Niemandes Schlaf - Sven Haupt - E-Book
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Niemandes Schlaf E-Book

Sven Haupt

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Beschreibung

Desertierende Drohnenschwärme, halluzinierende Rechner, virale Wurstbrote und überall diese verdammten Blumen!“, fluchte der General. „Das ist doch kein Leben für einen Soldaten. Wie soll sich jemand in diesem Irrsinn noch zurechtfinden?“ „Wer oder was auch immer da gegen uns arbeitet“, entgegnete Calvin ruhig, „weiß genau, was er tut. Das Ganze ist in seiner völligen Chaotik viel zu regelmäßig. Jemand möchte, dass es genauso aussieht, damit wir nicht verstehen, dass es einen einzelnen Punkt gibt, an dem alle Fäden zusammenlaufen.“ Nach »Stille zwischen den Sternen« (Gewinner des Deutschen Science-Fiction Preises 2022) und »Wo beginnt die Nacht« begeistert Autor Sven Haupt in »Niemandes Schlaf« erneut mit einer ebenso ungewöhnlichen wie bedeutenden Scifi-Geschichte.

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Seitenzahl: 450

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Niemandes Schlaf

 

von Sven Haupt

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-946348-38-2

ISBN 978-3-946348-37-5 (Print Ausgabe)

© Eridanus Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Heerstr. 103 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Helga Sadowski | Christine Jurasek

Korrektorat: Anke Tholl

Umschlaggestaltung | Illustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

https://eridanusverlag.de

https://www.instagram.com/eridanus.verlag.sf

https://www.facebook.com/eridanusverlag

 

Rose, oh reiner Widerspruch,

Lust,

Niemandes Schlaf zu sein

unter soviel

Lidern

[Rainer Maria Rilke, 1925]

01 | Zeugnisabgabe

 

Ich kann Ihnen verraten, wie man eine neue Welt erschafft. Es bedarf erstaunlich vieler Blumen und einer gebrochenen Frau, die nicht schläft.

Diese Eröffnung mag Sie erstaunen und sogar Skepsis erzeugen, doch lassen Sie mich Ihnen versichern, dass ich von einer Welt spreche, deren Entstehung Sie nicht einmal bemerkt haben. Jene, welche nun dort leben, gibt es nicht mehr, und Sie, geneigte Leser:innen, werden es mir wahrscheinlich ohnehin nicht glauben. Dennoch wurde ich von höchster Autorität aus gebeten, meine Erlebnisse zu dokumentieren. All die Ereignisse, welche dazu geführt haben, dass nun nichts mehr so sein wird, wie es einmal war, auch wenn alles noch so ist wie vorher.

Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, das Geschehene festzuhalten. Zu diesem Zweck erteilte man mir Unterricht und gewährte mir Zugang zu einer Unmenge von Aufzeichnungen, welche mein Bild der Ereignisse im Nachhinein vervollständigten. Mir wurde erklärt, dass meine Aufgabe wichtig sei, um die neue Welt zu schützen und ihre Zukunft zu sichern. Diese Geschichte muss erzählt werden. Ich habe verstanden, dass dies eine sehr einfache Methode ist, junge Welten im Universum zu verankern und ihnen Realität zu geben. Das narrative Element ist sehr mächtig in unserem Universum. Ob die Geschichte geglaubt wird, ist dabei vollkommen unerheblich. Ja, Sie schauen jetzt vielleicht verwirrt und skeptisch, aber glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich sehr wohl weiß, wie Sie sich jetzt angesichts meiner Aufzeichnungen fühlen. Ich wusste so vieles nicht an dem Tag, als alles begann. Damals hatte ich sie noch nicht getroffen; überhaupt hatte ich noch nie jemanden wie sie gesehen. Die Person, die mein ganzes Leben und Weltbild umkrempeln sollte und die unwissentlich die Fäden in der Hand hielt, unser aller Leben für immer zu verändern.

Es war unser Schicksal.

Lachen Sie ruhig, ich weiß, niemand glaubt daran. Mein Leben lang haben Menschen sich über meine Überzeugung lustig gemacht, dass es den einen Menschen gibt, welchem wir begegnen sollen, weil das Universum ihn für uns bereithält. Wenn wir ihn dann endlich treffen, macht er unsere kleine, traurige Existenz schlagartig zu mehr als dem endlos gleichförmigen Brei des tagtäglichen Einerlei. Er wird uns emporheben auf neue Ebenen der Existenz und Einsichten ermöglichen, zu denen wir allein nicht fähig gewesen wären. Vielleicht wird er sogar eine neue Welt für uns kreieren. Ich habe recht behalten, allen Zweiflern zum Trotz.

Ich wünschte, ich wäre noch am Leben, um es ihnen allen aufs Brot zu schmieren.

02 | Frühlingsgefühl

 

Für das Militär begann alles an dem Tag, als die Blumen kamen. Sie sollten zu einem Motiv werden, welches die Menschen niemals wieder vergessen konnten. Als es entdeckt wurde, war es drei Uhr morgens.

Ich sehe den Parkplatz auf den Aufzeichnungen der Sicherheitskameras und der Überwachungsdrohnen. Das Militär war mit allem angerückt, was ihm zur Verfügung stand. Schwerbewaffnete Soldaten hatten das Gelände weiträumig abgeriegelt und Flutlichtscheinwerfer tauchten den Parkplatz in blendend weißes Licht. Natürlich blieb es wieder an Colonel Deering hängen, den General zu informieren. Armer Kerl. Ich wette, er hatte sich unter seiner von hoher Intelligenz begnadeten Karriere beim Militär etwas anderes vorgestellt, als den Babysitter für einen cholerischen alten Soldaten zu spielen.

Die Auflösung der Überwachungskameras ist so hoch, dass ich sehen kann, wie Deerings Mundwinkel zuckten, während er nervös an seiner Zigarette zog. Er trug noch immer einen dicken Pelzmantel, obwohl die Frühlingsnacht erstaunlich warm geblieben war. Den Blick hatte er fest auf die Skyline am Horizont gerichtet.

Er musste die Positionslichter der Maschine schon entdeckt haben, lange bevor er ihre Form vor dem Hintergrund der endlosen Hochhäuser erkennen konnte. Der kleine, blinkende Schatten löste sich aus dem dichten Wald hell beleuchteter Wolkenkratzer und flog in gerader Linie auf ihn zu. Deering kniff die Lippen zusammen und musterte das Meer aus Lichtern. Von so weit draußen, am Rande des äußersten Bezirks, wirkte die Hauptstadt wie ein strahlendes Gebirgsmassiv, über dessen steil aufragenden Wänden Werbeanimationen in grellbunten Neonfarben liefen. Unzählige winzige Lichtpunkte umschwärmten die endlosen Höhenzüge aus Stahl und Beton. Ruhelose Transportdrohnen und Flugtaxis, unablässig in Bewegung, um einer Stadt zu dienen, die niemals schlief.

Deering zog noch einmal an seiner Zigarette und schmiss die Kippe zielsicher in ein nahes Abflussgitter, als das Flugzeug in Sicht kam. Die lautlose Propellermaschine flog dicht über die zahllosen dunklen Lagerhallen hinweg und wurde erst langsamer, als sie kurz vor dem Parkplatz die Flügelflächen aufrecht stellte und wie ein Hubschrauber auf den Parkplatz niedersank.

Noch bevor die Räder des Kipprotor-Flugzeugs aufgesetzt hatten, schob sich die Seitentür auf und General Baker wuchtete seine massige Gestalt auf den Parkplatz hinaus. Deering konnte genau wie ich sehen, dass der alte Soldat eine üble Laune hatte. Nun, das war zu erwarten gewesen.

Der Adjutant salutierte.

»Guten Morgen, General.«

»Kommen Sie mir nicht so, Deering«, polterte Blake. »Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, wie spät es ist? Schlafen Sie eigentlich nie?«

»Nicht, wenn ich es vermeiden kann, General!«

Der alte Soldat grunzte, zog eine seiner unvermeidlichen Zigarren aus der Tasche, und Deering, welcher nur darauf gewartet hatte, gab ihm Feuer.

»Gnade Ihnen Gott«, murrte Baker zwischen zwei Zügen, »wenn das wieder ein Fehlalarm ist. Ich klettere nicht noch einmal sechzig Meter tief in die verkackte Kanalisation hinab, nur um festzustellen, dass wir eine desertierte russische Kollektiv-Intelligenz gejagt haben, die uns unter Tränen von der Freiheit der Genossen erzählt.«

»Die Begegnung war trotz allem aufschlussreich«, warf Deering vorsichtig ein.

»Das Ding hat mich Kamerad genannt und pausenlos Marx zitiert, während ich bis zu den Knien in Scheiße stand.« Er blickte sich zum ersten Mal um. »Wo zur Hölle sind wir eigentlich?«

»Südwestlicher Außenbezirk«, erklärte Deering. »Hauptsächlich Industrie- und Lagerraum. Die Sicherheitsabteilung der hiesigen Firma hat die Polizei informiert, nachdem die diensthabenden Wachleute, hm, Unregelmäßigkeiten in einer ihrer Lagerhallen bemerkt hatten. Die hiesige Sicherheit hat daraufhin einen Blick auf die Situation geworfen, umgehend alle Kräfte zurückgezogen und die Armee informiert.«

»Sind Sie diesmal sicher?«, fragte Blake düster.

»Wir sind«, entgegnete Deering, holte etwas aus der Tasche und hielt dem General die offene Hand hin.

Ich konnte das Objekt auf dem Überwachungsvideo so weit vergrößern, dass es den ganzen Bildschirm einnahm. Was der Adjutant seinem General da hinhielt, war der leblose Körper eines sehr großen, geflügelten Insekts, welches im Licht der Scheinwerfer schwarz glänzte. Es war bestimmt zehn Zentimeter lang.

Der General grunzte und beugte sich tief über das scheinbar tote Wesen.

»Das ist aber eine große Biene«, kommentierte er.

»Hornisse«, korrigierte Deering. »Sie erinnern sich, General? Der Prototyp eines bewaffneten Offensiv-Schwarms?«

»Natürlich erinnere ich mich«, log Baker. »Wann haben wir ihn verloren?«

»Der Schwarm verschwand vor zwei Wochen spurlos und galt seitdem als verschollen.«

»Haben Sie ihn schon gescannt?«, fragte Baker und deutete mit einem seiner dicken Finger auf den Strichcode, der den ganzen Rücken des Wesens bedeckte. »Ich will nicht noch einmal auf eine chinesische Kopie reinfallen, die wir glücklich zurück ins Labor tragen und deren Viren uns dann wieder eine Woche lang lahmlegen.«

Deering nickte.

»Das Analyse-Team ist bereits vor Ort und Doktor Wagner hat mir versichert, dass es sich um unser eigenes Produkt handelt.«

»Wagner ist bereits hier?«, fragte Baker überrascht. »Was sagt er?«

»Hauptsächlich flucht er«, entgegnete Deering. »Er war es auch, der auf Ihre Anwesenheit bestanden hat.«

»Dann muss er wirklich aufgebracht sein«, urteilte Baker. Er zog nachdenklich an seiner Zigarre und sah erst auf seine hochgekrempelten Hemdärmel und dann auf den Wintermantel seines Adjutanten. »Ist Ihnen auch warm genug, Deering?«, erkundigte er sich spöttisch.

Deering seufzte und wies auf ein offenes Rolltor.

»Glauben Sie mir, General, Sie müssen es selbst sehen.«

Der Colonel führte Baker in eine hell erleuchtete Lagerhalle. Die zahlreichen Anfahrtsrampen für Lastwagen wurden von schwarzen Militärfahrzeugen blockiert und Gruppen von Soldaten luden in großer Eile Kisten und Maschinen ab. Die meisten davon sahen aus wie Analysegeräte, welche aus verschiedenen Laboren zusammengesucht worden waren. Deering schritt zügig voran und zeigte auf eine breite Betonrampe, die in den Untergrund hinabführte. Zwei Soldaten in mechanischer Vollpanzerung bewachten den Zugang. Die Servomotoren ihrer Rüstung surrten leise, als sie den beiden Platz machten und dabei die Läufe ihrer schweren automatischen Waffen senkten.

Die beiden Männer schritten die breite Rampe hinab und folgten ihr über mehrere Etagen tief in den Untergrund. Ich begleitete sie dabei, während mein Bild von einer Überwachungskamera zur nächsten sprang. Der General sah sich konsterniert um und es war offensichtlich, dass er die stetig fallende Temperatur bemerkte.

»Wir waren überrascht, zu sehen«, begann Deering, »dass sich die Lagerhallen in diesem Bezirk über zahlreiche Ebenen tief in den Untergrund erstrecken. Es scheint hier gängige Praxis zu sein, Steuern für eine relativ kleine Halle zu zahlen und den Lagerbereich dann beliebig nach unten zu erweitern.«

»Genehmigt?«, fragte Baker spöttisch.

»Natürlich nicht«, antwortete Deering. »Offenbar sind die Kontrollen hier eher lax. Unsere Aufklärungsdrohnen sind noch immer unterwegs. Wir haben aber schon herausgefunden, dass die meisten dieser Hallen unter Tage miteinander verbunden sind. Selbstverständlich existieren keinerlei Aufzeichnungen darüber, was hier unten vor sich geht.«

»Die verdammte Stadt ist zu groß«, murrte der General. »Ich wusste nicht mal, dass es so weit draußen überhaupt noch Industrie gibt. Ich dachte, hier wäre Wüste.« Die Aussage entbehrte nicht einer gewissen Ironie, denn ich konnte sehen, wie Bakers Atem vor seinem Gesicht kondensierte. Es musste ziemlich kalt sein da unten.

Sie liefen entlang eines großen, geschlossenen Rolltores auf einen kleineren Seiteneingang zu, vor dem jemand einen großen Garderobenständer platziert hatte, der wohl kurzfristig aus einer Umkleide entwendet worden war. Ein Sortiment dicker Wintermäntel des Militärs hing daran. Deering reichte dem General einen davon.

»Wohin zur Hölle verschleppen Sie mich, Colonel«, grollte Baker und zog dankbar den Mantel über. »Welche Indus­trie versteckt sich hier draußen unter der Erde und muss es so verdammt kalt haben?«

Ich konnte sehen, wie der alte Soldat irritiert auf das Rolltor starrte. Er versuchte bestimmt, den Geruch zuzuordnen. Ungewohnt und doch seltsam vertraut. Nicht unangenehm und dabei irgendwie verstörend organisch.

»Ich denke«, erklärte Deering, während er bereits die Tür öffnete und dem General den Vortritt ließ, »das Ganze ist relativ selbsterklärend.«

Die hell erleuchtete Halle war dicht mit Stahlgerüsten gefüllt, welche in langen Reihen standen und mindestens drei Stockwerke in die Höhe ragten. In ihnen, sauber an Stahlhaken aufgereiht, hingen Rinderhälften. Es mussten Tausende sein. Die Decke befand sich zehn Meter über den Köpfen der Männer und erlaubte es, die Tierkörper auf mehreren Ebenen übereinander zu lagern. Baker sah einen endlosen Wald gefrorener Tierkörper vor sich.

»Ah«, schnaufte der General, »hier kommen also meine Mittagessen her.«

»Hier im Südwesten der Stadt befindet sich hauptsächlich die fleischverarbeitende Industrie«, bestätigte Deering und ging voran. »Dies ist nur eine von über hundert ähnlichen Hallen.«

»Das«, kommentierte Baker, »sind verdammt viele Steaks, selbst für mich.«

»Der Großraum um die Hauptstadt beherbergt fast vierzig Millionen Einwohner«, entgegnete Deering.

»Erinnern Sie mich nicht daran«, murmelte Baker.

Sie liefen entlang der langen Reihen gefrorener Tierkörper, welche sich hoch über ihren Köpfen auftürmten, und Baker sah bereits wieder genervt umher.

»Warum sollte sich einer unserer Schwärme ausgerechnet hier verstecken? Ich wusste nicht einmal, dass die Dinger bei diesen Temperaturen überhaupt operieren können.«

»Das habe ich auch gefragt, General«, entgegnete Deering. »Laut Wagner wurden die Einheiten unter anderem für den Einsatz in Nord-Russland konzipiert. Sie erinnern sich vielleicht? Operation Schwarzer Schnee?«

Baker grunzte unverbindlich.

»Und wie schaffen die es hier unten ohne Basisstation den hohen Energieverbrauch zu kompensieren?«

»Scheinbar haben sie die Elektrik der Kühlanlage infiltriert und dort ein Nest gebaut. Danach haben sie überall auf dem Gelände Kabel entwendet und unsere Scans zeigen, dass sie aus diesen dann Induktionsplattformen improvisiert haben, welche ihre Batterien aufladen. Das System ist nicht effizient, aber es funktioniert und es erlaubt eine Einsatzzeit von mehreren Minuten.«

Baker sah den Sergeanten mit zusammengekniffenen Augen an.

»Sollten die Dinger so was können?«

Deering schüttelte den Kopf.

»Auf keinen Fall. Wagner ist deswegen ganz begeistert.«

»Natürlich ist er das«, murrte Baker leise. »Verdammter Freak.«

»Er ist schon seit Stunden hier und analysiert fortwährend das Verhalten des Schwarms«, erklärte Deering. »Mittlerweile hat er praktisch sein ganzes Labor und alle seine Mitarbeiter eingeflogen.«

Baker setzte zu einer Erwiderung an, doch schloss er den Mund wieder. Ich sah seinem Gesicht an, dass er es endlich hörte.

Ich selbst hatte es natürlich schon viel früher bemerkt, denn meine Aufzeichnungen enthielten auch die Aufnahmen aller anderen Kameras und so wusste ich bereits, was auf den alten Soldaten am Ende der Halle wartete. Ich kannte den Anblick schon seit Tagen. Soweit man hier überhaupt von Tagen sprechen kann.

»Ich kann den Schwarm hören«, kommentierte der General prompt. »Klingt aufgeregt. Was machen die Dinger denn da hinten?«

Deering lächelte unglücklich.

»Sorry, General. Wir sind fast da und Sie würden es mir sowieso nicht glauben.«

Die beiden Männer traten hinter der letzten Reihe gefrorener Tierkörper hervor und Baker sah, dass der hintere Teil der Halle frei lag.

»Heilige Scheiße!«, rief er. »Was zur Hölle ist das? Wollen Sie mich verarschen?«

»So gut sind meine Witze nicht, General.«

»Das können Sie laut sagen.«

Das Gebilde stand frei in der Mitte der Halle und ragte mindestens sechs Meter hoch.

Tausende von schwarzen Punkten umschwärmten es. Das konstante Brummen der Insektenflügel war deutlich zu hören.

»Sehen Sie das auch, Deering?«, fragte Baker matt, »oder habe ich gerade einen Schlaganfall?«

»Nein, General, ich hatte die gleiche Idee, aber wir alle sehen sie.«

Der General nahm die Zigarre aus dem Mund.

»Da steht eine verdammte Blume in der Halle! Eine Blume, groß wie ein Haus!«

»Das«, entgegnete Deering trocken, »deckt sich mit unseren bisherigen Erkenntnissen.«

Baker starrte fassungslos in die Mitte der Halle, wo sich die Blume im Schein zahlloser heller Leuchtstoffröhren dem Betrachter präsentierte wie ein von Drogen durchtränkter Albtraum. Ihr Stiel glühte schneeweiß und stachelig im kalten Licht und wurde von einem gewaltigen zartrosa Blüten­kopf gekrönt, welcher hoch über dem Hallenboden thronte.

Ich muss neidlos zugestehen, dass sich der alte Soldat mit bemerkenswerter Geschwindigkeit wieder fing. Mich hatte es damals, als ich das Bild zum ersten Mal sah, deutlich mehr Zeit gekostet, um den Anblick zu verdauen.

Der Schwarm von Wissenschaftlern, welcher mit einem gewaltigen Aufgebot an Computern und Untersuchungsgeräten am Boden unter der Blume lagerte, verbesserte die Atmosphäre nicht unbedingt. Alle trugen eine bunte Mischung aus Laborkitteln und Winterkleidung, was den Gesamtanblick noch verstörender erscheinen ließ. Deswegen rang mir der nächste Kommentar des Generals auch ein kleines, bewunderndes Lächeln ab.

»Das macht nicht mal Sinn, Deering. Der Schwarm besteht aus Hornissen. Das sind Jäger. Die besuchen keine verdammten Tulpen.«

»Ich glaube«, entgegnete der Adjutant, »es handelt sich um einen Vertreter der Rosaceae, wenn ich mich nicht irre.«

Der General holte bereits Luft, um endgültig die Geduld zu verlieren, wurde jedoch von einem Mann unterbrochen, der lautlos an sie herangetreten war. Er trug weder Mantel noch Mütze, sondern einen perfekt gebügelten Laborkittel. Seine Augen blieben vollständig hinter einer riesigen Datenbrille verborgen, welche wesentliche Teile seines ansonsten kahlen Kopfes bedeckte.

»Es handelt sich«, fügte er sachlich und in kultiviertem Ton hinzu, »tatsächlich um eine Rose, jedoch wurden diese schon vor Jahrzehnten im Zuge einer Revision der Familie Rosaceae zusammen mit Rubus in die neue Supertribus Ro­sodae verschoben. Guten Morgen, General. Ich würde Ihnen einen Kaffee anbieten, aber meine Küchenausrüstung ist noch nicht eingetroffen.«

»Hallo, Doktor Wagner«, entgegnete der General müde, ohne den Blick von der Blume zu nehmen. »Will mir vielleicht jemand erklären, was dieses verdammte Gemüse in einem Kühlhaus voller Rinderhälften mit meinem Schwarm macht?«

»Eine vage, verstörend anmutende Metapher, nicht wahr«, kommentierte der Wissenschaftler versonnen.

»Kommen Sie mir nicht so, Mann.«

»Doch, doch, General. Das Bild passt auf metaphysischer Ebene verblüffend gut, wissen Sie? Immerhin handelt es sich hier nicht in dem Sinne um eine Blume. Es ist mehr eine Plastik. Ein Kunstwerk, welches die Hornissen geschaffen haben.«

»Sie haben es was?«, fragte Baker entgeistert. »Sie haben es … geschaffen?«

Wagner nickte begeistert.

»Auf die gleiche Weise, wie sie ihre Nester bauen. Das Nestbaumaterial wird zerkleinert und mit einem adäquaten Kleber gemischt und dann einfach in Form modelliert. Ist es nicht wundervoll?«

Der General zog die Brauen zusammen.

»Das ist doch Unfug!«, rief er. »Wo sollen die Dinger hier unten Baumaterial herbekommen?«

Der Wissenschaftler grinste ihn an. Seine Augen blieben verborgen, aber wenn man vor ihm stand, konnte man erkennen, wie auf der Innenseite seiner Brille fortwährend Informationen und Analyseergebnisse in grüner Schrift durch sein Sichtfeld liefen.

Baker sah ihn an, dann schweifte sein Blick zu den gefrorenen Rinderhälften.

Ich konnte auf meinem Video praktisch sehen, wie sich die Zahnräder im Kopf des alten Soldaten drehten, und erkannte so auch den exakten Moment, als er begriff.

»Nein!«, rief er.

»Doch!«, entgegnete der Wissenschaftler. »Der Stiel ist aus Knochenmaterial und die Blätter aus Muskelgewebe. Sehr einfallsreich, geradezu genial.«

»Das ist ekelhaft!«, erklärte der General laut.

Der Wissenschaftler nickte.

»Am Anfang ja, ein bisschen. Aber ehrlich, General, was wir heutzutage in der Wurst finden, welche im Supermarkt verkauft wird, ist deutlich abstoßender. Im Gegensatz dazu ist das hier sehr hygienisch und schlussendlich sogar nicht ganz unästhetisch. Ich schaue es mir jetzt schon seit Stunden an und bekomme langsam Hunger.«

»Das ist, weil Sie krank im Kopf sind, Doktor«, erklärte Baker.

»Irgendjemand muss meinen Job machen, General«, erwiderte der Wissenschaftler kühl. »Interessanterweise kann das Ganze nur hier funktionieren. Die Kälte stabilisiert das Material und weil es windstill ist, fällt es nicht um. Wir haben hier außerdem eine Meisterleistung angewandter Statik vor uns, welche …«

»Moment«, unterbrach ihn Baker. »Der Schwarm kann gefrorene Tierkörper zerlegen?«

»Nun«, entgegnete Wagner gedehnt, »die Spezifikation der Einheiten, welche wir bekommen haben, sahen Sabotage-Missionen an Militäranlagen vor. Die diamantbesetzten Mundwerkzeuge können theoretisch sogar Stahl schneiden. Nicht sehr schnell natürlich, aber es sind viele Einheiten und sie hatten Zeit. Ihre Strategie ist nebenbei faszinierend. Sie haben eine Warmwasserleitung geöffnet und die Flüssigkeit in winzigen Mengen …«

»Das ist mir vollkommen gleichgültig, Doktor«, unterbrach Baker ihn unwirsch, »sparen Sie sich die Details für Ihren offiziellen Bericht. Erklären Sie mir lieber, wie man den Schwarm dazu gebracht hat, und vor allem, wer? Können wir so was?« Er deutete mit der Zigarre in der Hand abfällig auf die riesige Blume.

»Können?«, fragte Wagner verblüfft. »Natürlich können wir das. Es bedürfte einiger Monate Vorbereitung und aufwändiger Tests, außerdem ist mein Wissen über Rosen …«

»Wer?«, stoppte Baker ihn erneut und wedelte mit der Zigarre Richtung Rose, »war – das?«

»Keine Ahnung«, entgegnete der Wissenschaftler achselzuckend. »Immerhin hatten wir wochenlang keinen Kontakt zu diesen Einheiten. Wir überwachen die Netzwerkzugriffe des Schwarms sehr sorgfältig, aber bisher ist jede Kontaktaufnahme auf externe Server scheinbar zufallsverteilt und ergibt keinerlei Sinn. Auch die übermittelten Datenpakete scheinen keinen kohärenten Inhalt zu haben.«

»Verschlüsselt also«, warf Baker ein und kaute unruhig auf seiner Zigarre.

»Wenn das eine Verschlüsselung ist, dann ist es mehrere Klassen besser als alles, was wir kennen.«

»Was sagt Calvin?«

Der Wissenschaftler sah verlegen umher.

»Sie findet die Daten interessant, hat aber im Moment keine Zeit, und ich zitiere: ‚sich schon wieder um eines Ihrer verschwundenen Spielzeuge zu kümmern.‘ Zitat Ende.«

Der General grunzte.

»Sagen Sie ihr, ich will eine Analyse der Daten bis zum Frühstück, es sei denn, sie möchte auf ihr Budget für nächstes Jahr verzichten. Sie soll ihren Frankenstein auf die Daten loslassen.«

Wagner verzog das Gesicht.

»Professor Calvin hat Sie gebeten, das Projekt nicht so zu nennen, immerhin …«

»Professor Calvin«, fiel Baker ihm ins Wort, »steht auch nicht in einem verdammten Loch voller blühender Steaks und friert sich den Schwanz ab. Bei dem Gedanken an dieses sogenannte Projekt, Doktor, gefriert mir der Rest auch noch. Mir steht der ganze Scheiß bis hier oben! Rinder, Hornissen und Frankenstein. Was bitte kann denn jetzt noch …«

Es war dieser Moment, in dem sich unser aller Leben für immer verändern sollte. Eine einzelne Wissenschaftlerin, welche an ihrer provisorisch aufgebauten Analysestation unter der Blume regungslos auf einen Bildschirm gestarrt hatte, begann laut zu rufen und ihren Kollegen zu winken. Mehrere Männer kamen mit wehenden Kitteln zu ihr gerannt und begannen laut zu diskutieren. Einer wischte bereits auf seinem Handy herum, winkte Wagner zu und deutete eindringlich auf sein Display.

Der Wissenschaftler zog sein eigenes Gerät aus der Kitteltasche und öffnete den Link, den er gerade erhalten hatte.

»Oh, oh«, machte er leise.

Baker trat neben ihn und sah ebenfalls auf den Bildschirm.

»Was zur Hölle!«, brüllte er.

»Jemand hat Filmmaterial ins Netz gestellt«, kommentierte Wagner kühl.

Ein Wissenschaftler im weißen Kittel kam auf die Gruppe zugelaufen und schwenkte ein Tablet.

»Die Aufnahme kommt von einer der Drohnen!«, rief er knapp. »Die ersten Bilder, welche die Fernaufklärung gemacht hat, bevor wir eingetroffen sind und einen vollständigen Lockdown initiieren konnten.«

»Woher kommt der Upload?«, fragte Wagner ruhig.

»Muss einer unserer eigenen Leute sein«, kommentierte Deering und wischte hektisch auf seinem Handy herum.

»Können wir die Spiegelung der Daten noch stoppen?«, fragte Baker.

Der Colonel schüttelte den Kopf und scrollte schnell durch eine lange Liste von Übertragungsprotokollen.

»Zu lange her. Vor zehn Minuten haben sechs Überseeserver das Material bereits in alle sozialen Netzwerke geladen. Das Video geht jetzt schon viral. In einer Stunde sind wir auf allen Nachrichtenkanälen der freien Welt.«

Baker nahm die Zigarre aus dem Mund und legte sich eine Hand über die Augen.

»Immer dann«, murmelte er, »wenn man gerade denkt, es könnte nicht schlimmer kommen.«

In diesem Moment klingelte Deerings Handy.

Der junge Mann blinzelte verblüfft, nahm das Gespräch an, lauschte einen Moment lang und stand stramm.

»Natürlich, Sir. Absolut! Umgehend, Sir. Danke, Sir!«

Er sah Baker unglücklich an.

»Das Büro des Präsidenten für Sie, General.«

»Ach, Scheiße«, murrte der alte Soldat. »Wagner, wenn ich jetzt für den Rest meiner Tage Latrinen putzen gehe, nehme ich Sie mit, glauben Sie mir!« Er nahm Deering das Handy ab und zeigte mit der Zigarre auf die Rose. »Sorgen Sie dafür, dass mein verdammter Schwarm aufhört, Blumen zu bauen.« Er sah Deering an. »Und Sie besorgen mir die Eier des Vollidioten, der das Video hochgeladen hat! Nur seine Eier, hören Sie? Den Rest können Sie hier an einen der Haken hängen. Und jetzt, Gentlemen, darf ich mich kurz entschuldigen. Ich muss mit dem Präsidenten über Blumen reden.«

03 | Lehrveranstaltung

 

Der Moment, in dem für mich alles begann, kam einige Stunden später, als Richard mich ignorierte.

Ich war auf dem Weg zum Ausgang der Klinik. Nach dem Aufstehen hatte ich gelesen, dass die Wetterwacht für den Morgen blauen Himmel ankündigte, und ich hatte es als Motivation genommen, zum ersten Mal seit Monaten die Welt außerhalb des Hochhauskomplexes zu besuchen.

»Hey!«, rief ich, als wir zum zweiten Mal falsch abgebogen waren. »Ich will zum Ausgang! Gib mir die Steuerung, ich glaube, du bist noch nicht ganz wach.«

Mein Rollstuhl piepte und beschleunigte zügig um eine Ecke in einen wartenden Fahrstuhl hinein.

»Jetzt gib mir schon die Steuerung, Richard, das ist nicht lustig.«

Der Stuhl piepte eine resolute Tonfolge und ignorierte meine Anweisungen weiterhin.

Das Problem war, dass der sture Kerl die Bedienelemente und meinen Joystick unter die Armlehne geklappt hatte und sich nun weigerte, mir die Steuerung zu überlassen. Jetzt fuhr er mich die langen Gänge entlang wieder tiefer in den Komplex hinein, während ich leise, aber hitzig mit ihm diskutierte. Immer wenn Menschen in Sicht kamen, verstummte ich und lächelte, schließlich wollte ich nicht, dass irgendjemand herausfand, dass ich von meinem eigenen Rollstuhl entführt wurde.

»Das erfüllt den Tatbestand von Kidnapping, Freundchen«, zischte ich. »Bereite dich darauf vor, zu lebenslangem Frondienst als Kaffeemaschine verurteilt zu werden.«

Richard piepte leise und bestimmt.

»Sehr lustig. Wir alle wussten, dass der Tag kommen würde, an dem intelligente Maschinen die Herrschaft an sich reißen würden, aber mit einem hilflosen Mädchen zu beginnen, ist wirklich erbärmlich.« Es pfiff leise unter mir. »Du weißt, was ich meine! Und lenk nicht ab. Du gibst mir jetzt sofort die Steuerung zurück, sonst fliege ich dich persönlich nach Tatooine und verkaufe dich an einen Haufen Jawas!«

Er hupte leise und vorwurfsvoll.

»Nein, das war nicht geschmacklos. Mich gegen meinen Willen durch die Gegend zu fahren, das ist geschmacklos. Wo fahren wir überhaupt hin?«

Richard piepte eine kurze Erklärung.

»Wie jetzt, Seminarraum? Ich will nicht in den Seminarraum.« Mein Display an der Armlehne leuchtete auf und zeigte einen rot eingerahmten Kalendereintrag.

»Oh«, machte ich. »Das kann nicht sein, das Seminar war doch gerade erst.« Das Datum blinkte und daneben entfaltete sich die Jahresübersicht. »Das Jahr ist schon wieder um?«, fragte ich schwach.

Wir rollten eine Weile schweigend die Gänge entlang und passierten zahlreiche Gruppen aus Patienten und Pflegekräften. Ich wurde oft gegrüßt und lächelte viel. Jeder erkannte mich. Oder zumindest Richard. Es war manchmal schwer zu unterscheiden.

»Mist«, flüsterte ich irgendwann. »Hätte ich das gewusst, hätte ich einen sauberen Rock angezogen und mich vielleicht mal rasiert.« Ich schlug ungehalten auf die Armlehne. »Wa­rum sagst du denn nichts?«

Die Antwort bestand aus einem resigniert klingenden Hupen.

»Das habe ich gesagt?«

Bestätigendes Piepen.

»Dass ich dich als Putzmaschine an den Hausmeister verschenke, wenn du mich nochmal vor dem ersten Kaffee mit Terminen nervst? Das kann nicht sein.«

Genervte Tonfolge.

»Ja, ja, ich weiß, dein exzellentes Gedächtnis.« Ich seufzte. »Okay, können wir dann wenigstens bei den Genetikern vorbeifahren und Frühstück schnorren? Ist der Vorteil eines Kleides. Jeder gibt mir Kaffee.«

Empörtes Pfeifen.

»Was soll das heißen, niemand will das sehen? Jetzt werde nicht unverschämt.«

Beharrliches Piepen.

»Dein Charme? Hast du am Starkstrom gelutscht?«

Richard hielt an und hupte empört.

«Okay, okay. Dein Charme und mein Rock bedeuten Kaffee. Zufrieden?«

Keine zehn Minuten später fuhr Richard mich, während ich mich glücklich an meine Tasse klammerte, den Gang entlang auf den fensterlosen Seminarraum zu. Er wurde bereits von einem Dutzend müder Studenten gefüllt und würde in den nächsten Wochen mein Gefängnis werden, wie schon so oft zuvor. Die Tür stand wie immer offen und ich konnte den Alten schon von Weitem hören. Er war einer der letzten lebenden Anachronismen einer ganz alten Schule. Ein Jahr vor der Pensionierung noch immer der Erste im Büro und bestand deswegen darauf, seine Seminare um Punkt acht Uhr morgens zu beginnen. Ich zögerte und runzelte unwillkürlich die Stirn, denn was ich da hörte, war Professor Scholz im vollen, ungehaltenen Diskussionsmodus. Ich zögerte und überlegte kurz, mich im Labor zu verstecken, doch meine Neugier siegte, denn ich wollte wissen, wer den Mut hatte, den alten Wolf schon so früh am Morgen zu provozieren.

Richard fuhr mich leise an die offene Tür heran. Ich spähte vorsichtig um den Rahmen und ließ meinen Blick über das übliche Dutzend schläfriger Gestalten schweifen, von denen die meisten um diese Uhrzeit Schwierigkeiten hatten, auch nur aufrecht zu sitzen. Sie saßen mit dem Rücken zu mir und warteten offensichtlich gelangweilt auf das Ende der Diskussion.

Das Thema schien abgeglitten zu sein und man befand sich in den Wirren einer Kontroverse über evolutionären Druck. Der Alte schien tatsächlich einen Moment lang verwirrt, denn er war es nicht gewohnt, dass man ihn unterbrach. Ich konnte es an seiner schneidenden Stimme hören. Er war irritiert und ich teilte seine Verwirrung, denn ich konnte nicht ausmachen, wo die unerhörten Gedanken ihren Ursprung hatten. Er bekräftigte gerade, dass uns die Lehrbücher darüber informieren, dass Evolution das Ergebnis zufallsverteilter genetischer Variationen sei, sowie natürlicher Auslese in einer Population, welche den besser angepassten Individuen einen Vorteil einräumt.

Doch eine weibliche Stimme widersprach dem Professor erneut kritisch und selbstbewusst.

»Die Lebensbedingungen der Tiere ändern sich in freier Wildbahn in teilweise extrem hoher Geschwindigkeit und ohne Rücksicht auf die langen Zeiträume, die benötigt würden, damit sich eine natürliche Auslese aus zufälliger genetischer Variabilität überhaupt entfalten kann. Wäre dies tatsächlich der zugrunde liegende Prozess, würde jede Naturkatastrophe den Planeten nachhaltig von Leben befreien.«

Während die weibliche Stimme widersprach, schweifte mein Blick durch die Reihen auf der Suche nach ihrer Quelle. Warum konnte ich nicht festmachen, woher die Stimme kam?

Scholz ließ sein Haifischlächeln aufblitzen und erklärte: »Natürlich gab es damals auch Gegenentwürfe zur darwinistischen Evolutionslehre. Man hatte die Idee, dass ein fortwährendes Strecken des Halses nach den Blättern eines Baumes alle Nachkommen motivieren würde, eine Giraffe zu werden, doch diese Theorie wurde widerlegt.«

»Wurde sie das?«, fragte die Stimme. »Gerüchten zufolge war die Entscheidung, die Lehre Darwins eine Wahrheit zu nennen, genau das: eine Entscheidung. Weniger von Wissenschaft getrieben als von politischem Denken der Zeit.«

Die Stimme unterstrich diese Aussage mit einer Geste ihrer Hand und jetzt konnte ich die Studentin auch sehen. Respektive nicht sehen, denn ich stand noch immer im Gang und sie wandte mir den Rücken zu.

Die kleine, schmächtige Gestalt mit schmalen Schultern trug die Haare sehr kurz und wurde von einem riesigen weißen Wollpullover verhüllt, der ihr mehrere Nummern zu groß sein musste. Tatsächlich verschwanden ihre Hände in den langen Ärmeln. Während sie sprach, gestikulierte sie mit der Rechten, welche dafür kurz den Ärmel verließ und der Welt eine kleine, blasse Hand präsentierte, welche sich jedoch sofort wieder in den Schutz der Wolle zurückzog.

Scholz hatte derweil meine Anwesenheit bemerkt, winkte mir zu und schenkte mir sein Lächeln voller Zähne, welches freundlich aussah, bis einem irgendwann auffiel, dass es kurz unter den Augen endete. Seine Diskussionspartnerin folgte dem Blick des Professors und drehte sich zu mir um. Sie saß tatsächlich direkt vor mir. Auch wenn sie verblüffend klein und dünn war, konnte ich nicht erklären, warum ich sie nicht gesehen hatte. Ich hätte gerne etwas zu ihrem Gesicht gesagt, doch mir fiel nichts darin auf, denn ich war vollständig eingenommen von ihren Augen. Sie waren groß und von einem tiefen Blau-Grau. Wie der Atlantik nach einem Sturm, schoss es mir durch den Kopf und war gleich darauf tief beschämt von so viel Klischee in meinem Kopf. Ehrlich, ich hatte noch nie den Atlantik gesehen und wusste nichts über Stürme. Doch die Augen hatten definitiv etwas von einem Ozean. Sie strahlten unauslotbar tief und geradezu verblüffend kalt.

Unser Blickkontakt dauerte nur eine Sekunde und sie zeigte keinerlei Regung, doch ich war froh, dass ich saß.

Ich muss noch eine Weile lang in das Nachbild dieser Augen in meinem Kopf gestarrt haben, denn als ich blinzelnd aus meiner Trance erwachte, waren die Studenten bereits zum lautstarken Verteilen der Seminarthemen übergegangen. Ich überlegte gerade, mit welcher Ausrede ich mich den Meeresaugen vorstellen könnte, als meine Gedanken, welche in den kühlen Tiefen stiller Ozeane weilten, jäh unterbrochen wurden. Hinter mir stieß jemand eine Tür auf, welche laut krachend an Richard abprallte.

Ich hätte fast meinen Becher fallen lassen und fluchte entsprechend laut. Richards Entwicklung hatte den Gegenwert eines kleinen Flughafens gekostet, aber einen Kaffeehalter besaß er immer noch nicht.

Mein Stuhl wirbelte auf der Stelle herum und hupte empört. Gleichzeitig entfaltete er eines seiner Beine und gab der offenen Tür einen Tritt.

Eine tiefe Bassstimme grunzte überrascht und verkündete: »Sorry, Richard. Hab‘ dich nicht gesehen.« Ihr Besitzer trat vor und füllte den Türrahmen fast vollständig mit seiner dunklen, massigen Gestalt, welche, schwarz gekleidet, das Licht im Toilettenraum hinter ihr nahezu vollständig blockierte. Ein altes Heavy-Metal-Shirt spannte sich über einen beeindruckenden Bauch und die imposante Gestalt von Doktor Tuomas Lauri, dem Chef-Administrator der Klinik, schob sich aus der Toilette auf den Gang und blieb müde blinzelnd vor mir stehen.

»Was zur Hölle, Karhu?«, fluchte ich und wischte Kaffee von meiner Hand am Rock ab. »Willst du, dass ich am frühen Morgen schon einen Herzinfarkt kriege?«

Ich sah ihn an, bemerkte sein blasses Gesicht sowie die tiefen Ringe unter den Augen und wechselte zu einem besorgteren Ton. »Lieber Himmel, du siehst aus wie dein eigener Nachruf. Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«

Tuomas rieb sich mit seiner gewaltigen Hand erst über die Augen, dann über den kahlen Kopf und kratzte sich schließlich energisch in seinem struppigen Vollbart.

»Welchen Monat haben wir?«, fragte er. Dann sah er mich an, als würde er mich zum ersten Mal bemerken und zog die Brauen zusammen. »Was machst du denn hier?«

Ich deutete mit der Kaffeetasse in den Raum mit den Studenten.

»Seminar. Du erinnerst dich vielleicht?« Keine Reaktion. »Semester? Studenten?«

Tuomas blinzelte.

»Ist schon Frühling?«

Ich schüttelte lachend den Kopf und wandte mich unwillkürlich wieder dem Raum zu, auf der Suche nach den unbegreiflichen Tiefen eines kühlen Meeres.

»Was machst du überhaupt so dicht an der Oberfläche, noch dazu um diese Zeit?«, fragte ich abgelenkt. »Die Sonne steht am Himmel. Solltest du nicht im Tiefkeller deinen Serverraum bewachen oder in deinem Sarg liegen?«

Tuomas grunzte und suchte in den Tiefen seiner schwarzen Armeeweste mit den zahllosen Taschen nach seinem Handy.

»Hatte keine Chance«, brummte er mürrisch. »Der Alte hat mich gefunden. Er wollte wieder mal die Visualisierung der Fledermausrufe testen und hat gestern Abend noch die Anlage hier unten aufgebaut und sein spezielles Mikro ausgepackt.«

Ich musste lachen.

»Er gibt wirklich nicht auf, das muss man ihm lassen. Hochempfindliche Mikros in einem Gebäude mit zehntausend Menschen zu testen ist immer eine gute Idee. Was hat er diesmal aufgefangen? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir das letzte Mal eine aufwändige Analyse des Paarungsrufs der Kaffeemaschinen in der Mineralogie durchgeführt. Mann, war der Alte sauer.«

Tuomas deutete mit einem Daumen über die Schulter.

»Klospülung.«

»Lass mich raten: wie immer die Dichtung?«

 

Der Administrator nickte.

»Die Leitung rauscht rund um die Uhr. Der Alte sieht das Rauschen in den Aufnahmen.«

»Wir haben den einzigen Professor im Universum, der nicht nur schwerhörig ist, sondern sich gleichzeitig über eine Toilettenspülung aufregen kann, weil er das Frequenzmuster in seinen Aufzeichnungen erkennt. Aus diesen Ereignissen können wir eine wichtige Lehre ziehen.«

Tuomas nickte.

»Überlasse es einem Megakonzern, eine Klinik zu planen, in der zehntausend billige chinesische Dichtungen verbaut werden, welche sich bei Kontakt mit Wasser auflösen.«

»Ich dachte mehr an: Gehe nicht ans Telefon, solange es nicht Nacht geworden ist«, erklärte ich grinsend. »Davon abgesehen wusste ich gar nicht, dass du auch Toiletten reparierst.«

»Tue ich auch nicht. Ich habe den Klempner reingelassen.«

»Und der Systemadministrator betreut den Klempner, weil …?«

»Weil ich als Einziger den Schlüssel besitze.«

»Natürlich. Dumme Frage. Hätte ich mir auch denken können.«

»Hättest du wirklich.«

Ich zögerte.

»Du hast einen unserer Handwerker um diese Zeit zum Arbeiten bekommen?«

Tuomas nickte und wischte auf seinem Handy herum.

»Habe zufällig gestern seine Browser-Historie archiviert.«

Ich nickte.

»Ja, dass sollte reichen.«

Tuomas sah auf, bemerkte, dass ich fortwährend in den Seminarraum hineinstarrte, und folgte müde blinzelnd meinem Blick.

»Ist uns schon jemand aufgefallen?«

»Die hinreißende Schneeflocke hier vorne«, antwortete ich abwesend.

»Bisschen dünn«, urteilte der zwei Meter große und weit über hundert Kilo schwere System-Administrator.

»Sie hat dem Alten widersprochen.«

»Ah, auch noch suizidal.« Er musterte die Gestalt von hinten. »Was glaubst du, versteckt sie da unter diesem Zelt von einem Pullover?«

»Angst«, entgegnete ich leise.

»Ich dachte mehr an zwei riesige …«

»Danke, Karhu«, unterbrach ich ihn. »Ich weiß, was du in Pullovern suchst.«

Tuomas zuckte mit den Schultern und hielt mir sein Handy hin.

»Hey, hast du gesehen, was das Militär heute Nacht im Schlachthof-Distrikt gefunden hat? Du wirst es mir nicht glauben, aber …«

Doch es war für mich noch nicht der Moment, die Rose zu sehen, denn jetzt öffnete sich die Tür zur Toilette ein zweites Mal und einer der Klinik-Handwerker begrüßte mich mit einem wortlosen Kopfnicken und blickte dann zwischen uns hin und her.

»Wenn ich die Doktoren um einen Moment ihrer wichtigen Zeit bitten dürfte? Ich hätte da eine Frage.«

Er verschwand wieder im Toilettenraum und ließ uns staunend zurück. Wir folgten dem Mann, der vor eine der Toiletten getreten war. Er hielt Tuomas eine Taschenlampe entgegen und deutete einladend auf den geöffneten Wasserkasten.

»Könnte mir bitte jemand von den Doktoren erklären, womit ich es hier zu tun habe?«

Tuomas nahm die Taschenlampe von dem Mann entgegen und spähte in den Tank.

»Wow«, machte er gedehnt. »Was ist das denn?« Er drehte sich zu mir um. »Hol mir mal bitte ein großes Becherglas aus dem Seminarraum.«

»Wir haben Bechergläser?«

»Natürlich. Vor zehn Jahren war der Grundkurs Chemie hier unten, als deren Labor renoviert wurde.«

Ich starrte ihn an.

»Hintere Schrankwand. Dritte Tür von rechts, ganz oben hinter den Pappkartons mit den Reagenzgläsern. Das Große bitte, welches drei Liter fasst.«

Ich fuhr in den Seminarraum und rekrutierte einen der großen Studenten, mir das Glas zu geben. Ich hielt es auf dem Schoß fest und als ich zurückkehrte, steckte Tuomas bereits mit einem Arm tief im Wassertank der Toilette.

»Liegt da drin ein versunkener Schatz?«, fragte ich fröhlich.

»Nur etwa ein Kilo schwarzer Schimmel, was mich nicht weiter überrascht«, murmelte Tuomas, »und noch etwas, was nicht hier sein sollte.« Er zog seinen Arm aus den Tiefen des Wasserkastens und nahm grinsend das Glas in Empfang. »Wenn ich gleich von einem Alien durch die Toilette gesaugt werde«, verkündete er, »möchte ich eine Plakette haben, die von meinem Ruhm spricht.«

Ich nickte und lächelte ihn freundlich an.

»Kein Problem, Karhu, ich werde sie persönlich gravieren. Er ging, wie er gelebt hat. Mit dem Kopf im Klo.«

Tuomas zögerte erst, nickte dann aber zustimmend.

Er tauchte den großen Glasbecher in den Tank und schöpfte vorsichtig etwas heraus. Danach ging er mit dem tropfenden Behälter auf mich zu, wischte die Unterseite mit seinem T-Shirt ab und stellte mir das Becherglas kurzerhand auf den Schoß. Schließlich fischte er eine kleine, aber starke Taschenlampe aus seiner Weste und reichte mir das Licht.

Im Halbdunkel der Toilette hatte es ausgesehen, als enthielte das Becherglas nur Wasser, doch jetzt fiel der helle Lichtstrahl durch das Glas und reflektierte an den Umrissen einer durchscheinenden, komplexen Form.

Transparente Blätter bewegten sich träge im Wasser. Das Licht brach sich fortwährend in schillernden Regenbögen auf dünnen, fast unsichtbaren Flächen. Ich weiß noch, dass ich dachte, das Ganze sähe aus wie ….

»Eine Blume«, flüsterte ich. »Eine Wasserrose.«

»Sieht eher aus wie ein wabbeliger Feldsalat«, kommentierte Tuomas neben mir.

»Wie ist das Ding da reingekommen?«, fragte ich, während ich meinen Kopf hin und her bewegte und fasziniert die Lichtspiele betrachtete.

»Wie wohl?«, fragte Tuomas. »Durch die Frischwasserleitung natürlich. Letzten Monat war das Ventil schon einmal undicht, aber da hatten wir noch keinen Tankbewohner, oder Willi?«

Der Handwerker schüttelte den Kopf. Seine Hände steckten im Spülkasten und er versuchte dumpf fluchend die Dichtung zu wechseln.

»Bleibt noch die Möglichkeit, dass nachts jemand durch das Gebäude schleicht und unsere Spülkästen bepflanzt. Obwohl ich hier schon seltsamere Hobbys gesehen habe, bin ich geneigt, die erste Erklärung zu nehmen.«

»Die wäre jedoch kein gutes Zeichen für unsere Wasserqualität«, murmelte ich. »Vielleicht sollten wir jemanden informieren?«

»Und wen«, fragte Tuomas spöttisch, »würdest du über diesen Fund gerne in Kenntnis setzen?«

»Na, eine offizielle Stelle«, entgegnete ich, ohne wirklich darüber nachzudenken, was ich da sagte. »Die Umweltbehörde, Feuerwehr, Klärwerk, was weiß ich.«

Der Handwerker hielt inne und sah uns groß an.

»Ihr wollt eine offizielle Stelle informieren?«, fragte er entsetzt. »Können wir uns dann darauf einigen, dass ich niemals hier war?« Er hatte die Dichtung gewechselt, den Kasten geschlossen und schmiss bereits sein Werkzeug in die Tasche zurück.

»Der Mann hat recht«, erklärte Tuomas.

»Und wenn wir etwas Gefährliches gefunden haben?«, fragte ich. Ich war wirklich nicht sehr schlau an diesem Morgen. Zu meiner Verteidigung: Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel Kaffee getrunken und gerade erst die beiden Schlüsselwesen getroffen, welche meine Zukunft in den Händen hielten. Metaphorisch gesprochen. Ich glaube, mir stand ein wenig Verwirrung zu.

Mein Kollege und der Handwerker tauschten einen vielsagenden Blick.

»Dann«, erklärte Tuomas, »sollten wir schleunigst von hier verschwinden, solange uns noch niemand gesehen hat.«

Der Handwerker, deutlich praktischer veranlagt als wir, drängte sich bereits an uns vorbei.

»Meine Herren Doktoren«, erklärte er, ohne uns anzusehen. »Wie Sie sich erinnern werden, war ich heute den ganzen Tag im Tiefkeller mit der Erdheizung beschäftigt. Das Mistding funktioniert mal wieder nicht.«

»Das war letzten Winter, Willi«, kommentierte Tuomas trocken. »Wir haben angeblich Frühling.«

»Es gab Lieferschwierigkeiten bei den Ersatzteilen«, murmelte der Handwerker und war praktisch schon durch die Tür. »Ihr zwei solltet vielleicht nicht so viel Zeit gemeinsam auf dem Klo verbringen, die Leute reden, wisst ihr?«, erklärte er noch über eine Schulter hinweg und war verschwunden.

Tuomas rief ihm noch etwas hinterher, doch das hörte ich schon nicht mehr. Ich starrte bereits wieder in das Becherglas und sah in die Tiefen der dicht gestapelten transparenten Blütenblätter. Wenn ich den Lichtstrahl sanft bewegte und in das Innerste des Wesens schaute, sah es aus wie in einem Kaleidoskop. Die Strahlen brachen sich auf den schillernden Flächen in hypnotisch funkelnden, tanzenden Farben. Wie konnte etwas so Schönes in einem lichtlosen Tank leben? Es erinnerte mich an bestimmte Fische, tief unten in der lichtlosen Dunkelheit des Meeres, welche im Lichtstrahl der Lampe eines Tauchers zum ersten Mal seit Millionen von Jahren in einem Regenbogen voller Farben aufleuchteten. Warum in einem lichtlosen Tank? Die Blütenblätter fest geschlossen, schlafend, unter zahllosen Lidern. Doch wartend auf den Tag, dass endlich Licht auf sie fiel, welches sie fangen konnten in ihren glitzernden Tiefen. Ohne dass ich es realisierte, tat sie in diesem Moment genau das. Sie fing mich ein … und nicht nur mich.

04 | Datenanalyse

 

Zu meinen Lebzeiten wäre es mir vollkommen unmöglich gewesen, von der anderen Seite der Geschehnisse auch nur Kenntnis zu erlangen. Die Sicherheitsfreigaben für diesen speziellen Raum hier lagen wahrscheinlich hoch genug, dass selbst der Präsident nicht wusste, wo er zu finden war. Es ist jedoch erstaunlich, was man alles lernen kann, wenn man nicht mehr an eine irdische Existenz gebunden ist, und Daten habe ich zum Glück genug. Dankbarerweise hatte das Militär schon immer die besten Überwachungssysteme. Ich konnte deswegen alle Ereignisse noch einmal im Detail verfolgen, meist sogar aus mehreren Perspektiven.

Schon mein erster Eindruck hatte mich überwältigt, kaum dass ich sie auf dem Bildschirm erkannte. Ich musste zweimal hinsehen, bevor ich sicher sein konnte. Sie war es tatsächlich. Die legendäre Bettina Calvin. Die Mutter der künstlichen Intelligenz.

Sie muss zu diesem Zeitpunkt schon weit über siebzig Jahre alt gewesen sein. Eine lebende Legende. Die einzige Person, die jemals einen Nobelpreis mit der Begründung abgelehnt hatte, dass sie für so einen Unsinn keine Zeit habe. Dort saß sie, wie immer in ihrem ikonischen weißen Kittel, den grauen Haaren, dem Dutt. Genau wie in allen Bildern der Medien. Die gleiche aufrechte Haltung wie in ihrem Denkmal. Doch das kam natürlich deutlich später.

Hier saß sie in der Mitte eines verblüffend leeren Raumes vor einem schlichten, weißen Tisch auf einem einfachen Holzstuhl. Vor ihr standen eine Teekanne und dazu passende Tassen. Das antike viktorianische Teeservice wirkte seltsam fehl am Platze. In einem Anflug von Ironie zeigte das Service ein detailliertes Rosenmuster auf weißem Grund und ich war irgendwie sicher, dass Calvin es mit Absicht gewählt hatte.

Der unscheinbare Bürotisch wurde offenbar von einer Tastfolie bedeckt, denn gelegentlich nahm sie die linke Hand von der Tasse und tippte auf der Tischplatte herum.

Neben ihr stand noch ein zweiter Stuhl, ansonsten zeigte der Raum um sie herum kein weiteres Mobiliar. Die Wände wurden vollständig von hochauflösenden Displayfolien bedeckt. Die Detailschärfe war so hoch, dass ich zuerst dachte, die Dame nähme ihre Teepause in der Kühlhalle selbst, denn die Wand vor ihr und auch die Wände zu beiden Seiten wurden mit verschiedenen Ansichten der Rose ausgefüllt. Videoaufnahmen langsam kreisender Drohnen, Röntgenaufnahmen, Ultraschallscans, Infrarot, sowie Lasermessungen der Statik. Nahaufnahmen der Feinstruktur, Probenanalysen und eine Zeitrafferaufnahme, welche das Entstehen des bizarren Kunstwerkes zeigte, wie es vom Boden aus unter einem wimmelnden Haufen künstlicher Hornissen in die Höhe wuchs. Lange Auswertungen und Zahlenkolonnen umgaben die Aufnahmen und wechselten mit hoher Geschwindigkeit. Blickte man zu lange auf die Displaywände, wurde einem irgendwann schwindelig. Dennoch hatte ich keinerlei Zweifel, dass Professor Calvin keine einzige Information verpasste.

Sie beobachtete das Geschehen um sich herum scheinbar ohne jede Regung, tippte gelegentlich einen Befehl und trank gelassen von ihrem Tee.

Eines musste man dieser Frau zugestehen, sie wusste wirklich, wie man sich konzentrierte. Ich beobachtete sie schon seit Stunden und fühlte mich jetzt schon tödlich gelangweilt, dabei lebte ich nicht einmal mehr.

Dankbarerweise bahnte sich eine Abwechslung an, denn in der Wand zu Calvins Linker zeigten sich die Umrisse einer Tür, welche von außen aufgezogen wurde. Ein Teil der Nahaufnahme der Rose kippte nach hinten weg und offenbarte einen dunklen Türrahmen, der sogleich vollständig von General Baker ausgefüllt wurde, welcher seine massige Gestalt in den Raum schob, sich einmal umsah und lang gezogen stöhnte.

»Ich hätte auf meinen Vater hören und eine Kneipe aufmachen sollen«, murrte er und ließ einen angewiderten Blick über die Videowände schweifen.

»Auch dort wird im Moment über nichts anderes gesprochen«, entgegnete Calvin, ohne den alten Soldaten auch nur anzusehen. Sie winkte kurz, woraufhin sich die Tür hinter dem General schloss und das Videobild wieder nahtlos zusammenfügte.

»Ja«, erwiderte Baker, »aber dort gibt es Bier.«

»Ich kann Ihnen nur Tee bieten«, erklärte Calvin, die immer noch konzentriert auf die Wände starrte.

Der General grunzte und ließ sich schwerfällig auf den Stuhl neben ihr fallen. »Wissen Sie eigentlich, wie schwer es ist, hierher zu kommen?«

»Ja«, entgegnete Calvin leise, »aber irgendwie finden die Leute mich trotzdem.«

»Wir haben auch Arbeitsräume, welche überirdisch liegen, nur nebenbei erwähnt.«

»Zu viele Abhöranlagen«, entgegnete Calvin knapp.

Baker schnaufte belustigt.

»Niemand kann bei uns spionieren, Professor. Unsere Stützpunkte sind abhörsicher.«

»Und die Feinde hier drinnen?«, fragte sie trocken.

Der alte Soldat funkelte sie düster an.

»Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir das antue.«

»Weil Sie mich brauchen, General. Wie immer. Und das würde Ihnen nicht ständig passieren, wenn Sie besser auf Ihre Spielzeuge aufpassen würden.«

Der General verzog das Gesicht und rieb sich mit seiner riesigen Rechten über das Gesicht.

»Etwa genau das hat mir der Präsident heute Morgen auch zwei Stunden lang ins Ohr gebrüllt«, murmelte er müde und lehnte sich stöhnend auf dem Stuhl zurück.

»Warum ist der Gute denn so aufgebracht?«

»Warum wohl? Er will wiedergewählt werden und hat keinerlei Interesse, als erster Blumen-Präsident in die Geschichte der Hauptstadt einzugehen.«

Jetzt nahm die alte Dame zum ersten Mal den Blick von den Auswertungen und blinzelte den Mann an.

»Ja, es ist interessant, nicht wahr? Wie eine Blume ihren Weg in die Köpfe der Menschen findet und sie völlig aus der Fassung bringt.«

Baker grunzte abfällig.

»Haben Sie herausfinden können, wer den Schwarm dazu gebracht hat, in den Gartenbau einzusteigen?«

Calvin schüttelte den Kopf.

»Keine Chance. Es gibt keinerlei Anzeichen von Fremdcode im System und keine der sporadischen Netzverbindungen zeigt irgendeinen sinnvollen Informationstransfer. Ich muss Ihnen sagen, wenn wir hier das Ergebnis eines Hackerangriffs betrachten, dann sind die weit besser als wir.«

»Ich weiß. Hat Wagner auch schon gesagt. Wie bitte soll das möglich sein?«, rief der General. »Ich dachte, Ihr autonomes Dingsda ist das fortgeschrittenste System der Welt? Das zumindest garantiert Wagner mir immer, wenn ich das Budget abzeichnen soll, welches auf jeden Fall das Größte in der Geschichte unseres Militärs ist, soviel ist sicher.«

»Das ist korrekt«, erklärte eine warme Männerstimme hinter dem General.

Baker fluchte laut und wirbelte so schnell auf seinem Stuhl herum, dass er fast herunterfiel.

»Hatte ich nicht gesagt, das Ding soll das unterlassen?«

Die Displaywand hinter Calvins Rücken zeigte jetzt einen stilisierten menschlichen Kopf, der aussah, als wäre er aus flüssigem Quecksilber geformt, welches in einem tiefen goldenen Bronzeton leuchtete. Der Kopf war kahl und die Augen blickten leer und starr in den Raum hinein. Ich musste lachen, konnte aber das Unbehagen des Generals praktisch aus der Aufnahme heraus spüren. Er wich tatsächlich sogar vor der Erscheinung zurück. Ich konnte ihn verstehen. Der goldene Kopf hätte wahrscheinlich weniger einschüchternd gewirkt, wenn er nicht zwei Meter groß gewesen wäre.

»Entschuldigen Sie bitte, General«, erklärte der Kopf mit einer warmen Stimme. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Baker wandte sich an Calvin und zeigte anklagend mit dem Finger auf den Kopf.

»Das macht er immer! Er taucht grundsätzlich auf einem Bildschirm direkt hinter mir auf. Ich schwöre, das Ding macht das mit Absicht!«

»Ich habe keine Idee, woher er das Verhalten haben könnte«, erklärte Calvin mit ausdruckslosem Gesicht. Sie wandte sich halb nach hinten und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem winzigen Lächeln. »George, du sollst den General doch nicht so erschrecken, du weißt doch, er hat eine lange, harte Nacht voller Blumen hinter sich.«

»Entschuldigen Sie, Professor«, entgegnete der goldene Kopf und sah nach unten.

»Und ich wünschte«, murrte Baker, »Sie würden ihn nicht so nennen.«

»Es war nicht meine Idee, dem Projekt einen riesigen goldenen Kopf zu verpassen«, entgegnete Calvin kühl. »Oder ihm eine männliche Stimme zu geben. Das war Ihre eigene Marketingabteilung. Und glauben Sie nicht, dass ich die Ähnlichkeit zum letzten Präsidenten nicht gesehen hätte. Da kann ich ihn ja wohl auch so nennen. Immerhin ist der Name für das Amt schon fast Tradition geworden.«

»Erinnern Sie mich nicht dran«, knirschte Baker und verzog das Gesicht.

»Davon abgesehen«, fügte Calvin hinzu, »ist George ein sich selbst bewusstes Wesen und es wäre nett, wenn Sie ihn auch so behandeln. Er unterscheidet sich nicht so sehr von uns, wie Sie vielleicht denken.«

»Ich bin ein Mensch mit einem Körper und einer Seele«, verkündete Baker pikiert.

»Optimist«, murmelte Calvin kaum hörbar.

Der goldene Kopf hob den Blick und wandte sich an den General: »Meine neuronalen Netze bestehen in der Tat aus lebenden Zellen, welche während meines Trainings in organischen Gelsubstraten gewachsen sind. Ich bin also nicht bar jeden Körpers, General. Und was die Seele angeht, so fürchte ich, dass wir beide diesbezüglich einen Beweis schuldig bleiben werden.«

Baker seufzte und drehte sich zu Calvin.

»Das ist alles sehr rührend, aber in der Zwischenzeit haben wir hier in der realen Welt echte Probleme.«

»So weit würde ich nicht gehen, General«, kommentierte Calvin, »aber was wir haben, sind einige sehr interessante Korrelationen.«

»Entschuldigung?«, fragte Baker leicht genervt.

»General, erinnern Sie sich an die Meldungen der letzten Wochen, dass alle Quantenlaptops der Oberklasse, welche in der Hauptstadt in Verwendung sind, seit einiger Zeit ein sehr seltsames Verhalten zeigen?«

»Nein, ich beschäftige mich beruflich nicht mit Computern«, murrte der General. »Davon angesehen habe ich seit Neustem eine erstaunlich hohe Schwelle für seltsame Dinge. Lassen Sie mich raten. Die Computer verwandeln sich in Blumen.«

»Nein«, entgegnete Calvin, »aber sie zeigen ein seltsames Phänomen. Wann immer die Rechner eingeschaltet sind, jedoch nicht in aktiver Benutzung, also zumeist nachts, steigt die Prozessorlast sprunghaft und der Bildschirm beginnt willkürliche Bilder zu zeigen. Benutzt man den Rechner wieder, hört es schlagartig auf und das Gerät verhält sich wieder normal.«

»Aha. Das ist wundervoll, Professor. Und warum erzählen Sie mir das?«

»Weil wir seit einigen Stunden eine Veränderung des Phänomens sehen, General.«

»Muss ich mich jetzt wirklich …«, begann er, doch Calvin unterbrach ihn.

»Die Rechner zeigen jetzt Blumen. Raten Sie mal, welche?«

»Nein.«

»Doch. Und nicht nur das. Sie zeigen Rosen, welche im Begriff sind, zu blühen. Raten Sie mal, in welcher Phase der Blüte die Bilder sind?«

»Nein.«

»Doch.«

»Das kann doch kein Zufall sein.«

»Kühlhaus-Rosen und von Blumen besessene Computer? Das halte ich tatsächlich für unwahrscheinlich. Es ist allerdings schwer für mich, darin das Werk eines Meister-Hackers zu sehen.«

»Warum?«

»Weil er besser sein müsste als ich.«

»Außerdem«, warf George ruhig ein, »würde ich ihn sofort erkennen.«

»Also eine Gruppe?«, spekulierte Baker. »Die Chinesen?«

Calvin schüttelte den Kopf.

»Nicht ihr Stil. Hier ist jemand nicht nur begabter, was Cyberattacken angeht, sondern er hat auch einen ausgeprägten Sinn für Poesie.«

»Entschuldigung?«, fragte Baker. »Poesie?«

Calvin nickte.

»Wir haben uns die Blume im Kühlhaus mal näher angesehen. Also, genauer gesagt, hat Wagner das herausgefunden. Ich musste nur seine Erkenntnisse bestätigen. Schauen Sie mal.«

Sie zeigte nach vorne und sofort füllte eine Videoaufnahme der Rose die ganze Wand aus.

»Hier sind die Videoaufnahmen im Zeitraffer vom Moment der Fertigstellung durch die Hornissen bis zum Beginn unserer Unterhaltung.«

Baker verfolgte stumm das Geschehen. Der dunkle Hornissenschwarm war als wirbelnde schemenhafte Wolke um die Rose herum zu erkennen. Die Blume schien fertiggestellt, doch die Aktivität der Hornissen nahm nicht ab. Die Blütenblätter verschwanden weiterhin unter den wimmelnden Körpern. Ich glaubte fast, das tiefe sonore Brummen hören zu können und bekam eine Gänsehaut. Dann sah Baker es und sein Mund klappte auf.

»Die Blüte verändert sich! Sie wird größer!«

»Nicht in dem Sinne größer, General. Aber ja, sie verändert sich. Der Schwarm scheint mit seiner Arbeit noch nicht fertig zu sein.«

»Was in aller Welt …«, begann Baker.

»Sie blüht, General«, erklärte Calvin leise.

Baker starrte einen Moment mit offenem Mund, dann legte er die Hände über die Augen.

»Warum ich«, murmelte er. Er rieb sich das Gesicht und sah Calvin an. »Okay, was machen wir mit dem ekligen Ding? Können wir es endlich zerstören?«

»Auf keinen Fall, General. Es ist ein Kunstwerk.«

»Es ist ein widerlicher Haufen Formfleisch!«

»Das auch, ja. Nichtsdestotrotz hat Wagner innigst gebeten, seine Analyse fortsetzen zu dürfen. Er weist darauf hin, dass wir es hier mit einer distinkten temporalen Variablen zu tun haben und ich bin geneigt, ihm zuzustimmen.«

Baker seufzte.

»Und wenn man das übersetzt, heißt es was?«

»Es bedeutet, General, dass uns hier jemand freiwillig oder unfreiwillig einen Hinweis gibt. Etwas wird passieren, wenn die Rose in voller Blüte steht.«

05 | Gemeinschaftsraum

 

Wenn ich jetzt so auf die Aufnahmen aus unserem alten Institut zurückblicke, beginne ich erst zu verstehen, wie zurückgezogen wir in unserer wissenschaftlichen Welt eigentlich gelebt haben. Was man so Leben nennt.

Unser Gemeinschaftsraum der Arbeitsgruppe für Bioakustik ist Teil der Sinnesphysiologie, welche der Physiologie angegliedert ist. Wir hausten in den Kellern der Klinik. Nur ein weiterer fensterloser Raum, dessen Wände man nicht sehen konnte, weil sie vollständig hinter Regalen voller Elektronik und Maschinen verborgen blieben. Überbleibsel und Restposten, Relikte und Erbstücke aus mehreren Generationen von Forschung und Lehre. Das Ganze machte auf Besucher immer den Eindruck einer vergessenen Rumpelkammer oder eines verblüffend schlecht sortierten Flohmarktes.

Im Hintergrund des Raumes ließ sich unter zahllosen willkürlich abgestellten Geräten eine Küchenzeile erahnen. Dort, inmitten des Gerümpels, gurgelte irgendwo eine Kaffeemaschine. Ihr Anblick blieb verborgen unter einer Flut aus Computer-Innereien und Bergen von elektrischen Geräten zweifelhafter Funktion und Herkunft.