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Eine Stadt in gespenstischer Ekstase. Etwas Leuchtendes liegt in der Luft. Befällt Pflanzen. Und Menschen. Ist überall. Angenommen, der Rausch deines Lebens, die pure Euphorie wächst frei zugänglich im Park um die Ecke. Der einzige Haken dieser Substanz: Du kannst sie nur ein einziges Mal genießen. Denn sie ist hochgiftig und ohne Ausnahme tödlich. Auch wenn der Tod, den sie verspricht, süßer denn je ist. Was würdest du tun? Zugreifen? Oder widerstehen? Als ein bis dahin unbekannter Pilz den Bärlauch rund um Wien befällt, steigt die Zahl der Todesfälle rasant an. Denn wie in jedem Frühling dominiert das Kraut nicht nur die Speisekarten vieler Lokale, sondern auch die Wälder der Stadt, die – aller Verbote zum Trotz – gestürmt werden. Versehentliche Vergiftungen werden bald zu praktischen Beseitigungen von lästigen Langzeitfeind*innen, auch die Partyszene der Stadt entdeckt Viennese Weed für sich. Und die befallene Pflanze bietet eine weitere für viele verlockende Möglichkeit: die Trostlosigkeit des Lebens zu beenden. Selbstbestimmt, friedlich und ohne einer anderen Person Schaden zuzufügen. Ein Waldspaziergang der Verzweifelten Nach einem Gefängnisaufenthalt versucht Kiki, zurück in ein geregeltes Leben zu finden. Als ihre unheilbar kranke Freundin Olga rund um die Uhr Pflege benötigt, zieht sie zu ihr und kümmert sich aufopfernd. Das neuartige Viennese Weed ist für Olga eine Möglichkeit zur Flucht, die sie ergreifen möchte. Für Kiki ein Albtraum, dem sie nicht entkommen kann. Dennoch ist sie bereit, für ihre Freundin die tödlichen Blätter zu beschaffen, auch wenn sie weiß, dass das für sie den ultimativen Abschied von Olga bedeuten kann. Auch die dreizehnjährige Jasse treibt es in den Wald. Aus Wut, Trauer und Verzweiflung möchte sie ihrem Leben ein Ende setzen. Als plötzlich Aufseher auftauchen, fliehen Kiki und Jasse zusammen – und knüpfen eine vorsichtige Verbindung, eine Freundschaft, die sich aus Unglück speist. Das hält Jasse allerdings nicht davon ab, den Bärlauch, den sie gesammelt hat, zum Einsatz zu bringen – allerdings nicht an sich selbst … Während Jasse mit ihrem Gewissen kämpft, breitet sich der Bärlauch-Befall immer weiter aus, dominiert die internationalen Medien, befeuert neue Verschwörungstheorien. Viennese Weed ist Ausweg, Waffe und Droge zugleich. Bedeutet aber auch: eine Wahl haben, selbstbestimmt leben und sterben dürfen. Gudrun Lerchbaum blickt mit viel Einfühlungsvermögen in die Gedankenwelt von Menschen, die unheilbar krank, von denen, die voller Verzweiflung sind, einen Ausweg suchen. Sie kratzt an einem Tabu, bringt den sonst oft verdrängten Tod in die Mitte der Gesellschaft und stellt unangenehme Fragen: Gehört zu einem selbstbestimmten Leben nicht auch ein selbstbestimmtes Sterben? Was passiert mit uns, wenn es plötzlich eine friedliche, einfache Möglichkeit dazu gibt? Und was tun wir, wenn die Menschen, die wir am meisten lieben, sich dazu entschlossen haben? Sie zeigt, wie die Nähe des Todes das Menschlichste in uns hervorbringt – und dass stark sein nicht immer bedeuten muss, das Unerträgliche zu ertragen.
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Seitenzahl: 337
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Gudrun Lerchbaum
Das giftige Glück
Roman
Cover
Titel
Tag 1
Tag 3
Tag 4
Tag 5
Tag 9
Tag 10
Tag 14
Tag 15
Tag 16
Tag 19
Tag 20
Nachwort
Mein Dank geht an
Serbische Redewendungen
Gudrun Lerchbaum
Zur Autorin
Impressum
Copertina
Start
Für RainerRIP
(Sporenwelt.de)
Eine erstaunliche Entsprechung zwischen der Welt der Pilze und unserer eigenen Spezies findet sich im Streben nach Entgrenzung. So wie die Pilze Enzyme ausschicken, um ihre Nahrung außerhalb des Körpers zu verdauen und sich dann einzuverleiben, so streckt sich auch der menschliche Geist nach den Dingen der Welt, schnellt über sich hinaus und hinüber zum anderen, zum Fremden, um es sich anzueignen, wie Jean-Paul Sartre es formulierte.
Noch ein paar Zentimeter! Lautlos beschwor Olga ihre Hand, den Arm, der sich nicht weiter heben wollte. Fünf, nein drei, nur noch lächerliche drei Zentimeter. Doch die Erstarrung hielt dagegen, sturer als sie. Die Gabel kippte. Lasagne klatschte in ihren Schoß. Wortlos entwand Kiki ihr das Besteck, löste es aus den krampfenden Fingern und kratzte die Sauerei von der Hose.
Olga umfasste die versagende Hand mit der anderen, der es so viel besser auch nicht ging, in der vagen Hoffnung, die Spastik durch Eigenzärtlichkeit zu besänftigen. Der Schmerz zersplitterte ihre Gedanken.
Endlich brachte Kiki einen Joint, hielt ihn ihr an die Lippen.
Ruhig bleiben. Das war alles im Rahmen. Nicht kämpfen. Die feindlichen Truppen widerstandslos durchziehen lassen, um die unvermeidliche Verwüstung so gering wie möglich zu halten. Atmen. Ein. Und aus. Ein Atemzug, ein Zug am Joint. Unheilbar, hämmerte es in ihrem Kopf. Unheilbar, unheilbar, unheilbar.
„Wird es?“, fragte Kiki und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. So leicht, dass man meinen konnte, sie fürchte eine Zurechtweisung. Es schien, als wäre es Olga endlich gelungen, alle Welt von ihrem unbedingten Recht auf Selbstbestimmung zu überzeugen. Nun wagte es nicht einmal mehr ihre einzige Freundin, sie umstandslos in den Arm zu nehmen, wenn es nötig war, und zog sich stattdessen auf ihre professionelle Rolle als Assistentin zurück.
„Muss“, presste Olga hervor, nahm einen tiefen Zug und hinderte Kiki mit einem Ruck des Kopfes daran, ihr den Joint wieder abzunehmen, der sicher an ihrer Lippe klebte. Noch immer war kaum Erleichterung spürbar, obwohl sie das Ding schon zu Matsch geraucht hatte. „Muss ja.“
Kikis „Ja, muss wohl“ klang erbärmlich unentschlossen.
Die Glut kam ihren Lippen näher, zu nah. Doch anstatt Kiki zu signalisieren, dass sie ihr den Stummel abnehmen sollte, neigte Olga den Kopf und stieß ihn mit der Zunge seitlich weg. Er fiel auf den Boden. Selbst nach Jahren der Hilfsbedürftigkeit brachte sie es immer noch kaum fertig, um etwas zu bitten. Sie hatte einfach kein Talent zu chronischer Krankheit, war zu stolz für die Scheiß-MS. Mit Spucke kühlte sie die versengte Stelle auf ihrer Lippe, während Kiki sich bückte. Nicht schnell genug, um ein weiteres Brandmal auf dem Parkett zu verhindern. „Noch einen. Bitte.“
„Magst du nicht lieber die Tropfen? Oder einen Brownie? Sind noch genug im Tiefkühler.“
„Ich rauche lieber. Aber apropos Tropfen: Bring mir einen Whisky.“
Kiki zuckte mit den Schultern. „Deine Lunge, deine Leber. Aber Dr. Schneider hat gesagt, du sollst nicht …“
„Ich soll, was ich will.“
Endlich ließen die Krämpfe nach. Ein Wunder, dass Kiki trotz aller Grobheiten bei ihr blieb, sie nicht längst im Stich gelassen hatte. Natürlich war Olga dankbar für die Fürsorglichkeit, mehr als dankbar, das war hoffentlich auch ohne rührselige Worte klar. Schließlich profitierten sie beide von diesem Arrangement. Kaum anzunehmen, dass Kiki ohne die feste Struktur der Arbeit und ohne ihr Vertrauen nach der Haftentlassung Halt gefunden hätte. War Olga nicht die Einzige gewesen, die den Charme und die Güte unter Kikis beachtlicher Verstörung gesehen hatte? Sie waren quitt.
Kiki hielt ihr das Whiskyglas mit dem Strohhalm unter die Nase und Olga trank, obwohl schon der erste Kontakt mit der Flüssigkeit brannte. Es ging schließlich nicht um Genuss, sondern um Entspannung oder wenigstens Betäubung. Sie zog an dem zweiten Joint, obwohl sie auch dazu keine Lust mehr hatte.
„Tu weg“, sagte sie müde. „Ich hab so dermaßen die Schnauze voll. Von allem.“
„Heute ist ein Scheißtag. Morgen denkst du anders. War noch jedes Mal so.“ Kiki beugte sich zu ihr und legte die Arme um ihre Schultern. „Ich rackere mich doch nicht umsonst für dich ab. Halt gefälligst durch!“
„Muss denn dauernd gehofft werden?“ Olga spuckte ein Tabakfädchen aus. Lange würde das nicht mehr so gehen.
*
Als Jasse aus der Schule kam, war die Wohnung kalt wie eine Gruft. Ihr Vater ging nicht ans Telefon, und auf dem Thermostat herumzudrücken half ebenso wenig, wie die Gastherme über der Badewanne anzustarren. Sie ging in die Küche, trank ein Glas Wasser gegen die Enge in ihrer Kehle und öffnete die Kühlschranktür. Sie schob eine Schneise zwischen die Becher mit Kirschjoghurt und zog den Mayonnaisesalat heraus. An der Arbeitsplatte stehend schaufelte sie sich ein paar Gabeln voll in den Mund, bis ihr der saure Geschmack und die seifige Konsistenz auffielen. Nach einem Blick auf das Ablaufdatum würgte sie halbzerkaute Reste in die Abwasch, spülte sich den Mund aus und warf das Zeug in den Müll.
Die Schultasche hinter sich her schleifend, ging sie in ihr Zimmer. Trotz der Kälte roch es muffig. Sie kippte das Fenster, wickelte sich in ihre Bettdecke und setzte sich an den Schreibtisch, um die erste Aufgabe auf dem Mathearbeitsblatt zu lösen. Unter das Ergebnis zeichnete sie eine Reihe fetter Spinnen, lauschte dabei auf die Geräusche von draußen: Ein Auto. Noch eines. Dann der Bus in der Querstraße. Eine Plane knatterte im Wind. Taubenflügel raschelten beim Anflug auf das benachbarte Fensterbrett.
Auf dem Balkon gegenüber standen zwei Raucherinnen. Sie sahen zu ihr herüber, fragten sich möglicherweise, wer das Mädchen hinter dem Fenster war, überlegten, was sie dachte und ob sie umgekehrt auch von ihr bemerkt wurden. Jasse malte sich aus, wie die beiden hilflos zusehen mussten, wie die Stille in ihrem Rücken aufquoll, sie umschloss und ihr den Atem aus der Lunge presste. Sie wartete, bis die Frauen ihre Zigaretten ausdämpften und hinter der Balkontür verschwanden. Dann stand sie auf, ging ins Wohnzimmer, ließ sich auf die Couch fallen und griff nach der Fernbedienung.
Eine aufgedrehte Rothaarige eilte von Laden zu Laden, um sich entsprechend dem Motto Mini-Fieber – bring dein Date zum Schmelzen einzukleiden. In einem silbernen Paillettenkleid trat sie aus der Umkleidekabine und drehte sich vor dem Spiegel. Die Frau war mindestens so alt wie Jasses Mutter, die sich für kein Geld der Welt in so einem Teil erwischen lassen würde. Erwischen lassen hätte. Was wusste sie schon, worauf ihre Mutter jetzt stand, wo sie war. Ob sie überhaupt noch lebte.
Jasses Magen knurrte. Sie ließ die Bettdecke am Sofa liegen, suchte nach ihrer Jacke, fand sie an der Garderobe im Flur, tastete, ob Schlüssel und Geld an den gewohnten Plätzen steckten, und verließ die Wohnung. Der Fernseher lief noch. Egal. Hinter der Tür von Nummer 9 hörte sie Loki bellen. Sie klingelte.
„Hallo Jasmin.“ Verglichen mit der Mitleidsmiene anderer Erwachsener fand sie Herrn Roths melancholisches Lächeln erträglich. Es war nicht für sie reserviert, er sah alle Leute so an. „Was kann ich für dich tun?“
Jasse bückte sich, um den Hund zu streicheln, seine struppigen Löckchen zwischen den Fingern zu spüren, den beweglichen Körper darunter, und bemerkte, dass der Nachbar nur einen Schuh trug. „Darf ich Loki ausführen? Ich geh mir was zu essen kaufen und wir könnten am Weg in den Park.“
„Ich wollte auch gerade weg, Schlagobers holen, Auftrag der Chefin.“ Er deutete mit dem Kopf ins Innere der Wohnung. „Wenn du uns einen Becher mitbringst, leistet dir Loki gern Gesellschaft. Das Bio-Zeug, bitte.“
Ob jetzt der richtige Moment war, um ihn wegen der anderen Sache zu fragen? Eigentlich hatte Jasse keine Lust, ihn hassen zu müssen, weil er die falsche Antwort gab. Er war in Ordnung. Ohne ihn wäre Loki nicht eingezogen.
Er sah sie erwartungsvoll an. Anscheinend hatte sie etwas verpasst.
„Tschuldigung, was?“
„Behalt den Rest!“ Er drückte ihr einen Fünfer zusammen mit Lokis Leine in die Hand.
„Ach so, die Sahne.“ Sie knüllte den Schein in die Hosentasche, blieb unentschlossen stehen, den Blick auf die Knopfleiste seines Hemdes gerichtet.
„Ist noch was? Hast du was auf dem Herzen? Etwas, wobei ich helfen kann?“
Wenn sie noch ein Kind wäre, oder ein Hund, eine Katze, könnte sie einen Schritt näher treten und warten, bis er ihr über die Haare beziehungsweise das Fell strich, sie womöglich in die Arme nahm. Sie legte den Kopf in den Nacken, fixierte seine Nasenwurzel. „Ich wollte schon länger fragen – würden Sie mich mal mitnehmen?“
„Mitnehmen, wohin?“
„Zu einem Job.“
„Einem Job?“
„Na, auf den Friedhof. Wenn Sie eine Ihrer Ansprachen halten. Mein Dad hat gesagt, Sie sind Grabredner. So cool! Egal, für wen, ich will einfach mal hören, was da abgeht, wie Sie das machen.“
Er sah auf seine Füße, setzte sich auf die Garderobenbank, löste tatsächlich den Schnürsenkel, anstatt den Schuh einfach abzustreifen. „Komm doch einen Moment herein!“
„Nein, passt schon.“
Er seufzte, rieb sich mit der Hand über das Gesicht und den Bart und sah ihr in die Augen. „Du kannst nicht neben mir stehen oder so. Auch nicht dabei sein, wenn ich mit den Hinterbliebenen rede. Wir können gemeinsam hinfahren und ich erkläre dir am Weg, wie das abläuft. Dann mischst du dich möglichst unauffällig unter die Trauergäste und nachher gehen wir auf einen Kaffee oder du fährst heim, wie du magst. Wäre das in Ordnung?“
Für einen Moment war Jasse schwindelig vor Überraschung. Es konnte auch der Hunger sein. „Ja, voll!“
„Passt, dann machen wir uns nächste Woche was aus, ja?“
„Voll!“ Sie beugte sich hinunter, wuschelte Loki durchs Fell. Sie durfte sich nicht freuen, über nichts. „Er könnte ein Cairn-Terrier sein. Bist du ein Cairn-Terrier, Loki?“
„Im Tierheim haben sie gesagt, er sei eine Promenadenmischung. Sind wir doch alle, oder? Wiener Melange.“ Er lächelte. „Schaffst du es wohl bis in einer Stunde? Bist auch zum Essen eingeladen.“ Er wandte den Kopf, rief: „Sonja-Schatz, du hast doch nichts dagegen, wenn Jasmin von nebenan mit uns isst?“
„Was gibt’s denn?“, fragte Jasse.
„Kräutercremesuppe.“
Jasse verzog das Gesicht. „Sorry, keine Zeit.“
*
Egal, wie ruppig Olga sie behandelte, über kurz oder lang sah Kiki ihr alles nach. Hätte sie ihr keinen Job angeboten, sie nicht bei sich aufgenommen damals, ein halbes Jahr nach der Entlassung aus dem Gefängnis, Kiki wäre heute im besten Fall tot. Im schlechtesten – nun, da gab es einige Möglichkeiten. Irgendwas zwischen Alkoholismus, Obdachlosigkeit und sexuellen Gefälligkeiten im Austausch für ein Dach über dem Kopf. Wahrscheinlich das ganze Paket, an dem sie haarscharf vorbeigeschrammt war.
Sie leerte den Aschenbecher, wusch ihn aus und stellte ihn auf das Tablett zum Orangensaft, den Olga jetzt hoffentlich ohne Protest trinken würde, bevor sie auch nur einen weiteren Tropfen Alkohol bekam.
Zehn Stunden die Woche arbeitete Kiki als Aushilfe in der Buchhandlung, die Olga mit ihrer Freundin Margit betrieben hatte, bis die Multiple Sklerose sie in die Frühpension gezwungen hatte. Offiziell dreißig Stunden – doch in Wahrheit die gesamte restliche Zeit – betreute sie Olga in der gemeinsamen Wohnung. Zwölf von der Stadt Wien finanzierte Euro bekam sie dafür pro Stunde, selbst zu versteuern.
Die regelmäßige Arbeit war das eine. Fast ebenso wichtig war die imaginäre Häutung, die sie an ihrem vierzigsten Geburtstag vollzogen hatte. Ein Rat ihres Therapeuten, der zu ihrer – und seiner – Überraschung tatsächlich funktioniert hatte. Die alte Hülle hatte sie nicht rituell entsorgt, wie es eigentlich der Plan gewesen war, sondern sie hinter dem deckenhohen Philodendron in der Zimmerecke an einen Haken gehängt. Immer noch imaginär, versteht sich. Sie war ja nicht bescheuert.
Kiki legte zwei Schokokekse auf einen Teller, steckte einen Trinkhalm in eines der Gläser und trug das Tablett zu Olga ins Wohnzimmer. Die wirkte immer noch wie ausgewrungen nach dem Anfall von vorhin. Kraftlos deutete sie mit dem Kinn auf die Fernbedienung.
„Mach mal die Nachrichten an. Vielleicht hilft’s, wenn ich mich über was anderes ärgern kann.“
*
Adrian Roth sah auf den weißen Hügel, der auf seiner Suppe schwamm wie ein Eisberg im arktischen Meer. Einem sehr trüben Meer. Er war kein Freund von Cremesuppen. Eine Tatsache, mit der sich Sonja auch nach vier Monaten des Zusammenlebens nicht abgefunden hatte. Schlierig schmolz der Schlagobersklecks in das matte Grün. Sahne hatte die Kleine von nebenan gesagt. Rein phonetisch war gegen Sahne nichts einzuwenden. Obersklecks, das gab nichts her.
Sonja kam mit dem Brotkorb von der Küchenzeile. Sie die Sahne, er die Suppe. Oder umgekehrt?
„Denkst du an Sex?“
„Gerade nicht. Wir sollten Jasmin demnächst wirklich einmal zum Essen einladen. Das Kind ist zu viel allein, isst sicher nur Junk.“
„So schaut sie auch aus.“ Sonja blies die Wangen auf.
„Ist doch nur Babyspeck.“
„Von mir aus, lad sie ein.“ Die Kennmelodie der Nachrichtensendung erklang. „Dreh doch den Fernseher ab und schenk den Wein ein!“
Adrian griff nach der Fernbedienung, schnitt der Moderatorin mit den vollen Lippen das Wort ab und füllte die Gläser. Klingend stießen sie an. „Mahlzeit!“ Er tauchte den Löffel ein, rührte, bis die sämige Flüssigkeit eine gleichmäßig gallegrüne Farbe aufwies, bemühte sich, nicht an Erbrochenes zu denken, sondern an Cremespinat. Den er auch nicht mochte. „Neues Rezept?“ Da war noch was anderes außer dem typischen Knoblauchgeschmack.
„Mehr Wein. Um es dir leichter zu machen. Gut?“, fragte sie schwer atmend, ihr Blick geradezu verklärt.
Er nickte unentschlossen, in Gedanken schon in ihr. Wie sollte er Suppe essen, wenn sie ihn ansah, als vögelte er sie gerade in den siebten Himmel? Sie aß, als könnte sie es selbst kaum erwarten, geradezu gierig. Und auch er musste zugeben, dass die Suppe von Löffel zu Löffel an Geschmack gewann. Warm und, ja, leuchtend floss sie, anstatt in den Magen durch seine Adern bis in die kribbelnden Zehen und unter die Kopfhaut, die zu blubbern schien, seine Haare vibrieren ließ und ihm einen Schauer der Erregung über den Rücken sandte. Er lachte. Vielleicht kam er doch noch auf den Geschmack. Er tauchte den Löffel in die fast leere Schale, sah das Metall sich biegen, ins Grün zerfließen und wieder festwerden, hielt inne, weil die Haut auf seinem Handrücken durchsichtig geworden war und den Blick auf Knochen und verschlungene Adern freigab, ein Anblick von betörender Schönheit.
Er hob die Hand, um Sonja das Wunder zu zeigen, sah sie den Mund öffnen wie zu einem Lustschrei. Sein Blick verschmolz mit ihrem, der goldene Fäden nach ihm aussandte, die ihn prickelnd umschlangen, die immer da gewesen sein mussten, die er nur, bis zu diesem Moment, nie wahrgenommen hatte. Doch jetzt. Ein solches Glück ließ sich nicht anders als mit Pathos fangen. Lautlos lachten sie sich an, flossen ineinander. Dann fiel sie nach vorn. Der Tisch erzitterte, der Raum weitete sich, ließ alles, was draußen war, hineinströmen und alles tönte, ein Glitzern in der Luft und er wollte ihr sagen, was sie ihm war, und sah sie reglos liegen, aufgegangen im Glück. Er öffnete die Lippen, um ihr zuzurufen, sie solle warten auf ihn, doch in ihm war keine Luft, alles um ihn, nichts innen.
Er war ein Lichtpunkt im schwarzen Kern einer Kugel, die sich ausdehnte, rundum von den Farben des Lebens umflossen, die sich immer weiter entfernten. Weil er starb, um sich mit ihr zu vereinen. Die Kugel wurde zum All, in dem alles aufging. Fern verblasste das Bunt.
*
Das Schnarren der Küchenuhr riss Jasse aus dem Game. Sie legte das Handy auf den Sofatisch und entflocht ihre Beine. Ihr linker Fuß war eingeschlafen. Sie stieß sich vom Sofa ab, humpelte in die Küche und öffnete das Backrohr. Mit dem Pfannenwender schubste sie Pommes und Hühnersticks auf zwei Teller. Das Ketchup unter den Arm geklemmt, trug sie alles ins Wohnzimmer und stellte es ab, ging zurück, um den griechischen Salat zu holen, den Loki ausgesucht hatte, indem er sich unter der Frischkosttheke versteckte.
Ihr Vater kam herein, die Haare noch nass von der Dusche. Mit ein paar Handgriffen hatte er die Heizung wieder zum Laufen gebracht.
„Mein Lieblingsessen! Da muss ich das Kirschjoghurt heute wohl zum Nachtisch essen.“ Er küsste sie auf die Stirn, bevor er ihre Bettdecke auf die Seite schob und sich neben sie setzte. „Morgen führe ich dich zum Essen aus. Ab jetzt lassen wir es uns richtig gut gehen!“
Als wäre sie ein kleines Kind, das er mit seiner übertriebenen Munterkeit täuschen konnte.
„Alles okay?“, fragte er. „Wie war dein Tag?“
Jasse schnaubte. „So beschissen wie jeder andere. Was von Mama gehört?“
Er schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen, stand auf. „Ich hol mir ein Bier. Willst du auch was?“
„Cola-Rum.“
Er kam mit den Getränken zurück, setzte sich, tat, als wollte er noch einmal aufspringen, und grinste schief. „Oje, den Rum habe ich vergessen.“
Jasse kämpfte mit dem Drang, auf ihn einzuschlagen.
„Ach, komm, schau mich nicht so böse an!“ Er legte einen Arm um sie. „Wir müssen es doch versuchen, Jasmin.“
„Was?“
„Weiterzumachen“, krächzte er, räusperte sich. „Bringst du deine Bettdecke zurück in dein Zimmer, bevor wir essen?“
„Warum?“
„Weil wir uns nicht gehenlassen dürfen. Ich dachte, das wolltest du mir sagen mit dem Essen? Und du hast recht! Sonst kommen wir irgendwann nicht mehr aus dem Bett in der Früh. Außerdem könnte Mama jederzeit … Lass uns alles bereitmachen, damit sie sich wohlfühlt, wenn sie wiederkommt.“
„So ein Scheiß! Sie fühlt sich wohl, dort, wo sie ist. Sonst wäre sie längst wieder da.“
„Du fehlst ihr sicherlich genauso wie sie dir.“
Jasse schnaubte. „Genau! Deshalb ist sie auch weg.“
Die Kennmelodie der Abendnachrichten erklang. Auf dem Bildschirm drehte sich ein Ausschnitt der Erdkugel. Und was war mit dem Rest der Welt, fragte sich Jasse, überhaupt mit all dem, was man nicht sah?
(Moderatorin) In einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz warnte der Gesundheitsminister vor Zubereitung und Verzehr von Gerichten, die frischen Bärlauch enthalten. Es handle sich um eine vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Bevölkerung. Eine Gesundheitsgefährdung für all jene, die bereits von dem Kraut gegessen hätten und keine Beschwerden verspürten, bestehe nicht. Die österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit AGES entnimmt derzeit Proben im gesamten Bundesgebiet. Anlass der Maßnahmen ist eine ungewöhnliche Häufung von Todesfällen, die in Wien und Umgebung seit einigen Tagen für Verstörung sorgt.
Der lichte Wald, der jetzt den Bildschirm ausfüllte, erinnerte Jasse an den Park mit dem Ziegengehege, in dem sie früher manchmal mit ihrer Mama gewesen war. Sie blinzelte eine Träne weg und starrte auf die zartgrünen Blätter, die den laubbedeckten Boden spickten. Lanzettenförmig nannte man das.
(Moderatorin) Aktuellen Erkenntnissen zufolge könnte es sich um Vergiftungen handeln, die in noch ungeklärtem Zusammenhang mit dem Genuss des allgegenwärtigen Frühlingsboten stehen. Seit dem Wärmeeinbruch am vergangenen Freitag wuchert das beliebte Kraut und lockt, wie in jedem Jahr, zahlreiche Sammlerinnen und Sammler in die Wälder.
(Der Co-Moderator schreitet auf die Kamera zu. Mit einer entschiedenen Handbewegung deutet er auf die Stelle, an der für die Zuschauer zwei Diagramme zu sehen sind.)
Der März ist hinter dem Jänner und knapp vor dem Dezember jener Monat, in dem laut langjähriger Statistik mit den meisten Todesfällen zu rechnen ist. In einem durchschnittlichen März sterben in Wien täglich rund zwanzig Personen infolge von Herzkreislauferkrankungen. Seit fünf Tagen steigt diese Zahl rapide an. Allein gestern ereilte der Herztod in Wien vermutlich vierundneunzig Menschen. Die pathologischen Institute sind angesichts der rasch steigenden Fallzahlen überfordert. Obwohl es bei sprunghaften Temperaturanstiegen wie jenem vor dem letzten Wochenende immer wieder zu statistischen Schwankungen kommt, sind diese bis dato noch nie so drastisch ausgefallen.
Kein Wunder, dass manche sich bereits an den Beginn der Corona-Pandemie erinnert fühlen, die weltweit Millionen Todesopfer forderte und deren Folgen uns bis heute beschäftigen. Der Gesundheitsminister beruhigt: Es handle sich erstens um ein lokales Phänomen und zweitens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht um ein Virus. Die eindeutige Klärung der Ursache der tragischen Todesfälle stehe unmittelbar vor dem Abschluss. Der Bundeskanzler ergänzt, dass durch die Plötzlichkeit der Todesfälle, die keine Zeit für notfallmedizinische Maßnahmen ließe, das Gesundheitssystem nicht in ähnlichem Maße herausgefordert sei wie während der Pandemie. Ein Lockdown sei daher ebenso wenig zu befürchten wie andere Maßnahmen zum Schaden der Wirtschaft.
(Moderatorin) Experten hatten bereits im Zuge der Corona-Krise davor gewarnt, dass die skrupellose Ausbeutung der Natur das Auftauchen neuer Krankheiten begünstige. Sehen wir uns die bisher bekannten Fakten an: Normalerweise sind in annähernd 90 Prozent der Fälle Menschen jenseits der sechzig vom Herztod betroffen. Demgegenüber starben seit letztem Sonntag allein siebenunddreißig Personen unter dreißig in Wien und Umgebung an Herzstillstand, darunter vier Kinder. Abgesehen von dieser statistischen Anomalie erregte die Tatsache Verdacht, dass die überwiegende Zahl der Opfer während oder unmittelbar nach einer Mahlzeit verstorben ist. Bei vier Betroffenen handelte es sich um Beschäftigte von Gastronomiebetrieben. Fast alle hatten vor ihrem Tod nachweislich Gerichte mit frischem Bärlauch gegessen oder zubereitet.
(Moderator) Immer wieder kommt es vor, dass Bärlauch von Unkundigen mit giftigen Doppelgängern verwechselt wird. An oberster Stelle stehen dabei die Blattstände von Maiglöckchen und Herbstzeitlosen. Beide Pflanzen verirren sich gelegentlich in Lagen, in denen auch der Bärlauch zu finden ist, führen jedoch – anders als in den vorliegenden Fällen – zumeist lediglich zu gravierenden Verdauungsbeschwerden, nur in seltenen Ausnahmen zum Tod.
„Voll spooky“, sagte Jasse und versuchte, die Unterschiede zwischen den eingeblendeten Pflanzen auszumachen, während sie das letzte Hühnernugget in die süßsaure Glibbersauce tauchte. „Wenn man Kräuter sagt – gehört da Bärlauch auch dazu?“ Sie hatte ein mulmiges Gefühl, dachte an Herrn Roth und seine Kräutersuppe mit Sahne. Zu der er sie eingeladen hatte!
„Vermutlich, aber mach dir keine Sorgen!“, sagte ihr Dad mit vollem Mund. „Unsere Diät ist garantiert kräuterfrei. Sollen wir abdrehen, lieber noch eine Folge schauen? Die letzte …“
Jasse schüttelte den Kopf und hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, weil die Moderatorin sich in diesem Moment einem drahtigen Mann im grauen Dreiteiler zuwandte.
„Was ist denn los?“
„Ich will das hören, Papa!“
(Moderatorin) … den Leiter des Klinischen Instituts für Pathologie der Med-Uni Wien. Guten Abend, Professor Calvini! Könnten Maiglöckchen oder Herbstzeitlose oder womöglich eine fatale Mutation derselben die Ursache der aktuellen Epidemie sein?
(Calvini) Zunächst einmal: guten Abend! Nun, streng genommen versteht man unter dem Begriff Epidemie eine extreme Häufung von Ansteckungen mit einer Infektionskrankheit. Nach derzeitigem Kenntnisstand gehen wir jedoch von einer Welle von Vergiftungen aus, deren Ursache eine bisher unbekannte Pflanzenseuche sein könnte, also eine Epidemie auf der Ebene des Auslösers, nicht jedoch der Opfer, wenn Sie so wollen.
(Moderatorin) Danke für diese Richtigstellung, Herr Professor. Kommt also Ihrer Ansicht nach eine der genannten Pflanzen als Ursache der Todesfälle infrage?
(Calvini) Die biologischen Institute der Uni und Med-Uni Wien sowie der Universität für Bodenkultur und der AGES, die uns bei der Probenentnahme in den Vegetationsgebieten unterstützen, haben keinerlei Hinweise auf eine Kontamination von Allium ursinum, wie der biologische Name des Bärlauchs lautet, durch Maiglöckchen, Herbstzeitlose oder andere potenziell giftige Pflanzen ergeben. Angesichts der Opferzahlen müsste man von einer flächendeckenden Durchsetzung des Bestandes ausgehen. Darauf haben wir bis dato keinerlei Hinweise gefunden.
(Moderatorin) Wo liegt dann die Quelle der Vergiftungen? Sie sprachen vor der Sendung von Indikatoren für einen neuen Ansatzpunkt.
(Calvini räuspert sich.) In der Tat, den scheint es zu geben. Mit unseren bisherigen Ergebnissen an die Öffentlichkeit zu treten, halte ich jedoch für verfrüht, zumal noch eine ganze Reihe von Untersuchungen erforderlich ist, um den Verdacht zu verifizieren. Sie können sich vorstellen, dass die Wirkung der betreffenden Substanz nicht in vivo getestet werden kann. Selbst Tierversuche bedürfen gewisser Vorlaufzeiten für die behördliche Genehmigung. Derzeit laufen Labortests und diverse mikrobiologische Verfahren, bis zu deren Abschluss ich um Geduld bitten muss. Vorerst kann ich mich nur den Warnungen anschließen und dringend davon abraten, Wildkräuter jeglicher Art zu sammeln.
(Moderatorin) Herr Professor, tausende Zuseherinnen und Zuseher, die in den letzten Tagen ihre erste Bärlauchsuppe genossen haben, fragen sich, welchem gesundheitlichen Risiko sie sich damit ausgesetzt haben.
Na eben, dachte Jasse, tausende! Selbst wenn ihr Nachbar einer von ihnen war, hieß das noch lange nichts. Außerdem hätte er wohl Bärlauch gesagt, wenn er Bärlauch gemeint hätte. Bei Kräuter dachte man doch an Basilikum oder höchstens noch Petersilie. Spätestens nächste Woche würde sie ohnehin drüben klingeln, wegen der Friedhofsgeschichte, und dann würde sie ja sehen.
„Wieder mal eines deiner Hirngespinste, Spätzchen“, würde Mama jetzt sagen und ihr durch die Haare wuscheln. Wenn sie hier wäre. Jasse rückte ein paar Millimeter näher an ihren Dad heran. Er legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie.
*
„Bah, ist das ein schnöseliger Typ“, fauchte Olga. „Herr Professor dies, Herr Professor das.“
Kiki zuckte die Schultern. „Aber schlecht schaut er nicht aus, kantiges Gesicht, graumelierte Haare.“
„Auf sowas stehst du? Wer, bitte, trägt heute noch einen Dreiteiler? Und diese nasale Stimme, wie Graf Bobby höchstpersönlich.“
„Scht!“
(Calvini) Mit aller gebotenen Vorsicht und unter den genannten Vorbehalten kann ich Folgendes verraten: Bei bis zu 8 Prozent der heute im Großraum Wien extrahierten Bärlauch-Proben wurde eine Anomalie gefunden, die sich optisch relativ unauffällig als punktförmige bis streifige Verfärbung bemerkbar macht. Sie ist auf einen Pilzbefall der Blätter zurückzuführen. Es scheint sich um eine bisher unbekannte Art zu handeln, die ein Mykotoxin, ein Pilzgift, enthalten könnte. Wohlgemerkt: könnte!
(Moderatorin) Wir sprechen hier von einer Art Schimmelpilz?
(Calvini) Ich muss Sie bitten, dazu die Experten zu befragen, die mit der mykologischen Analyse befasst sind. Es steht jedoch außer Zweifel, dass Schimmelpilze in vergangenen Jahrhunderten nicht selten zu Massenvergiftungen geführt haben. Sicher ist Ihnen der Begriff Mutterkorn geläufig. Es bildet sich unter entsprechenden Umweltbedingungen auf Getreideähren und produziert Alkaloide, die zu …
(Moderatorin) Bevor wir nun zu tief in die Historie eintauchen – können Sie unseren Zusehern und Zuseherinnen bereits etwas über die Wirkungsweise des Giftes verraten, von dem wir heute sprechen? Ist es erforderlich, sich in medizinische Behandlung zu begeben, wenn man Bärlauch zu sich genommen hat?
„Na, endlich unterbricht sie sein Geschwafel!“, freute sich Olga. „Bisher hat sie ihn ja angehimmelt wie Gottvater.“
(Calvini) Sicher scheint, dass sich die Wirkung unmittelbar nach dem Genuss entfaltet. In einer Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit, die uns bisher von keiner anderen Substanz bekannt ist, sei sie natürlichen oder künstlichen Ursprungs. Drastisch ausgedrückt, stellt es sich uns so dar: Wer eine halbe Stunde nach dem Essen noch lebt, ist nicht in Gefahr.
(Moderatorin) Medizinische Maßnahmen sind also nicht erforderlich, wenn keine Symptome vorliegen?
(Calvini) Korrekt! Auf der anderen Seite scheint es für sämtliche Maßnahmen zu spät, sobald Symptome vorliegen.
(Moderatorin) Der Bärlauch steht in diesem Jahr erst ganz am Beginn seiner Vegetationsperiode. Müssen wir mit einer weiteren Ausbreitung der Seuche rechnen?
(Calvini) Das ist zu befürchten.
(Moderatorin) Ist die Krankheit ansteckend? Könnte der Pilz mutieren und sich von Mensch zu Mensch verbreiten wie das Coronavirus?
(Calvini) Das kann ich mir nicht vorstellen. Doch ich bitte erneut um Verständnis, dass ich für diese Fragen nicht die richtige Ansprechperson bin. Unser Institut beschäftigt sich lediglich mit der Analyse der Todesursachen. Mit der genaueren Natur des Schädlings setzen sich die diversen mikrobiologischen Institute auseinander.
(Moderatorin) Zu welchen Vorsichtsmaßnahmen würden Sie nun raten?
(Calvini) Ich meine, es reicht zunächst einmal aus, keine Wildkräuter zu sammeln, keine zu essen, auch nicht in der Gastwirtschaft des Vertrauens. Zwar ist Pilzbefall bei Pflanzen oft eng an bestimmte Wirte gebunden, doch derzeit empfände ich es als fahrlässig, eine Übertragung auf andere Pflanzen auszuschließen. Wer sichergehen will, sollte sich in nächster Zeit an Tiefkühlgemüse und -kräuter halten, bis die Ergebnisse der Untersuchungen vorliegen.
(Moderatorin) Das klingt bedrohlicher, als die Behördenwarnung vor einer Stunde vermuten ließ.
(Calvini) Mag sein, dass meine Vorsicht übertrieben ist. Doch auch den Wagemutigsten muss ich raten: Finger weg vom Bärlauch!
(Moderatorin) Können Sie aufgrund Ihrer Untersuchungen den Hinterbliebenen etwas Tröstendes mit auf den Weg geben? Immerhin scheint es sich um einen schnellen Tod zu handeln.
(Calvini) Ich kann versichern, dass die Verstorbenen nicht gelitten haben! Es gibt keinerlei Anzeichen für schmerzhafte Vergiftungssymptome des Verdauungstraktes oder sonstige Beschwerden, mit denen wir für gewöhnlich in solchen Fällen zu tun haben. Sämtliche Opfer, bei denen wir einen Zusammenhang mit Bärlauch-Genuss herstellen konnten, sind sehr schnell und, den Zeugenaussagen zufolge, glücklich gestorben.
(Moderatorin, schluckt irritiert) Dabei wollen wir nicht vergessen, dass Wiederbelebungsversuche in allen Fällen vergeblich geblieben sind.
„Ha!“, rief Olga, suchte Kikis Blick. „Hörst du das? Und schau dir an, wie die dreinschaut.“
„Ich wäre auch verwirrt an ihrer Stelle. Was für ein Idiot! Tröstliche Gedanken sind eines, aber gleich vom glücklichen Sterben zu reden – immerhin sind die Leute mitten aus dem Leben gerissen worden.“
„Pst!“ Olgas Blick war auf den Bildschirm geheftet, wo die Kamera von der Moderatorin wieder auf den Gast schwenkte, der nun richtig in Fahrt kam.
(Calvini) … tatsächlich tröstlich! Den Zeugenaussagen zufolge lachten Betroffene unmittelbar vor ihrem Tod und hörten nach einer Geste des Aufmerkens, ja, Aufleuchtens, wie es eine Hinterbliebene nannte, zu atmen auf, während vermutlich gleichzeitig das Herz aussetzte. Die psychotrope Wirkung scheint alle eventuell vorhandenen körperlichen Missempfindungen zu überdecken. Ein guter Tod, der bestmögliche, wenn man so will.
(Moderatorin, mit finsterem Blick) Der dennoch den Wenigsten willkommen gewesen sein dürfte, schon gar nicht den Angehörigen der Opfer! Kommen wir nun zum Besuch des israelischen Außenministers …
Kiki kämpfte mit den Tränen. Sie sah es in Olga arbeiten, sah sie zu Schlüssen kommen, zu denen in diesem Moment vermutlich Unzählige kamen, die wohl Angst vor dem Sterben, jedoch keine vor dem Tod hatten, weil er den einzig sicheren Ausweg aus ihrem Leiden bot. Sie rieb sich die Arme, bemühte sich um einen heiteren Ton.
„Ist dir auch so kalt? Ich dreh die Heizung ein Grad wärmer, was meinst du?“ Verdammt, warum hatten sie diesem selbstgefälligen Typen nicht das Mikro abgedreht? War das nicht Aufgabe der Regie? Das Mindeste, was man vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen erwarten durfte, war doch wohl, dass es keine Werbung für todbringende Drogen brachte. „Wenn ich schon stehe, kann ich auch gleich das Käsegebäck mitbringen. Ein Glas Rotwein für dich? Wollen wir die Doku weiterschauen?“
„Garantiert glücklich sterben ohne Nebenwirkungen, das wär’s doch!“, antwortete Olga. „Ein Geschenk der Natur, meinst du nicht?“
*
Aus den Augenwinkeln sah Jasse ihren Vater regungslos auf den Bildschirm starren, die Bierflasche auf dem rechten Oberschenkel balancierend. Schlaff lag sein Arm um ihre Schultern. Sie meinte zu wissen, was er dachte, und wollte es nicht wissen und auch selbst nicht denken müssen. Nichts denken müssen.
Sie beugte sich vor, nahm ihr Telefon vom Sofatisch, tippte Mutterkorn in die Suchmaske, wählte Bilder. Ein schwarz verfärbter Fuß, aus dem ein Knochen ragte. Alte Zeichnungen und Gemälde verstümmelter Menschen mit schmerzverzerrten Fratzen, vergiftet durch Mutterkorn. Ein Schwarzweißfoto zeigte eine elend dreinblickende junge Frau mit schwarz verschrumpelter Nase. Jasse meinte, ihr Spiegelbild zu erkennen, innerlich und äußerlich verrottend durch die Schuld ihrer Mutter. Mutterschuld. Mutterkorn. Zwischendrin Abbildungen von Getreideähren, aus deren Seiten übergroße schwarze Körner wuchsen, die Jasse an den schrumpeligen Affenpenis erinnerten, den die Alte in der Reality-Show letztens kreischend in der Hand gehalten hatte.
Sie tippte den ersten Link in der Liste nach Wikipedia und den drei Gesundheitsseiten an und landete wieder auf der Sporenwelt-Seite, von der sie vorhin den größten Teil ihres Referats über die Mykorrhiza, die Symbiose zwischen Bäumen und Pilzen, kopiert hatte.
(Sporenwelt.de) Die Bezeichnung Mutterkorn geht vermutlich auf die volksmedizinische Anwendung als blutstillendes Mittel nach Geburten zurück, die seit dem 17. Jahrhundert belegt ist.
Besonders in ertragsarmen Jahren mit nassem Frühjahr und heißem Sommer nisten sich die mikroskopisch kleinen Sporen des SchlauchpilzesClaviceps purpureaauf Roggen und anderen Gräsern ein und bilden purpurfarbene bis schwarze Auswüchse, das Mutterkorn. Darin enthaltene Ergotalkaloide (stickstoffhaltige organische Verbindungen) rufen schwere Vergiftungen hervor, die im Mittelalter, vor allem in Deutschland und Frankreich, Familien und ganze Dorfgemeinschaften dahinrafften. Die Krankheit, heute Ergotismus genannt, war damals als Antoniusfeuer, Kriebelfeuer oder Heiliges Feuer bekannt und galt als Strafe Gottes und Krankheit der Armen.
Funfact: Der Adel von Gottes Gnaden blieb tatsächlich weitgehend verschont, da er es sich leisten konnte, Fleisch und Weizen höherer Qualität zu sich zu nehmen.
Als erste Symptome des Ergotismus stellen sich Kopfschmerz und Erbrechen ein, darauf folgen heftig brennende Schmerzen am ganzen Körper, hervorgerufen durch eine extreme Verengung der Blutgefäße. Die Opfer leiden an unstillbarem Durst, Halluzinationen, Lähmungserscheinungen und Krampfanfällen. Schließlich setzt Muskelschwund ein. In vielen Fällen kommt es zur Bildung von Nekrosen, das Gewebe mumifiziert, wird schwarz wie das auslösende Korn, tödliche Blutvergiftungen tun das Übrige. Gelegentlich fallen Gliedmaßen auch ohne Blutverlust ab und es kommt zur Heilung. Das „glückliche“ Opfer kann weiterleben, schwerstbehindert und zumeist für den Rest seiner Tage auf Almosen angewiesen, wovon zahlreiche mittelalterliche Abbildungen Zeugnis ablegen.
Heutzutage tritt Ergotismus zumeist als unerwünschte Wirkung von Medikamenten auf Basis von Mutterkornalkaloiden auf, die etwa zur Bekämpfung von Migräne eingesetzt werden. Überlegt also beim nächsten Mal gut, ob diese zweite Tablette wirklich notwendig ist …
Funfact 2: Mutterkornalkaloide sind auch die Basis der psychoaktiven Droge LSD. Wie so oft liegen Heil und Schrecken eng beieinander.
War natürlich blöd, wenn das mit dem Sterben so ablief, dachte Jasse. So schmerzhaft und unappetitlich und sozial voll ungerecht. Dagegen wirkte dieses neue Zeug ja richtig nice.
Ihr Dad hatte sich immer noch nicht bewegt, starrte auf den Bildschirm, als ob er sich brennend für den Nachwuchs der Koboldmakis im Schönbrunner Zoo interessieren würde. Sie überlegte, ob sie ihn jetzt fragen sollte. Immerhin hatte sie heute schon einmal unerwartetes Glück mit einer Frage gehabt. Ob er glaubte, dass Mama tot war, wollte sie ihn fragen. Vielleicht wusste er es ja sogar, hatte nur Angst, es ihr zu sagen. Immerhin wäre das ein Grund, warum sie sich nicht meldete. Jasse holte tief Luft. Die Möbelhauswerbung. Wenn sie nur wüsste, ob man nach dem Tod wirklich alle wiedertreffen konnte, die man mochte. Aber das würde sie lieber Herrn Roth fragen, wenn sie mit ihm zum Friedhof fuhr. Ihr Dad räusperte sich.
„Papa.“
„Ja, mein Vögelchen?“ Er war heiser, seine Augen gerötet.
Wenn Mama nun nicht tot war, wenn sie ihn durch ihre Frage erst auf diesen Gedanken brachte?
„Ach, nichts.“
Die drei Frauen erreichten den Gipfel des Hügels und wandten sich talwärts. Nach dem steilen Aufstieg hörte Kiki sie schnaufen. Mit Ärmeln und Taschentüchern tupften sie sich den Schweiß von Stirn und Nacken, sahen den Hunden zu, die einander über die sonnenbeschienene Wiese jagten, und betrachteten die Aussicht über den westlichen Teil der Stadt, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.
Von der Bank des Picknicktisches aus hatte Kiki ihren zielstrebigen Marsch beobachtet. Das waren keine Spaziergängerinnen, die hatten ein Ziel. Zusammengerollte Stoffbeutel in ihren Händen zerstreuten letzte Zweifel. Es musste sich um Sammlerinnen handeln. Kiki beschloss, ihnen zu folgen. Sie selbst war bis jetzt nicht fündig geworden, hatte einfach zu wenig Ahnung, was Kräuter, beziehungsweise Pflanzen im Allgemeinen, anging. Wie absichtslos schlenderte sie die letzten Meter hangaufwärts.
Die drei Frauen traten in den Schatten des Waldes. Hinter dem Stamm einer Buche verborgen, beobachtete Kiki, wie sie den mit Nestern von Veilchen und Himmelschlüsseln gesprenkelten Waldboden abschritten. Sie huschte ihnen nach, von Baum zu Baum, so lautlos sie konnte, bis ihr die Lächerlichkeit ihres Benehmens aufging. Schließlich tat sie nichts Verbotenes.
Die Frauen stießen auf ein kleines Feld hellgrün leuchtender Blattlanzetten, das Kiki bereits vor einer halben Stunde inspiziert hatte, ohne genau zu wissen, wonach sie Ausschau halten musste. Gebückt strichen sie mit den Händen durch das Grün, rissen hier und dort ein Blättchen aus, um es genauer zu prüfen und wieder fallenzulassen. Sie ignorierten Kiki, die sich von der Seite her näherte. Erst nachdem sie sich aufgerichtet und flüsternd beratschlagt hatten, erhaschte Kiki den Blick der Jüngsten. Eine sparsame Drehung des Kopfes, ein bedauerndes Zusammenpressen der Lippen und sie wusste Bescheid: Hier war keine Spur des Gesuchten zu entdecken.
„Kata!“, kommandierte eine der älteren Frauen flüsternd.
Kata zwinkerte Kiki zu und folgte den anderen. Konspirativ und solidarisch, dachte Kiki.
„Du tust es für mich“, hatte Olga ihr befohlen und damit ihre anfängliche Weigerung beiseitegewischt. „Ich brauche einen Backup-Plan, Ende der Diskussion!“ Beihilfe zur Selbstbestimmung, Olgas Joker, der alle anderen Argumente schlug.
Im Abstand von einigen Metern folgte Kiki den dreien bis zu einem Weg, der entlang eines Maschendrahtzaunes steil bergab führte und den frei zugänglichen Wald am Schafberg vom Wald im Park trennte. Sie ließen einen Mountainbiker passieren, der sich schwer atmend den Hang heraufquälte, und marschierten auf eine Gittertür zu. Ohne sich umzusehen, versetzte die letzte der Frauen dem Türflügel im Hindurchgehen einen kräftigen Stoß, um ihn für Kiki offenzuhalten.
Ihr Blick schweifte über trockenes Laub, Leberblümchen und Primeln zu beiden Seiten des asphaltierten Weges, der tiefer in den Park hineinführte. Alle Vögel waren schon da. Jeder sang sein eigenes Lied. Eben war ihr das noch harmonisch erschienen, doch mit einem Mal kam es ihr vor wie willkürliches Geschrei, unheilverkündend sogar. Ein heftiger Windstoß ließ die Baumkronen zittern und Sonnenflecken über den Boden tanzen. Kiki konzentrierte sich auf das Aneinanderschlagen der Äste und das Rascheln der Zweige, um das Vogelgekreisch auszublenden. Erste Blattknospen hatten einen feinen Grünschleier über die Zweige der niedrigeren Bäume und Sträucher geworfen. Die hohen Buchen schienen noch kahl. Trotz des morbiden Zwecks der Expedition sprach nichts dagegen, sich über den Frühling zu freuen, ihn wenigstens wahrzunehmen, wenn sie schon mal rauskam. Die Vögel zwitscherten wieder wie sonst.
Der Weg mündete in einen breiteren und hier trafen sie auf andere. Ein hagerer Alter in einem extravaganten weinroten Mantel verließ am Arm seiner jüngeren Begleiterin den Weg und tastete sich mit vorsichtigen Schritten über den Waldboden bergauf. Ob die Frau in Trainingskleidung, die im Laufschritt ihr quietschendes Kleinkind im ebenfalls quietschenden Buggy vorbeischob, auch zu den Sammlerinnen gehörte? Der Gedanke verursachte Kiki eine Gänsehaut und sie ermahnte sich, nicht über andere zu urteilen. Die einen kamen, die anderen gingen.
Ein unterdrückter Ausruf. Wenige Meter hinter Kiki war der alte Mann im roten Mantel auf dem laubbedeckten Boden ausgeglitten. Ungeschickt zerrte ihn seine Begleiterin am Arm hoch, und sie kämpften sich weiter über den trügerischen Grund.
Die Hände in den Hosentaschen vergraben, kickte ein Mädchen einen Stein vor sich her. Ungeachtet der kühlen Temperaturen hatte sie ihren Parka an den Ärmeln um die Taille gebunden. Wie alt sie sein mochte? Vierzehn? Fünfzehn, höchstens. Sie bemerkte Kikis Blick, hob die Augenbrauen und spielte ihr den Stein genau zwischen die Füße. Zu fest schoss Kiki zurück und ins Aus, zuckte bedauernd mit den Schultern und blieb stehen.
Etwa zehn Meter trennten sie vom Waldrand, der in großzügigem Schwung eine abfallende Wiese umschloss, in deren Mitte ein Baum stand, die noch kahlen Äste mit Mistelkugeln geschmückt. Misteln sehen und Miraculix denken. Unter den Bäumen ging das Gras allmählich in eine Zone mit dichtem Bärlauchbewuchs über, der zum Weg hin wieder ausdünnte. Eine Sammlerin mit wilden, langen Haaren und Fransenjacke stand inmitten der Pflänzchen, einen voluminösen Kopfhörer über den Ohren, und summte unharmonisch vor sich hin, während sie büschelweise Blätter ausrupfte und in einen Korb warf. Sie steckte sich eines der Blättchen in den Mund und kaute. Wenige Meter entfernt prüften Kikis Führerinnen die Kräuter, um nach einer geflüsterten Diskussion den Weg zu überqueren und hangaufwärts quer durch den Wald zu stapfen.
Kiki verließ ebenfalls den Weg, eilte auf die Sammlerin zu und tippte ihr auf die Schulter. „Entschuldigen Sie!“
Die Frau fuhr zusammen und schob den Kopfhörer in den Nacken. Mit ihrer großen Brille und den Sommersprossen sah sie aus wie Janis Joplin.
„Wissen Sie nicht, dass der Bärlauch tödlich sein kann?“
Janis sah Kiki belustigt an und schob sich ein weiteres leuchtendgrünes Blättchen in den Mund. „Nur weil es in den Medien ist? Das sind doch Fake-News, weil die Konzerne nicht mitschneiden können, wenn wir unser Essen im Wald besorgen. Zuerst haben sie das Dumpstern verboten, jetzt das, und demnächst ist dann Obst aus dem Garten giftig, weil es nicht in deren Folientunneln gezogen wird. Ihr seid so ahnungslos!“
„Wir?“
„Deine Generation! Lasst euch doch nicht verarschen!“
Gerade noch selbstlose Retterin, fühlte Kiki sich altern und schrumpfen. Sie rief sich den Pathologen in den Abendnachrichten ins Gedächtnis. Dass er ausdrücklich Tiefkühlnahrung empfohlen hatte, passte in dieses Bild. Ein Bild von durch skrupellose Konzerne kontrollierten Medien, dem Olga vermutlich viel abgewinnen könnte.
„Ich sammle jetzt jedenfalls, soviel ich kann“, sagte Janis, „bevor sie die Wälder sperren und uns nur noch Fertignahrung erlauben.“ Sie setzte sich die Kopfhörer wieder auf und bückte sich nach den Kräutern.
Kiki spazierte zurück zum Weg. Wenn die Vermutung der Frau zutraf, war die Geschichte mit der tödlichen Wirkung erlogen. Einerseits nicht unmöglich angesichts der Tatsache, dass Janis noch lebte. Andererseits eine fehlgeschlagene Kampagne, wenn man bedachte, dass sich wohl selten so viele Menschen im Wald herumtrieben wie jetzt.