Wo Rauch ist - Gudrun Lerchbaum - E-Book

Wo Rauch ist E-Book

Gudrun Lerchbaum

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Beschreibung

Can Toprak, investigativer Journalist, Frauen¬held und Energiebündel, schien unbesiegbar – auf einmal ist er tot. Olga Schattenberg trauert. Zwar waren Can und sie längst nicht mehr das streitlustige Paar, das gemeinsam dem Establishment trotzte. Denn Olga hat MS, sitzt im Rollstuhl, ringt mit ihrem zunehmend unkooperativen Körper. Doch ein Leben als Aktivistin hat sie Argwohn gelehrt: Can ist häufig angeeckt, sein Tod muss jemandem genützt haben. Sie rafft sich auf, gewinnt Verbündete und geht der Sache nach. Unterdessen wird in Wien die Stimmung aggressiver, der politische Rechtsdrall bleibt nicht ohne Folgen. Dann tauchen plötzlich Staatsdiener auf, die wissen möchten, was aus Can Topraks letzten Recherchen geworden ist … Ein harmoniesüchtiger Grabredner. Eine psychisch instabile Straftäterin. Eine gelähmte Revoluzzerin. Aus den Perspektiven dieses ungewöhnlichen Trio infernal knüpft Gudrun Lerchbaum ihren hochdynamischen Kriminalroman. Provokant, geschmeidig und humorvoll entspinnt sich ein Plot um Freundschaft und Widerstand, Illusion und Vorurteil, ein spannendes Vexierspiel um den Mut zum Denken, Hinsehen und Hinterfragen.

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EPUB

Seitenzahl: 340

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Über das Buch

Sie ist daran gewöhnt, dass Leute wegschauen, wenn es schwierig wird. Aber ein toter Journalist, und niemand stellt Fragen? Vom Rollstuhl aus nimmt Olga Schattenberg den Kampf gegen die Apathie auf. Und weiß, dass sie es allein nicht schaffen wird. Nur wo Verbündete finden? Vielleicht auf dem Friedhof?

Eine gelähmte Revoluzzerin, ein harmoniesüchtiger Grabredner, eine angeknackste Straftäterin: Aus unterschiedlichen Motiven begeben sie sich auf Wahrheitssuche. Was zunehmend gefährlich wird, weil sich in Wien die politische Stimmung zuspitzt …

Über die Autorin

Gudrun Lerchbaum wuchs in Wien, Paris und Düsseldorf auf, sammelte Erfahrungen in zahllosen Jobs, u. a. als Lagerarbeiterin, Grafi kerin, Kellnerin, Sekretärin, Plakatkleberin und Aktmodell, studierte Architektur und Philosophie. Neben ihrer Arbeit als Architektin zog sie zwei Töchter groß und engagierte sich für gefl üchtete Mädchen. Nach Lügenland (Pendragon) ist Wo Rauch ist

Gudrun Lerchbaum

Wo Rauch ist

Kriminalroman

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2018

Lektorat: Else Laudan

Erscheinungsdatum: August 2018

ISBN 978-3-95988-120-3

Vorwort von Else Laudan

Wenn man sich für politische Kriminalliteratur interessiert, spielt der Blickwinkel des Erzählens eine gewaltige Rolle. Mich als Verlegerin reizen vor allem Personen mit Brüchen und Widersprüchen, mit sozialen Nachteilen und Blessuren, denn ihre Geschichten berühren die wunden Punkte in der Gesellschaft: Versehrte, Pechvögel, Grenzgänger/innen und schräge Gestalten sind in der Normalität schlecht aufgehoben, weil sie nicht recht in die gängige Maschinerie passen. Ihr Blick auf die Welt macht Kriminalliteratur (deren konservative Schiene so affirmativ wirkt) explorativ, öffnet Fenster zu Wirklichkeiten, die in der Heile-Welt-Werbung nicht vorkommen. International ist da viel in Bewegung. Im deutschsprachigen Genre sähe ich gern noch viel mehr solche Erzählstimmen, und Gudrun Lerchbaum erschafft in Wo Rauch ist mitreißende Perspektiven von genau dieser Qualität. Olga ist, was ich lässig »eine von uns« nennen möchte: eine skeptische, politisch denkende und handelnde Frau mit bewegter Vergangenheit, eine Kämpferin, deren Widerstandsgeist jedoch mehr und mehr absorbiert wird vom Ringen mit ihrem unkooperativen Körper. Dann ist da Adrian, der Bildungsmensch, der sich ungern aus dem Fenster lehnt, lieber Trost spendet als Beifall für Olgas Polemik und doch irgendwie mit ihr im Bunde sein will. Und eine dritte Stimme, deren hellsichtige Geborstenheit eine zusätzliche produktive Unruhe ins Spiel bringt, eine Verrückung im besten Sinn …

So ist dieser Roman nicht nur ein lebhafter, charmanter Wiener Krimi um Politik, Dünkel und Vorurteil, sondern auch ein Mosaikstein im Ringen um Erzählhoheit und um ein plurales, vielfältiges, inklusives Welt- und Menschenbild in unserer Kultur. Mehr davon!

Dieser Roman ist Fiktion. Sämtliche Begebenheiten sind frei erfunden. Etwaige Namensübereinstimmungen oder Ähnlichkeiten der Charaktere mit realen Personen sind zufällig.

1 Olga

Sie fuhr ihren Rollstuhl so nah an die Kante des Grabes, dass die Fußrasten über den Abgrund ragten. Ein leichter Druck am Steuerhebel würde ausreichen, um sie zu Can in die Grube zu stürzen. Nie hätte sie gedacht, dass er vor ihr dort landen würde.

»Das unlösbare Rätsel des Todes«, hörte sie den Grabredner sagen, »entbindet uns von der Notwendigkeit, verstehen zu müssen. Lassen wir uns in dieser Stunde vom Unsagbaren berühren. Folgen wir den leisen Stimmen in unserem Inneren.«

Leise Stimmen am Arsch. Ein Geschrei in ihr, ein Klirren und Scheppern wie bei einer Massenkarambolage. Und das Herz so schwer, als wollte es sie samt Rollstuhl hinabziehen in das ausgehobene Rechteck zu ihren Füßen. Kein Loskommen von dem Kerl, der dort unten lag. Nicht durch Scheidung. Nicht einmal im Tod.

Eine Schneeflocke schwankte vor ihren Augen im böigen Wind. Ein Raumschiff, das von seinem Heimatort jenseits der Wolken aufgebrochen war, die Erde zu erobern. Und jetzt diese Turbulenzen. Aus einem Looping heraus geriet die Flocke ins Trudeln, sank scheinbar unaufhaltsam der Grube entgegen, um im letzten Moment in einer rasanten Pirouette wieder aufzusteigen. Nicht rechtzeitig, um ihr einen Blick auf das Durcheinander der Stängel und Blumenköpfe zu ersparen, die auf dem schwarzglänzenden Sargdeckel lagen wie Treibgut. Ein Bild, das sich eingravierte in ihre Netzhaut, mit Tränen nicht wegzuwaschen. Rote Rosen, Nelken, Gerbera.

Sie hatte ihre Schneeflocke aus den Augen verloren, doch da waren noch andere. Sie hielt Ausschau nach der größten, folgte ihrem unsteten Flug, der sie auf ein schmiedeeisernes Grabkreuz zutrieb, und übernahm die Navigation. Reiß das Steuer herum, Baby, links, mehr nach links!

»Mein Beileid.« Eine Hand schob sich in ihr Blickfeld und Olga zoomte vom Weltraum auf den Nahbereich, legte den Kopf in den Nacken, sah Mehmets Lippen zittern, als er sich zu ihr neigte. Sie zog ihre steife Rechte aus dem Pelzmuff, befahl ihr, sich zu heben und von seiner Hand umschließen zu lassen. Jetzt voller Sympathie zudrücken können. Doch die Zeiten, in denen ihre Gliedmaßen all ihren Kommandos gehorcht hatten, waren vorbei. Immerhin, eine kleine Kontraktion meinte sie zustande zu bringen und nur deshalb auch ein Lächeln. Von wegen Händedruck wie ein toter Fisch.

»Hast du schon seiner Familie …?«, fragte sie.

Mehmet schüttelte den Kopf. »Sie sprechen nicht mit mir.«

Ihr Blick folgte seinem zur anderen Seite des Grabes. Hinter dem Erdaushub hatte sich Cans Familie verschanzt, seine Schwester Merve an vorderster Front. Mit steinerner Miene nahm sie Beileidsbekundungen entgegen, während die ­Eltern zwei Schritte abseits standen, gestützt von Merves Sohn ­Semih, ihrer Tochter Sibel und deren Mann, extra angereist aus Würzburg.

»Warum sprechen sie nicht mit dir?«, fragte Olga. »Du warst wie ein Bruder für ihn.«

»Du weißt, wie Merve ist.« Mehmet verdrehte die Augen.

»Allerdings. Aber ich dachte, sie wäre nur zu mir so. Du bist Türke. Und außerdem nicht seine Ex.« Sie zog den linken Mundwinkel hoch, mehr lächeln ging gerade nicht. »Hat sie dir gar nichts erzählt?«

»Was meinst du?«

»Glaubst du etwa den Scheiß, dass Can einfach so gestorben ist? Allergischer Schock, dass ich nicht lache! Da ist doch was faul, Mehmet.«

Wie er ihrem Blick auswich und von einem Bein aufs andere trat, als wollte er abhauen. Der wusste was. Oder er hielt sie für irre.

»Begleite mich auf einen Kaffee, Mehmet. Oder besser einen doppelten Wodka.«

»Tut mir leid, ich muss ins Geschäft.«

»Hast du mitgekriegt, ob die Polizei an der Sache dran ist?«

»Die Polizei? Ich weiß echt nicht, wovon du redest. Er ist tot. Es ist zu spät. Und ich halte es jetzt auch nicht länger hier aus. Mach’s gut, Olga.« Er hob die Hand, ging zwei Schritte rückwärts, kam dann wieder, beugte sich herunter, um sie zu umarmen. »Er fehlt mir so!«

»Mir auch, Mehmet, mir auch. Ruf mich an, okay? Lass uns überlegen, ob sein Tod irgendwas mit seinen Nachforschungen …«

Mehmet hastete davon. Olga sah ihm nach, während die nächste Hand die ihre drückte, ein Journalistenkollege von Can, dann sein Chefredakteur. Wie viele Leute er gekannt hatte. Wie viele ihn vermissten. Wenn sie der Familie noch kondolieren wollte, war jetzt der Moment, denn allmählich löste die Trauergesellschaft sich auf.

Olga setzte den Rollstuhl zurück. Der Grip der Räder ließ zu wünschen übrig. Eine durchscheinende Schneeschicht bedeckte den gefrorenen Grund. Sie umkurvte die Grube, lenkte an den letzten drei Trauergästen vorbei und drängte den vordersten beiseite. Knapp vor Merves Fußspitzen kam sie zum Stehen. Sie hievte ihre Hand bis auf Schulterhöhe.

Ihre Ex-Schwägerin griff nicht danach. »Was willst du, Olga?«

»Euch mein Beileid aussprechen. Immerhin haben wir einen gemeinsamen Verlust zu beklagen.«

»Danke«, zwängte Merve zwischen geschlossenen Zahnreihen hervor.

»Und wo wir uns schon so nett unterhalten, frage ich gleich, ob ihr etwas Neues wisst. Es gibt doch Ermittlungen? Can war an brisanten Themen dran und hat in seinem Leben mehr als eine Drohung erhalten.«

Merve erbleichte, lief gleich darauf rot an. Der makellos festgesteckte Hijab bildete einen wunderbaren Rahmen für das Schauspiel, fand Olga. Sie lächelte.

»Was bildest du dir eigentlich ein, du …«, Schlampe fügte die Ex-Schwägerin lautlos, aber mit überdeutlichen Mund­bewegungen hinzu. »Musst du ihn selbst jetzt noch in den Dreck ziehen? Reicht es nicht, dass …«

»Merve!« Ihr Vater griff von hinten nach ihrem Arm und trat neben sie. »Du bist unhöflich.« Seine Augen waren gerötet, seine Stimme rauer als sonst. »Wir danken dir für deinen Besuch, Olga. Dieser Tag der Trauer ist nicht der Moment für Feindseligkeiten.«

»Ich bin nicht gekommen, um zu streiten, Cem. Ich will nur, dass Cans Tod aufgeklärt wird. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, muss bestraft werden. Das wollt ihr doch auch. Aber wir können ein anderes Mal darüber sprechen.«

»Das werden wir nicht tun«, sagte Cans Vater. »Der Schmerz verwirrt dich, Olga. Ich kann das verstehen. Aber Menschen sterben. Einfach so. Allah hat meinen Sohn gerufen. Wer sind wir, seine Entscheidung zu kritisieren?«

»Allahu akbar!«, flüsterte Merve.

Hinter ihr sandte Sibel Olga eine bedauernde Grimasse. Cans Mutter hielt ihren Arm umklammert und schluchzte an ihrer Schulter. Ihr weißer Haaransatz, das fleckige Gesicht, die Blässe der ungeschminkten Lippen: Der ungewohnte Anblick rührte Olga und hielt sie davon ab auszuspucken, was ihr auf der Zunge lag: dass Can nichts hielt von Allah und seinem Ruf niemals freiwillig gefolgt wäre. Cem hatte recht, es war nicht der Moment für Provokationen. »Münire!«, rief sie der Mutter zu. »Es tut mir so leid! Darf ich dich nächste Woche besuchen kommen?«

»Genug!«, entschied Cans Vater. »Wir achten deinen Schmerz, Olga, aber du bist kein Mitglied dieser Familie.« Seine geschwollenen Lider senkten sich, drückten Tränen aus den Augenwinkeln. Er wandte sich ab.

Olga schluckte. Wenn nicht einmal seine Familie ihre Bedenken teilte, war sie vielleicht wirklich verrückt vor Trauer. Oder es gab Druck aus der Community, deren Gesetzmäßigkeiten sie nie völlig durchschaut hatte.

Sie steuerte zurück auf den Weg und an das Fußende des Erdlochs, wandte den Kopf in die Richtung, in die ihr Assistent verschwunden war, kaum dass er sie am Grab abgeliefert hatte. Keine Spur von ihm. Hipsterhascherl. Vermutlich zu blöd, um den Rückweg zu finden.

Anstelle des Assistenten geriet der Mann im dunklen Mantel in ihr Blickfeld, der wie ein Wächter am Kopfende des Grabes stand. Ein angenehmerer Anblick als der Granitblock, der bald an seiner Stelle aufragen würde. Der Grabredner. Wozu der noch dastand. Festgefroren. Nur seine Augäpfel bewegten sich, flackerten hin und her, kreisten, hoben und senkten sich wieder. Kein Zweifel, auch er war Steuermann oder gar Captain eines der Schneeflockenschiffe, die inzwischen im Geschwader zur Eroberung des Planeten anflogen, der Boden fingerdick mit ihresgleichen bedeckt.

Ihre Blicke kreuzten sich und der Sternenfahrer blinzelte. Auf der monatelangen Reise durch die Galaxien hatte er, der Captain, zwar ihre kaltblütige Zuverlässigkeit stets geschätzt, sie jedoch noch nie wirklich angesehen. Bis zu diesem ­Moment. Was sah er, während sie den ihr anvertrauten Raumkreuzer umsichtig durch die Luftwirbel und zwischen den immer zahlreicher werdenden Schwesterschiffen hindurchdirigierte?

Höchste Zeit zu verschwinden, bevor der Rollstuhl ohne Hilfe des Assistenten auf dem glitschigen Untergrund manövrierunfähig wurde. Ein halber Kilometer war es mindestens bis zum Tor, und wenn es so weiterschneite … Ihre Hand allerdings wollte nicht, lag bläulich und kältesteif auf ihrem Schoß. Olga half ihr mit der Linken in den Muff und hielt erneut nach dem Assistenten Ausschau. Wenn nur die Batterie hielt bei der Kälte.

»Darf ich Sie begleiten?«

Eiskristalle bissen ihr ins Gesicht, als sie den Kopf hob, ­außerirdische Flugobjekte attackierten ihre Augen, abzuwehren nur durch heftiges Blinzeln. Ein Blinzeln, das der Captain offenbar als Zustimmung deutete. Er setzte sich eine Wollmütze auf, schwarz wie der Rest seiner Kleidung, und deutete mit einer Geste an, dass er ihr den Vortritt lasse. Schneeflocken landeten in seinem kurzen Vollbart und den Augenbrauen, hängten sich in seine Wimpern wie in ihre.

Olga manövrierte den Rollstuhl über die wenigen Meter unbefestigten Weges zum Asphalt. Noch hatte sie keine fremde Hilfe nötig, Mitleid erst recht nicht. Aber Begleitung, das war etwas anderes.

»Wohin möchten Sie? Zum Leichenschmaus?« Sein warmer Bariton war ihr bereits während der Grabrede aufgefallen, obwohl sie seinen Worten wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. War er so intensiv mit der Schneeflockennavigation beschäftigt gewesen, dass ihm ihr Streit mit Cans Familie entgangen war? Oder gab er sich nur taktvoll?

Sie schüttelte den Kopf. Eisstaub wirbelte ihr von der Baskenmütze in den Nacken. »Zur Straßenbahn will ich, Tor 1 oder 2, was näher ist. Ich mache mir Sorgen wegen der ­Batterie.«

»Ist beides ungefähr gleich weit. Wenn es Ihnen egal ist, bewegen wir uns zum Tor 1.«

Bewegen, nicht gehen. Ein Leisetreter. Oder einfach ein achtsamer Mensch.

»Darf ich Sie schieben? Ihre Hand ist ja schon ganz blau.«

Doch nicht übervorsichtig. Damit war die Sache entschieden. »Wollen Sie mich heiraten?«, fragte sie. Ein Scherz, das würde ihm wohl klar sein, und wenn nicht, dann war er ohnehin die falsche Begleitung.

Der Grabredner lachte. »Geben Sie mir etwas Bedenkzeit. Das ist mein dritter Antrag in dieser Woche.«

Olga hielt an, schaltete auf manuellen Betrieb und versenkte ihre Hand im Muff. Der Captain packte die Griffe und schob so energisch an, dass der in Fahrt kommende Rollstuhl ihn in einen kurzen Laufschritt zwang. Sie überquerten einen der kreisförmigen Plätze, auf denen die Wege aus allen Richtungen zusammenliefen. Eine winkende Gestalt stand unter dem Vordach des WC-Häuschens in der Mitte des Rondells. Eine Gestalt in weiten Hosen und Kapuzenjackenschichten, die jetzt schlingernden Schrittes auf sie zukam. Der Assistent.

»Na endlich!«, rief er. »Ich habe schon gedacht, du nimmst womöglich den anderen Ausgang.«

Ihm links und rechts eine pfeffern können. »Hast du kurz mit dem Gedanken gespielt, mich wieder am Grab abzuholen? So war es nämlich ausgemacht.«

»Na, oh ja, aber ich war nicht sicher, welchen Weg …« Er schlackerte neben ihr her in diesem breitbeinigen Gang, den ihm die unter dem Gesäß hängende Hose aufzwang, und machte keine Anstalten, den Rollstuhl zu übernehmen.

»Weißt du was, Alex, schleich dich heim!«

»Echt?« Er grinste sie an, wieder ein Missverständnis. »Aber die Stunden krieg ich schon bezahlt.«

Olga atmete tief durch, um den Hohlkopf nicht in Gegen­wart des Captains anzubrüllen, der ob ihrer Schroffheit ein ­wenig außer Tritt geraten schien. »Geh heim«, sagte sie mühsam beherrscht, »und bleib dort. Du hast erst vor zehn Tagen angefangen und das ist das zweite Mal, dass du mich hängenlässt. Ich zähle auf meine Assistenten! Du hättest mich hier eiskalt erfrieren lassen. Auf solche Dienste verzichte ich.«

Eiskalt erfrieren, unter anderen Umständen könnte sie dar­über lachen, ebenso wie über den entgeisterten Gesichtsausdruck des Jungen. Olga senkte den Blick gegen das Schneetreiben und starrte die breite Allee entlang, an deren Ende das Friedhofstor, von Flocken verpixelt, kaum auszumachen war.

»Das kann sie nicht machen. Ich war nur am Klo. Sagen Sie ihr, dass sie das nicht machen kann!«

»Ich wüsste nicht, was mich das angeht.« Die Wärme war aus der Stimme des Grabredners gewichen. Dass dieser dämliche Assistent auch alles vermasseln musste.

Der fiel nun zurück, schimpfte hinter ihr her, irgendwas über Sklaverei und Egoismus und emotionale Behinderung, während der Rollstuhl vorwärtspflügte. Gern hätte sie angehalten und den Idioten noch ein letztes Mal zusammengestaucht. Andererseits wollte sie auf dem rutschigen Untergrund nicht auf die Unterstützung des Fremden verzichten, ob er nun Weltraumfahrer oder Grabredner war. Nur eines war er wohl nicht mehr: ihr Verbündeter. Ohne ihn sehen zu können, meinte sie seinen Ärger zu spüren, und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Ärger, der ihn zum Laufschritt antrieb, um sie möglichst bald loszuwerden.

»Ich kann auch alleine …«, murmelte sie und beschloss dann, das Gefühl der Erniedrigung hinunterzuschlucken. Ein paar Minuten noch.

Dem Schmatzen der Räder nach zu urteilen spritzten ihrem Helfer Fontänen aus Schneematsch gegen die Beine, die seine Hose inzwischen völlig durchnässt haben mussten. Auch in ihrem Strickrock nisteten sich die Flocken ein. Doch noch war sie angenehm, die Kälte, ein Gefühl, das ihre Beine etwas lebendiger hinterließ.

Links zogen jetzt die efeuumrankten Steine des alten jüdischen Friedhofs vorbei. Gaskammern dachte sie, Konzentrationslager. Nie konnte sie Juden denken, ohne den Holocaust vor Augen zu haben. Wie sich das wohl anfühlte für die. Die Juden. Vermutlich ähnlich wie die Blicke, die Olga täglich trafen und in ihr nur die Behinderte erkennen konnten.

Immerhin klarte es nun auf, der Angriff des Schneegeschwaders eingestellt, und da war endlich auch das Tor, Gefängnisgittertor, nachts verschlossen, um die Toten im Friedhof festzuhalten. Über die Schienen noch und auf die Haltestelleninsel und stopp. Die Plattform war überraschend voll, doch sie würde schon dafür sorgen, dass man sie zuerst hineinließ. Ein elektrischer Rollstuhl hatte im Bedarfsfall durchaus Rammbockqualitäten.

»Ja, dann …«, sagte der Grabredner und umrundete sie, die Hand bereits ausgestreckt.

Sie extrahierte ihre Rechte aus dem Lammfell. Der Kältereiz trieb die Taubheit zurück. Mit dem Daumen strich sie über die Innenseite ihrer Finger, freute sich über den Kitzel. Sie sehnte sich nach einem Joint und einem Glas Rotwein, hob träge die Hand und den Blick, wollte sich bedanken und dann nichts wie heim. Doch jetzt sah sie ihn wieder. Den Captain. Unwillkürlich lächelte sie, verführerisch wie früher, als sie ihm noch auf Augenhöhe hätte begegnen können.

»Captain, mein Captain«, sagte sie. »Herzlichen Dank für die Begleitung! Mein Name ist übrigens Olga. Olga Schatten­berg.«

Er ließ ihre Hand nicht sofort los, schien sogar regelrecht in ihren Anblick versunken. Kein Anlass, um gleich in feuchten Träumen zu schwelgen. Anscheinend benötigte er einen Moment, um die Anspielung einzuordnen und sich an ihr gemeinsames Weltraumabenteuer zu erinnern.

Er nickte. »Our fearful trip is done, Olga Schattenberg.« Immer noch hielt er ihre Hand. »Adrian.« Die kleine Verneigung, mit der er die Vorstellung begleitete, ironisch abgefedert durch ein Lächeln, das nur in seinen Mundwinkeln hing. »Adrian Roth.«

Sie spürte ein lustvolles Prickeln im Nacken und zwischen den Schulterblättern und musste lächeln. Buchhändlerinnen­erotik. Ein passendes Zitat von Walt Whitman, und schon war es um sie geschehen.

Der Lautsprecher der Verkehrsbetriebe knisterte und verkündete eine vorübergehende Einstellung des Fahrbetriebes der Linie 71 aufgrund der Sperrung des Schwarzenbergplatzes. Ein Schienenersatzverkehr würde in Kürze eingerichtet. Da das Murren der Umstehenden sich in Grenzen hielt, vermutete Olga, dass die Durchsage nicht zum ersten Mal ertönte.

Adrian Roths Griff war in Konzentration auf den quäkenden Boxenton erschlafft. Jetzt legte er Olgas Hand auf ihrem Schoß ab und griff nach seinem Telefon, scrollte mit dem Daumen.

»Ein Terroranschlag?«, fragte sie.

»Was sonst«, warf ein älterer Mann in Daunenjacke ein. »Drecksbagage. Erst London, Paris, Berlin, jetzt sind wir dran.«

»Wasserrohrbruch«, sagte Adrian Roth. »Der Schwarzenbergplatz steht unter Wasser beziehungsweise unter Glatteis und wird gerade quasi abgetaut.«

»Kann auch wer gesprengt haben, das Rohr«, murmelte der Daunenmann und drehte sich weg.

Der Schneefall setzte wieder ein, dicke, nasse Flocken diesmal. Als hätten die Invasoren die Pause genutzt, um für den finalen Angriff aufzurüsten. Sollten andere das Ruder übernehmen. Olga hatte keine Lust mehr. Sie würde den Fahrtendienst verständigen müssen.

»Lassen Sie uns einen geschützten Raum aufsuchen«, schlug der Grabredner vor und deutete mit dem Kopf auf das Concordia auf der anderen Straßenseite.

Das Glück in glücksfernen Zeiten, schoss ihr durch den Kopf. Genazino, irgendeine synaptische Fehlschaltung. Sie warf einen bedauernden Blick zu den vier Stufen hinüber, die vom Gehsteig zum gekiesten Vorplatz des Lokals hinaufführten, wo eine überlebensgroße Christusstatue ihre Arme ausbreitete. Stufen, die, wie ihr zum Hohn, mit einem roten Teppich belegt waren. »Dieser geschützte Raum ist für mich leider nicht erreichbar.«

»Hätten Sie denn Lust?«

Sie nickte. Ohne ein weiteres Wort schob Adrian Roth sie über die Straße und dann am Zaun entlang nach rechts, bog in eine holprig gepflasterte Einfahrt, in der eine Reihe von Müllbehältern Wache hielten. Die kahlen Bäume und ­bröckelnden Wirtschaftsgebäude auf den angrenzenden Grundstücken wirkten traurig und aus der Zeit gefallen, den Toten des Friedhofs näher als der Lebenslust, die Olga mit einem Mal packte.

Eine Rampe führte zum Hintereingang des Lokals, einer Glastür. Dort stand ein Raucher, der dem Schneefall zum Trotz leidenschaftlich an seiner Zigarette sog und sich am abblätternden Lack der Türsprossen zu schaffen machte. Sie hätte sich jetzt selbst gern eine angezündet. Doch die Verlockung, mit Adrian Roth an einem Tisch zu sitzen, war größer. Sie sandte dem Raucher einen auffordernden Blick. Der klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und hielt ihnen die Tür auf, die unmittelbar in den Gastraum führte.

2 Kiki

Was tut er da? Schiebt die Rollstuhlfrau über die Straße, statt sie bei der Haltestelle abzuladen. Er geht doch sonst immer allein auf seine Post-funeral-Lunches. Typisch Adi, dieser pompöse Ausdruck für eine Suppe und die Nusspalatschinke danach, immer dasselbe Programm. Und ein Viertel Rotwein. Oder zwei. Ja, den Wein nicht zu vergessen. Eigentlich geht es ihm sowieso nur um den, wem will er was vormachen. Den Schmerz der Hinterbliebenen fortspülen nennt er das. Pegel halten, könnte man auch sagen.

Jetzt mit der Behinderten. Sagt man nicht, aber ist sie etwa keine? Behindert und hinterblieben, ganz schön viel auf einmal. Überhaupt – komisches Wort: hinterblieben. Immerhin lässt Adrian sie nicht hinterbleiben, ganz im Gegenteil. Fragt sich nur, wie man ihn … Wenn er mit ihr da sitzt.

Vielleicht doch erst morgen. Und bis dahin – was? Gut, dass der Friedhof nicht auf einer Klippe liegt. Man könnte sich natürlich auch einfach in den Schnee setzen, Rücken an einen Grabstein gelehnt, einschlafen und morgen … Eisblock. Besser noch: sich in ein offenes Grab legen, am allerbesten in eines, bei dem er morgen eine seiner Ansprachen hält. Grabrede. Trauerrede. Trostrede. Totengesang.

Dieses entschlossene Nicken. Als hätte er um ihre Hand angehalten. Was die sich einbildet. Krüppelfrau. Aber Mitleid war ja schon immer sein Schwachpunkt, zu weich für die Welt, der gute Adrian.

Einen Versuch nur, und wenn er nicht darauf anspringt, gleich wieder gehen, bloß nicht lästig werden. Scheißschnee, und die Bim fährt auch nicht, bleibt einem ja praktisch nichts anderes übrig.

Was heißt das jetzt? Doch wieder Fahrbetrieb bis zur U-Bahn oder was? Dass die es nicht schaffen, diese Lautsprecher so hinzukriegen, dass man die Durchsagen versteht. Da kommunizieren sie mit Sonden, die um den Jupiter kreisen, und plaudern in 1-a-Qualität mit Astronauten auf der Raumstation, aber die Wiener Verkehrsbetriebe rauschen uns noch immer was vor. Wird womöglich extra eingespielt, das Gegrummel. Wie der fette Motorsound bei den Sportwagen.

Aus, Schluss, es reicht! Die Schuhe schon ganz nass von dem Matsch. Ist schließlich ein öffentlicher Ort, so ein Lokal. Und wenn er lieber ungestört sein will, braucht er nur … Aber einen Kaffee zum Aufwärmen wird er dir wohl gönnen. Wenn er nicht sogar froh ist, dass ihm jemand aus der Patsche hilft. Wer weiß, ob er wirklich freiwillig mit der … Lautlose Hilfeschreie womöglich … Und für deinen Beistand lässt er sicher gern was springen.

Wer kommt auf die Idee, eine Christusstatue vor einem Lokal aufzustellen? Soll der Eintritt kassieren oder vertritt er Petrus bei der Bewachung des Himmelstors? Himmelreich der Trinker vielleicht oder der Schnitzelfresser. Auf der Uhr über dem Eingang schon wieder fünf vor zwölf. Immer eigentlich. Auch für dich.

Sitzt, wo er meistens sitzt, der Herr Roth, hat brav reserviert und alle anderen Tische sind besetzt. Klar, Mittagszeit. Er schaut her. Und wieder weg. Muss dich doch gesehen haben. Hilfesuchender Blick geht anders. Starrt sie an wie … Interessant sieht sie ja aus mit diesen Wangenknochen. Kurzgeschorene Haare wie ein KZ-Häftling und dunkle Schatten unter den Augen. Wer sich dazu blutrote Lippen malt, hat Mut. Soll sie ruhig mit ihm, egal, ist alles längst verjährt. Aber ein Kaffee wird wohl noch drin sein.

»Hallo, Adrian, huhu, so ein Zufall!«

»Kiki.«

Reizend. Nicht Kiki! Oder Kiki? Nein, Kiki. Resigniert irgendwie, aber was soll’s.

»Zufällig in der Gegend«, murmelst du. »Hab mir gedacht: Schauen wir mal, ob der liebe Adrian vielleicht gerade Mittagspause macht und sich über ein bisschen Gesellschaft freut. Und da bist du tatsächlich! Willst du uns nicht vorstellen?«

Lustlose Handbewegung. »Olga Schattenberg, Christiane Bach.«

»Haha, Berg und Bach, da stinkst du ganz schön ab mit deinem Namen, Adilein, landschaftsmäßig betrachtet!« Toter Fisch vermittelt blühendes Leben gegen den Händedruck von Schattenberg. Toter Fisch in des Baches kühlen Fingern. »Sag ruhig Kiki. Wir sind doch per Du, oder etwa nicht?«

»Eigentlich …« Der alte Spießer.

»Von mir aus gern«, sagt Schattenberg.

Zu dumm, ihren Vornamen schon wieder vergessen. Irgendwas mit U. Oder O?

»Vielleicht sollten wir dann auch …«, sagt Schattenberg zu Adrian.

Wie sie ihn anschmachtet. Man kann es ihr nicht übelnehmen. Wenn du nicht wüsstest, was für ein mieser Verräter er manchmal ist, könntest du selbst wieder schwach werden bei seinem tiefgründigen Blick.

»Nett, dass du hallo gesagt hast, Kiki. Hab noch einen schönen Tag«, sagt er. Gerettet werden will er also nicht.

»Magst du dich zu uns setzen?«

Feiner Zug, Schattenberg, das muss ich sagen. Höflichkeit ist eine Zier. »Aber gerne! Spendierst du mir einen Kaffee, lieber Adrian?«

Kopf in den Nacken, Blick in die Glaskuppel. Die ist ja auch hübsch mit ihren blauen und weißen Feldern, auch wenn der Schnee gerade wenig Licht durchlässt. Gleich platzt die Haut an seiner Kehle und der Adamsapfel hüpft heraus, rollt über den Tisch oder plumpst in seine Suppe.

Seufzen, dann endlich: »Ja, immer wieder gern. Was willst du, Kiki?«

»Außer dem Kaffee? Ich wollte ja nichts sagen, aber da du fragst: Ein Hunderter wäre super.«

Seufzen, schon wieder. »Was ist mit dem Job? Letzte Woche warst du noch Feuer und Flamme.«

Der Kellner tauscht Adis leeres Weinglas gegen ein volles und stellt eine zweite Melange vor der Dings, Schattenberg, ab.

»Auch eine Melange, bitte, und ein Stück Sacher. Ja, letzte Woche war ja auch noch alles okay. Aber ehrlich, Hamburger, Pommes und Cola auf Tabletts packen – wie lang kann das Spaß machen? Ich hätte trotzdem durchgehalten, schwöre, aber der Arsch hat mich rausgeschmissen. Nur weil ich einem Obdachlosen einen Cheeseburger und ein Bier geschenkt habe. Ist doch kein Verbrechen, oder? Und Pommes. Arme Schweine, wenn die sich nicht mal diesen Dreck leisten können. Aber von wegen sozialer Verantwortung und Solidarität und so weiter. Geschäftsschädigung, hat der Ausbeuter getobt und mich fristlos … Hätte dir genauso passieren können.«

Schattenberg grinst schon die ganze Zeit so vor sich hin. »Kampf dem Kapitalismus«, sagt sie und ballt wie in Zeitlupe die Faust. Gute Einstellung, aber körperlich muss die echt Probleme haben, gelähmt oder was. Jammerschade, dass es immer die Guten erwischt. Statt dass den Burgerbonzen der Schlag trifft, wenn er die Obdachlosen verjagt. Der Anschlag auf die Wasserleitung heute jedenfalls kein Wunder. Womöglich Rache der Obdachlosen-Gewerkschaft.

Und Adi löffelt seine Suppe.

»Jetzt bist du auf der Suche?«, fragt Schattenberg.

»Klar! Niemals aufgeben. Durch Schaden wird man klug und schön. Ich habe mir gedacht, was Soziales …«

»Hast du da Erfahrung?«

»Sogar eine Ausbildung. Als Heimhelferin. Ist aber nichts zu kriegen, leider.«

»Das wundert mich. Ich dachte …«

»Liegt wohl an deiner –« Adi verschluckt sich an einer Frittate, lässt den Löffel auf den Unterteller klappern und hustet. »– an deiner Vergangenheit.« Bedeutungsschwerer Blick zu Schattenberg. »Kiki war im Gefängnis, muss man dazu wissen. Das verbessert die Karriereoptionen nicht unbedingt.«

Mieser Heuchler. Als wenn das nicht allein seine Schuld gewesen wäre.

»Aber sie hat ihre Strafe ja offenbar verbüßt, sonst wäre sie nicht hier, oder?« Schattenberg, ganz auf der Seite der Gerechtigkeit.

Endlich, der Kaffee und die Torte und Adilein kriegt seine Nusspalatschinke. Das hebt hoffentlich seine Laune, Zucker und Schokosauce galore.

»Ganz genau, verbüßt. Verbüßt, gebüßt, zwölf Jahre immerhin. Gute Prognose inklusive und vorbildliches Verhalten seit der Entlassung. Das Arbeitsamt hätte mir wohl kaum den Kurs als Heimhelferin finanziert, wenn nicht alle von meiner Läuterung überzeugt wären. Gewesen wären. Alle außer ­einem.« Dein anklagender Blick ist Adi gerade mal ein Zucken im Mundwinkel wert. Selbstgerechter Schnösel.

Wie Schattenbergs Tasse auf der Untertasse klappert, bevor sie sie zum Mund hebt, konzentriert, als hielte sie ein Tässchen Dynamit. Wobei, wenn sie das trinken würde, halb die Speiseröhre runter, ein bisschen schon im Magen und Wumm! ­Sauerei zum Quadrat, alles bespritzt mit Blut und Innereienfetzen. Wahnsinnsvorstellung! Stattdessen matschige Kuchenbrösel auf dem Tisch, weil man mit vollem Mund nicht lachen sollte.

Immer noch Schweigen. Peinliche Situation. Adi könnte auch mal was sagen, irgendwas Positives zur Abwechslung. Mampft aber nur und schaut drein, als wäre sein Tag jetzt schon gründlich versaut. Aber was will man, wenn einer immer nur mit Leuten zu tun hat, denen gerade jemand weggestorben ist. Seinen Charme hebt er sich sowieso lieber für die trauernden Witwen auf als für die arme alte Kiki. Wahrscheinlich hättet ihr es ohne ihn lustiger. Ob Schattenberg auch Kaffee und Kuchen ausgeben würde?

»Könntest du dir vorstellen, für mich zu arbeiten?«

Fragt sie das wirklich oder bildest du dir das ein, so wunschtraummäßig? Dort ein Einhorn auf einem Regenbogen, hier ein Jobangebot aus heiterem Himmel. Konzentrier dich, dummes Stück!

»Mir ist gerade ein Assistent ausgefallen. Persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderungen. Alltagshilfe, die die Teilhabe am öffentlichen Leben unterstützen soll. Einkaufen, Wäsche machen, ein bisschen putzen, kochen gehört dazu. Du müsstest mich ins Geschäft begleiten oder abholen, und wenn ich allein dort bin, auch mithelfen. Ware annehmen oder verpacken und so weiter. Plaudern und Backgammon spielen ist dafür auch inklusive. Sozial auf jeden Fall.«

Sie zwinkert mit dem rechten Auge, zwinkert dir zu, ganz natürlich schaut das bei ihr aus. Lieber nicht zurückzwinkern, weil, wenn du das versuchst: Quasimodoalarm.

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

Sie hebt eine Braue, hat das voll drauf mit der asymmetrischen Mimik.

»Zwanzig Stunden die Woche könnte ich dir anbieten, habe ich gesagt. Zu wenig? Dreißig? Leider nur mit freiem Dienstvertrag, Anstellung ist nicht drin. Zwölf Euro die Stunde. So viel hast du im Fleischlaberlpalast vermutlich nicht gekriegt, also kommst du vielleicht sogar damit aus. Immerhin hättest du eine Referenz im sozialen Bereich, falls du was Besseres findest.«

Jetzt kriegt Adrian die Krise, greift sogar nach ihrer Hand, hält sie fest. Beherrsch dich, du Arsch!

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Olga. Du sagtest doch, Zuverlässigkeit wäre die wichtigste Eigenschaft eines Assistenten, und Kiki … Sie leidet unter …«

»Sag’s nicht! Ich kann es nicht mehr hören! Musst du mir alles versauen?«

Dein Herz reißt sich los, schießt hinab, quer durch den Bauch und dann aufwärts, schlägt dröhnend im Kopf weiter, während Adrian den Mund aufmacht, seinen Dreck versprüht, kein Wort zu verstehen hinter deinem hämmernden Puls. Wenn du ihn doch nie kennengelernt hättest, diesen miesen … Wut ist gut, bloß keine Tränen, sonst hau ich dir eine, dummes Stück! Bei Tränen gibt es Schläge, hörst du? Ein Indianer kennt keinen Schmerz, Prügel mit dem Kleiderbügel. Papa macht das nur, weil er dich liebhat. Böses Mädchen, zwingt Papa dazu, seinen Liebling zu schlagen.

Du bist kein Kind, kein Kind, kein Kind mehr. Denk: Ich!

»Ehrlich gesagt, Adrian Roth, wundere ich mich langsam über dich«, hörst du sie durch den Soundnebel. Schattenberg. In dieser Welt. Jetzt. »Ich hatte einen ganz anderen Eindruck von dir. So wie ich es sehe, hat jeder eine zweite Chance verdient.«

Erwischt. Beschämter Blick auf den verklebten Teller, ­reuiges Nicken, Nussbrösel zwischen den Gabelzinken fangen. Während dein Puls sich beruhigt und das Herz langsam wieder abwärtsrutscht.

»Stimmt. Wobei du bei deinem Assistenten vorhin … Von wegen zweite Chance.«

Dolchblick von Schattenberg. »Er hatte seine zweite Chance.«

»Ist ja auch nicht meine Angelegenheit. Es ist nur, ich kenne Kiki halt schon sehr lang. Sie ist … war … etwas instabil. Aber es wäre natürlich vorteilhaft, wenn sie die Möglichkeit bekäme … Sie kann sehr lustig sein. Und hundertprozentig loyal, wenn sie jemanden einmal ins Herz geschlossen hat.«

»Spinnst du? Red nicht in der dritten Person über mich, als wäre ich ein Hund oder sonst wie geistig abwesend! Wo bleiben heute Ihre ach so untadeligen Manieren, Herr Roth?«

»Au«, sagt er höflich und reibt sich die Stelle am Oberarm, wo deine Faust ihn getroffen hat.

»Was ist das eigentlich für ein komisches Verhältnis zwischen euch?«, fragt Schattenberg. »Seid ihr Geschwister?«

»Du hast es erfasst.«

»Red keinen Quatsch, Kiki. Wir waren einmal ein Paar. Lang ist’s her.«

»Jaja, die gute alte Zeit. Damals warst du auch schon mein großer Bruder, wir wussten es nur beide noch nicht. My brother from another mother.« In Rappermanier reckst du ihm Daumen, Zeige- und Kleinfinger der rechten Hand entgegen.

»Meinetwegen.« Er schaut viel freundlicher jetzt. Hat anscheinend bis eben nichts geahnt von seiner Bestimmung, entbrennt in geschwisterlicher Zärtlichkeit.

»Was für ein Geschäft ist das, wo du arbeitest?«

»Ich bin Buchhändlerin, hab mit einer Kollegin, Margit heißt sie, einen kleinen Laden in der Margaretenstraße.«

»Buchhändlerin! Ich liebe Bücher. Kann ich nicht gleich dort …?«

»Wirft leider nicht genug ab. Aber wie gesagt, im Rahmen einer persönlichen Assistenz müsstest du mir sowieso helfen. Ich habe so meine Probleme mit den oberen Regalfächern.« Wieder zwinkert sie. »Kannst du dir vorstellen, für mich zu arbeiten?«

Mit dem Vorstellen bist du längst fertig, sitzt in Gedanken schon mit ihr am Tisch und hörst ihr Lob über deine Spezial­lasagne. Für den Fall, dass sie diesmal nicht Gedanken lesen kann, nickst du. »Klar, wir sind ein Team! Vielleicht will mein Bruder ja gelegentlich vorbeischauen und sich überzeugen, dass alles klappt?«

Schattenberg lacht und blinzelt verschwörerisch. Und dann plötzlich: Zweifel in ihren Augen. Sie überlegt es sich, bereut ihr Angebot, weiß nicht, wie sie wieder rauskommt, beißt sich auf die Unterlippe, kratzt den Lippenstift ab.

Keine Panik jetzt, keine Tränen, bloß keine Tränen. Oder doch, vielleicht helfen sie gerade jetzt, überzeugen Schattenberg von deinem unbedingten Arbeitswillen. Instabil hat Adi gesagt. Nur emotional Instabile heulen wegen jedem Dreck. Atme, dummes Stück, atme ganz ruhig!

»Eine Sache wäre da noch«, Schattenberg senkt die Stimme. »Wie stehst du zum Kiffen?«

»Also, ich nehme eigentlich keine Drogen.«

Eigentlich. Das kauft sie nie, und Adrian prustet auch gleich los. »Geh, Kiki!« Was lacht er so dämlich?

»Ich schon«, flüstert Schattenberg und lehnt sich über den Tisch. »Quasi aus therapeutischen Gründen. Nichts hilft so gut gegen meine Spastiken wie Cannabis. Wenn du also ein moralisches Problem damit hast, mir den einen oder anderen Joint zu drehen oder ein Pfeiferl zu stopfen, dann …«

»Ha! Haha! Ich war im Häfn, bin eine verurteilte Mörderin und soll ein Problem mit Gras haben. Hahaha!«

Sind die gemeinsam in einer Pantomimengruppe, Adrian und Schattenberg, oder warum pressen sie synchron die Lippen zusammen und schließen die Augen? Zu laut, du Vollidiotin, zu laut warst du. An den Nebentischen gesenkte Köpfe, verstohlene Blicke. Eine Mörderin unter uns, drogensüchtige Mörderin, zu Hülfe! Einer greift nach seinem Telefon, will entweder die gefährliche Verbrecherin in action knipsen oder die Polizei verständigen. Aber die können dir gar nichts, Strafe verbüßt, und über Gras reden ist auch nicht verboten. Wenn nur ein Einziger es jetzt wagt, dich anzuschauen, dann fletschst du die Zähne und knurrst. Lass dir bloß nichts gefallen!

»Hey, Kiki, das war ja geradezu genial«, sagt Adi, ebenfalls viel zu laut, und lacht verkrampft. »Das Stück wird garantiert ein Knaller mit dir in der Hauptrolle. Eine hervorragende Idee, dieser Theatergruppe beizutreten.«

Etwas unnatürlich, seine Vorstellung, insofern gut, dass er nicht in einer Theatergruppe spielt, aber trotzdem – rundum Aufatmen und Schattenberg lacht laut. Schöne Zähne hat sie, auch wenn hinten zwei fehlen. Aber besser, sie gibt ihr Geld für eine gute Assistentin aus als für Zahnersatz.

»Das mit der Mörderin …«, flüsterst du sehr leise.

»Tss!«, schnalzt sie und sieht an sich hinunter. »Wovor, denkst du, habe ich noch Angst?«

»Nicht vor Mördern anscheinend. Oder Ex-Mörderinnen. Gibt es das eigentlich, Ex-Mörder, oder bleibt man das ganze Leben lang quasi aktiv, auch wenn man nicht mehr, ähm, tätig ist? Ich meine, wenn man einen Beruf aufgibt, dann ist man ja auch ein Ex. Ich jetzt Ex-Burger-Packerin und Adrian beispielsweise Ex-Uniassistent und aktiver Trauerredner. Stimmt doch, oder?«, fügst du hinzu, weil Adi geradezu verzweifelt dreinschaut. Dabei behauptet er immer, es wäre die einzig richtige Entscheidung gewesen, das Kunstgeschichte-Institut zu verlassen. Schattenbergs Blick ist schwer zu deuten. Irritiert irgendwie. Interesse für die Gefühle anderer Leute sollst du zeigen, sagt der Therapeut, ohne gleich ganz in sie hineinzuschlüpfen. Schattenberg hat dich etwas gefragt. »Ja, also: Wovor hast du Angst? Dass es schlimmer wird? Gelähmt bis zum Hals, kann das passieren?«

Was ist jetzt schon wieder? Missbilligender Blick vom edlen Herrn Roth. Wenn das nicht einfühlsam war. Außerdem musst du doch Bescheid wissen, wenn du für sie arbeitest.

Schattenberg seufzt und nickt.

»Wie ist das überhaupt passiert?«, fragst du, mitfühlend wie nur was. »Ein Unfall?«

»MS«, antwortet sie. »Multiple Sklerose.«

»Schon mal gehört.«

»Chronische Entzündungen im Zentralnervensystem, kurz gesagt.«

»Und das tut weh? Und kommt einfach so?«

»Ja und ja. Infektion, Umweltgifte, Psychokram oder Strafe Gottes, Genaues weiß man nicht.« Sie zuckt mit den Schultern. »Ist ja auch egal. Es ist da und es ist, was es ist.«

»Hat auch sein Gutes, wenn du vor nichts anderem mehr Angst haben musst«, tröstest du, weil es wahr ist und du außerdem voll drin bist im Sozialmodus. Du kannst gut sein, wenn man dich nur lässt, richtig gut. Heilige Kiki, in Stein gehauen und neben dem Christus draußen platziert. Adrian räuspert sich, will wahrscheinlich das Thema wechseln, aber es fällt ihm nichts Unverfängliches ein. Muss man wohl einspringen. »So, genug von Krankheit, Tod und Leid! Worüber habt ihr geredet, bevor ich gekommen bin?«

Adi schnaubt. »Über Tod und Leid. Wir kommen von einer Beerdigung.«

Wieder greift er nach Schattenbergs Hand. Wie das wohl ist mit einer Behinderten, ob die untenrum ganz normale Gefühle hat? Er ist doch ein kleiner Perverser, Adi, Mörderinnen und Krüppel bevorzugt, komisches Beuteschema. Wobei – wahrscheinlich geht es gar nicht um Erotik, sondern schon wieder um Einfühlsamkeit.

»Ein Verwandter?« Du legst deine Hand auf Schattenbergs freie Rechte. Was er kann, kannst du auch, trostreiche Berührungen und alles. Hamster und Katzen im Altersheim. Ob sie Haustiere hat?

»Mein Exmann«, korrigiert Schattenberg, starrt auf ihre fixierten Hände und bricht in Gelächter aus. Adrian lässt ihre Hand los und fällt mit ein. Lacht. Laut. An einem öffentlichen Ort. Lacht, bis ihm die Tränen über die Wangen rinnen. Diesmal bist du eindeutig die Normalste, kannst milde lächeln, verständnisvoll dreinschauen. Und noch einen Kaffee bestellen, wo der Kellner schon abräumt.

»Ihr zwei seid meine Rettung heute«, japst Schattenberg, als sie wieder zu Atem kommt. »So ein Scheißtag hätte das werden können. Darf ich euch auf ein Glas Wein einladen?«

Momentan bleibt dir die Luft weg vor Rührung, weil dir klar wird, was du heute alles geschafft hast: Job in bevorzugtem Bereich gefunden – check! Diszipliniertes Interesse für die Gefühle anderer gezeigt – check! Damit einer behinderten Hinterbliebenen den Tag gerettet, sie quasi vom Grab weg zum Lachen gebracht, eindeutig Goldmedaille in der Disziplin Aufheiterung und gleichzeitig überzeugender Beweis deiner Einfühlungsgabe. Nimm das, Therapiefuzzi! Außerdem scheint Adrian nicht mehr ganz so mies drauf zu sein wie in den letzten Tagen und rückt womöglich doch noch einen Hunderter raus. Wenn das nicht gute Gründe zum Feiern sind. Mach das jetzt bloß nicht kaputt, dummes Stück!

3 Olga

Tot war er und der Schmerz nicht länger abzuwehren. Im Hinterkopf hatte sie die ganze Zeit über gewusst, dass der schräge Nachmittag mit Kiki und Adrian ihr nur einen Aufschub verschaffte, dass sie die volle Dosis später würde schlucken müssen. Und nun war es so weit. So what? Sie war Schmerz gewohnt. Man musste ihn einlassen, auch wenn sich alles dagegen sträubte, musste ihn Besitz ergreifen lassen von jeder Faser, ihn wüten lassen, bis er sich erschöpfte.

Seit wenigen Minuten war sie allein, und schon meinte sie an ihrer Trauer zu ersticken. Weiterleben. Ohne ihn. Undenkbar. Dass ihr das jetzt erst klar wurde. All die Tage seit seinem Tod war sie zurechtgekommen. Sie hatte geweint, das ja, hatte gedacht, das wäre sie, die Trauer: eine betäubende Erschütterung, angefahren, doch nicht überrollt. Immerhin war er nicht mehr ihr Mann. Zwei Jahre hatte sie Zeit gehabt, sich an eine Umgebung zu gewöhnen, in der er fehlte, und nun walzte der Schmerz mit solcher Wucht über sie hinweg, vor und zurück und wieder vor, als wollte er nichts von ihr übriglassen, sie gänzlich zermalmen.

Selbst der Joint, an dem sie so fieberhaft sog, dass er viel zu schnell zwischen ihren Fingern verglomm, konnte gegen diese Gewalt nichts ausrichten. Sie ließ den Stummel in den Aschenbecher fallen, der neben ihr auf dem Sofa stand, traf auch – kein weiteres Brandloch – und dachte daran, sich gleich den nächsten anzuzünden. Drei Stück hatte Kiki ihr eher gefaltet als gedreht, drei krumme und unregelmäßig gefüllte Joints, die bis morgen früh reichen mussten.

Kiki, ein bisserl spinnert zwar, aber mit einem guten Herzen, die darauf bestanden hatte, sie nach Hause zu begleiten, die den Schneematsch, den der Rollstuhl in der Wohnung verteilt hatte, aufgewischt und ihr Glühwein und Käsebrote für den Abend zubereitet hatte. Und das ohne zu fragen, ob sie für diese Arbeit bezahlt würde. Ein Glücksgriff. Glück in glücksfernen Zeiten nun doch, und besser als bei Genazino. Sie klammerte sich an den Gedanken, versuchte dahinter in Deckung zu gehen vor der Qual, die sich allerdings nicht aufhalten ließ von solchen Finten. Ihr Kopf sank an die Sofalehne. Sie schloss die Augen und ergab sich.

Wie er sie schon von weitem angestrahlt hatte bei ihrer ersten Begegnung, damals in dem besetzten Haus. Can Toprak