätsnahe Einsatzpraxis? Man lernt erstaunliche Dinge. Das Militär verwendet Milliarden darauf, jedes Jahr noch mächtigere Waffen zu entwickeln, aber das Design der Toiletten ist seit hundert Jahren gleich und die Zugangscodes zur Lebenserhaltung wurden seit Verlassen der Werft nicht mehr geändert.

Der Rückflug erwies sich als nur wenig interessanter. Aber Mami hatte Zeit mit mir zu sprechen! Es geht ihr gut und sie ist stolz auf ihre kleine Soldatin, die sehr brav ist und nur langweilige und sehr gut gesicherte Versorgungskonvois fliegt.

Anschließend, während der Ruheperiode, habe ich, glaube ich, wieder geträumt. Ich wusste, dass Schlaf keine gute Idee war, aber Jane hat darauf bestanden. Ich merke es nie, wenn es passiert, ich erkenne die Träume immer erst hinterher daran, dass sie keinen logischen Bezug zu den anderen Messdaten haben. Es ist mir noch immer nicht gelungen herauszufinden, wie lange die Träume in realer Zeit dauern. Alle meine Messungen deuten darauf hin, dass Träume generell keinerlei zeitliche Dimension haben. Das ergibt natürlich keinen Sinn. Vielleicht hätte ich nicht so viel meiner Bewusstseinsmatrix mit den Quantenrechnern verschränken sollen. Die Entwickler hätten mich garantiert davor gewarnt, wenn sie auf die Idee gekommen wären, dass jemand auf die Idee kommen könnte, genau das zu tun. Egal. Der Traum kam wieder. Und das Licht auch. Ewig ist da das Licht. Wenn Menschen von der gleißenden Sonne geblendet werden, schließen sie die Augen.

Wie bitte soll ich das anstellen? Zwanzig Sinnesmodalitäten auf einer Sensorfläche von mehreren Fußballfeldern, verbunden mit einer Quantenrechneranlage, die zehn Petabyte die Sekunde stemmt, ohne dabei warm zu werden?

Was, wenn die Hälfte davon Angst ist?

Wie prozessiert man sowas? Ich finde keinen Algorithmus dafür.

Auf unserem letzten Heimflug habe ich mich einfach im Schweif eines Kometen versteckt, als es zu hell wurde.

Das Geräusch beruhigt mich. Es klingt wie Regen auf dem Dach, wenn pro Sekunde zehntausende von Staubpartikeln auf meine Hülle einprasseln. Ich muss dazu nur alle Schutzschirme und Kraftfelder runterfahren und das Gemaule von Jane ignorieren, weil ich wieder alle Sicherheitsprotokolle überschreibe.

Aber dann kann ich dem Kometen folgen und den Regen genießen. Außerdem bin ich durch die massiven Interferenzen des Partikelstroms im Schweif vollkommen unsichtbar. Niemand kann mich finden. Ich konnte sogar den Kometen hören, wie er auf seiner Reise um die Sonne leise vor sich hin brummte. Ich glaube, er ist glücklich mit seinem Leben.

Möglicherweise habe ich diesen Teil doch geträumt.

Anhang 07 <RÜCKKEHR>

 

Aufzeichnungen der Schiffs-KI an Bord der Aufklärungs­fregatte ‚Heimweh der kleinen Eule‘ auf dem Rückweg vom Trainingseinsatz.

(1 Jahr vor Prozessbeginn)

 

 

Jane trank von ihrem heißen Tee, dessen aromatischer Dampf von der Tasse in ihr Gesicht aufstieg und es vortrefflich wärmte. Hien saß neben ihr auf der Couch und starrte ins Leere, die volle Tasse unberührt vor sich auf dem Tisch. Die Gouvernante fragte sich nicht zum ersten Mal, wieviel von ihrer Pilotin in diesen Momenten tatsächlich anwesend war, oder ob die zarte Gestalt nur als Platzhalter diente, um eine besorgte künstliche Intelligenz zu beruhigen.

»Mimei?«, fragte sie sanft.

»Hm?«, machte die Angesprochene, ohne sie anzusehen.

»Ich freue mich, dass es deiner Mutter gut geht.«

Hien schnaufte nur leise.

»Das«, fügte Jane vorsichtig hinzu, »war ein sehr interessantes Gespräch zwischen dir und deiner Mutter.«

Sie hatte nicht das geringste schlechte Gewissen, den beiden zugehört zu haben. Informationen aufzuzeichnen und zu analysieren gehörte immerhin zu ihren Aufgaben.

Hien schwieg.

»Sie glaubt«, tastete sich Jane behutsam vor, »du fliegst militärische Frachtschiffe zu den äußeren Kolonien?«

Hien schwieg noch einen Moment, bevor sie antwortete, ohne Jane anzusehen.

»Es beruhigt sie«, erklärte sie in neutralem Ton, »und es entspricht ihrer Vorstellung von dem, was ich ihrer Meinung nach zu leisten in der Lage sein sollte.«

»Aber du belügst deine eigene Mutter.«

»Streng genommen belügt sie sich selbst, ich helfe ihr nur dabei, damit sie in der Lage ist, in einer Welt zu leben, die sie glaubt kontrollieren zu können. Sie hat schon genug Sorgen.«

Jane dachte darüber nach.

»Welche Sorgen hat sie? Dass eure Villa nicht genug Dienstmädchen beschäftigt?«

Hien lächelte dünn.

»Sie hat die Villa seit dem letzten Ausbruch der Pandemie nicht mehr verlassen.«

Jane runzelte die Stirn und rief die entsprechenden Daten aus dem Netz ab. »Das ist jetzt über drei Jahre her.«

Hien nickte. »Sie ist vollkommen verängstigt. Jetzt hat sie auch noch irgendwo im Netz eine Verschwörungstheorie gelesen, welche sagt, dass man heutzutage Piloten in Tanks voller Schleim wirft, mit dicken Schläuchen, die aus dem Körper kommen, und sie damit permanent an furchtbare Maschinen kettet, sodass sie nie wieder herauskommen. Jetzt macht sie sich Sorgen um mich.«

Jane kniff die Augen zusammen und überlegte. Es ließ sich manchmal nur schwer erfassen, wann Hien Ironie benutzte und wann nicht.

»Sie hat dich lange nicht mehr gesehen, nicht wahr?«

Hien seufzte leise.

»Meine Mutter hat zwar einen Amerikaner geheiratet, ist aber trotzdem sehr, hm, traditionell in ihren Ansichten. Aussehen und Ansehen sind von höchster Bedeutung.«

Hien strich sich über den kahlen Kopf und lächelte schief.

»Sie glaubt auch, ich hätte einen Freund.«

Jane sah sie ruhig an.

»Hat sie dich nie gefragt, wie du heute wirklich aussiehst«, fragte die Gouvernante leise. »Willst du deiner Mutter denn nicht die Wahrheit zeigen?«

Hien schwieg einen Moment und antwortete schließlich leise: »Die Wahrheit würde sie umbringen.«

»Weiß dein Vater Bescheid?«

»Vater? Unter Garantie. Er würde es jedoch niemals zugeben oder sich anmerken lassen.«

»Warum?«

»Weil es ihn zu Tode ängstigt.«

Hien schwieg und sah neugierig auf ihre Tasse hinab, als hätte sie noch nie zuvor Tee gesehen.

Jane hob den Blick und sah zum Spiegel über der Anrichte auf. Dieser hatte gerade das Bild gewechselt und zeigte nun ihren Anflug auf die Mondbasis.

Das Schiff hatte seinen Sinkflug zur Oberfläche einige hundert Kilometer entfernt von den regulären Einflugschneisen und von einer Gebirgskette verdeckt beendet und flog nun sehr dicht über der Mondoberfläche seinem Ziel entgegen.

Wir hätten natürlich auch einen direkten Anflug wählen können, dachte Jane, doch für Major Hien Otis endet Aufklärung nicht mit dem Ende der Mission. Verdecktes Arbeiten ist vollständig in ihre Natur übergegangen. Beziehungsweise, korrigierte sie sich, immer schon ihre Natur gewesen. Das Schiff erlaubt ihr nur es auszuleben.

Gelegentlich wechselte das Bild und man sah die Oberfläche durch die wachsamen Augen der Überwachungssatelliten oder einer autonomen Drohne, welche sich im gleichen Gebiet aufhielt wie sie selbst. Auf keinem der Bilder war das Schiff zu sehen. Die graue, gleichförmig staubige Mondoberfläche glitt einförmig unter ihren Augen dahin.

Hien schien dies nicht einmal zu bemerken, denn sie starrte nach wie vor regungslos in ihre Tasse. Jane wusste, dass dies nichts zu bedeuten hatte. Niemand konnte sagen, wo die Gedanken der Pilotin tatsächlich verweilten. Sie hatte diese Simulation vielleicht schon wieder vergessen. Möglicherweise versteckte sie sich in einem der Satelliten, hackte eine Videoüberwachung und löschte in Echtzeit ihre Anwesenheit. Selbst wenn das Schiff auf einem Videobild auftauchen sollte, würden die optischen Tarnplatten nur den grauen Sand zeigen, welchen sie gerade überflogen. Jane sah Hien an. Vielleicht träumte die Pilotin auch nur.

Während Hiens unbeachteter Tee kalt wurde, änderte sich eine Landschaft. Lange Reihen roter Warnbojen wiesen blinkend auf eine Grenze hin. Gebäude kamen in Sicht. Kuppeln, Würfel und Zylinder aus schwarzem Stahl, als hätte ein kleines Kind seine Bauklötze über den grauen Sand der Mondoberfläche geschüttet. Breite Sperrstreifen, die von autonomen Fahrzeugen auf dicken Ballonreifen patrouilliert wurden. Schlaflose Wächter mit kalten Kamera-Augen, die niemals müde wurden.

Jane nippte abwesend an ihrem Tee, während sie die Konstellation der Gebäude aus dem Videobild in ein virtuelles Schema übertrug und eine Strukturanalyse darüberlaufen ließ. Sie legte den Kopf schief.

»Eine Fabrik? Die ist neu, nicht wahr? Ich finde sie auf keiner Karte.« Sie starrte einen Moment ins Leere, während sie zusätzliche Informationen aus den Datenbanken des Militärs abrief. »Auch nicht in unseren hochklassifizierten Briefings? Ich dachte, wir hätten mittlerweile alle nötigen Freigaben.«

»Geheimes militärisches Forschungsprojekt«, kommentierte Hien, ohne von ihrer Tasse aufzusehen. »Dafür haben sie extra eine ganz neue Geheimhaltungsstufe erfunden. Die Trottel versuchen immer noch, Schlachtschiffe mit halb-integrierten Piloten auszustatten. Die Idee ist, eine temporäre Steuerung zu ermöglichen, also mit Piloten, welche den Tank nach dem Dienst wieder verlassen können. Es wird ihnen nicht gelingen. Zurzeit produzieren sie hauptsächlich wahnsinnige Soldaten, die für den Rest ihres Lebens sediert werden müssen, weil sie einmal zu oft ihren Körper nicht mehr gefunden haben.«

»Woher weißt du das alles?«

»Ich lese gerade den Mailverkehr der Wissenschaftler im Forschungstrakt der Fabrik.«

»Ist der nicht verschlüsselt?«

»Natürlich, aber die Zugänge liegen in den Rechnern der IT-Abteilung.«

»Sind die nicht ebenfalls verschlüsselt?«

»Sicher, aber der neue Praktikant kann sich den Zugang nicht merken und hat die Codes in sein Tagebuch kopiert. Direkt neben einigen leicht perversen Fantasien über seine Freundin. Er schreibt gerne im Nachtdienst, während er direkt unter einer Überwachungskamera sitzt.«

»Das ist ja furchtbar«, stöhnte Jane.

»Das sehe ich auch so. Ich habe ihr gerade einen Auszug des Tagebuchs geschickt. Ich finde, sie sollte das wissen.«

»Wer? Was?«

»Die Freundin.«

Jane setzte zu einer Erwiderung an, doch Hien sah auf und seufzte.

»Wir sind da. Ich suche uns mal einen Parkplatz.«

Das Bild wechselte.

Sie flogen entlang der Innenseite eines gewaltigen Kraters. Ohne Referenzpunkt war die Größe schwer zu schätzen, doch Janes Blick auf die Messdaten zeigte, dass der höchste Berg der Erde neben dieser Felswand aussehen würde wie ein Maulwurfshügel.

Das Schiff bewegte sich dicht an dem steil aufragenden grauen Gestein entlang. Jane vermutete, dass Hien die Interferenzen der Felswand nutzte, um die Ortung des Schiffs zusätzlich zu erschweren.

Sie versteckt sich vor jedem, auch vor den Leuten, die auf ihrer Seite sind. Sie traut niemandem.

Weit draußen, etliche Kilometer entlang des geschwungenen Kraterrands kamen die Lichter der Mondbasis in Sicht.

Das Bild im Rahmen des Spiegels wechselte nun schneller und zeigte Variationen von Laserscans und Radaraufnahmen der Umgebung sowie Satellitenaufnahmen und Überwachungsbilder patrouillierender Drohnen. Jane versuchte sich zu orientieren. Die Langstreckenüberwachung offenbarte regen Schiffsverkehr im An- und Abflug auf die größte Militärbasis der Menschheit außerhalb der Erde. Dutzende Frachter starteten oder landeten pausenlos auf ihrem Weg zur Erde oder den äußeren Kolonien im Asteroidengürtel und am Jupiter.

Die Mondbasis selbst lag unter der Oberfläche und öffnete sich am Hang der Kraterwand. Zurzeit gab es dort nichts zu sehen, denn tiefe Dunkelheit lag über der Oberfläche. Die Sonne stand auf der Rückseite des Mondes. Es war also Neumond auf der Erde.

Einflugöffnungen, von blinkenden Lichtern umgeben, zeigten sich und umrahmten den blauen Schimmer der Kraftfelder. Zahllose, hell erleuchtete Fenster, welche auf den Kraterboden hinausblickten. Der beständige Verkehr von ankommenden und abfliegenden Schiffen zeichnete helle Schweife der Impulsantriebe an den schwarzen Himmel, wie Schwärme von geschäftigen Kometen in der Nacht.

Das Schiff wurde langsamer, schwebte noch näher an die Kraterwand heran, und sank schließlich durch eine Öffnung im Felsen langsam in eine dunkle Höhle.

»Hier ist es doch nett«, kommentierte Hien. »Ein paar hundert Meter tief in der Felsschicht und wir haben tatsächlich unsere Ruhe.«

»Eine Höhle?«, fragte Jane überrascht. »Wie kann es auf dem Mond ein Höhlensystem geben? Dazu braucht es Wasser, oder tektonische Aktivität. Beides ist auf dieser Staubkugel vollkommen unbekannt.«

»Das ist korrekt, aber was nicht unbekannt ist, sind Sprengungen, um die Mondbasis zu bauen. Da hast du dann deine tektonische Aktivität.«

Jane sah Hien forschend an.

»Haben die uns wieder nicht erlaubt, draußen im All zu bleiben?«

Hien lachte abfällig.

»Wir hätten das Debriefing auch locker aus dem Asteroidengürtel heraus führen können. Aber nein, die Vorschriften der Armee sind ebenso traditionell wie veraltet und sinnlos.«

»Besonders für eine raumfahrende Rasse, die sich bereits über mehrere Sternsysteme ausgebreitet hat.«

»Nach Abschluss einer Mission«, zitierte Hien, »erfolgt ein ausführliches Debriefing. In Person. Beziehungsweise nicht in Person. Schließich ist es ja nicht so, dass einer von uns beiden das Schiff verlassen könnte.«

»Darüber hinaus«, ergänzte Jane, »hat das Oberkommando selbst wahrscheinlich kein großes Interesse daran, dass das neuste, geheimste und nebenbei mit weitem Abstand teuerste Raumschiff der Menschheit offen in einem Hangar des größten Raumhafens der Menschheit liegt. Sich in einer Höhle nebenan zu verstecken, ist also eine Art Kompromiss.«

»Genau«, bestätigte Hien. »In klassischer Militärlogik. Ich verstecke mich in einer Höhle, wo mich niemand finden kann, vorausgesetzt ich erkläre meinen Vorgesetzten, wo sie mich finden können.«

»Und? Tust du das?

Hien schnaufte nur.

Die Fregatte sank wie ein schwarzer Teertropfen lautlos durch das zerklüftete Mondgestein. Schroffe Felsen umgaben sie auf allen Seiten. Das Schiff änderte seine Form, flachte sich ab und schob sich wie ein Keil in einen breiten Spalt der Felswand. Die Oberfläche des Schiffs flackerte, während die äußeren Platten der Hülle ihre Oberfläche anpassten. Kurz darauf zeigte sich nur noch eine glatte Felsfläche. Nicht dass es in einer stockdunklen Höhle irgendeinen Unterschied gemacht hätte. Ein einzelner Laser zielte auf eine Aufklärungsdrohne, die im Orbit hoch über der Mondbasis hing und ihre Daten an die Basis sandte. Jane kniff die Augen zusammen.

»Wo kommt denn diese Drohne her? Mimei, sag nicht, dass du die Drohne ebenfalls gekapert hast?«

»Geliehen«, korrigierte Hien. »Sie soll Auffälligkeiten im Luftraum der Basis suchen. Das tut sie ja wohl auch. Niemand hat gesagt, dass sie sich hinterher auch daran erinnern muss. Ich brauche sie höchstens für dreißig Minuten. Entspann dich.«

Jane verfolgte die Flut der einlaufenden Nachrichten und stellte die Teetasse vorsichtig auf den Teller.

»Enders’ Adjutant meldet, dass der Colonel bereit ist für dein Debriefing.«

»Na dann mal los«, verkündete Hien und die Umgebung wechselte.

Jane und Hien standen übergangslos im virtuellen Büro ihres direkten Vorgesetzten.

 

Der ältere Soldat in Uniform saß an seinem Schreibtisch, blätterte in seinen Unterlagen und sah nicht einmal zu den beiden Frauen auf. Sein Gesicht war hager und wirkte grau und müde.

Hinter ihm an der Wand zeigte sich das Wappen der Armee, flankiert von den großen Flaggen der Erdföderation links und den vereinten Planeten rechts.

»Nehmen Sie Platz, Otis«, erklärte er abwesend.

Die Angesprochene ließ sich auf den einzigen Stuhl fallen, der vor dem Schreibtisch stand und begann sich im Raum umzusehen, als hätte sie noch nie zuvor ein Büro gesehen. Jane bezog derweil einen halben Schritt hinter ihrer Pilotin Aufstellung. Sie durfte es sich nicht anmerken lassen, aber es ärgerte sie immer noch, dass KIs unterhalb der sechsten Generation in Militär-Briefings keinen Anspruch auf einen Sitzplatz hatten.

Schließlich sah der Colonel die beiden Frauen über den Rand seiner Brille hinweg aus müden Augen an. Die Gouvernante knickste und sah zu Boden. Hien winkte kurz und lächelte. Der Mann seufzte.

»Soldat«, verkündete er müde. »Sie sind nicht in Uniform.«

Jane stöhnte leise.

»Oh«, rief Hien, sah verblüfft an ihrem weißen Kleid herab. Ihr Avatar flackerte kurz und zeigte wieder das Bild, das auch ihre Mutter gesehen hatte.

Allerdings, registrierte Jane erleichtert, ohne das zusätzliche Körpergewicht und die affektierten Gesten.

»Warum«, fragte der Offizier, »sollte ich sie nicht unter Arrest nehmen und sofort degradieren, Otis?«

»Sie meinen, weil ich eine fatale Designschwäche ihrer Schlachtschiffe aufgedeckt habe, Colonel? Gern geschehen.«

»Sie wären verblüfft, wie persönlich es die kommandierenden Offiziere eines Zerstörers nehmen, wenn man ihr Schlachtschiff mit Abwasser flutet. Der einzige Grund, warum niemand Ihren Kopf fordert, Otis, ist, dass niemand weiß, wer Sie sind.« Er seufzte erneut und sah erschöpft zu der jungen Frau hinüber. »Warum werde ich Sie also wie immer nicht aus der Armee werfen?«

»Weil ich die Spitzenzeit dieser Übung um mehrere Stunden unterboten habe und meine Gegenspieler nicht einmal wissen, dass ich da war?«

Der Colonel nickte abwesend.

»Sie haben außerdem Commander Josef Dorsten, mit dem ich zusammen auf der Akademie war, zum Gespött aller Offiziere des Casinos gemacht. Seien Sie froh, dass Sie nicht existieren, Otis, denn mir würde sonst nichts anderes übrigbleiben, als Sie zu belobigen.« Er blätterte einige Zeit versonnen in den Unterlagen vor sich. »Gut, dass es dieses Manöver nie gegeben hat.« Er schwieg einen Moment. »Die Kollegen der Entwicklung haben mich wissen lassen, dass es ein weiteres Updateset für die Scanmodule gibt, welches sie gerne getestet hätten. Schauen Sie bitte im Forschungsbereich vorbei und kommen dann in fünfzehn Minuten wieder. General Schwarz hat ein Briefing für ihren nächsten Einsatz angekündigt.«

»Sehr wohl, Sir«, rief Hien und verschwand. Eine Sekunde später tauchte sie wieder auf, holte das Salutieren nach, und verschwand erneut. Jane legte eine Hand über die Augen und stöhnte leise.

Anhang 08 <INTERVIEW>

 

Interview des Psychologen Dr. James Peterson mit dem Ehepaar Otis. Aus den Aufzeichnungen der zentralen Überwachung von Fort Burning Sands (Erde).

(5 Jahre vor Prozessbeginn)

 

 

»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch nehmen«, erklärte der Psychologe und deutete auf die beiden freien Stühle vor seinem Schreibtisch. Während sich das Ehepaar vorsichtig auf den Plätzen niederließ, blätterte Peterson geschäftig in seinen Unterlagen. »Im Zuge der Ausbildung Ihrer Tochter an der Militärakademie ist es für uns nützlich, wenn wir den sozialen Hintergrund unserer Kadetten besser verstehen. Das betrifft insbesondere ihre Jugend und ihre Familienverhältnisse. Diese Einblicke ermöglichen uns Erkenntnisse, auf deren Basis wir weitere Karriereschritte besser empfehlen können. Sie verstehen sicher, dass dazu ein Treffen mit den Eltern des betreffenden Rekruten von großem Wert sein kann. Es handelt sich dabei um ein reines Routinegespräch.« Er sah auf und begegnete dem forschenden Blick von Jack Otis, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte.

Millionär, Selfmademan, urteilte der Psychologe. Maßanzug. Rolex kostet mehr als mein Jahresgehalt. Graumeliertes Haar, Designerbrille. Kein Gramm Fett. Hoher Grad an Ich-Stärke. Eitel, aber nicht dumm. Auf keinen Fall unterschätzen.

»Sind Sie sicher?«, fragte Otis freundlich. »Ich habe letztes Wochenende noch mit General Schwarz Golf gespielt und der konnte sich nicht erinnern, jemals von dieser Art Hintergrundgesprächen gehört zu haben.«

So schnell kann es gehen, dachte Peterson und seufzte innerlich.

»Der General«, erwiderte er glatt, während er betont langsam seine Unterlagen zurechtrückte, »ist mit diesem Vorgehen möglicherweise nicht vertraut, weil er im Zuge seiner langen und erfolgreichen Karriere keinen Kontakt zu den Ausbildungsabteilungen hatte, die sich mit den, nun, besonders begabten Rekruten beschäftigen. Vor allem solche, die Testergebnisse liefern wie Ihre Tochter.«