Zwischen euch verschwinden - Gudrun Lerchbaum - E-Book
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Zwischen euch verschwinden E-Book

Gudrun Lerchbaum

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Beschreibung

Immer wieder eine andere werden, um zu verschwinden: Maria flieht vor ihrer eigenen Identität und hinterlässt blutige Spuren. Wenn die Freiheit plötzlich in greifbare Nähe rückt: Jetzt ist die Mutter wirklich tot. Endlich Ruhe, endlich nicht mehr gebraucht werden, endlich einen Moment für sie allein. Maria fährt los, gönnt sich zuerst ein Sektfrühstück, dann eine Nacht mit einem Fremden im Hotel. Als sie am nächsten Morgen in die Einfahrt biegt, steht die Polizei vor ihrem Haus. Maria bekommt Panik – und verschwindet. Zwischen Unsichtbar-Werden und der Angst gefunden zu werden: Maria wechselt ihre Identitäten, arbeitet mal da mal dort. Immer wieder wird ihre prekäre Situation schamlos ausgenutzt. Sie schwankt zwischen Passivität und Selbstermächtigung, sucht den Weg des geringsten Widerstandes, fügt sich und passt sich ihrer Umwelt geschmeidig an ... so lange, bis es ihr reicht. Dass der Tod ihrer Mutter nicht der einzige Todesfall ist, in den sie involviert ist, und dass Maria nicht nur von der Polizei gesucht wird, lässt das Spiel mit der Identität zur Überlebensstrategie werden. Ein Kriminalroman, der die Augen für die Schicksale der Ungesehenen öffnet: Gudrun Lerchbaum nimmt uns mit auf eine rasante Reise entlang der Schicksale jener Frauen, die ungesehen bleiben: da ist die pflegende Angehörige schwerkranker Eltern, da ist die Kellnerin in Schwarzarbeit, die ausgebeutet und erpresst wird, da ist die Ehefrau, die sich vor ihrem prügelnden Mann ins Frauenhaus rettet, und die 24-Stunden-Pflegekraft, von der viel mehr als nur Pflege erwartet wird. Marias Wechselspiel aus Passivität und radikalen Befreiungsschlägen lässt sie dich spüren: die Hilflosigkeit und den lodernden Zorn, die aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung entstehen.

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Gudrun Lerchbaum

Zwischen euch verschwinden

Kriminalroman

Erster Teil

 

 

Jetzt ist die Mutter wirklich tot.

Maria sitzt auf dem Bett, umgeben von Libellen. Über einem Paar weißgeränderter Flügel liegt ihr Zeigefinger. Die Landschaft der Adern und Sehnen auf ihrem Handrücken tritt im flachen Schein der Nachttischlampe plastisch hervor.

Seit ihrer Kindheit liebt Maria Libellen. Einen Moment lang scheinen die stilisierten Umrisse noch über dem blassblauen Untergrund zu schweben, dann lassen sie sich nieder, reihen sich ein in das strenge Raster, nichts als ein Muster auf billiger Bettwäsche. Gleich nach dem Frühstück ist sie damals los zum Diskonter, um noch zwei Garnituren zu ergattern. Die schönen Sachen sind immer schnell vergriffen.

Ihre Hand, im Gegensatz zu den Libellen alles andere als zart, eine Arbeitshand, gräbt sich noch immer in den Kissenbezug und die Federn darunter. Maria löst ihren Griff, streicht die Libellen glatt, zupft an einer Daune, deren Kiel sich durch das Gewebe bohrt, und bläst sie von der Kuppe des Zeigefingers. Ihre Finger mit den kurzgeschnittenen Nägeln sind von der Art, die schlecht Ringe tragen kann, weil das Mittelgelenk dicker ist als der Knochen dahinter. Nach dem Scheitern ihrer Ehe hat sie sich den Ring vom Finger schneiden lassen, weil er sich weder mithilfe von Seife noch Handcreme hatte entfernen lassen.

Wie sie sich an jeden vorbeihuschenden Gedanken klammert.

Nie zuvor ist ihr beispielsweise aufgefallen, dass Denken Spuren erzeugt, fedrige Klänge, die durch den Raum flirren. Es muss an der Stille liegen. So still ist es um sie herum, dass sie ein Dröhnen in ihrem Inneren hört, das sie noch nie zuvor vernommen hat. Kein Rauschen des Blutes, eher ein grollendes Wummern, als fräße sich zehn Meter unter der Erdoberfläche ein Tunnelbohrer durch Granit. Dazu gesellt sich ein anschwellendes Pfeifen im linken Ohr. Wie soll es weitergehen?

„Wie soll es weitergehen?“, flüstert sie.

Das Pfeifen wird leiser, erstirbt.

Maria stemmt sich hoch, pflügt mit schleppenden Bewegungen durch den Raum wie durch ein Wasserbecken. Behutsam öffnet sie die zimtfarbenen Vorhänge, dann die Stores, achtet darauf, dass sich die Haken nicht in der Schiene verkeilen. Selbst die kleinste Panne wäre imstande, den Rest an Fassung zu sprengen, die sie sich bewahrt hat und weiter bewahren muss. Sie öffnet das Fenster, holt tief Luft, stellt sich vor, wie die Stille und alles Leid, das ihr vorausgegangen ist, gegen ihren Rücken branden, sie umspülen und an ihr vorbei ins Freie fließen, um sich im Graugelb der Morgendämmerung aufzulösen.

Sie schließt das Fenster und die Stores.

Auf dem Weg zurück zum Bett gerät der Raum aus dem Gleichgewicht. Alles dreht sich, der Messingkronleuchter mit den falschen Kerzen, die Blumentapete, die Möbel in Eichendekor mit naturweißen Akzenten, die goldgerahmten Drucke aus dem Möbelhaus. Maria taumelt gegen die Kommode, stößt sich die Hüfte am Ladengriff, reißt um ein Haar die Kristallschale zu Boden, weil sie sich mit einem Finger in der Häkeldecke darunter verfängt. Ihre Nase, ihr ganzes Gesicht fühlen sich taub an. All das Zeug, das hier herumsteht, Braun und Beige, wohin sie blickt. Farbtöne, die für Behaglichkeit stehen sollen. Sie lauscht auf ihren keuchenden Atem, bis der sich beruhigt, wartet, dass die umherwirbelnden Dinge sich wieder an ihre Plätze verfügen.

Jemand sollte die Vorhänge von den Fenstern und die Tapeten von den Wänden reißen und alles entsorgen.

Maria sitzt wieder auf dem Rand des Bettes, umgeben von Libellen. Sie hält den Atem an, fasst das Kissen mit beiden Händen, drückt es an die Brust und zwingt sich hinzusehen. Erleichtert atmet sie aus. Das Gesicht der Mutter ist schlaff und völlig ausdruckslos, die Augäpfel unter den halbgeschlossenen Lidern matt und leer, der Mund steht offen. Weder die Leiden der letzten Jahre noch die Mühsal des Sterbens haben sich ihren Zügen eingeprägt. Vor Maria liegt ein erlöster Körper, frei von den Qualen der Existenz.

Dabei hat die Mutter sich nach Kräften gegen das ersehnte Ende gewehrt. Vergeblich schließt Maria die Augen vor der Erinnerung. Wie die Mutter sich aufgebäumt hat, als die Luft ausblieb, das Entsetzen in ihrem Blick, das Zucken und Röcheln. Und jede Möglichkeit, ihr zu einem weiteren Atemzug zu verhelfen, erschöpft. Kein Wunder, dass Marias Kopf angesichts dieser Qualen kapituliert hat, dass sie wieder einmal einen ihrer Aussetzer hatte.

Wie lange sie bewegungslos auf dem Bettrand gesessen ist, kann sie nicht sagen. Hat sie das Kissen unter dem Kopf der Mutter hervorgezogen und auf ihr Gesicht gelegt, um sie nicht tot sehen zu müssen, oder schon zuvor, um sie nicht länger leiden zu sehen? Sie erinnert sich nicht. Fast sicher ist sie hingegen, dass sie es nicht fertiggebracht hat zuzudrücken, sich auf das Kissen zu werfen und dem Elend endlich ein Ende zu machen, obwohl die Mutter sie wieder und wieder angefleht hat, genau das zu tun.

Behutsam streichelt sie die knittrige Wange der Mutter. Ihre Haut fühlt sich kühl an wie ein alter Lederhandschuh.

Die Matratze schwankt. Marias Hand zuckt zurück, ihr Herz stolpert, rast – die Mutter hat sich bewegt! Erst als das Surren verstummt, begreift sie. Wie hat sie das vergessen können? In regelmäßigen Abständen pumpt der Motor die Luftkammern der Matratze auf und entlüftet andere, um dem Wundliegen vorzubeugen.

„Das ersetzt zwar nicht regelmäßiges Umlagern, doch jede Hilfe zählt bei der Betreuung einer bettlägerigen Patientin“, hat Doktor Dobler gesagt, als Maria vor viereinhalb Jahren nach dem Schlaganfall der Mutter eingezogen ist. Zwar war die Mutter schon vorher mit Krankheiten reichlich bedient gewesen, doch erst seit damals war dauernde Betreuung nötig, die Maria zwar nicht rund um die Uhr beschäftigt, aber doch wirkungsvoll von jeder anderen Tätigkeit abgehalten hat. Dass die Matratze nun weiteratmet, obwohl der Mutter die Luft weggeblieben ist, geht zu weit. Maria geht zum Fußende des Bettes und schaltet das Gebläse aus.

Ob die Seele durch das Fenster entwichen ist? Doch wie hätte sie durch das Kissen auf dem Gesicht entkommen sollen? Maria versucht, sich zu öffnen für eine eventuelle Restpräsenz der Mutter, spürt nichts. Dennoch hebt sie, gegen den Widerstand der einsetzenden Totenstarre, Kopf und Schultern der Mutter an, bettet sie auf das Kissen. Auch die Lider wehren sich gegen ihre Daumen, wollen nicht schließen. Erneut öffnet Maria Vorhänge und Fenster, nur zur Sicherheit. Die Mutter hat sich jede Freiheit verdient. Viel zu lange war sie hier eingesperrt, in diesem Haus, in diesem Körper.

Es ist höchste Zeit, den Arzt zu verständigen. Oder soll sie warten, bis die Praxis öffnet? Sie könnte im Internet nach der korrekten Vorgangsweise suchen, doch das kommt ihr lieblos vor. Ein wenig wird sie noch bei der Mutter sitzen bleiben. Da der Leichnam schon erstarrt ist, gibt es keinen Grund, Doktor Dobler aus dem Schlaf zu reißen. Insgeheim wird er froh sein, dass sie ihn hat schlafen lassen.

„Na, na, na“, wird er sagen und an der Tür beiläufig ihre Schulter tätscheln. Noch nie hat er ihr in die Augen gesehen und trotz seiner häufigen Besuche bezweifelt Maria, dass er sie auf der Straße erkennen würde. „Sie trifft nicht die geringste Schuld, Frau Arnold!“, wird er ihr versichern, als hätte er das zu entscheiden. „Eher früher als später war damit zu rechnen, wenn wir ehrlich sind, nicht wahr. Ihre liebe Mutter hat das Ende seit Jahren herbeigesehnt.“

Als wüsste Maria das nicht. Als müsste erst der Doktor seinen Stempel auf jede Wahrheit drücken. Und dann wird zwischen ihnen die Erinnerung daran aufsteigen, wie die Mutter ihn vor einigen Wochen angefleht hat, sie totzuspritzen, wie sie es genannt hat.

„Ich mach’s doch. Eh nicht mehr lang und. Ich will nicht. Ersticken! Jedem Viech. Gönnt man die. Barmherzigkeit. Oder muss. Meine Maria. Mich mit dem Polster. Ersticken?“ Der darauf folgende Hustenanfall hat Marias geflüsterten Protest übertönt.

„Glauben Sie, ich würd das nicht merken? Wollen Sie ihre Tochter ins Gefängnis bringen, nach allem, was sie für Sie getan hat? Ich werde Ihnen noch was Beruhigendes aufschreiben. Und wenn es Ihnen wirklich ernst ist mit dem Sterbenwollen, dann stellen Sie einen Antrag, das geht ja jetzt. Da müssen Sie sich dann aber einen anderen Arzt finden, weil ich bin katholisch.“ Auf dem Weg zur Tür hat er Maria noch zugeraunt: „Wenn es Ihnen zu viel wird, Frau Arnold, dann bleibt immer noch die Option Pflegeheim. Manchmal trägt ein professioneller Pflegeansatz zur Beruhigung der Patienten bei. Niemand würde Ihnen einen Vorwurf machen.“

„Nicht ins Heim!“, hat die Mutter gerasselt, als Maria zurückgekommen ist. Ihr Gehör, die Augen und der Verstand funktionierten weit besser, als ihr Zustand vermuten ließ, was ihr den Verfall des Restkörpers noch schwerer erträglich machte. „Bring mir ein Messer! Ich mach’s selber.“

Wie ferngesteuert hat Maria die Porzellanfiguren in der Vitrine abgestaubt und zurechtgerückt.

„Mach dir nichts vor!“, hat die Mutter nicht aufgegeben. „Du denkst doch. Jeden Tag nach. Was du machen wirst. Wenn ich endlich. Am Friedhof daheim bin.“

Maria hat den Kopf geschüttelt und wirklich nicht gewusst, was sie sagen soll.

„Mirli? Was hast. Du vor? Wenn ich nicht. Mehr bin?“

Erst in diesem Moment hat Maria angefangen, darüber nachzudenken. Das Schlimmste war, dass ihr nicht sofort etwas einfallen wollte. Sex ist ihr als Erstes in den Sinn gekommen, dann Tanzen. Reisen vielleicht. Oder war erst Tanzen und dann Sex?

„Nicht einmal. Vierzig bist du.“

„Einundvierzig.“

„Die Zeit. Vergeht.“

Jetzt, da die Mutter tot ist, denkt Maria weder an Sex noch ans Tanzen oder Reisen. Die ganze Nacht war sie wach. Sie hat Hunger. Mehr als alles andere wünscht sie sich ein Frühstück mit allem Drum und Dran, eines, das sie nicht selbst zubereiten muss. Und was spricht dagegen, noch ein wenig zu warten mit all den Anrufen und Erledigungen? Noch einmal schaut sie die Mutter an, die so friedlich daliegt und sie nicht mehr braucht, und küsst sie auf die Stirn. Dann steht sie auf, geht ins Bad, um zu duschen, schminkt sich zum ersten Mal seit Wochen Augen und Lippen, zieht sich an und verlässt das Haus.

Schon nach zwei Schritten bleibt sie stehen. Sobald sie das Café Rafi betritt, wird Rafaela sie fragen, wie es der Mutter geht. Was soll sie dann sagen?

Die Rosen verblühen. Sie bückt sich, hebt ein Blütenblatt auf, das sich unter ihren Fingerspitzen anfühlt wie die Haut an den Innenseiten der Arme oder an den Lenden eines Mannes, samtig und feucht, als wäre er gerade aus dem Meer aufgetaucht. Viel lebendiger jedenfalls als die Haut der Mutter in den letzten Jahren. Wie es wohl sein wird, wieder einmal einen Mann zu riechen, zu schmecken und seine Wärme zu spüren.

Gegenüber fährt das Rolltor der Garage hoch. Sie sieht Alfred den Helm aufsetzen und sein Motorrad starten. Er arbeitet in Hollabrunn im Baumarkt. Grüßend hebt er die Hand, als er auf die Straße schwenkt. Wenn er sie mitnähme und unterwegs irgendwo auf einer Wiese … weg ist er.

Sie öffnet das Garagentor, setzt sich ins Auto, schiebt rückwärts und steigt aus, um das blecherne Kipptor wieder zu schließen. Dann steuert sie den Ford aus der Einfahrt, umkurvt den klappernden Kanaldeckel und sieht im Rückspiegel das fahlgelbe Haus hinter der Eibenhecke verschwinden.

Weil sie nicht zu schnell ankommen will, nimmt sie die andere Richtung, fährt bis Krems und durch Krems hindurch, gondelt am Ufer der Donau entlang. Als die Felsen und Wälder und Weinberge zu beiden Seiten des Flusslaufes ihr endlich echter erscheinen als die Geschehnisse der letzten Stunden, entdeckt sie das Café, raumhoch verglast und nur durch die Uferstraße vom Strom getrennt.

Bio-Räucherlachs und Rührei, einen Korb voll knusprigem Gebäck, Joghurt mit Heidelbeeren, frisch gepressten Orangensaft und Kaffee arrangiert der Kellner auf ihrem Tisch. „Einmal Breakfast Deluxe ohne, die Dame.“

Der Milchschaum ist in herzförmige Schlieren gegossen. Sie bedankt sich mit gesenktem Kopf, will nicht, dass er sie für übergeschnappt hält, weil ihr beim Anblick einer Schale Kaffee Tränen in die Augen treten.

„Oder darf es doch ein Glas Prosecco dazu sein?“ Zerstreut nickt Maria, lächelt nun doch den Kellner an, während sie den ersten Bissen in den Mund steckt. Fast verschluckt sie sich, weil der aufmerksame Blick eines Mannes und der Lachsgeschmack an ihrem Gaumen zu viel auf einmal sind. Jahrelang hat sie keinen Lachs mehr gegessen, die Mutter mag keinen Fisch. Dann fällt ihr ein – doch der Kellner ist schon fast bei der Theke. Maria räuspert sich, um die Bestellung zu stornieren, doch er reagiert nicht.

Die Mutter ist tot, ist heute gestorben und leicht ist es ihr nicht gefallen. Maria muss deshalb unendlich traurig sein, auch wenn sie es nicht spürt. Nicht einmal, wenn sie sich darauf konzentriert, kann sie die Traurigkeit fühlen, mit dem Lachs und dem Rührei im Mund, der Säure des Orangensaftes, den Blick in den Himmel und auf die bewaldeten Hänge am gegenüberliegenden Ufer gerichtet. Eine Tragödie ist es, kein Anlass, der mit Sekt begossen werden darf. Was würde die Mutter sagen?

„Ist Ihnen nicht gut? Sie sind so blass um die Nase.“

Der Kellner stellt den Prosecco neben den Kaffee, beugt sich herab, mustert sie, Sorgenfalten auf der Stirn, sein Gesicht so nah, dass Maria schielen muss, um ihn scharf zu sehen.

„Kreislauf“, murmelt sie und glättet die Serviette, die sie in der Rechten zerknüllt hat. „Es war recht viel in letzter Zeit und das Wetter …“ Sie schaut zum Fluss, über dem Wolken in Richtung Wien jagen. Sie ist aus der Übung, was Gespräche mit Fremden angeht. Nicht, dass sie je viel geredet hätte.

„Das wird schon wieder!“ Flüchtig berührt der Kellner sie an der Schulter. „Nichts bringt die Lebensgeister so schnell in Schwung wie Kaffee und Prosecco. Lassen Sie es sich gut gehen!“ Als sähe er ihr an, was sie braucht, was sie hinter sich hat. „Prost! Wenn Sie einen Wunsch haben, rufen Sie. Dragan mein Name.“

Angesichts der Aufmerksamkeit dieses Fremden bringt Maria es nicht fertig zu widersprechen. Nach viereinhalb Jahren Kräutertee hat sie sich den Prosecco verdient. Mit einem Schluck leert sie das halbe Glas.

Draußen werfen sich Vögel gegen den Wind oder lassen sich von ihm beschleunigen, um wie Pfeile kreuz und quer über den Fluss zu schießen. So wird sie es auch machen, bald, sich umherwerfen lassen, bis sie sich wieder spürt.

Mehr als ein Glas sollte sie nicht trinken, sie muss noch zurückfahren. „Herr Dragan“, sagt sie so leise, als stünde er immer noch neben ihr und nicht Gläser polierend hinter der Theke. Wenn er es hört, dann soll es so sein. Er hebt den Kopf, dann eine Augenbraue und schließlich die Flasche.

Als Maria den letzten Rest Joghurt vom Löffel schleckt, ist es nach elf und sie fühlt sich beschwipst. Die Zeit ist verflogen, fast als hätte sie einen Aussetzer gehabt. Dabei hat sie nur jeden Bissen ausführlich gewürdigt, dem Prickeln bei jedem Schluck nachgespürt und dann gleich den nächsten genommen. Mit der Zeigefingerspitze pickt sie ein paar Brösel vom Teller, schleckt sie ab. Höchste Zeit ist es. Sie schaut sich nach Dragan um, der ausgerechnet jetzt telefoniert, in dringlichem Ton, die Brauen gesenkt, dazwischen tiefe Zornesfalten. Es dauert eine Weile, bis sie Augenkontakt herstellen kann und ihr Portemonnaie hebt. Bis er kommt, schaut sie hinaus in die Landschaft. Schön ist es da, viel schöner als daheim. Überall vielleicht schöner als daheim.

„Ich habe Ihnen den Flaschenpreis berechnet, das ist günstiger als fünf Gläser“, sagt Herr Dragan und legt die Rechnung auf den Tisch.

„Fünf Gläser?“

Er zuckt mit den Schultern. „Ist noch ein Rest drin, wenn Sie mögen.“

„Ich muss fahren“, sagt sie, mehr zu sich als zu ihm.

„Vielleicht machen Sie vorher einen Spaziergang. Oder Sie nehmen sich ein Zimmer, eine Nacht weg von allem, was Sie bedrückt. Könnt ich auch gerade brauchen. Balkon mit Blick über die Donau. Wir sind halbleer, und für Sie mache ich einen Sonderpreis.“

Ob er erotische Hintergedanken hat? Doch selbst wenn. Läge nur die Mutter nicht tot zuhause, inzwischen sicherlich steif wie ein Brett. Doktor Dobler muss endlich verständigt werden.

„Entschuldigung, ich hab nicht verstanden. Was ist mit Ihrer Mutter?“

Maria spürt die Röte vom Hals in die Wangen ziehen. „Nichts, gar nichts. Sie ist nur – sie wird schon einen Tag ohne mich auskommen. Ich nehme das Zimmer. Und den Prosecco, bitte!“

*

Als Maria am Morgen die Augen öffnet und aus dem Fenster sieht, flattert es in ihrem Bauch. Anstelle der Eibenhecke und der Kastanie im Nachbargarten fliegt ihr die Weite der Flusslandschaft entgegen, dass sie sich fühlt wie ein Kind auf der Schaukel. Der Abschwung folgt beim Blick auf ihr Handy. Acht Uhr sechsundzwanzig schon! Sie hat über neun Stunden geschlafen. Dabei wartet die Mutter daheim, tot seit über vierundzwanzig Stunden.

Unter der Dusche wird sie ruhiger, versichert sich, dass die Mutter eben nicht wartet, dass sie nie wieder warten wird, und dass es auf ein paar Stunden mehr oder weniger nicht ankommt. Das Begräbnis soll dafür doppelt schön werden. Gegen eine Spende singt der Kirchenchor, und danach ein schönes Buffet bei Rafi.

Der Duschvorhang bläht sich, fällt zusammen, klebt an ihrer Hüfte. Die Badezimmertür steht einen Spalt breit offen. Maria hat sie offengelassen, ganz automatisch, damit sie die Mutter hören kann, wenn die was braucht. Jetzt kommt ihr vor, als könnte sie hereingeweht sein, der ganze Raum ist voll von ihr. Aber es ist nur der Wasserdampf, sicherlich nur der. Was bildet man sich nicht alles ein, wenn man überreizt ist. Sie dreht das Wasser ab und greift nach dem Badetuch. Wenn sie da wäre, die Mutter, würde sie sich freuen, dass es auch der Tochter ein wenig leichter ist.

Mit den Fingern kämmt Maria die nassen Haare, zieht sich an und geht hinunter. Schnell einen Kaffee hinunterkippen, zahlen und dann gleich fahren will sie. Doch Dragan hat ihr schon einen Tisch hergerichtet mit Obst und Müsli und frischem Gebäck.

Gestern nach dem Abendessen hat er sich mit einer Flasche Wein zu ihr gesetzt und von seiner Scheidung erzählt, wann immer die anderen Gäste ihm Zeit gelassen haben. Einen Donauwalzer hat er mit ihr zwischen den Tischen getanzt, weil die deutsche Reisegruppe wissen wollte, wie Linkswalzer geht. Später hat er an ihre Zimmertür geklopft und sie hat ihn eingelassen. Da kann sie seine Freundlichkeit jetzt nicht zurückweisen, als wäre er ein Fremder.

„Ich muss wirklich bald los“, sagt sie, berührt seinen Arm und fühlt sich weltgewandt und souverän wie lange nicht mehr, vielleicht wie noch nie. Sie ist ja nie irgendwo hin, allein, seit sie damals die Lehrstelle in Linz angetreten hat.

Die Fahrt zurück nach Eichschlag zieht sich. Auf halber Strecke setzt Nieselregen ein. Inzwischen kann sie es gar nicht erwarten, zur Mutter zu kommen, ein paar letzte Minuten mit ihr zu verbringen, bevor der Arzt kommt und sie endgültig Abschied nehmen muss.

Sie wird das Haus verkaufen, so schnell wie möglich, und abhauen aus dem Dorf, aus dem Wald. Das ist plötzlich so klar, als hätte sie nie etwas anderes in Betracht gezogen. Sie wird in die Stadt ziehen oder in die Berge oder ans Meer, einfach irgendwo anders hin. Und vorher verreisen. Ein bisschen Geld liegt noch am Sparbuch, sowohl auf ihrem als auch auf dem der Mutter, und wenn das Haus gut weggeht, wird noch einiges dazukommen.

Zuletzt sind viele Städter in die Gegend gezogen, Künstler zumeist oder welche, die sich dafür halten. Solche werden ihr das Haus aus den Händen reißen, werden in Gummistiefeln einkaufen gehen und den Nebel malerisch finden, die Kälte erfrischend, die dunklen Wälder mystisch.

Maria hingegen hat die Nase gestrichen voll davon, ebenso vom Heckenschneiden und Rasenmähen. Eine Wohnung mit Balkon und weitem Ausblick wird sie sich nehmen, an einem Ort, an dem es ihr wirklich gefällt, den sie sich selbst aussucht. Den sie finden wird, indem sie sich so lange umschaut, bis sie sich entscheiden kann. Sie wird in Bars gehen, sich an die Theke setzen und warten, bis sie einer anspricht, mit dem sie gehen mag, sich aber um alles in der Welt nicht gleich wieder binden, nicht einfangen lassen. Nicht so bald jedenfalls. Sie wird ihre Freiheit genießen. Like a rolling stone!

Sie dreht das Radio lauter, versucht mitzusingen, reiht Silben aneinander, obwohl sie nur Bruchstücke versteht von dem englischen Text. Sie wird sich Arbeit im Fremdenverkehr suchen, eine Weile herumziehen, bevor sie sesshaft wird.

„He’s got the whole world in his hands“, jubelt sie ihr Lieblingskirchenlied über das Geschnatter der Möbelhaus-Werbung hinweg, während sie von der Landstraße in den Ort abbiegt. „She’s got the whole world in his hands. Her hands“, flüstert sie. Seit Monaten war sie nicht mehr in der Messe, bei der Beichte schon gar nicht. Hoffentlich macht ihr der Pfarrer keine Vorhaltungen deshalb, wenn sie die Totenfeier mit ihm bespricht.

Gott sei Dank ist ihr das Sparbuch vorhin eingefallen. Sie bleibt vor der Bank stehen und hebt am Automaten sowohl das Geld vom Girokonto als auch vom Sparbuch der Mutter ab. So macht man das, machen es alle, wenn Angehörige sterben, rasch, bevor der Tod offiziell wird. In Marias Fall geht es gar nicht anders, da sie über kein eigenes Einkommen verfügt. Auch das Pflegegeld fließt über das Konto der Mutter. Es dauert Monate, bis eine Erbschaft freigegeben wird, und die Beerdigung will schließlich finanziert werden.

Sie nickt Werner zu, dem Filialleiter, der an seinem Platz hinter der automatischen Glasschiebetür telefoniert und salutierend mit der Handkante an die Stirn tippt. Sie stellt sich sein wissendes Schmunzeln vor, wenn er vom Tod der Mutter hört und sich an ihren Besuch erinnert. Obwohl sie nur große Scheine nimmt, ist das Bündel so dick, dass sich ihr Portemonnaie nicht schließen lässt, also steckt sie die Hälfte in das Reißverschlussfach ihrer Umhängetasche.

Als sie den Minimarkt passiert, bremst sie kurz, überlegt umzudrehen und schnell die wichtigsten Einkäufe zu erledigen. Daran hätte sie besser beim Supermarkt nach der Schnellstraßenabfahrt gedacht. Der Doktor wird ebenso bewirtet werden wollen wie die Kondolenzbesucher und sie hat nur noch einen Rest Marillenschnaps und den ranzig schmeckenden Nusslikör von der Nachbarin und keine Knabbereien im Haus. Doch jetzt, da sie gesehen worden ist, mag sie die Mutter nicht mehr länger auf die Anerkennung ihres Todes warten lassen. Sie tritt aufs Gas und biegt in den Mühlenweg ein.

Hundertfünfzig Meter weiter, vor dem Haus der Mutter, parkt ein Polizeiauto. Und in der Einfahrt der schwarze Kombi des Doktors. Etwas knirscht in Marias Brust, ihrem Kopf, verhakt sich, setzt sich kreischend wieder in Bewegung, läuft weiter, unaufhaltsam in die falsche Richtung. Radiowerbung dröhnt in ihren Ohren, während sie im Schritttempo näher rollt.

Die Haustür steht halb offen, doch niemand ist zu sehen. Auch die Nachbarn sind um die Zeit gottlob ausgeflogen. Sie hält auf der Straße, kein Platz in der Einfahrt. Ihre Nasenspitze, ihre Lippen sind schon wieder taub, ihr Herzschlag nimmt Fahrt auf.

Was, wenn die Mutter noch lebt? Wenn Doktor Dobler sie gerade zurückholt aus dem Scheintod? Wenn sie doch nicht sterben wollte. Wenn sie verrät, dass die Tochter sie einfach hat liegen lassen, nicht einmal versucht hat, sie zurückzuholen, keine Herzmassage, keine Mund-zu-Mund-Beatmung, nichts. „Ist einfach dagesessen wie weggetreten, meine dumme Mirli, stellen Sie sich das vor, Herr Doktor. Stellen Sie sich. Das vor!“Und der Doktor wird wissend nicken. „Die Hellste war sie nie, Ihre Maria, bringt ja kaum ein Wort heraus.“

Doch selbst, wenn die Mutter tot ist, wird der Doktor erkennen, dass ihr letzter Atemzug schon eine Weile her ist, über dreißig Stunden genauer gesagt. Sie muss ja inzwischen kalt sein wie … ja, wie eine Leiche halt. Wie steht Maria dann da? Fährt einfach davon. Um zu frühstücken. Ausgerechnet. Als gäbe es nichts Wichtigeres. Nein, die Hellste war sie nie. Jeden Moment kann jemand aus dem Haus kommen. Was sagt sie dann? Nichts am besten, wie immer.

Sie muss nachdenken. Weil sie am ganzen Körper zittert, ruckelt der Wagen, als sie anfährt, macht einen Satz, bevor es ihr gelingt, ihn in gleichmäßigem Tempo die Straße hinunterrollen zu lassen, dann nach links, am Bach entlang durch die Felder, bis der Asphalt ausläuft, und weiter auf dem Forstweg in den Wald, wo sie neben einem Holzstoß anhält.

In ihrem Kopf ist wieder diese dröhnende Stille, als drückte ihr jemand den Kopf unter Wasser. Sie stößt die Wagentür auf und findet die Luft erst recht zum Ertrinken, riecht nasses Laub und Pilze, vollgesogene Erde. Das wäre was, wenn sie hier an der Luft ertrinken würde, nachdem die Mutter erstickt ist – eine Geschichte für eines dieser Magazine, die sie früher gern gelesen hat. Unerklärlich das Wasser in ihrer Lunge, die Kleider trocken. Übernatürlich. Wie das Auftauchen des Doktors und der Polizei, ausgerechnet heute.

Was sie schon wieder denkt, anstatt sich auf das Wichtige zu konzentrieren. Wenn die Mutter noch lebt, muss sie zurück. Wer soll sich sonst um sie kümmern? Dann muss sie ihr wieder und wieder hilflos beim Verröcheln zusehen, bevor es endlich so weit ist. Weitere Wochen, Monate, Jahre vielleicht.

Trotz des Nieselregens steigt sie aus. Die Erde schmatzt unter den Profilsohlen ihrer derben Schnürstiefel. Noch leuchten an manchen Stellen die prächtigen Grün-, Gold- und Orangetöne der gefallenen Blätter wie lackiert. Bald wird das Schwarzbraun des Erdgrundes die Farben verschluckt haben.

Tropfen rinnen ihr von den Haarspitzen in den Nacken. Sie fröstelt.

Manchmal, wenn der Doktor in der Nähe ist, klingelt er spontan, um sich den zusätzlichen Weg an einem anderen Tag zu ersparen. Als heute, zum ersten Mal in all den Jahren, niemand geöffnet hat, wird er die Polizeiwache verständigt haben.

Jetzt werden sie die Mutter, wie im Fernsehen, auf einem stählernen Tisch aufschneiden. Das müssen sie tun, weil sie ihren Todeswunsch geäußert und ausgerechnet dem Doktor angekündigt hat, dass sie sich von Maria mit dem Kissen ersticken lassen wird. Hätte sie doch den Mund gehalten. Zu den Klängen von Countrymusik oder Klassik wird ein Gerichtsmediziner Baumwollfasern an ihren Lippen finden oder gar eine Daune, die – wer weiß, wie? – in ihren Mund gelangt ist. Mit triumphierendem Lächeln wird er sie in einer hochgereckten Pinzette präsentieren. Vielleicht ist es auch eine Frau, die das macht. Eine üppige mit Tattoos stellt Maria sich vor, den weißen Mantel bis über die Ellbogen aufgekrempelt, im Hintergrund dann vielleicht eher Heavy Metal.

Sie fährt jetzt zurück und behauptet, sie sei im Schock ziellos umhergefahren. Oder sie rennt mit dem Kopf gegen den Ast, der dort drüben quer über den Weg ragt, schlägt sich damit selbst k. o. und wartet, bis sie gefunden wird.

Was, wenn Werner berichtet, dass er sie in der Bank gesehen hat? Wenn herauskommt, dass sie nach dem Tod der Mutter die Konten leergeräumt und die Flucht ergriffen hat? Genau so schaut es doch aus.

Sich das alles zu überlegen. Nichts zu übersehen. Sie kann das nicht. Aus! Jedes Mal ärgert sie sich, wenn im Film die Leute lügen, aus lauter Angst, dass man ihnen die Wahrheit nicht abnehmen könnte. Sie wird die Wahrheit sagen, auf Verständnis hoffen und vorbei ist die Geschichte. Kopfschütteln und Augenverdrehen über ihre Dummheit und Verschrobenheit – Frühstücken, um Himmels willen, in der Situation! – wird sie aushalten müssen. Aber alle im Dorf wissen, was sie für die Mutter auf sich genommen hat und dass sie eben nicht die Hellste ist. Da kann man in einer Ausnahmesituation schon einmal unlogisch handeln. Es ist ja nicht wie im Fernsehen. Es ist nicht wie in London oder LA, nicht einmal wie in Wien. Hier hält man zusammen und deckt gemeinsam zu, was man nicht sehen will.

Maria geht zurück zum Auto, setzt sich hinein und startet. Die Räder drehen durch auf dem glitschigen Laub, fressen sich in den Schlamm, das linke Vorderrad sinkt ein. Sie steigt fester aufs Gas, sodass der Motor laut aufheult, obwohl sie weiß, dass es nichts nützen wird. Der Ford steckt fest.

Maria lehnt die Stirn ans Lenkrad, faltet die Hände im Schoß, betet, dass alles gut wird. Der Regen prasselt jetzt auf das Dach, als wollte er das Weinen für sie übernehmen. Mindestens zwanzig Minuten dürfte es sie kosten, zu Fuß zurückzumarschieren. Bis dahin wird die Mutter längst abtransportiert sein.

Sie steigt aus, holt den Regenschirm aus dem Kofferraum, zieht das Handy aus der Tasche, um Doktor Dobler anzurufen. Ihr Herzschlag beschleunigt, als sie auf das Display sieht. Vier Anrufe vom Doktor und weitere drei von einer unbekannten Nummer. Sie hat wieder einmal vergessen, am Morgen den Klingelton aufzudrehen. Normalerweise macht das nichts, weil sie höchstens alle paar Tage einen Anruf erhält.

Das, was sich vorher verhakt hat, reißt jetzt. Maria schleudert das Telefon in den Wald. Es prallt an einen Baumstamm und verschwindet in einem ausgedehnten Brombeerdickicht. Der Autoschlüssel fliegt hinterher. Noch während er durch die Luft pfeift, wendet sie sich ab und stapft davon. Sie muss sich beeilen, bevor der Morast zu tief wird. Eine Dreiviertelstunde wird es bei dem Wetter schon dauern bis in den nächsten Ort, bergauf durch den Wald. Den Mittagsbus nach Krems will sie erreichen.

 

 

In Krems hat sie den nächsten Zug nach Linz genommen. In Linz kennt sie sich aus. Hier hat sie acht Jahre lange mit ihrem Exmann gelebt, mit dem sie seit der Scheidung nur ein einziges Mal telefoniert hat. Es ging um die Lebensversicherung, aus der er sie als Begünstigte streichen lassen wollte. Sie haben sich so weit voneinander entfernt, wie es nur zwei Menschen möglich ist, die Jahre miteinander verbracht haben und gemeinsam daran gescheitert sind, ein Kind in die Welt zu setzen. Es kommt ihr undenkbar vor, dass ihre Wege sich je wieder kreuzen könnten, und wenn doch, würden sie sich nicht mehr erkennen. Sie hat sich verändert in den Jahren mit der Mutter, ist eine von vielen mittelalten Frauen in Jeans, praktischen Boots und grauem Mantel geworden, die niemandem gefallen muss, bei der niemand zweimal hinschaut.

Vom Bahnhof aus durchquert sie den Volksgarten. Aus Gewohnheit hält sie anfangs den Blick gesenkt, doch mit jedem Schritt dehnt sich eine Leichtigkeit in ihr aus, eine Freude, als fiele die Sonne nach einem langen Winter zum ersten Mal wieder durch das Fenster und zauberte Schattenrisse auf den Frühstückstisch.

Im Bus und während der Zugfahrt hat sie überlegt, wie es weitergehen soll. Sie ist auf nichts gekommen. Es gibt das Gestern mit der Mutter und ganz bestimmt gibt es ein Morgen, in dem sie wieder alles Mögliche bedenken wird müssen. Aber dazwischen gibt es seit langem erstmals wieder ein Jetzt, das sie genießen will, solange es dauert. Sollen sie nach ihr suchen, sie finden. Alles, was sie ihnen jetzt erklären könnte, kann sie dann immer noch sagen. Sie sollen Zeit haben, sich an ihre Konzentrationslöcher zu erinnern, wie Doktor Dobler ihre Aussetzer genannt und mit einem Zucken seiner Augenbrauen in Anführungszeichen gesetzt hat. Er wird glauben, dass sie nicht weiß, was sie tut, und recht hat er.

„Stehen Sie doch woanders im Weg herum!“, fordert ein grauer Mann, schwenkt ärgerlich den Aktenkoffer. Maria entschuldigt sich. Mitten vor dem Eingang zu einer Trafik ist sie eingefroren. Wie lange schon?

Einen Rollkoffer, ein paar Kleidungsstücke, Sneakers in übermütigem Violett und Körperpflegeprodukte zahlt sie bar in den Läden an der Landstraße, bevor eine Fremde sie vor sich her in den Friseursalon schiebt, vor dessen Eingang Maria eine erneute Gedankenpause eingelegt hat, geradezu berauscht von der ungewohnten Shoppingtour. „Sie haben einen Termin?“

Maria nickt, errötet angesichts der Verwegenheit dieser stummen Lüge. Sie wird zu einem Sessel geführt. Die Stylistin löst ihr die schlampig aufgesteckten Haare und streicht mit der Bürste hindurch, während sie nach ihren Wünschen fragt. Kurz? Dann taucht die Kundin auf, deren Platz sie gekapert hat. Ein Missverständnis. Der Ärger der Friseurin löst sich auf, als sie Marias verschrecktem Blick im Spiegel begegnet. Ein Kollege aus der Herrenabteilung wird aushelfen, wenn es recht ist.

„Kurz!“, bittet Maria und zeigt mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von fünf Zentimetern an.

„Haben Sie eine Trennung hinter sich?“, fragt der junge Mann mit Seitenblick auf ihren Koffer. Als Maria nickt, legt er die Schere weg. „Blond und kurz.“

Im Spiegel beobachtet sie, wie ihr verzagtes Lächeln gefriert. Färben, waschen, dann fährt das Messer mit dem Geräusch reißender Seide durch ihre Haare, macht sie innerhalb von Minuten zu einer Fremden, die interessanter aussieht, als Maria sich je gefühlt hat. Mit einem Lippenstift, den er vom Wagen der Kollegin schnappt, tupft der Friseur mattes Rot auf ihre Lippen, ohne die Konturen auszumalen, sodass sie aussieht wie eine Drogensüchtige oder eine verwegene Nachtschwärmerin aus London oder Paris. Kaum ist sie draußen, reibt sie die Lippen aneinander, um die Farbe besser zu verteilen.

Sie geht hinunter zum Fluss, setzt sich in das Café des Lentos-Museums und bestellt Cappuccino. Ihr Kopf fühlt sich zum Wegfliegen leicht an.

Wie lange das Wasser, das in diesem Moment vorbeifließt, wohl braucht, bis es an dem anderen Café ankommt, in dem sie heute Morgen erst gefrühstückt hat, geschätzte hundert Kilometer flussabwärts? Heute Morgen erst!

Sie trinkt ein Glas Wein, stöbert im Shop und kauft sich eine Kette. Das bunte Gespinst aus Draht und Wolle verwandelt ihr Spiegelbild in das einer Frau, die aussieht, als besuche sie Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Sie wölbt die Oberlippe auf, fühlt sich französisch.

„Wie haben Ihnen die Collagen gefallen?“, fragt die Verkäuferin.

„Aufregend?“, probiert Maria mit Blick auf das Plakat, das ein durchlöchertes Schwarz-Weiß-Porträt einer Frau zeigt. Aus den Löchern quellen rote Wolle, Draht und Harz. Die Verkäuferin schwärmt von der sensiblen Brutalität in den Werken der neofeministischen Künstlerin und für einen Moment hat Maria eine Ahnung, dass sie selbst etwas davon begreifen könnte. Was alles in ihr steckt.

Sie muss sich um ein Quartier kümmern. Eigentlich. Stattdessen setzt sie sich wieder ins Café, bestellt mehr Wein und etwas zu essen, vegetarisch, wie die am Nachbartisch. Ohne Handy bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich umzusehen. Sie kauft sich ein Taschenbuch über moderne Kunst, das ihr vertraut erscheint, weil auf dem Titelbild Marilyn Monroe abgebildet ist, und blättert darin.

Beim dritten Glas Wein beginnt sie zu glauben, dass der Mann auf der anderen Seite des Lokals ihr zulächelt, obwohl er mit zwei Frauen am Tisch sitzt. Als sich ihre Blicke begegnen, sieht sie schnell weg. Sie streicht über die kurzen Haare in ihrem Nacken, die sich wie Pelz anfühlen, und lächelt in die Nacht hinaus. Die Brückenbeleuchtung und die Lichtinstallation auf dem Gebäude am anderen Ufer lassen flirrende Reflexe über das Wasser tanzen.

„Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?“ Der Mann ist um die fünfzig und weniger schlank, als es im Sitzen den Anschein gehabt hat. Ein Büroangestellter in mittelmäßig sitzendem Anzug mit Kinnbart und leuchtend blauen Augen.

Maria sieht zu den beiden Frauen, die sie unverhohlen beobachten. „Was sagen Ihre …“ Sie deutet hinüber.

„Ach, die Kolleginnen, die sind froh, wenn sie mich los sind. Die reden die ganze Zeit nur über Autos und Fußball, Sie wissen schon.“

Sein Lachen erinnert sie an diesen Schauspieler, dessen Name ihr nicht einfällt. Kürzlich erst hat er in einem Krimi den Bruder der Mörderin gespielt. Da sie nicht sicher ist, ob das eine passende Bemerkung für einen Flirt ist, nickt sie nur, und er setzt sich.

Sie muss nicht viel reden. Ein Schauspieler ist er nicht, sondern ein Netzwerkadministrator, für eine Nacht nur in der Stadt, um in einer Zweigstelle ein Feuer zu löschen, wie er sagt. Das Bild heizt ihre Fantasie an. Er hat eine angenehme Stimme, die er offenbar selbst gerne hört, und gibt sich Mühe, Maria zu beeindrucken.

Geheimnisvoll findet er sie. Das kennt sie schon. Das haben schon andere gedacht, bevor sie herausgefunden haben, dass man nichts verbergen muss, was nicht da ist. Es ist ihr Lächeln, sagt er, Mona Lisa. Im Zusammenspiel mit dem Rotwein genügt das, um sie, mit einem kleinen Umweg über die Hotelbar, direkt in sein Bett zu tragen.

Über fünf Jahre hat sie keinen Sex gehabt und jetzt innerhalb von vierundzwanzig Stunden gleich zwei Mal mit unterschiedlichen Männern, ohne es darauf anzulegen. Dragan und Frank. Wenn es so weitergeht, wird sie sich die Namen notieren müssen.

Dass es so leicht sein würde, hat sie nicht gedacht.

 

 

Im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos flirren Schatten kahler Zweige über die Zimmerdecke. Einen Wimpernschlag lang erkennt Maria das Gesicht der Mutter im flüchtigen Liniengewirr. Noch ist kein Tag vergangen, seit ihrem Tod vor fünfeinhalb Monaten, an dem Maria nicht an sie gedacht hat. Nur die Momente, in denen sie meint, bei jeder Verrichtung die von Atemlosigkeit zerhackten Kommentare der Mutter zu hören, werden seltener. So selten, dass Maria anfängt, sie zu vermissen. Nach dem Elternhaus in Eichschlag hingegen sehnt sie sich kaum. Lediglich der Gedanke an den Erlös, den der Verkauf des Hauses einbrächte, zwickt sie manchmal im Magen. Doch momentan ist Eichschlag außer Reichweite.

Darauf bedacht, die Matratze nicht in Schwingung zu versetzen, dreht sie sich auf die Seite, sieht aus dem Fenster. Rechts hinter dem Baum, der eine Kirsche sein könnte, leuchtet in der Ferne eine helle Raute aus der Dunkelheit, ein Schneefeld, das über dem Rücken des Berges liegt wie eine ausgefranste Satteldecke. Darunter, fast schon im Tal, schmiegt sich eine Kette ferner Straßenlaternen an den Hang, um sich zur Linken des Kirschbaums in großzügigem Schwung mit dem Lichternetz des Ortes zu vereinigen. Darüber glitzern Sterne.

Der Ausblick ist erfreulicher als jener aus der Kammer, die sie vorher bewohnt hat. Dort hat die Rückseite des Bergsport-Discounters ihr Sichtfeld blockiert, ein orangefarbener Quader, hinter dem der Verkehr über die Bundesstraße rauscht, die Ort um Ort auffädelt, bevor sie das Tal in Richtung Salzburg verlässt.

Behutsam, aber stetig zieht Maria am Zipfel der Decke, die halb unter dem Fettsack begraben liegt. Er rührt sich nicht. Sie unterdrückt ein Seufzen. Nicht, dass er wieder aufwacht und fragt, was los ist.

Nichts ist los, antwortet sie jedes Mal, alles gut. Fände sie es unerträglich, müsste sie schließlich nicht bleiben. Das sagt sie ihm nicht. Es muss als stiller Trost reichen. Jederzeit kann sie zurück in ihr altes Leben, mit allen Konsequenzen. Acht Minuten braucht sie zu Fuß bis zur Polizeiwache, wo sie sich melden und darauf hoffen müsste, dass sie wirklich nur als vermisst und nicht etwa als gesucht geführt wird. Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen oder wer weiß, was es noch alles gibt, was man ihr anhängen könnte. Wie im Film, nur weil sie ohne ein Wort gegangen ist. Das tut eine Unschuldige nicht, jedenfalls nicht, wenn sie noch bei Trost ist. Niemand weiß, wovor sie geflohen ist, nicht einmal sie selbst. Doch vielleicht sagen alle nur, was sie als Zuschauerin denkt, wenn im Film eine Unschuldige davonrennt: Wie dumm von ihr!

An manchen Tagen gibt es nur eines, was sie an der Rückkehr hindert, und es ist nicht die Angst vor Strafe. Sie will einfach eine bessere Geschichte erzählen können, wenn sie nach Monaten wieder in Eichschlag auftaucht. Eine, die das jämmerliche Bild korrigiert, das die polizeiliche Vermisstenmeldung und der Artikel im Bezirksblatt von ihr zeichnen. Eine, in der sie nicht das Opfer, auch nicht Täterin, sondern einmal in ihrem Leben die Heldin ist. So vermessen dieser Traum ihr selbst erscheint – noch ist sie nicht bereit, ihn aufzugeben. Wann soll er wahr werden, wenn nicht jetzt? Einmal zurückgekehrt wird sie nicht mehr den Mut finden auszubrechen.

Bis sich eine bessere Chance ergibt, betrachtet sie die Aufgabe, die sie hier erfüllt, als gute Tat, auch wenn weder Ruhm noch Ehre dafür winken. Der Fettsack tut ihr leid. Robin. Robin heißt der Fettsack. Sie zwickt sich zur Strafe in die weiche Innenseite des Unterarms. Er tut ihr leid. Deshalb bleibt sie noch ein wenig. Einen Ort zu verlassen, an dem man gebraucht wird, ist schwer, wenn nicht das Schwerste überhaupt.

Dass sie Robin Gutes tut, wiegt fast den Ekel auf, den sie immer noch empfindet, wenn er sich an sie drückt, sich auf sie wälzt und sein schlaffes Fleisch sie umschließt wie Schlamm, zäh und stets kühl, fast so kühl wie die Haut der Mutter nach ihrem Tod. Es ist das kleinere Übel, ihm zu geben, was er so dringend braucht, die einzige Wahl, wenn sie weiterhin auf ihrem Feldweg bleiben will.

Der Feldweg. Das Bild ist ihr eingefallen, als sie im Zug in Richtung Italien gesessen ist, am zweiten Tag, vom Tod der Mutter an gerechnet. Auf angenehme Weise todmüde ist sie gewesen und wund zwischen den Beinen nach der Nacht mit Frank.