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Aus Geschichten wurden Legenden … Aus Legenden wurden Mythen ... Doch was passiert, wenn Mythen Wirklichkeit werden?
Wolf´s Paws - Shadow of the Wolves Die Geschichte einer jungen Frau, die auf schmerzhafte Weise lernen muss, das Mythen auch in der heutigen Zeit real werden können.
Als es Lily vor über einem Jahr nach Leipzig verschlug,
ahnte sie nicht, das ihr sonst eher bescheidenes und
langweiliges Leben sich schlagartig ändern würde.
Und schuld daran war eine simple Dokumentation
über einen Cherokee-Clan.
Als sie dann auch noch den charmanten und geheimnisvollen
Maik kennenlernt, ist das Chaos perfekt. Doch was für ein
Geheimnis verbirgt sich hinter diesem mysteriösen
fremden Mann? Und was hat es mit den schrecklichen
Albträumen auf sich, die sie seit ihrer
Rückkehr plagen?
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Wolf´s Paws
Shadow of the Wolves
Texte & Bildmaterial: ©2010 Copyright by Tobias Reuter
1. Auflage
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
„Hallo ist da jemand? ... Hallo?“
Verkrampft schaute sich Lily um. Sie hätte schwören können, dass zwischen den meterhohen Bäumen schemenhafte Gestalten hin und her huschten. Was ist das nur für ein Ort? ... Wie bin ich hierhergekommen?
Das helle Mondlicht warf unheimliche Schatten auf den dichten, mit moosbedeckten Waldboden. Lily zuckte zusammen. „Wer ist da ... los zeigen Sie sich ... SOFORT!“ Ihr Herz pochte wie wild. Verdammt! Halt doch bloß die Klappe. Du hast doch keine Ahnung wer oder was dich erwartet ...
Ein plötzliches Geräusch, das aus der
entgegengesetzten Richtung an ihr Ohr drang, ließ sie herumwirbeln. Sie ballte die Hände zu Fäusten.
„KOMMEN SIE SOFORT AUS DEM GEBÜSCH RAUS UND ZEIGEN SIE SICH! ICH WEISS, DASS SIE DA SIND!“
Doch das war ein Fehler. Lily wurde kreidebleich. „Das ist nicht wahr ... “, stammelte sie, „... das ... das kann nicht sein ...“
Sie traute ihren Augen nicht. Das war unmöglich ... Sie stieß einen lauten Schrei aus und dann wurde alles dunkel um sie herum.
Schweißgebadet wachte Lily auf und fiel fast aus dem Bett. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie realisierte wo sie war. Ihr Kopf hämmerte und ihr Herz überschlug sich fast. Schwarze Punkte huschten vor ihren Augen umher.
Als sich ihr Zustand wieder beruhigt hatte, verließ sie
das weiche Bett und trat ans geöffnete Schlafzimmerfenster. Die frische Julisonne tauchte das Zimmer in ein helles, warmes Licht und Gegenstände warfen die verschiedensten Schatten an die Wände.
„Schon wieder ... schon wieder dieser Traum“, murmelte sie vor sich hin. Ihr Blick glitt vom Fenster auf den Wecker, der rechts neben einem schwarzen Bett auf einem kleinen braunen Nachttisch stand.
Auf der anderen Seite des Raumes breitete sich
ein großer, ziemlich mitgenommen aussehender Kleiderschrank aus Massivholz entlang der Wand aus. Daneben stand eine Zimmerpflanze. Diese hatte sie von ihrer Tante, vor einem Jahr zu ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag geschenkt bekommen. Die Einrichtung des Zimmers passte absolut nicht zusammen, doch das störte Lily reichlich wenig, da sie aufgrund ihres Berufes sowieso selten zuhause war.
Lily verzog das Gesicht als sie die Uhrzeit sah. „15.30 Uhr … schon wieder den halben Tag verschlafen. Was ist nur los mit mir?“
Ihre Gedanken kreisten erneut in ihrem Kopf und brachten sie zum Wanken. Immer wieder huschten Schatten in ihren Gedanken umher. Seit fast zwei Wochen ging das jetzt schon so. Lily versuchte ein Bild aus den Eindrücken zu formen, schaffte es aber nicht. Ob diese Visionen wohl mit ihrer Reise zusammenhingen?
Vor ungefähr vier Wochen brach sie von Leipzig – wo sie vor über einem Jahr ihr neues Zuhause gefunden hatte – nach North Carolina auf, um eine Reportage über die Cherokee-Indianer zu drehen. Seitdem wurde sie wieder und wieder von merkwürdigen Träumen geplagt.
Als sich ihr Blick von der Uhr löste, meldete sich prompt ihr Magen zu Wort und signalisierte, dass sie dringend etwas zu Essen auftreiben musste. Lily schlüpfte in zerrissene Jeans, ein schwarzes, eng anliegendes Spaghetti-Top und marschierte in Richtung Küche. Auf dem Weg dorthin huschte ihr ein Schatten über die Füße und entlockte ihr ein erschrockenes Keuchen.
„Zeus“, sagte sie mit aufgebrachter Stimme. „Mach das ja nicht noch einmal. Wegen dir bekomme ich noch einen Herzinfarkt. Und das mit gerade mal knapp fünfundzwanzig.“
Doch Zeus starrte sie nur mit seinen großen grünen Augen an, gab ein genervtes Miauen von sich und stolzierte in die Küche zu seinem Napf.
Zeus war Lilys bester Freund seitdem sie ihn vor einem Jahr gefunden und aufgepäppelt hatte. Er hatte braunschwarz getigertes Fell und weiße Pfoten. Auf der Stirn hatte er einen weißen Fleck in Form eines Pfotenabdruckes.
Immer noch verärgert und mit leichtem Herzklopfen folgte Lily dem Kater in die Küche und öffnete die Kühlschranktür. Vielleicht sollte ich langsam mal einkaufen gehen, dachte Lily, als sie in die gähnende Leere ihres Kühlschrankes blickte. Seit ihrer Rückkehr vor zwei Tagen war sie noch nicht dazu gekommen ihre Vorräte wieder aufzufüllen.
Verärgert schloss sie die Tür und verschwand im Badezimmer, welches auch nicht viel größer als die restlichen Zimmer ihrer Wohnung war. Ihre Kleidung mit samt der Unterwäsche flog im hohen Bogen in die Waschmaschine, die auch dringend wieder eingeschaltet werden musste. Dazu hatte sie momentan aber keine Lust.
Lily stieg unter die Dusche, drehte das Wasser auf und ließ sich mit geschlossenen Augen von dem angenehmen Gefühl der einzelnen Strahlen auf ihrer Haut durchströmen. Sie stellte sich vor, dass sie in einem warmen Sommerregen stand, fern aller Probleme und jeglicher Zivilisation. Vor ihrem geistigen Auge entstand eine weite Landschaft mit Bergen, Tälern und Wäldern im gedämpften Licht der Abendsonne. In der Ferne vernahm sie das Rauschen eines Wasserfalls, das fast schon wie Donnergrollen klang. Überall sah sie Tiere im hohen Gras die Lily ihrerseits jedoch nicht wahrzunehmen schienen, während über ihr einige Vögel durch die Lüfte glitten.
Alles schien ihr so vertraut, als wäre sie schon einmal hier gewesen. Sie genoss den Anblick der friedlichen Umgebung fernab der alltäglichen Realität. Sie ließ sich verzaubern und dachte an den Anfang der Reportage zurück.
Sie hatte die Wahl zwischen verschiedenen Clans gehabt. Aber wieso es ausgerechnet der Wolfs Clan geworden war, wusste sie bis zum jetzigen Zeitpunkt immer noch nicht. Sie hätte genauso gut einen der anderen Clans wie zum Beispiel den Small Bird Clan oder den Blue Clan nehmen können.
Eine ganze Weile verging, bis sie ruckartig die Augen aufriss und schreiend aus der Dusche sprang. „Verdammt noch mal. Wie oft muss ich meinem Vermieter noch sagen, dass irgendetwas mit der Dusche nicht stimmt“.
Das schöne warme Wasser wurde urplötzlich eiskalt und hatte überhaupt nichts Idyllisches mehr an sich. Verärgert drehte sie den Hahn zu und suchte ein Handtuch, welches sie sich um ihren schlanken, sportlichen Körper wickelte. Das Tuch, das Lily schließlich erwischte, sah schon ziemlich alt und verwaschen aus. Allerdings konnte sie sich bis heute nicht davon trennen.
Das Motiv, das den blauen Stoff zierte, zeigte einen Wasserfall, auf dessen Spitze ein Wolfsrudel mit gehobenen Köpfen stand und gerade dabei war ein Lied anzustimmen. Über dem Rudel war ein großer Vollmond zu sehen, der den Nachthimmel hell erleuchtete. Sie wusste, dass es bereits die besten Jahre hinter sich hatte, doch besaß sie es schon seit ihrer Kindheit. Außerdem war es das Einzige, was ihr noch von ihren Eltern geblieben war, nachdem sie vor über zehn Jahren ohne eine Nachricht verschwunden waren.
Frisch geduscht und mit nichts weiter als dem Handtuch bekleidet, betrat Lily das Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Mit ihren ein Meter Sechsundsechzig war sie nicht sehr groß, konnte aber ohne Probleme die drei Fächer überschauen.
Vor ihr türmten sich verschiedene Pullover, Tops, T-Shirts und noch einige weitere Kleidungsgegenstände, die von Lily – wie so oft – lieblos hineingeworfen wurden. Wäsche zusammenlegen machte ihr einfach keinen Spaß.
Sie inspizierte mehrere Minuten lang die ersten beiden Fächer, bevor sie verschiedene Klamotten aufs Bett warf. Zu den Oberteilen und T-Shirts gesellten sich noch einige Hosen, Röcke und Kleider.
Als Nächstes kam die Unterwäsche an die Reihe. „Was könnte denn heute infrage kommen?“ Lilys Blick schweifte über einen kleinen Haufen von Tangas und Slips. „Mh … das? Nein ... das auch nicht, der auch nicht ... Wo hab ich denn …, ah da ist er ja.“ Sie hielt einen schwarzen Tanga mit einem rüschenverzierten Saum und Weiß-Silber verzierten nähten in den Händen, den sie sich erst vor Kurzem – als sie mal wieder in der Stadt shoppen war – gekauft hatte.
Ihre negativste und zugleich nervigste Eigenschaft, die Lily von sich kannte, war das Problem, dass sie gerne Laut über Dinge nachdachten. Und genau diese kleine Sache
hatte ihr schon manch peinliche Situationen beschert.
Nachdem jetzt genauso viel Chaos hinter wie vor ihr herrschte, probierte sie verschiedene Outfits an. Lily mischte alles Mögliche untereinander, bis ihr ein Outfit zusagte. Die restlichen Klamotten warf sie anschließend wieder zurück in den Schrank.
Ihre sportliche Figur wurde von einer blauen Hotpants mit ausgefransten Enden und einem weißen, bauchfreien Spaghetti-Top mit dem Aufdruck: »Klein aber oho« bedeckt. Dazu trug sie rosa-weiß gestreifte Beinstulpen, die sie von ihrer letzten Reise mitgebracht hatte.
Vielleicht sollte ich mir noch schnell die Haare föhnen, dachte Lily, als sie feststellen musste, dass ihre langen dunkelblonden – fast schon braunen Haare – den Umriss ihres schwarzen Spitzen-BHs auf dem weißen Top nachmalten.
Die Stadt war bei dem schönen Wetter ganz besonders voll. Hunderte von Menschen schoben sich durch die Straßen und Gassen. Einige beschwerten sich über die unerträgliche Hitze, andere kühlten ihr Gemüt mit Eis und kalten Getränken ab. Kinder spielten mit den kleinen Wasserfontänen, die in der Innenstadt aus dem Boden sprudelten, während ihre Eltern mit Freude dabei zusahen.
Lily mochte diese kleinen Spielereien besonders gerne. Früher, als sie selbst noch ein Kind war, hatte sie auch immer im Wasser gespielt, wenn die Wärme unerträglich wurde. Selbst heute ging sie noch gerne Baden um sich abzukühlen und dabei zu entspannen. Aber nicht nur die kleinen Dinge liebte sie so. Auch die Architektur. Zu ihren Lieblingsorten zählten die Thomaskirche, die Nikolaikirche genauso wie das Romanushaus – ein historisches Barockgebäude in der Leipziger Innenstadt – oder das Schillerhaus in Leipzig Gohlis, in dem Schiller die »Ode an der Freude« geschrieben hat. Lily wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Es gab so vieles, das ihr gefiel. Aber auch vieles, das sie noch nicht gesehen hatte.
An mehreren Stellen in der Stadt spielten Straßenmusiker für die vorbeiziehenden Menschenmassen und hatten Spaß dabei. Einen Musiker mochte Lily jedoch besonders gerne und hielt jedes Mal nach ihm Ausschau, wenn sie in der Stadt unterwegs war. Er hatte stets seine schwarze Westerngitarre – die mit goldenen Saiten und Zeichnungen verziert war – dabei, und saß immer an derselben Stelle.
Lily schätzte den Musiker auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Er hatte kurzes schwarzes Haar und einen sportlichen Körper. An seiner Seite war immer ein Hund, der gemütlich auf einer Decke schlief und sich von nichts und niemandem stören ließ. Manchmal legte Lily auch etwas Geld in seinen Gitarrenkoffer. Vorausgesetzt, sie hatte nicht wieder alles für neue Klamotten ausgegeben.
Auch dieses Mal saß er an seinem gewohnten Platz. Wie so oft musste Lily einfach stehen bleiben und seiner Musik lauschen. Als er unerwartet anfing zu singen, bekam sie eine Gänsehaut. Noch nie zuvor hatte sie ihn singen hören. Sie war hin und weg. Seine Stimme klang so weich und gleichzeitig voller Energie. Lily war so überwältigt von dem Gesang, dass sie ungewollt näher an ihn herantrat.
Es verging eine ganze Weile, bis er sein Lied beendete und eine Pause einlegte.
„Das war wunderschön“, brach es aus ihr heraus.
Der junge Mann schaute sie lächelnd an. „Danke. Es freut mich, dass es Ihnen gefallen hat“, entgegnete er ihr höflich.
Erst jetzt bemerkte Lily, dass sie wieder einmal laut gedacht hatte.
Der Musiker lächelte sie weiter an. „Ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Gefällt Ihnen meine Musik?“, sprach er weiter.
Wärme machte sich auf ihrem Gesicht breit und sie merkte, wie sie errötete. Hoffentlich bemerkt er es nicht, dachte sie insgeheim. „Ich wohne hier in der Nähe und bin daher oft in der Stadt …“, brachte sie leise hervor. „Ich heiße übrigens Lily.“, sie streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen.
„Maik“, sagte der junge Mann und schüttelte ihre Hand zur Begrüßung. „Sehr erfreut Sie ... ich meine dich, kennenzulernen.“ Er warf einen Blick nach rechts. „Und diese Schlafmütze neben mir ist Charly“.
Als er seinen Namen hörte, öffnete Charly nur kurz die Augen, schaute zu Lily und schlief weiter.
Lily konnte sich ein Lachen einfach nicht verkneifen. „Er ist fast genauso schlimm wie mein Kater. Nur, dass dieser es noch nicht mal für nötig hält, überhaupt seine Augen zu öffnen, wenn ich ihn rufe. Außer wenn es ums Fressen geht. Da ist er dann sofort putzmunter.“
Maik und Lily unterhielten sich einige Zeit, bis sie durch das Knurren ihres Magens daran erinnert wurde, dass sie eigentlich einkaufen wollte. Ein kurzer Blick aufs Handy sagte ihr, dass es höchste Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen. Sie verabschiedete sich von Maik und Charly mit dem Versprechen, bald wieder vorbeizukommen, und machte sich auf den Weg ins Einkaufszentrum.
Während sie den Weg entlang schlenderte, machte sie sich Gedanken darüber, wieso sie einem Fremden ihren Namen verraten hatte. Vielleicht weil er ihr gar nicht so fremd vorkam?
Nach einer Stunde war sie endlich wieder zuhause angekommen. Als sie die Wohnungstür öffnete, wartete Zeus bereits auf sie und sah alles andere als erfreut aus.
„Ich weiß … ich war länger weg, als ich wollte. Tut mir leid.“
Lily legte den Schlüssel auf das Regal neben der Tür und schob sich an Zeus in Richtung Küche vorbei, um die Einkaufstüten abzustellen. Ihr Kater war zwar eine ganz schöne Nervensäge, aber keinesfalls dumm. Kaum hatte sie angefangen die Tüten auszupacken, schlich er schon um ihre Beine.
„Du weißt ganz genau, dass ich etwas zu fressen dabei habe, stimmts?“
Als sie den restlichen Einkauf verstaut hatte, nahm sie eine Dose Katzenfutter und füllte den Inhalt in seinen Napf. „So bitte sehr der Herr. Lass es dir schmecken.“
Der Kater schaute zu Lily, gab ein fröhlich klingendes ‚Miau‘ von sich und fing an zu fressen.
Nachdem sie nun erst mal Ruhe vor ihm hatte, machte es sich Lily mit einer Tiefkühlpizza auf dem Sofa gemütlich, schaltete den Fernseher an und zappte durch das Abendprogramm.
Das helle Licht des Mondes tauchte die Umgebung in eine fast schon unheimliche Atmosphäre, während die meterhohen Bäume beängstigende Schatten auf den Boden warfen und jegliche Sicht auf das, was dort hinter lauerte, verbargen. Der große runde See glänzte im Schein des Mondes wie reinstes Silber und spiegelte den sternenklaren Nachthimmel auf der Wasseroberfläche wider.
Von allen Seiten konnte Lily unheimliche Geräusche vernehmen, die sie zusammenfahren ließen. Sie fühlte sich in dem großen weiten Gelände einsam und verloren. Der Ruf einer Eule erschrak sie so sehr, dass sie einen Schrei – der alles andere als leise war – ausstieß.
„Du blödes Vieh", schimpfte sie. „Musst du mich so erschrecken?“
Die Eule würde ihr zwar sowieso keine Antwort geben, dennoch konnte sich Lily diesen Kommentar einfach nicht verkneifen. Er half ihr dabei, sich wieder etwas zu beruhigen. Langsam lief sie weiter. Sie musste schnellstmöglich einen Weg aus dem Wald und weg von diesem unheimlichen Ort finden. Sie schaute in den Nachthimmel und spürte, wie ihr die kühle Luft eine Gänsehaut verpasste.
Zum Glück haben wir heute Vollmond, dachte sie. Doch außer Bäumen und noch mehr Bäumen war nichts zu erkennen, das auch nur ansatzweise wie ein Weg aussah. „Wer auch immer den Ausdruck: »Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht« erfunden hat, hatte genau diese Situation damit gemeint …“, grummelte sie.
Das Knacken eines zerbrechenden Zweiges ließ sie ruckartig herumfahren. „Wer ist da? Zeigen Sie sich. Ich bin bewaffnet!“, brüllte Lily in die Dunkelheit. Aber nichts tat sich.
Ihr Herz pochte. Nach diesem Schreck wollte Lily nur noch schneller aus dem verdammten Wald heraus. Dummerweise hatte sie sich den Weg nicht gemerkt, und irrte nun planlos umher. Für ihre Schusseligkeit hätte sie sich in den Hintern beißen können.
Erneut ließ ein Knacken sie herumwirbeln. Lily wollte gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als sie von den Füßen gerissen wurde und unsanft auf den moosbedeckten Boden aufschlug. Durch den harten Aufprall wich sämtliche Luft aus ihren Lungen und ließ sie aufkeuchen. Ihre Brust fing an zu schmerzen und das Atmen fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer. Sie konnte nicht mal um Hilfe rufen.
Keuchend und nach Luft ringend, riss sie die Augen auf. Zu ihrer Verwunderung stellte sie fest, dass sie nicht auf dem Waldboden, sondern in ihrem Bett lag, und der stechende Schmerz, den sie in ihrer Brust verspürte, die Krallen von Zeus waren.
Wütend warf sie den Kater in hohem Bogen von sich runter. „Bist du total bescheuert? Was denkst du dir überhaupt dabei?“, rief sie Zeus hinterher, der mittlerweile das Schlafzimmer verlassen hatte.
Schmerzerfüllt rieb sie sich die Brust. Lily kam nicht drum herum nachzuschauen, welches Andenken er ihr hinterlassen hatte. Sie zählte ganze vier kleine Löcher, die zu allem Überfluss auch noch bluteten. Sie zog die dünne, pinke, mit weißen Blumen verzierte Sommerdecke zur Seite, schlüpfte in ihre Hausschuhe und verschwand im Bad.
Nachdem sie sich das Blut von der Haut gewischt hatte, ging sie zurück ins Schlafzimmer und verzog das Gesicht, als ihr Blick auf den Wecker fiel. Es war bereits Nachmittag. Der kleine schwarze Wecker, den sie bei einer Tombola gewonnen hatte, zeigte in rot leuchtenden Zahlen »15:45« an.
Langsam begann Lily, ihren kleinen Ausflug zu bereuen. Wäre sie nicht nach North Carolina geflogen, würde sie jetzt sicher nicht von diesen merkwürdigen Albträumen geplagt werden. Sie warf dem Wecker abermals einen grimmigen Blick zu, und verschwand in die Küche. Sie brauchte dringend einen Cappuccino und vielleicht auch eine Kleinigkeit zu essen.
Nach zwei Tassen ihres Lieblingsgetränkes so wie vier Scheiben Toast mit Schmierkäse und Wurst, beschloss sie sich ein paar Klamotten – die von ihrer gestrigen Schrankausräumaktion noch rumflogen – überzuziehen. Ein bisschen frische Luft würde ihr sicher gut tun.
Nicht weit von ihrer Wohnung gab es einen kleinen Park, in dem Lily gerne spazieren ging. Es war für sie die beste Art, um den Kopf freizubekommen und neue Energie zu tanken.
Lily liebte die Natur. Schon als kleines Mädchen – auch wenn sie jetzt nicht viel größer war – gab es für sie nichts Schöneres. Sie setzte sich auf eine der vielen Parkbänke und atmete einmal tief ein. Sie konnte regelrecht spüren, wie sich ihre Lungen mit der frischen Luft füllten. Der Park war einer ihrer Lieblingsorte, wenn es darum ging nachzudenken.
Vor ihr erstreckte sich eine große Rasenfläche, auf der die verschiedensten Bäume standen. Direkt hinter ihr war ein kleiner Teich, in dem sich Enten tummelten. Über das Wasser führte eine schmale Holzbrücke auf die andere Seite, wo es sich einige junge Leute auf dem Rasen bequem gemacht hatten und fröhlich lachten. Die Sonne strahlte so hell, als ob es kein Morgen mehr geben würde. Von allen Seiten konnte Lily den Gesang der Vögel hören.
Sie kramte ihr Handy aus der Hosentasche und entsperrte es mit einer kurzen Bewegung ihres Zeigefingers. „Hausarzt“, las sie laut vor, als sie durch ihr Adressbuch scrollte. Im selben Augenblick erklang von der Seite eine ihr sehr bekannte Stimme.
„Bist du etwa krank?“
Als sie sich zur Seite umdrehte, staunte sie nicht schlecht. Neben ihr stand plötzlich Maik, der sie mit fragendem Blick ansah.
Lily zögerte ein wenig, bevor sie ihm eine Antwort gab: „Wie kommst du denn darauf? Sehe ich etwa krank aus?“
„Du hast Hausarzt gesagt", entgegnete er ihr.
Langsam realisierte Lily, dass sie, ohne es zu bemerken, ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Nein, mir gehts gut. Ich habe nur mein Telefonbuch durchgesehen.“
Maik sah sie fragend an.
„Was ist? Glaubst du mir etwa nicht?“
„Du sitzt hier draußen auf einer Parkbank und auf einmal kommt dir die Idee dein Telefonbuch durchzublättern? Nein das glaube ich dir wirklich nicht.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Musst du ja auch nicht. Aber ich dachte, bei dem schönen Wetter kann ich das auch an der frischen Luft machen und muss dafür nicht in der Wohnung hocken.“
Das Gebüsch vor ihr fing plötzlich an zu rascheln, und einige Sekunden später tauchten zwei runde Augen auf, die sie anstarrten. Der Anblick von Charlys Kopf war so komisch, dass es Lily schwerfiel, mit dem Lachen aufzuhören.
„Charly. Was machst du denn da?“
Mit einem Satz sprang er aus dem Gebüsch und stand nun direkt vor ihr. Zum ersten Mal konnte sie Charly nun komplett betrachten. Mit seiner stattlichen Größe ging er ihr fast bis über die Knie. Sein langes, gepflegtes Fell hatte ein schwarz-braunes Muster. Unter dem Kopf bis hin zum Bauch sah Lily helles weißes Fell, das ihr vorher gar nicht aufgefallen war. Um die Augen bis zur Schnauze hatte er einen Verlauf von Hellbraun zu Dunkelbraun. Nur seine Beine und die Pfoten waren schneeweiß. Auf der Stirn trug er einen kleinen weißen Fleck, der aussah wie eine Raute.
„Was für eine Rasse ist Charly überhaupt?“, wollte Lilly wissen.
„Der Kleine hier ist ein Border Collie Mischling.“
„Der Kleine? Ein paar Zentimeter mehr, und er ist größer als ich.“
Charly hatte sich in der Zwischenzeit mit einem Ball im Maul vor Lily gesetzt, und wartete nun darauf, dass sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte.
„Er scheint dich zu mögen.“ Maik deutete mit einer Geste zu Charly, der sie immer noch fixierte.
Lily streckte ihre Hand aus, woraufhin Charly den Ball fallen ließ und sich ein paar Schritte von ihr entfernte.
„So, so. Du willst also, dass ich den Ball werfe, ja?“
Charly blickte sie mit wedelndem Schwanz an, und gab ein freudiges Bellen von sich.
„Ich nehme mal an, das heißt ja.“ Sie holte kräftig aus und warf den Ball weit über die Wiese.
Der Ball war kaum in der Luft, als Charly bereits lossprintete. Wie ein Marathonläufer rannte er dem Ball hinterher, um ihn zu fangen. Es dauerte auch nicht lange, und er kam schwanzwedelnd, mit der Beute im Maul zurück, um diese Lily vor die Füße zu legen.
„Ok. Einmal werfe ich ihn noch“, grinste sie.
Das Spielen hatte sie so sehr von ihrem eigentlichen Vorhaben abgelenkt, dass Lily ganz vergessen hatte, was sie überhaupt machen wollte.
Sie schaute zu Maik. „Gehen wir ein Stück?“
Er zuckte mit den Schultern. „Klar, wieso nicht. Meinetwegen gerne.“
„Also erzähl mal. Was machst du eigentlich hier? Ich dachte, du würdest wieder in der Stadt sitzen und Musik machen.“
„Ich mache zwar für mein Leben gerne Musik“, erklärte er ihr. „Aber die ganze Zeit in der Stadt sitzen kann ich Charly nicht zumuten. Der Kleine braucht schließlich auch ein wenig Abwechslung.“
Lily fand es faszinierend, wie sehr er sich um seinen Hund kümmerte. Sie kannte einige Menschen, denen das Wohlbefinden ihres Hundes am Allerwertesten vorbei ging. Was sie absolut nicht tolerierte.
„Wie alt ist Charly eigentlich? Ich würde so auf drei oder vier Jahre tippen.“ So voller Energie, wie er war, konnte sie eigentlich nicht so sehr daneben liegen.
„Du bist gut", grinste Maik. „Er ist dreieinhalb, und ein richtiges Spielkind.“
Sie warfen einen Blick zu Charly, der sie überhaupt nicht beachtete. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, die Enten – die am Ufer des Teiches schnatterten – zu beobachten. Eine schwarz-grau gefleckte Ente bewegte sich langsam auf den kleinen Zaun – der die Grünfläche umgab – zu. Als sich Charly ihr vorsichtig näherte, erntete er dafür prompt ein Fauchen. Mit einem Satz sprang er zurück und schaute den Erpel verdutzt an.
„Kann es sein, dass Charly noch nicht so viele Enten gesehen hat?“ Lily schaute ihm gespannt zu, wie er wohl darauf reagieren würde.
„Die eine oder andere hat er schon gesehen, aber ich vermute, er hat sich gerade eher mehr erschrocken, weil es die Erste ist, die in anfaucht.“
Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Der Anblick war einfach zu komisch.
Charly näherte sich erneut der Ente bis auf wenige Zentimeter. Als sie ein weiteres Fauchen von sich gab, wich er aber dieses Mal nicht zurück, sondern bellte den Erpel an, sodass dieser stattdessen Reißaus nahm.
Maik und Lily konnten sich ein Lachen nicht verkneifen.
Charly war ja so süß, und sein Herrchen ist auch nicht von schlechten Eltern, folgte dem ersten Gedanken.
Langsam versank die Sonne am Himmel, aber Lily hatte keine Lust nach Hause zu gehen. Sie wollte viel lieber noch eine Weile mit Maik und Charly zusammen sein. Eine Stunde noch, dann gehe ich wirklich nach Hause, nahm sich Lily vor.
Nachdem sie sich endlich zu einer Verabschiedung durchgerungen hatte, machte sie sich langsam auf den Weg in Richtung Wohnung. Auch wenn sich ihre Lust in Grenzen hielt. „Was muss, das muss“, murmelte sie leise vor sich her. Lily hoffte, dass der kleine Ausflug an der frischen Luft ihr eine ruhigere Nacht als die vorherigen bescherte.
Obwohl es bereits dunkel wurde, waren immer noch viele Menschen auf den Straßen unterwegs. Da Lily im Moment keine Lust auf eine größere Menschenmenge hatte, entschied sie sich einen anderen Weg zu nehmen. Der einzige Nachteil an ihrer neuen Route lag darin, dass diese viel länger – aber in Anbetracht der Situation – wesentlich angenehmer war.
Der Weg führte sie durch einige abgelegene Seitengassen, die ihr eine leichte Gänsehaut verpassten. Ausgerechnet dann, wenn sie es in Erwägung zog diesen Weg zu nehmen, waren die meisten Lampen kaputt. Das ist ja mal wieder ganz klasse.
Als sie das Ende der Gasse erreichte, wurde es langsam heller. Sie befand sich wieder auf ihrer eigentlichen Route, die ihr um einiges lieber war. Ein Vibrieren gefolgt von einem lauten Klingelton ließ sie zusammenzucken. Sie musste dringend den Ton ändern.
„Carter?“
„Lilymäuschen. Wie geht´s dir? Seit du wieder zurück in Deutschland bist, hat man von dir kein Sterbenswörtchen mehr gehört.“
Sie erkannte die Stimme am anderen Ende sofort. „Tony, du weißt doch, dass ich mich nach längeren Reisen immer ein wenig ausruhe, bevor ich mich wieder in die Arbeit stürze.“
Schweigen herrschte für einige Sekunden in der Leitung.
„Ja, ein wenig … Aber du meldest dich ja noch nicht
einmal, wenn ich dir auf die Mailbox spreche. Und dass gleich über zwei Wochen nicht. Glaubst du, da macht man sich keine Sorgen?“, hielt ihr Tony vor.
„Es ist nicht das erste Mal. Das weißt du genau. Ich hätte mich früher oder später schon gemeldet", konterte Lily. Obwohl sie genau wusste, was er meinte.
„Ja, früher oder später. Aber wohl eher später. Hätte ich mich nicht gemeldet, hätte ich immer noch nichts von dir gehört.“
Lily schwieg. Dann sagte sie: „Ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit. Das ist alles.“
Sie hörte, wie er tief Luft holte und seufzte.
„Okay, weil du es bist. Aber wenn ich in den nächsten zwei Wochen nichts von dir höre, komme ich persönlich vorbei.“
Das wollte Lily nun wirklich nicht, weshalb sie ihm versprach, sich sobald wie möglich zu melden.
Auch die folgenden Nächte brachten Lily nicht die erhoffte Ruhe, die sie so sehr ersehnte. Ständig wurde sie von Albträumen heimgesucht, die ihr den Schlaf raubten. Seit ihrer Rückkehr waren bereits vier Wochen vergangen. Aber eine Besserung war nicht in Sicht. Wie versprochen hatte sie sich sogar bei Tony gemeldet, um einem ungewollten Besuch von ihm zu entgehen. Ihre Treffen mit Maik wurden ebenfalls regelmäßiger, sodass sie sich mittlerweile mehrmals die Woche sahen. Sollte ihre Einsamkeit nun endlich ein Ende haben? Hatte sie endlich jemanden gefunden, der an ihrer Seite war?
Lily wusste nicht, ob Maik für sie ebenfalls Gefühle hegte, oder ob sie für ihn nur eine gute Freundin war. Aber sie kannte ihre eigenen Gefühle und diese machten sie langsam verrückt. Ihre ganzen Sorgen und Ängste waren wie weggespült, wenn sie mit ihm zusammen war.
Lily mochte seine Nähe und doch war diese Ungewissheit unerträglich. Sie musste ihn unbedingt zur Rede stellen. Sie musste wissen, ob er mehr als nur Freundschaft für sie empfand, oder ob sie sich umsonst Hoffnung machte. Doch das musste erst einmal warten. Sie hatte heute einen Termin bei ihrem Hausarzt. Knapp sechs Wochen mit diesen Träumen waren für sie endgültig genug und hatten sie letzten Endes dazu bewegt, sich einen Termin zu machen.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch über eine Stunde Zeit hatte, bis die Bahn kam. Irgendwie musste sie es schaffen, die Zeit zu überbrücken. Aber auch ihre innere Stimme wusste keinen Rat. Sie zog das Handy aus der Hosentasche, entriegelte die Tastensperre und rief Tony an.
Ein Fröhliches: „Hallo Lily mein Schatz.“ erklang am anderen Ende der Leitung.
„Tony. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich nicht dein Schatz bin?“
„Jedes Mal wenn wir telefonieren, denke ich", erwiderte er.
„Dann gewöhne es dir endlich ab.“ Lily klang hörbar genervt, doch das interessierte Tony genauso wenig, wie die letzte Wasserstandsmeldung vom Nil. Er liebte es, sie mit Kosenamen aufzuziehen und freute sich jedes Mal wie ein kleines Kind, wenn sie sich darüber aufregte.
„Gibt es etwas Neues von meiner letzten Dokumentation? Haben sich noch irgendwelche Sender gemeldet, die daran Interesse haben?“, bohrte Lily nach.
„Nein, nichts Engelchen. So etwas dauert seine Zeit. Ich habe schon mehrere Sender angeschrieben und warte noch auf eine Rückmeldung.“
Lily wusste, dass die meisten Sender ihre eigenen Filmteams hatten, die sie zu Dreharbeiten entsandten, was die Auftragslage für Freiberufler erschwerte. „Okay. Halte mich auf dem Laufenden und sag Bescheid, sobald sich irgendetwas ergibt.“
Sie wollte gerade auflegen als Tony ins Telefon rief: „Willst du heute nicht mal im Büro vorbeischauen? Wir könnten auch zusammen etwas essen gehen, wenn du magst.“
Doch darauf hatte Lily nun wirklich keine Lust. „Tut mir leid Tony, aber heute habe ich keine Zeit. Ich habe gleich noch einen Termin. Bis bald.“
Mit diesen Worten beendete sie das Telefonat und steckte ihr Handy wieder in die Tasche. Verdammt ... Wieso meldet sich dieses Mal kein Sender. Sonst hatte sie doch auch nicht solche Probleme mit der Vermarktung ihres Materials …
Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. „Gerade mal zehn Minuten vergangen?“ Lily kam es vor, als ob die Zeit gar nicht verstreichen wollte. Trotzdem beschloss sie, sich schon mal langsam fertigzumachen. Sie schlenderte zuerst ins Schlafzimmer, bevor sie anschließend im Badezimmer verschwand, um kurz danach die Wohnung zu verlassen.
Da ihr Arzt etwas weiter weg war, entschied sie sich eine frühere Straßenbahn zu nehmen. Zum Glück war die Haltestelle einen Katzensprung von ihrer Wohnung entfernt. Sie stieg in die Linie vier, Richtung Gohlis - Landsberger Str. und hielt Ausschau nach einem Sitzplatz. Gott sei Dank war die Straßenbahn nicht sonderlich voll. Sie mochte keine überfüllten Bahnen oder Busse. Schon gar nicht im Sommer.
Lily hatte zwar keine Platzangst, aber sie liebte ihren Freiraum. Außerdem wäre die Wärme in einer vollen Bahn unerträglich gewesen. Noch mehr, als sie es sowieso schon war.
Ungefähr fünfzehn Minuten später stand sie vor der Tür ihres Hausarztes. Zögernd betätigte sie die Klingel und wartete auf das Summen des Türöffners. Als sie die Praxis betrat, stieg ihr der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase und brachte sie beinahe zum Niesen.
Sie legte ihre Krankenkarte auf die Theke und bezahlte die zehn Euro Praxisgebühr nur widerwillig. Bis auf wenige Plätze war das Wartezimmer sehr gut gefüllt, was für diese Uhrzeit untypisch war. Eine Stimme, die sich als die Schwester vom Empfang entpuppte, rief einen Patienten nach dem anderen auf, bis nur noch vier Leute vor ihr waren. Die Zeit schien gar nicht zu vergehen. Wieder ein weiterer Grund, wieso Lily es hasste, zum Arzt zu gehen. Noch dazu gab es nicht einmal Zeitschriften, die wirklich interessant waren.
Nach einer Wartezeit von über zwei Stunden durfte sie endlich einen der drei Behandlungsräume betreten. Das Zimmer war nicht sonderlich groß, bot aber Platz für einen Schreibtisch, eine Liege sowie diverse Schränke mit verschiedenen Utensilien drauf. Hinter ihr stand ein weißer Raumteiler, wo die Möglichkeit bestand, sich seiner Kleider zu entledigen, was sie aber auf keinen Fall vorhatte.
An den weißen Wänden hingen verschiedene Poster von Muskeln, Knochen und sonstigen menschlichen Körperteilen. Lily schaute zur Decke hoch, die eine Höhe von mindestens drei bis vier Metern haben musste. Sie fragte sich, wer dort oben wohl sauber machte und wie um alles in der Welt die Glühbirnen ausgetauscht wurden.
Das Knarren der Tür riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie zur Seite blicken. Ein komplett in weiß gekleideter Mann Mitte dreißig betrat den Raum, begrüßte sie mit einem freundlichen Händedruck und setzte sich anschließend auf seinen schwarzen Drehstuhl.
„Hallo Frau Carter. Lange nicht gesehen. Wie geht es Ihnen? Was kann ich für Sie tun?“
Seine Stimme klang ruhig und sanft, so, wie man es von einem Arzt erwarten würde. Auch wenn nicht alle Ärzte, die Lily kannte, so waren.
„Mir geht es so weit ganz gut. Allerdings habe ich seit meiner Rückkehr einige Probleme was das Schlafen anbelangt.“
„Stimmt. Sie hatten sich vor ihrer Reise noch ein paar Impfungen abgeholt. Wo waren sie noch gleich gewesen?“
Lily dachte an die vielen Spritzen, die sie bekommen hatte, und rieb sich automatisch ihre Schulter. „In North Carolina. Für eine neue Dokumentation.“
„Voller Erfolg auf ganzer Linie nehme ich an?“
„Schön wär´s. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich das noch ändern wird.“ Das hoffte Lily wirklich, da sonst die ganze Reise umsonst gewesen wäre.
Nachdenklich richtete er seine Brille und fuhr sich durch die kurzen blondbraunen Haare „Dann erzählen Sie mal von ihren Schlafproblemen.“
Nachdem sie die kurze Zusammenfassung beendet hatte, fügte sie noch hinzu: „Diese Probleme und Träume habe ich jetzt schon über sechs Wochen.“
Als Lily ihr aktuelles Problem ausführlich geschildert hatte, gab der Arzt ein nachdenkliches Brummen von sich, bevor er anfing, seine Diagnose zu stellen.
„Also Frau Carter, für mich klingt es nach einem psychischen Problem. Haben Sie vielleicht während Ihrer Reise irgendetwas erlebt, oder ist Ihnen irgendetwas widerfahren?“, wollte er wissen.
Lily sah ihn nachdenklich an. „Nein. Nichts. Jedenfalls nichts, an das ich mich erinnern könnte. Es war eigentlich eine ganz normale Reise, wie immer.“
„Irgendetwas muss diese Träume ausgelöst haben. Stellt sich jetzt allerdings die Frage, was.“ Er gab etwas in seinen Computer ein und notierte anschließend einige Sachen auf einem Zettel. „Ich werde Ihnen ein leichtes Schlafmittel und ein pflanzliches Medikament aufschreiben. Sollte das nicht helfen, kommen Sie bitte in einer Woche noch einmal vorbei. Dann müssen wir sehen, wie wir in dieser Sache weiter vorgehen.“
Lily bedankte sich mit einem Händedruck und verließ das Behandlungszimmer. An der Rezeption erhielt sie von der Schwester die beiden angekündigten Rezepte, wovon eines grün war, was bedeutete, dass sie dieses Medikament selber bezahlen durfte.
Auf dem Rückweg zur Haltestelle kam sie an einer Apotheke vorbei, in der sie die Rezepte einlöste.
„Das macht dann insgesamt fünfzehn Euro“, sagte die ältere Dame an der Kasse.
Lily kramte ihr Portemonnaie hervor. Toll schon wieder alles weg, dachte sie und legte das Geld auf den Tresen.
Lily entschied sich, zu Fuß zurück in die Stadt zu gehen und einen kleinen Abstecher zu ihrem Lieblingsplatz zu machen. Sie brauchte fast fünfzehn Minuten, doch das störte Lily nicht, immerhin war sie langes Laufen gewohnt.
In der Stadt angekommen, sah sie sich suchend nach Maik um, fand ihn aber nicht. „Wo steckt er schon wieder“, murmelte sie.
„Hier stecke ich.“
Lily drehte sich auf dem Absatz um und stieß fast mit ihm zusammen.
„Na na, nicht so stürmisch junge Frau“, lachte er.
Lily wurde knallrot im Gesicht. „Habe ich etwa wieder laut gedacht?“
„So könnte man es sagen. Aber macht ja nix. Hat ja sonst niemand gehört.“
„Es reicht schon, dass du es gehört hast. Ich sollte echt besser aufpassen.“
Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er ihr den Kopf tätschelte.
„Lass das. Sehe ich etwa aus wie ein Hund?“
„Wärest du ein Hund, würde ich dir jetzt noch ein Leckerli geben und den Bauch kraulen.“
Lilys Fantasie konnte nicht widerstehen, ihr Bilder in den Kopf zu projizieren. Schnell versuchte sie die Gedanken fortzuscheuchen, obwohl ihr die Vorstellung gefiel.
„Bis auf das Leckerli hätte ich nichts dagegen“, flüsterte Lily kaum hörbar.
„Hast du gerade etwas gesagt?“
„Ich? Nein, wie kommst du darauf?“ Verdammt! Lily halt die Klappe und pass besser auf, was du wann von dir gibst, ermahnte sie sich selber. „Warum spielst du denn heute nicht? Keine Lust oder hast du jetzt einen anderen Platz?“ mit fragendem Blick schaute sie zu Maik hoch. Am liebsten würde ich dich jetzt küssen und deine Lippen schmecken … An was denke ich hier eigentlich schon wieder? Schluss jetzt. Es machte Lily verrückt nicht zu wissen, wie seine Gefühle ihr gegenüber waren.
„Ich hatte heute Morgen schon ein wenig gespielt. Aber es ist nicht so viel los. Muss wohl an der Wärme liegen. Was hältst du davon, wenn wir ein Eis essen gehen?“
Lily musste nicht lange überlegen und antwortete rasch: „Aber nur wenn du mich einlädst.“ Eis war eines der wenigen Dinge, mit denen man sie schnell ködern konnte.
Als Lily sich umschaute, bemerkte sie, dass jemand fehlte. „Wo ist denn Charly? Hast du ihn alleine zu Hause gelassen?“
„Er ist bei einer Freundin, die heute auf ihn aufpasst.“
Sie fühlte einen Stich in ihrer Brust – als ob ihr jemand eine Nadel hinein gerammt hätte. Oh bitte lass ihn keine Freundin haben, dachte Lily.
Vorsichtig versuchte sie in Erfahrung zu bringen, wer diese geheimnisvolle Freundin war. „Du sag mal, wenn wir so oft etwas zusammen unternehmen, wird deine Freundin da nicht eifersüchtig?“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, bereute sie es auch gleich wieder.
Maiks Blick wirkte sehr überrascht. „Meine Freundin? Wie um alles in der Welt kommst du jetzt darauf? Du glaubst doch nicht, dass sie meine Freundin sei, oder? Ich sagte, EINE Freundin passt auf ihn auf und nicht MEINE.“
Lily biss sich auf die Unterlippe. Na toll, wieder ein Fettnäpfchen, in das ich getreten bin. „Tut mir leid. Es geht mich ja auch nichts an. Ich wollte nur nicht, dass du Ärger wegen mir bekommst.“
„Ist schon ok Lily. Aber danke, dass du dir Sorgen um mich machst.“
Zusammen machten sie sich auf den Weg in das nahe gelegene Eiscafé. Kaum angekommen schnappte sich Lily die Eiskarte und studierte diese ausführlich. Jedes Mal wenn sie die Karte durchblätterte, stand sie vor derselben Frage. Was sollte sie nur nehmen? Die Auswahl war einfach viel zu groß.
Nach geschlagenen zehn Minuten hatte sie sich endlich für einen Eisbecher entschieden, was aber noch lange nicht hieß, dass ihr die anderen Sorten weniger zusagten. Als die Bedienung zum zweiten Mal vorbei kam, bestellte sie sich einen großen Eisbecher mit extra vielen Erdbeeren und viel Schlagsahne. Sie liebte Erdbeeren und Schlagsahne abgöttisch und konnte nicht widerstehen. Maik hingegen bestellte sich einen Früchtebecher mit Likör und verschiedenen Eissorten.
„Hoffentlich hältst du mich nicht für verfressen. Aber bei Erdbeeren mit Sahne werde ich einfach schwach“, sagte sie zögernd.
Er zuckte mit den Schultern. „Ist schon ok. Jeder von uns hat eine Schwäche.“
Lily versuchte, sich zusammenzureißen. „Ach wirklich?“, platzte es dann doch aus ihr heraus. „Und welche ist deine Schwäche?“
Gerade als Maik zu einer Antwort ansetzen wollte, kam die Bedingung mit dem Eis. Lily musterte den großen Eisbecher, der vor ihr stand. Er war bis obenhin mit leckeren Erdbeeren gefüllt, die mit einer weißen Decke aus Schlagsahne bedeckt waren. An der Seite steckte eine rohrförmige Waffel. Ihr lief das Wasser förmlich im Mund zusammen.
Das musste auch Maik bemerkt haben, denn er sagte lächelnd zu ihr: „Wenn du den Becher weiter so anstarrst, fängst du noch an zu sabbern.“
Doch Lily nahm den Satz gar nicht wahr. Sie war zu sehr von ihrem himmlisch aussehenden Erdbeerbecher abgelenkt, der fast schon zu schade zum Essen war. Genüsslich nahm sie den ersten Bissen zu sich. Wie sehr hatte sie das leckere Eis vermisst, als sie in Amerika war. Zugegeben in North Carolina gab es auch leckeres Eis, aber dieses hier, war ihr von allen noch am liebsten. Es dauerte nicht lange und Lily hatte bereits über die Hälfte des Eisbechers aufgegessen. Maik hingegen hatte gerade mal ein Viertel seines Bechers leer.
Sie redete sich ein, dass es an den vielen verschiedenen Früchten lag, dass er etwas länger brauchte als sie. Zugegeben, es waren wirklich sehr viele Früchte. Neben Melonen, Ananas und Kiwis tummelten sich noch Bananen, Erdbeeren und Mangos in dem Glas.
„Da hast du dir aber was vorgenommen. Schaffst du das überhaupt alles?“
Maik steckte sich den Löffel in den Mund und kaute genüsslich auf einer Melone. Nachdem er sie runtergeschluckt hatte, beantwortet er Lilys Frage mit einem knappen: „Japp“, und schob sich den nächsten Löffel hinterher.