Words of Chaos - Steffen Heimhel - E-Book

Words of Chaos E-Book

Steffen Heimhel

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Beschreibung

In einer Welt, in der göttliche Fähigkeiten über das Schicksal der Menschen bestimmen, kämpfen Anhänger verschiedenster Glaubensrichtungen gegen das Ende der Menschheit. Als Marc Gray seine eigenen Kräfte entdeckt, scheint zunächst auch er wie alle anderen zu sein, doch in Wahrheit ist er viel mehr. Etwas, das nicht existieren sollte und vor dem sich selbst die mächtigsten Halbgötter fürchten. Aber macht ihn das wirklich zum Vorboten der Apokalypse? Welche Rolle spielt er in den Chaosworten, die einen um den Verstand bringen können und wird er sich dem unbekannten Feind widersetzen können, der auf der Schattenseite seines Schicksals lauert?

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Words of Chaos

Band 1

Words of Chaos

Band 1

Beginn der dunklen Tage

STEFFEN HEIMHEL

© 2022 Steffen Heimhel

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Softcover: 978-3-347-62237-1

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Prolog

Die Welt ertrinkt in Schwärze. Finsternis ergießt sich in Strömen aus klaffenden Wunden im verdunkelten Himmel. Eiskalte Nebelschwaden kriechen wie Geister der Unterwelt aus dem Boden hervor. Die knackenden Geräusche des einst mächtigen Götterspiegels werden lauter, schallen über das Land, als wären es die donnernden Schritte des unausweichlich näherkommenden Untergangs. Ein Sturm zieht auf und peitscht die zähflüssige Dunkelheit in die Gesichter der wenigen überlebenden Halbgötter. Begleitet von einem scharfen Zischen verätzt sie ihr Fleisch und dennoch sucht niemand Schutz. Sie haben aufgegeben, warten mit leeren Blicken auf den Tod, denn kein Versteck der Welt kann sie vor dem bewahren, was heute entfesselt wurde.

In der Ferne reißen finstere Wirbelstürme mit wildem Getöse alles mit sich. Bäume, Felsen, Tiere, die unzähligen Toten auf der einst vor Leben nur so strotzenden Ebene. Nichts und niemand vermag sich dem Ende zu entziehen. Selbst die Sonne nicht. Das schwache Flimmern in der pechschwarzen Wolkendecke wirkt wie das verzweifelte letzte Zappeln eines Ertrinkenden, ehe er vollkommen von der Finsternis verschlungen wird. Zurück bleibt eine dunkle Welt ohne Zukunft.

Mit den Sonnenstrahlen verblasst auch das schützende Schimmern um die eine Person, die stets im Zentrum der vergangenen Ereignisse stand. Kraftlos fällt Marc auf die Knie und obwohl ein paralysierender Nebel über seinem Verstand liegt, jagt der Aufprall einen schmerzhaften Stich durch seinen Kopf. Scharf saugt er die Luft ein, verschluckt sich und beginnt zu husten. Er spürt die Feuchtigkeit auf der vorgehaltenen Hand, doch die Erschütterungen sind zu viel für seinen geschundenen Körper. Der Schmerz explodiert mit der Gewalt mehrerer Blitzschläge in sämtlichen Nerven gleichzeitig. Röchelnd krümmt er sich zusammen, sein Blickfeld verschwimmt, ertrinkt für einen Augenblick sogar in völliger Dunkelheit.

Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, starrt er gebannt auf den Boden vor sich, versucht einen Punkt und somit seinen verworrenen Blick zu fixieren. Die Finger hat er tief in das aufgeweichte Erdreich der Wiese gegraben, doch es fühlt sich seltsam unnatürlich an. Verdattert hebt er daraufhin die zitternden Hände. Sie triefen von zäher Schwärze und dünnflüssigem Rot.

Dem plötzlich auftretenden Übelkeitsgefühl hat er nichts entgegenzusetzen. Noch mehr der dunklen Flüssigkeit strömt ihm langsam und beinahe widerwillig aus Mund und Nase. Sie wehrt sich, will sich nicht von ihm trennen. Es fühlt sich an, als würde er von innen verbrennen, aber Marc weiß, dass er sie loswerden muss. Also würgt und röchelt er so lange, bis auch der letzte Tropfen Finsternis auf die Erde gefallen ist. Ein schwaches Lächeln stiehlt sich für eine Sekunde auf seine Lippen. Er ist frei!

Doch erneut kehrt der lähmende Schmerz zurück, zerfleischt den glücklichen Gedanken und füllt seinen Kopf stattdessen mit den grausamen Bildern der vergangenen Stunden. In Form von chaotischen Lichtblitzen tauchen sie vor seinem geistigen Auge auf. Schreie dringen an seine Ohren, der Geruch von frischem Blut erfüllt seine Nase.

Langsam, als würde jemand ungeschickt an seinen Fäden ziehen, wendet er den Blick nach links, von wo der Tod zurück starrt. Der abgetrennte Kopf von einem seiner engsten Freunde findet sich dort. Der bärtige Nordmann war ein stimmgewaltiger Kerl gewesen, der stets einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte, weshalb die erdrückende Stille nun umso schwerer auf Marc lastet. Sie unterstreicht die grausame Realität, verhindert, dass er an einen Streich seiner Fantasie glauben kann. Ebenso wie das nächste Opfer der Finsternis, nur wenige Schritte entfernt. Ein Junge. Der Kleine hatte Marc angehimmelt, beinahe wie einen Gott verehrt und er brachte ihm den Tod, anstatt ihn zu beschützen.

Er hat es wirklich versucht. Mit aller Kraft setzte er sich zur Wehr, rang bis zum Ende mit dem Monster, das niemand kommen sah. Doch es war vergebens. Sein Licht war nicht stark genug. Also hat er sie angefleht, diesen Wahnsinn zu beenden, doch die Finsternis blieb gnadenlos. Und so konnte Marc nur machtlos dabei zusehen, wie sein Körper sich ohne sein Zutun bewegte. Mal erschien es ihm, als würde er über den Ereignissen schweben, dann sah er den Horror in den Augen seiner Freunde mit einem Mal wieder aus nächster Nähe. Er spürte, wie sich seine Klinge in ihr Fleisch schlug, wie ihre Knochen brachen und das Leben aus ihnen entwich. Und es schien kein Ende nehmen zu wollen. Beinahe hätte sich Marc in der Monotonie des sinnlosen Mordens verloren, da war es so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte.

Nun sitzt er hier, sollte sich eigentlich über seine zurückgewonnene Freiheit freuen, doch er weiß, welcher Preis dafür bezahlt wurde. Den Einzigen, den die Finsternis akzeptieren wollte und den er niemals gewillt war zu bezahlen. Mit zittrigen Händen fährt Marc durch das vom Blut verklebte, bunte Haar der reglosen Frau vor ihm. Ihr schmächtiger Körper ist unverletzt und dennoch ist jeglicher Lebensfunke daraus entwichen.

„Es tut mir so leid“, wimmert er. „Ich war nicht stark genug.“ Ungeschickt hebt er den Leichnam an und zieht ihn an sich. „Ich hätte es sehen müssen!“ Noch fester presst er die Liebe seines Lebens an seine Brust. „Warum war ich nur so blind?“

Obwohl ich es bereits so oft erlebt habe, zerreißt es mir jedes Mal aufs neue das Herz. Die Verzweiflung, die Reue, der unerträgliche Schmerz. Es ist herzzerreißend und qualvoll, dieses Ende mit anzusehen. Ich fühle mit ihm. Wie könnte man nicht? Die Bürde, die er trägt, ist erdrückend. Der Verrat, der ihn erschütterte, unvorstellbar. Warum kann ich ihm nur nicht helfen? Mit all meiner Macht bin ich doch so machtlos. Was soll ich noch tun? Egal wie ich es drehe und wende, ich bin ihr in jeglicher Hinsicht unterlegen.

„Mutter!“, brüllt Marc verzweifelt in den Himmel. „Bitte hilf mir“, wimmert er, das Gesicht im Haar seiner Geliebten vergraben und plötzlich schreit er den ganzen Schmerz hinaus in die Welt.

Er hat ihn endgültig überwältigt und bemerkt darum nicht, wie sich schwarze Tentakel aus dem Erdreich zu graben beginnen. Zuerst nur wenige, dann immer mehr. Sie wachsen so schnell, wie sie sich vermehren. Wabernd, als würde ihnen die Kraft fehlen, ihr eigenes Gewicht zu tragen, schlingen sie sich ineinander, schließen Marc langsam, aber sicher in einen finsteren Kokon ein. Nur der eisige Nebel vermag es noch, zwischen dem feinen Geäst hindurchzukriechen. Die Finsternis ist hier!

„Bitte hilf mir“, höre ich Marc kraftlos flüstern, doch sein Flehen bleibt weiterhin vergebens. Niemand ist mehr da, der helfen könnte. Keine Freunde, keine Götter.

Ein tiefes, dämonisches Lachen lässt die Welt erzittern. Die Tentakel erwachen zum Leben und schlagen sich in die Leiber der Halbgötter nahe des Kokons, zerfetzen sie, bis nichts mehr zurückbleibt, das an ein menschliches Wesen erinnert.

Marc schreit und fleht, dass es aufhören soll, aber der Tod ist zu laut. Er übertönt alles. Niemand hört ihn. Nur ich. Kleines, machtloses Ich.

„Helft mir doch!“ Marcs Schreie werden immer verzweifelter. „Irgendwer! Wo seid ihr Götter? Überlasst uns nicht unserem Schicksal!“

Er hat recht. Es ist nicht nur sein Schicksal, das auf dem Spiel steht. Könnte das möglicherweise die Lösung sein? Das seine kann ich offensichtlich nicht ändern, aber was, wenn … Ja, es wäre möglich!

Marcs Hilfeschreie gehen in dem Getöse des endgültig zerberstenden Götterspiegels unter. Der Himmel zerbricht in Scherben, die Erde spaltet sich. Alles wird von der Finsternis verschlungen. Diese Welt hat dasselbe Ende gefunden wie all die zahllosen anderen vor ihr. Mir hat sie diesmal jedoch einen neuen Weg gezeigt.

Ein letztes Mal werde ich daher versuchen, mich gegen das Schicksal aufzulehnen. Wenn ich den Untergang nicht verhindern kann, dann werde ich ihn nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten und herbeiführen. Ein Vorhaben, unpassend für einen strahlenden Helden. Was es hierfür bedarf, ist etwas, das eigentlich niemals existieren sollte.

Kapitel 1 - Marc Gray

Schweißgebadet und schlaftrunken wache ich auf. Erst nach mehrmaligem Zwinkern vermag ich in der Dunkelheit verschwommene, jedoch vertraute Silhouetten erkennen. Es muss früh morgens sein, ansonsten würde bereits die Sonne durch die löchrigen Vorhänge des einzigen Fensters meiner Wohnung blitzen. Ein Blick auf den mattgrün leuchtenden Wecker bestätigt die Vermutung. Kurz vor Drei. Ich rolle auf die andere Bettseite und schließe die Augen wieder. Vielleicht kann ich noch etwas Schlaf ergattern, bevor mich der nervtötende Alarmton aus dem Bett katapultiert.

Es ist warm. Die Decke habe ich schon lange über die Bettkante befördert und das Laken klebt mir am Körper.

Gott! Es ist viel zu warm!

Die Sonne treibt die Temperatur im Laufe des Tages immer extrem in die Höhe und durch das kleine Bullauge von Fenster gelangt nachts unmöglich genügend frische Luft ins Zimmer, um ein erträgliches Raumklima schaffen zu können. Dafür hält sich im Winter zum Ausgleich dann die Kälte umso besser.

Elendige Bruchbude!

Schnell muss ich einsehen, dass sich das mit dem Schlaf für heute erledigt hat. Murrend rolle ich mich also an den Bettrand und schwinge beide Beine hinaus. Mit der Hand fahre ich über meinen Drei-Tage-Bart und lasse den Blick dabei durchs Zimmer schweifen. Obwohl es noch ziemlich dunkel ist, kann ich die Unordnung genau erkennen. Mir gegenüber steht ein vollkommen überladener Schreibtisch, auf dem sich CDs, DVDs sowie einige Magazine türmen. Daneben befindet sich mein Computer, auf dem wiederum zwei leere Bierflaschen abgestellt wurden. Und ein offener Puddingbecher. Bier plus Pudding. Seltsame Kombination. Sollte wohl besser niemand zu Gesicht bekommen.

Mürrisch wuchte ich mich aus dem Bett und trotte ins Badezimmer. Hier drin riecht es immer wie in einer Sauna, da es kein Fenster, sondern nur einen Luftabzug gibt. Der funktioniert allerdings schon seit meinem Einzug vor knapp drei Jahren nicht richtig. Im Wohnzimmer habe ich dank des Mondlichts, welches durch das Bullauge ins Zimmer fällt, zumindest ein klein wenig sehen können, hier ist es jedoch absolut finster. Schlaftrunken lasse ich den Lichtschalter klicken und die Lampe über dem Waschbecken leuchtet auf. Mein erster Fehler am heutigen Tag. Die Glühbirne ist an der Wand direkt auf Augenhöhe montiert und einen Lampenschirm fehlt zwecks mangelnder finanzieller Mittel. Wie ein Flutlichtstrahler blendet das Licht meine müden Augen.

Zuerst fühle ich nur ein kurzes Pumpen, gefolgt von einem ungewollten Zucken im Augenwinkel. Zwar halte ich sofort schützend die Hände vors Gesicht, doch es ist bereits zu spät. Schnell drehe ich mich weg und stolpere zurück in die sichere Dunkelheit des Wohnzimmers. Da ist er wieder. Dieser verfluchte schwarze Fleck im linken Auge!

Unruhig laufe ich, mir vorsichtig die Lider reibend, im Zimmer umher. Darunter pulsiert es ununterbrochen. Es ist nicht wirklich schmerzhaft, jedoch auch weit entfernt von angenehm. Nach ein bis zwei Minuten hat es endlich aufgehört und der Fleck ist verschwunden. Fraglich ist nur, für wie lange.

„Gottverdammte Scheiße!“, fluche ich, als ich an die Ursache für dieses Leiden zurückdenke.

Vor vier Wochen bin ich spät abends noch zu Fuß unterwegs gewesen, als mir ein Kleintransporter entgegengekommen ist. Irgend so ein amerikanischer Jeep. Glaube ich zumindest. Sicher ist nur, dass er viel zu viele überflüssige Scheinwerfer montiert hatte. Als der Fahrer mich mit der Lichthupe geblendet hat, ist meine Orientierung für einen Moment verpufft und der Wagen an mir vorbeigerauscht. Dank des ungewollten Rampenlichts habe ich den Vollidioten nicht erkennen können, jedoch Partymusik in Kombination mit lauten Schreien gehört. Müssen wohl ein paar halbstarke Jugendliche gewesen sein.

Als meine Augen sich dann langsam wieder beruhigt hatten und die Kreise und Sterne, welche vor mir umhergeschwirrt sind, verschwunden waren, ist er das erste Mal aufgetaucht: der schwarze Fleck im linken Auge. Seit jenem Abend ist er ein stetiger Wegbegleiter, wenn ich in zu grelles Licht schaue. Als hätte ich eine Allergie dagegen entwickelt.

Das einzig Gute an besagtem Tag war die nicht angekündigte Sonnenfinsternis. Die Wissenschaftler rätseln bis heute noch, wie es zu der von ihnen betitelten ‚zweiten Nacht‘ gekommen ist. An diesem Tag hat man die Sonne vergebens am Himmel gesucht. Das ist kein Zwei-Minuten-Ereignis gewesen, sondern hat sich über mehrere Stunden hingezogen. Der Tag ist quasi um seine Zeit auf Erden beraubt worden. Darüber beschwert habe ich mich nicht, da die Finsternis angenehmer für meine Augen war und weiterhin ist.

Es hat nicht lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, dass der Fleck sich wieder auflöst, wenn ich in die Dunkelheit blicke. Eigentlich möchte man meinen, dass Dunkelheit gleich Dunkelheit ist, doch seltsamerweise genügt es nicht, einfach nur die Augen zu schließen. Ich muss mich in einer dunklen Umgebung aufhalten oder es tritt keine Verbesserung ein. Bisher bin ich wirklich kein Nachtmensch gewesen, aber neuerdings fühle ich mich in der Finsternis pudelwohl.

Mittlerweile war ich bei mehreren Augenärzten, die jedoch nichts feststellen konnten. Außer dass ich verdammt hart austrete, wenn sie mir mit ihren Taschenlampen direkt in die Pupillen leuchten. Die ersten beiden glaubten mir nicht. Für sie war kein Fleck feststellbar. Sie meinten nur, dass es Kopfsache wäre. Ich solle einen Experten für solche Fälle aufsuchen, sagten sie. Was so viel heißt wie: Du bist nicht ganz sauber im Kopf, geh‘ zu einem Psychologen. Die Überweisung vom ersten Arzt ist noch vor Ort in der runden Ablage gelandet.

Die Zweite habe ich dann doch wahrgenommen. Wie erwartet, hat es aber Null gebracht. Der letzte Augenarzt, den ich aufgesucht habe, ist Gott sei Dank offener für mein Problem gewesen. Er hat zahllose Tests durchgeführt - ohne mich mit einer zu grellen Lampe komplett erblinden zu lassen. Heute habe ich wieder einen Termin bei Doktor Frank und hoffe inständig, dass er gute Nachrichten zu verkünden hat.

Als ich mich zurück ins Badezimmer wage, bin ich vorsichtiger. Ein Handtuch über der Glühbirne sorgt für Sicherheit. Nach einer ausgiebigen kalten Dusche und sonstigen Kultivierungsmaßnahmen steht die Morgenroutine auf dem Programm.

Ich schnappe mir einige Klamotten aus dem Schrank. Schwarze Shorts, die mir bis zu den Knien reichen, und ein Shirt in der gleichen Farbe, auf dem vorne in großen Buchstaben ‚Flick the Switch‘ und auf der Rückseite ‚AC/DC‘ geschrieben steht.

Ich liebe diese Band einfach!

Das Shirt ist mir eine ganze Nummer zu groß, da ich nicht auf hautenge Kleider stehe. Sportlich bin ich durchaus, aber Leute in meiner Gewichtsklasse, die Shirts in Größe S tragen, müssen meiner Meinung nach auch auf Lack und Leder abfahren. Der Schlabberlook ist mir da tausendmal lieber. Schnell noch Handy mit Kopfhörer sowie Sonnenbrille plus Schlüssel vom Schreibtisch geschnappt und dann raus aus der stickigen Wohnung.

Im offenen Treppenhaus des dreistöckigen Wohnblocks schlägt mir kühle Morgenluft entgegen, die ich sogleich gierig aufsauge und den muffigen Geruch meiner Sauna damit aus der Nase vertreibe. Während ich die Stufen der stählernen Wendeltreppe hinuntergehe, scrolle ich durch die Playlist. Im Erdgeschoss angekommen, drücke ich passend zu meinem Shirt Play bei ‚Flick the Switch‘. Mit Hard Rock in den Ohren jogge ich los.

Die Straßenlaternen sind noch angeschaltet, aber ich will dem schwarzen Fleck keine Chance geben, sich wieder auszubreiten. Aus diesem Grund trage ich mittlerweile zu so gut wie jeder Tages- und Nachtzeit eine Sonnenbrille. Die ersten Kilometer laufe ich entlang der Hauptstraße, auf der um diese Uhrzeit keinerlei Verkehr herrscht.

Eigentlich herrscht nie wirklich Verkehr in Bergstedt, was ich anfangs für eine Kleinstadt mit doch fast zehntausend Einwohnern äußerst ungewöhnlich fand. Ich habe es für mich selbst damit begründet, dass die Lage absolut bescheiden ist. Bergstedt hat einfach nichts zu bieten, das jemanden hierher ziehen würde. Nun, vielleicht ändert sich das ja, wenn das neue Einkaufszentrum fertiggestellt ist, das hier zurzeit aus dem Boden gestampft wird. Warum ein so erfolgreiches Unternehmen wie die ‚Von Hansen Gruppe‘ auf die Idee gekommen ist, ausgerechnet hier so ein Ding zu errichten, ist mir allerdings schleierhaft. Schlechte Lage, schlechte Anbindungen und noch viel schlechtere Kundschaft. Ich weiß, welcher überbezahlte Investmentberater bald seinen Job verlieren wird. Na ja, irgendwann schlägt das Schicksal bei jedem einmal zu.

Nach einer halben Stunde erreiche ich schwer atmend die Baustelle des besagten Einkaufszentrums. Eine kurze Pause kann nicht schaden. Mein Blick schweift dabei über das abgesperrte Gelände. Die Grundmauern stehen, das Flachdach ist bereits in Bearbeitung. Darauf sind einige Arbeitsscheinwerfer aufgestellt worden, die das Grundstück ausleuchten und die ganze Nacht eingeschaltet bleiben. Vermutlich um Halbstarke davor abzuschrecken, im Dunklen irgendwelchen Unsinn zu treiben.

Gerade, als ich weiterlaufen will, fängt mein linkes Auge an zu zucken. Augenblicklich verkrampft sich jeder Muskel meines Körpers und ich erstarre auf der Stelle. Angespannt erwarte ich die Rückkehr des schwarzen Flecks, aber nichts passiert.

„Hoffentlich hat Doktor Frank heute eine Lösung für mich, oder ich reiß mir das verfluchte Ding selbst raus!“, grummle ich zähneknirschend.

Aus dem Augenwinkel heraus bemerke ich plötzlich etwas Seltsames bei einem der Flutlichtstrahler. Die Luft flimmert dort unnatürlich stark. Ähnlich wie bei von der Sonne aufgeheiztem Asphalt, nur deutlich auf einen Punkt konzentriert. Mehrmals zwinkere ich, nur um sicherzugehen, dass es gewiss keine optische Täuschung ist. Genau in der Mitte des Flimmerns beginnt sich ein leuchtender Streifen zu bilden. Als würde jemand versuchen, mit einem Schweißgerät durch eine unsichtbare Wand zu brennen.

Ich weiche einige Schritte vom Bauzaun zurück, kann meinen Blick jedoch nicht von dem eigenartigen Phänomen losreißen, das sich mir da bietet. Geistesabwesend nehme ich die Sonnenbrille ab, was sich dummerweise prompt als Fehler herausstellt. Das Flimmern verblasst, doch der Schnitt in der Luft strahlt hellweiß. Feine Haarrisse breiten sich darum herum aus und plötzlich explodiert er so grell wie eine Blendgranate. Ein lautes Klirren schallt über die Baustelle. Als wäre ein riesiger Spiegel vom Dach geworfen worden.

Mehr kann ich nicht sehen. Gleißendes Licht blendet mich und der schwarze Fleck breitet sich rasend schnell in meinen Augen aus. Sofort schließe ich sie und reiße schützend die Hände in die Höhe, während ich weiter vom Zaun weg stolpere. Doch es ist bereits zu spät. Der Schaden ist angerichtet. Blind irre ich umher, bis mich ein Baum stoppt. Hektisch atmend lehne ich mich dagegen. Eiskalter Angstschweiß läuft mir von der Stirn ins Gesicht.

Was, wenn das zu viel für meine Augen war? Bin ich jetzt vollständig erblindet?

„Verdammt!“ Der Baum muss meinen Frust in Form eines Faustschlages ertragen. Ein stechender Schmerz schießt von den Knöcheln aus bis nach hinten ins Handgelenk. „Gottverdammte Scheiße!“

Langsam sacke ich am Stamm nach unten. Als ich meine Knöchel abtaste, spüre ich die Feuchtigkeit an den Fingern. Mit tiefen Atemzügen versuche ich meinen rasenden Puls zu bändigen, schlucke die Angst hinunter und öffne vorsichtig die Augen. Der schwarze Fleck im linken Auge ist da und wie befürchtet erneut gewachsen. Zum Dreifachen seiner vorherigen Größe! Zu meinem Leidwesen hat er nun einen kleinen Freund im rechten Auge.

Sieh das Positive, Marc! Du siehst zumindest noch irgendetwas!

Mein Kopf fällt nach hinten gegen den Stamm. Über der Baustelle steigt eine riesige Staubwolke in den Himmel auf. Der große Arbeitsscheinwerfer, bei dem der seltsame Schnitt aufgetaucht war, steht nicht mehr auf dem Dach. Er ist umgestürzt und durch den Rohbau hinunter in das Einkaufszentrum gekracht. Dabei hat er einiges an Baumaterial und Werkzeug mitgerissen.

Seltsamerweise bemerke ich bei dem Trümmerhaufen eine Bewegung. Irgendwas ist dort, dass ich durch den vielen Staub sowieso schlecht erkennen kann, und mein nun eingeschränktes Sichtfeld trägt nicht wirklich fördernd dazu bei. Alles, was ich sehen kann, ist, dass es etwas Kleines und vor allem Dickes ist. Und wenn ich sage ‚dick‘ dann meine ich ‚richtig fett‘. Es geht gebückt, die langen Arme reichen fast bis zu den Füßen. Ein groteskes Bild. Als ich mich aufrappele und nur kurz den Blick von dem seltsamen Ding abwende, ist es verschwunden. Stattdessen schallt metallisches Scheppern durch das Gebäude.

„Da will wohl einer nicht, dass wir ein Einkaufszentrum bekommen“, grummle ich.

Schnell näherkommende Sirenen raten mir, zügig von hier zu verschwinden. Ich verspüre wenig Lust, den Rest des Tages in einer Verhörkammer der örtlichen Polizei zu verbringen. Von Joggen ist allerdings nicht mehr die Rede. Eher von einem Dauersprint. Auf dem gesamten Rückweg schießen mir etliche Gedanken durch den Kopf, mit denen ich versuche mir zu erklären, was gerade passiert ist. Was war das für ein Ding auf dem Dach? Eine Ausgeburt meiner Fantasie? Dafür hat es äußerst realen Schaden angerichtet.

Als ich mich die Treppen meines Wohnungsblocks hinaufschleppe, bin ich völlig außer Atem, die Kleidung klebt mir am Körper. Mittlerweile geht die Sonne auf und warmes Licht legt sich auf die Stadt, was mich daran erinnert, dass meine Sonnenbrille noch bei meinem Naturboxsack, dem Baum, liegt. Die letzten Stufen sprinte ich nach oben und flüchte mich in die sichere Dunkelheit meiner Wohnung. Durch das Bullauge und den Lochvorhang bahnen sich die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg in den Raum, also steuere ich direkt in Richtung Badezimmer. Mit zu viel Schwung lasse ich die Tür hinter mir ins Schloss krachen, woraufhin man in der Dunkelheit den Putz von der Decke rieseln hören kann.

Verdammte Bruchbude!

Über mir fängt der Luftabzug an zu summen. Ich war noch nie so froh darüber, dass mein Bad kein Fenster hat.

Ein Hoch auf die Bruchbude!

Nach einer Dusche im Dunkeln und einigen weiteren, scheinbar endlos ruhigen Minuten, öffne ich die Tür zum Wohnzimmer. Es ist etwas heller geworden, aber nicht so sehr, dass es gefährlich für mich wäre. Die schwarzen Flecken sind verschwunden. Erleichtert atme ich auf und lasse mich aufs Bett fallen, welches sich mit einem lauten Quietschen des Lattenrosts beschwert. Mehrmals fahre ich mir mit beiden Händen übers Gesicht. Ich bin völlig erschöpft. Die Augen sind schwer und schnappen gefühlt so schnell zu wie eine Mausefalle.

Dunkelheit. Die Dunkelheit kehrt einfach immer wieder zurück und ich kann absolut nichts dagegen unternehmen.

Kapitel 2 - Marc Gray

Laute Rockmusik reißt mich gefühlt keine zehn Sekunden später aus dem Schlaf. Es dauert einen Moment, bis ich realisiere, dass es der Klingelton meines Handys ist. Ich schnappe es vom Boden neben dem Bett. Es ist Yu. Hätte mich auch gewundert, wenn es jemand anderer wäre. Niemand sonst telefoniert heutzutage noch so viel wie er. Zumindest niemand, den ich kenne.

Yu ist das, was man wohl einen besten Freund nennen darf. Wir sind zusammen aufgewachsen und er ist wie ein Bruder für mich. Eigentlich heißt er Yuji Bennet. Seine Mutter ist Japanerin, sein Vater stammt aus Amerika. Daher die etwas außergewöhnliche ‚japakanische‘ Mischung. Unsere Eltern sind Geschäftsleute, die ein gemeinsames Unternehmen führen, und da wir früher ständig auf quälend langweiligen Geschäftsreisen mitgeschleift wurden, haben wir entsprechend viel Zeit miteinander verbracht.

Auch mein Vater ist Amerikaner. Meine Mutter Deutsche. Schräge Namenskombination Nummer Zwei: Marc Gray. Klingt wie der Fantasiename eines schlechten Autors. Aber es ist eines der zahlreichen Dinge, die Yu und ich gemeinsam haben. Da wäre natürlich noch unser Musikgeschmack, unsere manchmal schon unheimliche Art, das Gleiche zu denken und auf Situationen zu reagieren, unser Hass auf unsere Eltern …

Ich tippe auf die Taste zum Annehmen. „Moin! Was gibt's?“

„Du bist zu spät. Das gibt's“, schallt es prompt aus dem Lautsprecher zurück.

Ein schneller Kontrollblick auf den Wecker bestätigt diese Aussage. „Ich sitz quasi schon neben dir!“

„Aber natürlich. Ich seh dich schon laufen. Da hinten. Ganz weit weg. Weit in der Ferne … Ferne … Ferne …“ Übertrieben künstlich lässt er die Worte immer leiser werden, bevor die Verbindung unterbrochen wird.

„Schwachkopf“, grunze ich.

In einem Tempo, um das mich jeder Soldat in der Grundausbildung beneiden würde, ziehe ich mich an, sprinte die Wendeltreppe hinunter auf den Parkplatz, wo ich den metallic blauen Kombi von Yu stehen sehe, und schwinge mich auf den Beifahrersitz.

„Wecker hat nicht geklingelt“, erkläre ich mit Unschuldsmiene.

„Wie so oft“, schmunzelt er. Wir begrüßen uns wie immer per Handschlag. „Hätte eigentlich erwartet, dass du auf dem Parkplatz Saltos schlägst, wenn ich hier aufkreuze. Auf den Termin bei Doktor Frank wartest du ja schon seit Tagen.“ Er startet den Motor und biegt auf die Straße ein.

„Da liegst du gar nicht so falsch“, erwidere ich. „War heute Morgen schon eine schnelle Runde joggen.“

„Boxen offenbar auch“, ergänzt Yu mit einem unüberhörbar sarkastischen Unterton und deutet auf meine rechte Hand mit den unbehandelten Schürfwunden.

„Ach das. Hab mich mit Mutter Natur angelegt.“

„Wer hat gewonnen?“

„Fahr und frag nicht so dumm.“

Ich bin unsagbar froh, dass sich Yu vor einigen Monaten dieses Auto gekauft hat. Er hat ewig darauf gespart, zahllose Überstunden geschoben und nebenbei gejobbt, um sich sein ‚Schatzi‘, wie er es gerne betitelt, leisten zu können. Damit sind wir endlich wesentlich mobiler und müssen nicht jedes zweite Wochenende eine Zweimannkellerparty bei Yu feiern, weil der Bus wieder mal ausgefallen ist und wir in Bergstedt festsitzen.

Na ja, eigentlich könnten wir - wenn wir denn wollten - mehrere Autos besitzen und in unserem eigenen Haus eine Dauerparty schmeißen. Da gibt es nur das eine kleine, aber alles entscheidende Problem: Wir müssten dafür mit unseren Eltern reden. Was wir nicht tun. Meine und Yus Eltern sind, wie bereits erwähnt, ständig geschäftlich unterwegs und verdienen nicht imbedingt schlecht. Gut, das ist maßlos untertrieben. Yu hat einmal erzählt, er habe einen raschen Blick auf den aktuellen Kontoauszug seiner Mutter erhascht und sich bei den vielen Stellen hinterm Punkt verzählt. Das ist jetzt schon einige Jahre her und es ist mit Sicherheit nicht weniger geworden.

Für heute hatte er mir auf jeden Fall versprochen, mich zu Doktor Frank zu fahren. Und auf ein Versprechen von Yu kann man sich immer verlassen. Während der Fahrt albern wir wie üblich etwas herum, bis er sich danach erkundigt, wie es denn meinen Augen geht. Kurz überlege ich, ob ich ihm vom Vorfall heute Morgen erzählen soll, entscheide mich jedoch dagegen. Er würde mir zwar sicherlich glauben, aber dennoch dumme Sprüche klopfen. Und ich fand die Sache eigentlich nicht allzu komisch.

„Keine Verschlechterung, allerdings auch keine Verbesserung“, antworte ich stattdessen.

„Das kriegen wir schon wieder hin“, lacht Yu und verpasst mir einen aufmunternden Schlag gegen die Schulter. „Wenn alle Stricke reißen, kaufen wir dir ´ne Augenklappe, aye?“

„Arrr, schau auf die Straße, du Komiker.“

Das Lachen kann ich mir trotzdem nicht verkneifen. Selbst wenn achtzig Prozent seiner Witze flach und wirklich einfach nur schlecht sind, schafft er es mit seinem einzigartigen Charme, dennoch immer die Leute zum Schmunzeln zu bringen. Eine ganz besondere Gabe, wenn man mich fragt.

Als wir auf die Schnellstraße auffahren, sind wir etwa eine viertel Stunde unterwegs und fast zehn Minuten hinter meinem Zeitplan. Die Strecke ist relativ frei, was Yu nutzt, um ordentlich aufs Gas zu drücken. Die Bäume am Straßenrand rauschen an uns vorbei, während laute Musik aus den Boxen dröhnt. Irgendeine neue Band, in die Yu völlig vernarrt ist und woraus er auch keinen Hehl macht. Rhythmisch trommelt er mit den Fingern auf dem Lenkrad, lässt sein langes, schwarzes Haar fliegen und grölt sporadisch einzelne Teile des Textes mit. Er hat eher einen Drang zu härteren Klängen, denen ich prinzipiell nicht abgeneigt bin, aber gelegentlich wird es mir doch etwas zu ausgefallen.

Als ich mich gerade wieder den Bäumen widmen will, sehe ich es plötzlich. Im Grünstreifen, etwa hundert Meter entfernt, unter einer großen Weide, hängt ein Flimmern in der Luft. In der Mitte leuchtet es wie eine glühende Schweißnaht.

„Zieh auf die andere Seite!“, schreie ich vor Schreck und Yu verreißt schlagartig das Lenkrad.

Der Wagen schießt auf die Überholspur. Yu hat nicht einmal einen Blick in den Rückspiegel geworfen. Glücklicherweise ist die Fahrbahn noch immer frei und wir rasen auf der linken Spur am Baum und dem Schnitt vorbei. Ich drehe mich nach hinten, um zu sehen, ob er auch diesmal explodiert, doch nichts dergleichen passiert. Gleichgültig wehen die Blätter der Weide im Fahrtwind.

„Scheiße! Was war los?“, schimpft Yu und dreht die Musik leiser. Wieder ringe ich mit dem Gedanken, ihm die Wahrheit zu sagen, entscheide mich jedoch erneut dagegen.

„Katze“, stammele ich. „Katze von rechts aus dem Gebüsch.“

„Ich hab keine Flohschleuder gesehen, aber wenn du es sagst.“ Er grummelt noch irgendwas Unverständliches hinterher, was sich ein wenig wie ‚Katzenhaare auf Schatzi‘ anhört.

Was sehe ich denn neuerdings für verrückte Dinge? Entweder sind meine Augen wirklich total im Arsch oder es ist doch mein Gehirn. Ich bin mir allerdings nicht darüber im Klaren, was mir lieber wäre. Glücklicherweise verläuft der Rest der Fahrt ruhig.

Doktor Franks Praxis ist eine von vielen in einem nagelneuen Gebäudekomplex, in dem man das riesige Einkaufszentrum von Bergstedt fast zweimal unterbringen könnte. Das Monstrum schaut mit seinen Rundungen, unterschiedlich verschobenen Stockwerken, Flachdächern und den darauf platzierten abstrakten Kunstwerken aus Alteisen künstlich futuristisch aus. Wir parken das Auto in der Tiefgarage und nehmen den Fahrstuhl nach oben.

In der Arztpraxis selbst herrscht wie immer reges Treiben. Der Doktor ist ein anerkannter Spezialist und Patienten kommen teilweise von sehr weit her, um speziell von ihm behandelt zu werden. Wir schlendern dem Empfangsschalter entgegen, an dem zwei Arzthelferinnen die Patienten aufnehmen. Gerade als ich mich in der linken Reihe hinter einem Ehepaar anstellen will, gibt mir mein Freund einen kräftigen Ruck und wir stolpern in die rechte Schlange.

„Was zum …?“

„Bessere Aussicht“, grinst Yu und nickt in Richtung Schalter.

Am linken Platz arbeitet eine etwas fülligere, ältere Frau, auf deren Namensschild am Tresen ‚Margret‘ steht. Am anderen hingegen sitzt eine junge Arzthelferin mit langen blonden Haaren, großen leuchtenden Augen und dem wohl breitesten und herzhaftesten Lachen, das ich jemals gesehen habe. Auf ihrem Namensschild steht ‚Anna‘.

„Wenigstens deine Glubscher funktionieren noch fehlerfrei“, schmunzle ich.

Als wir an der Reihe sind, wirkt das Lächeln von Anna sogar richtig ansteckend und wir stehen beide wie Vollidioten mit einem breiten Grinsen vor ihr.

„Guten Tag, die Herren. Haben Sie einen Termin?“, begrüßt sie uns mit zuckersüßer Stimme. Bei den meisten Menschen klingt dies immer völlig überzogen, doch nicht bei Anna.

„Ich habe einen Termin bei Doktor Frank, bin allerdings leider etwas zu spät dran. Ist das ein Problem?“

„Der Doktor hat einen sehr vollen Terminplan, aber schauen wir mal, was wir machen können. Haben Sie ihre Versichertenkarte dabei?“

Tankkarte, Geldkarte, Kreditkarte, Mitarbeiter karte. Alle möglichen Karten stecken in meinem Geldbeutel. Doch wie könnte es anders sein? Natürlich keine Versichertenkarte. Typisch.

„Tut mir leid, ich hab sie wohl in der Hektik vergessen.“

Anna tippt kurz etwas in ihren PC ein. „Den Namen bitte.“

„Marc Gray. Gray mit einem A.“

Wieder bearbeitet sie die Tastatur und studiert für eine Sekunde meine Patientendaten. „Marc Gray aus Bergstedt. Oh! Nachträglich noch herzliche Glückwünsche zum Geburtstag!“

„Korrekt und Danke“, erwidere ich. Dass ich erst kürzlich Zwanzig geworden bin, ist mir tatsächlich entfallen. Nach dem Achtzehnten verlieren Geburtstage merklich an Relevanz.

„Yuji Bennet. Gleicher Wohnort und ebenfalls frische Zwanzig Jahre alt. Meine Freunde nennen mich Yu. Bitte nenn mich Yu, Anna. Noch die Handynummer zur Vollständigkeit der Daten?“, platzt mein bester Freund dazwischen und leiert sogleich extra langsam seine Nummer herunter, damit man auch auf keinen Fall eine Zahl vergisst. Selbst einem Kleinkind wäre sie jetzt für alle Ewigkeit ins Gehirn eingebrannt.

Anna huscht ein mehrdeutiges Schmunzeln über die Lippen, das ich nicht recht deuten kann. Komisch, normalerweise bin ich gut in sowas.

„Du hast Glück, Marc. Ein anderer Patient hat kurzfristig abgesagt. Doktor Frank hat daher einen freien Termin in etwa einer halben Stunde. Bitte nimm doch noch einen Augenblick mit Herrn Bennet Platz“, sagt sie schließlich mit einem Augenzwinkern und ich muss mich beherrschen, um nicht lauthals loszulachen.

Während wir im Wartezimmer sitzen, mache ich mich natürlich über Yus Anmachkünste lustig. So, wie es ein guter Freund halt tut. Schmunzelnd beobachten wir die hübsche Arzthelferin dabei, wie sie zwischen den Untersuchungsräumen hin- und herläuft. Als ich dann an der Reihe bin, ist mir allerdings nicht mehr nach Späßen zu Mute, denn nun wird es ernst.

Anna führt mich zum Sprechzimmer des Doktors, Yu bleibt zurück.

„Herr Doktor? Herr Gray wäre jetzt hier.“

Doktor Frank ist mindestens zwei Meter groß und sieht aus, als müsste er schon seit zehn Jahren in Rente sein. Von seinem grauen Haar sind nur noch wenige, einzelne Härchen übrig geblieben, die wie Antennen in alle Himmelsrichtungen stehen. Dafür hat er umso mehr Haarwuchs im Gesicht. Würde er sich seinen Vollbart auf den Kopf transplantieren lassen, ließe ihn das locker ein Jahrzehnt jünger aussehen. Zum Jungspund würde es ihn zwar nicht machen, aber immerhin etwas.

„Danke, Anna“, erwidert er und nimmt meine Unterlagen entgegen. Die Arzthelferin verlässt daraufhin das Büro in das Nebenzimmer. Dort hat der Doktor bei unserem letzten Termin die meisten Untersuchungen an mir durchgeführt, von denen ich mir jetzt erhoffe, dass sie zumindest nicht vollkommen umsonst gewesen sind.

„Hallo, Marc. Bitte nimm Platz. Wie geht es dir?“, begrüßt er mich und reicht die Hand über den Tisch. Sein Händedruck ist erneut überraschend kräftig.

„Den Umständen entsprechend gut.“

Was sollte ich auch sonst sagen? Seit heute Morgen sehe ich äußerst lustig leuchtende Schnitte in der Luft, die darauf stehen, Baustellen in Schutt und Asche zu verwandeln?

„Irgendwelche Verbesserungen bemerkbar?“

„Eher Verschlechterungen.“

Ich erzähle ihm, dass ich wieder grellem Licht ausgesetzt wurde und die schwarzen Flecken sich rapide ausgebreitet haben, zum Glück aber noch immer in der Dunkelheit verschwinden. Natürlich lasse ich meine flimmernden Spezialeffekte außen vor. Das Fernlicht eines Autos tut es als Beispiel auch. Der Doktor macht sich einige Notizen und stützt schließlich das Kinn auf den Händen ab.

„Tut mir leid, Marc“, seufzt er. „Es ist, wie ich anfangs befürchtet habe. Keiner der Tests hat etwas Ungewöhnliches ergeben. Deine Augen sind aus ärztlicher Sicht vollkommen in Ordnung. Um ehrlich zu sein, sind sie sogar fast zu gut.“

An seinem nachdenklichen Blick kann ich erkennen, dass er wirklich alles versucht hat, und das befördert meine Laune noch weiter in den Keller. Ich lasse mich in meinem Stuhl nach hinten fallen und atme tief durch.

„Wie können Augen zu gut sein, wenn sie blind werden?“

Doktor Frank lehnt sich ebenfalls zurück. „Ich weiß, dass dir das sehr zu schaffen macht. Darum bin ich mir auch sicher, dass du sämtliche Tests ernsthaft durchgeführt hast. Liege ich mit dieser Annahme richtig?“

Natürlich habe ich die Checks ernsthaft gemacht. Mein Augenlicht ist mir zu wichtig, als dass ich darüber Scherze machen würde, du Quacksalber! Hätte ich fast geantwortet, stimme jedoch nur stumm nickend zu.

„Dachte ich mir. Du hast bei einigen Tests überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Wie zum Beispiel beim Sichtfeld oder der Nachtsicht. Solche Ergebnisse wie bei dir habe ich in meiner gesamten Laufbahn noch nicht gesehen.“

„Na ganz große Klasse! Ich habe Supermans Augen, muss aber den Rest meines Lebens mit Sonnenbrille rumlaufen und mir diese beschissenen Lichtspiele reinziehen!“

Das ist lauter und aggressiver aus mir herausgeplatzt, als ich eigentlich wollte. Eine unangenehme Stille macht sich im Raum breit.

„Tut mir leid, Doktor. Ich wollte nicht laut werden. Ist ja schließlich nicht Ihre Schuld.“

Der Doktor sitzt immer noch zurückgelehnt im Stuhl und starrt mir direkt in die Augen. Irgendetwas ist plötzlich anders an seinem Blick. Er ist schrecklich durchbohrend. Als würde er versuchen, mir durch die Augen in den Kopf zu schauen und meine Gedanken zu lesen. Unruhig rutsche ich umher.

„Alles in Ordnung, Doktor Frank?“

Das scheint ihn in die Realität zurückgeholt zu haben und sein Blick normalisiert sich.

„Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was du meinst. Von was für Lichtspielen sprichst du, Marc?“

„Na ja, Sie wissen schon, wenn man geblendet wird, sieht man gerne mal Sternchen“, versuche ich mich nicht sonderlich graziös rauszureden.

Erst jetzt wird mir klar, dass ich mich verplappert habe. Ich bin froh, dass Doktor Frank mir als Einziger von drei Ärzten geglaubt hat, da will ich nicht, dass er mich für verrückt erklärt, wenn ich ihm die Wahrheit sage. Für einen Moment scheint es so, als würde er die Sache auf sich beruhen lassen, doch dann bekommen seine Augen wieder diesen durchbohrenden Blick.

Wer ha t jetzt hier die Superman-A ugen ?

„Wäre es für dich in Ordnung, einen weiteren Test durchzuführen, Marc? Mir ist gerade etwas eingefallen, das ich gerne überprüfen möchte.“

„Klar, kein Problem. Ich bin für alles offen, was mir helfen könnte.“

Das habe ich zwar so einfach dahingesagt, aber in Wirklichkeit bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob ich diesen Test will. Der Doktor war mir eigentlich von meinem ersten Besuch an absolut sympathisch, doch nun würde ich am liebsten nur noch schnellstens davonlaufen.

Wir gehen trotzdem in das Untersuchungszimmer nebenan, in welches zuvor Anna verschwunden ist und das sie seitdem auch nicht mehr verlassen hat. Na wenigstens habe ich dann eine kleine optische Ablenkung.

Hoffentlich nicht die letzte in meinem Leben.

Die Überraschung ist groß, als wir das Zimmer betreten und weit und breit keine Spur von ihr zu sehen ist. Mein Blick schweift durch den Raum auf der Suche nach einem anderen Ausgang, kann aber keinen entdecken. Der einzige Weg rein und raus ist durch das Sprechzimmer des Doktors. Bevor ich weiter darüber grübeln kann, wie sie unbemerkt verschwinden konnte, reißt mich der Doktor aus meinen Gedanken.

„Bitte nimm da auf dem Stuhl Platz.“

An der Seite des lederüberzogenen Untersuchungsstuhls steht ein schon fast monströses Gerät, mit dem sich die Sehstärke der Augen messen lässt. Und vermutlich noch etliche Dinge mehr, von denen ich nichts verstehe. Der Doktor holt jedoch ein anderes Werkzeug aus dem Schrank, welches ich noch bei keiner bisherigen Untersuchung zu Gesicht bekommen habe. Es sieht aus wie eine überdimensional große Brille, in der anstelle von Gläsern eine Art hauchdünne Folie eingelassen ist. Oben und unten am Rahmen befinden sich jeweils zwei Klammern.

„Ich muss dich warnen, dieser Test ist etwas unangenehm.“

Er wirkt angespannt auf mich. Als würde er jeden Moment damit rechnen, dass ihm jemand in den Rücken fällt. Ob es so gut für mich ist, wenn er in diesem Zustand an meinen Augen herumspielt?

„Was macht das Gerät?“, frage ich skeptisch.

„Es macht …“ Der Doktor starrt für einen Augenblick in den mannshohen Spiegel in der Ecke des Raumes und legt sich wohl in Gedanken eine Erklärung zurecht, die auch ein Laie wie ich versteht. „Es macht eine Art Abdruck deiner Hornhaut, den ich auslesen kann. Die exakte Funktion zu erläutern, würde unseren zeitlichen Rahmen sprengen.“

Das ergibt für mich sowas von überhaupt keinen Sinn. „Bringen wir's einfach hinter uns.“

Er setzt mir das Ding auf den Kopf, stellt die Größe auf Schädelumfang und Augenabstand ein und sichert mit den Klammern meine Augenlider. Zu guter Letzt tröpfelt er mir noch einige Feuchtigkeitstropfen in die Augen und begutachtet seine Arbeit.

„Okay, das könnte jetzt ganz kurz brennen, aber versuch dich ruhig zu verhalten“, ermahnt er mich und drückt im selben Moment links und rechts auf die Brille.

Dann geht alles ganz schnell. Die Foliengläser legen sich auf meine Pupillen, als würden sie versuchen, meine Augäpfel zu vakuumieren. Die Tropfen sind schlagartig aufgesaugt und meine Augen pulsieren schlimmer, als wenn mich grelles Licht blendet. Ich beiße die Zähne zusammen, doch da ist es auch schon vorbei. Der Doktor nimmt die Brille ab und tropft mir ein neues Mittel auf die Hornhaut.

„Halte die Augen kurz geschlossen, bis das Brennen aufhört. Es wird nicht lange dauern.“

Das hätte er mir nicht sagen müssen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie nicht öffnen.

Es brennt wie die Hölle!

Einige Minuten später lassen die Schmerzen nach und ich blinzle vorsichtig. Alles ist verschwommen. Doktor Frank hat die Brille in eine andere Apparatur gesteckt und studiert sie ausgiebig. Wie es scheint, ist die Folie wieder in den Brillengläsern eingelassen. Auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie das funktioniert haben soll.

„Und? Hat es was gebracht, dass ich meine Augen verätzt habe?“ Ich versuche nicht allzu zynisch zu klingen.

Der Blick des Doktors hängt erneut auf dem Spiegel und er brummelt nachdenklich einige unverständliche Worte vor sich hin. Mit einem hörbaren Räuspern versuche ich auf mich aufmerksam zu machen.

„Seltsam, ich war mir sicher …“, murmelt er diesmal etwas lauter, aber noch immer zu sich selbst. Dann erinnert er sich wohl daran, dass ich noch im Raum bin. „Nein, tut mir leid, Marc. Ich bin zu keinem positiven Ergebnis für dich gekommen.“

Das ganze Spiel wird mir jetzt endgültig zu bunt. Ich bedanke mich bei Doktor Frank für seine Mühen, sage ihm, dass es vielleicht doch irgendwas mit meinem Kopf zu tun hat und ich nochmals einen Psychologen aufsuchen werde. Auch der Doktor wirkt mit einem Mal so, als möchte er schnellstmöglich alleine gelassen werden. Er entschuldigt sich nur hastig, dass er mir nicht helfen konnte, und schließt eilig die Tür hinter mir.

Mit mieser Laune im Gepäck hole ich Yu aus dem Wartezimmer und kurz darauf sitzen wir wieder in seinem Auto, auf dem Weg in Richtung Bergstedt. Zurück auf der Autobahn erzähle ich ihm, wie die Untersuchung verlaufen ist und wie seltsam der Doktor sich plötzlich verhalten hatte, als ich die Lichter erwähnte. Dummerweise habe ich vergessen, dass Yu ebenfalls noch nichts davon weiß, und kann mir erst einmal eine Standpauke anhören, bevor wir uns weiter darüber unterhalten können.

„Und du sagst, ein buckliger Zwerg hat das Einkaufszentrum zerlegt?“

„Es könnte auch Gollum gewesen sein, aber mit diesen Augen bin ich mir mittlerweile selbst nicht mehr sicher, was ich so alles sehe.“

„Du weißt, wie bescheuert sich das anhört, Marc?“

„Muss ich das beantworten?“

Plötzlich tritt Yu mit voller Wucht in die Bremsen und reißt das Lenkrad nach rechts. Der Sicherheitsgurt schneidet sich in meinen Hals, weil ich dummerweise die Angewohnheit habe, ständig damit herumzuspielen.

„Ist das die Rache für meine Katzen-Aktion auf der Hinfahrt?“, röchle ich, als wir auf dem Seitenstreifen zum Stehen kommen.

„Nur, wenn deine Flohschleuder Bäume fällen kann“, antwortet Yu hektisch und springt aus dem Wagen.

„Hey! Das ist eine Schnellstraße! Eine Straße, auf der Autos zu schnell fahren! Komm sofort zurück!“

Meine Worte bleiben ungehört. Er ist schon über beide Spuren gespurtet und hüpft über die Leitplanke in der Mitte. Als ich ihm nachschaue, sehe ich den Grund für sein plötzliches, halsbrecherisches Verhalten. Auf der Gegenfahrbahn liegt ein umgestürzter Baum, gegen den frontal ein Auto gerast ist. Es muss gerade erst passiert sein, denn auf der wenig befahrenen Straße hat den Unfall noch niemand bemerkt.

Ich springe ebenfalls aus dem Wagen und eile meinem Freund hinterher. Die Stelle erkenne ich sofort wieder. Es ist dieselbe große Weide, bei der auf der Hinfahrt der leuchtende Schnitt aufgetaucht ist. Schnell verbanne ich den Gedanken aus meinem Kopf und konzentriere mich darauf, den möglichen Unfallopfern zu helfen. Hier geht es vielleicht um Leben und Tod.

Yu ist bereits bei dem Wrack angekommen. Als ich endlich neben ihm stehe und einen Blick durch das zerbrochene Fenster werfe, dreht sich mein Magen um. Für den Fahrer kommt jede Hilfe zu spät. Er ist vom Motorblock, der durch den Aufprall in die Fahrerkabine geschoben wurde, fast vollkommen zerquetscht worden. Nur ein Drittel des Oberkörpers und der Schädel sind noch in einem identifizierbaren Zustand geblieben. Leere Augen starren uns entgegen, die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagen.

Prompt stolpert mein Freund auf die Grünfläche am Straßenrand, wo er sich übergibt. Da bemerke ich in einiger Entfernung ein weiteres Fahrzeug. Ein Kleinwagen hat sich kurz nach der unübersichtlichen Kurve überschlagen und ist auf dem Dach gelandet. Ich klopfe Yu auf die Schulter, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Er wischt sich das Erbrochene aus dem Gesicht und folgt mir. Der Brems- und Schleifspur hinter dem Wagen nach zu urteilen, muss der Fahrer den Unfall bemerkt, bei der Notbremsung jedoch die Kontrolle verloren haben und dadurch ins Schleudern geraten sein. Nahe des Autos liegt eine Frau auf der Straße. Sie hat vermutlich versucht, zu einem Notruftelefon zu kriechen, ist aber zuvor ohnmächtig geworden.

„Kümmer du dich um die Frau und bring sie an den Straßenrand, bevor sie auch noch überfahren wird!“, rufe ich Yu zu und er sprintet ohne Widerspruch direkt zu ihr.

Neben dem Auto werfe ich mich auf den Boden, um hineinsehen zu können. Auf der Rückbank hängt ein junges Mädchen - nicht älter als zwölf Jahre - kopfüber in ihrem Sicherheitsgurt. Ich springe auf und versuche die Tür zu öffnen. Natürlich klemmt sie.

Filmreif! Wie könnte es auch anders sein!

Erst nach einigen ruppigen Handgriffen und einer Reihe von Flüchen gibt die verbogene Tür endlich nach und springt auf. Vorsichtig taste ich den Hals des Kindes ab, um sicherzustellen, dass ich nicht noch mehr Schaden anrichte, wenn ich sie möglicherweise falsch bewege.

„Hallo? Kannst du mich hören?“, frage ich und streiche ihr die blonden Haare aus dem Gesicht. Es sind keine Verletzungen zu erkennen. Sie muss wohl vom Schock ohnmächtig geworden sein, ansonsten ist sie glimpflich davongekommen.

So gut es geht stütze ich ihren Körper und löse den Sicherheitsgurt. Das Mädchen ist noch leichter, als ich erwartet habe. Ich kann sie ganz einfach auffangen und aus dem Fahrzeug heben. Als ich mich gerade mit ihr im Arm aufrichte, lässt sie ein Stöhnen entweichen, blinzelt und sieht mich mit verworrenem Blick an.

„Hey! Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung“, versuche ich sie zu beruhigen. „Ich heiße Marc. Kannst du mir deinen Namen sagen?“

„Ella“, stammelt sie.

„Du hattest einen Unfall, Ella. Wir bringen dich jetzt erst mal von der Straße runter, okay?“

Sie nickt nur und versucht krampfhaft die Augen offen zu halten.

Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Yu gerade die Frau bei dem Baumstumpf ablegt, welcher zu der umgestürzten Weide gehört. Genau dort, wo auf der Hinfahrt der Schnitt in der Luft hing. Und da sehe ich ihn wieder. Er oder es, wie auch immer man es nennen will, sitzt auf dem Stumpf direkt neben meinem Freund.

Jetzt, wo ich die Kreatur aus der Nähe sehe, sprengt sie jede Skala von widerwärtig bis abstoßend. Sie hat unnatürlich große Füße - mindestens Schuhgröße 56 - aber extrem kurze Beine. Sie sind kaum länger als die Füße und ein Teil davon ist durch den fetten Bauch des Wesens verdeckt, der weit über seine Hüfte hängt. Falls es überhaupt eine hat. Schwer zu sagen bei dem wuchtigen Körperbau. Die Wampe ist so gewaltig, dass es die graue, lederartige Haut sichtlich überdehnt. Der kleinste Schnitt muss hier fatale Folgen haben. Doch das Verstörendste an dem ganzen Bild ist der Kopf, der an einem langen Hals hängt. Und wenn ich sage ‚hängt‘, dann meine ich ‚tief hängend‘. Er steht nicht aufrecht, sondern hängt weit nach unten, sodass das Kinn auf der Brust aufliegt. Das Gesicht ist lang gezogen und den größten Teil nimmt der riesige Mund ein. Nein, eigentlich ist es ein Maul. Vollgestopft mit langen, spitzen Reißzähnen. Eine Nase hatte wohl keinen Platz mehr gehabt, denn über dem Maul sitzen nur noch zwei gelb leuchtende Augen.

Obwohl es neben ihm hockt, scheint Yu die Kreatur nicht zu bemerken. Als wäre sie für ihn unsichtbar. Ich schreie, dass er da wegkommen soll, und will zu ihm zu eilen, doch Ella hängt an mir, weshalb ich nur langsam vorwärtskomme. Plötzlich springt Yu auf und rennt mir entgegen. Panisch winkend! Zuerst denke ich, dass er mich gehört und das Wesen gesehen hat, aber dann höre ich ihn rufen:

„Marc! Lauf!“

Erschrocken wandert mein Blick über die Fahrbahn. Auf der rechten Spur kommt ein Lkw direkt auf mich zugerast. Der Fahrer hat den Unfall durch die Kurve zu spät bemerkt und ist viel zu schnell unterwegs, um noch rechtzeitig bremsen zu können. Er hupt panisch, aber ich stehe nur geschockt da. Dann geht alles ganz schnell. Der Fahrer betätigt seine Lichthupe und sämtliche Scheinwerfer am Fahrzeug leuchten auf. Meine Augen werden dunkel. Noch nie hatte sich der schwarze Fleck dermaßen explosiv ausgebreitet und innerhalb vom Bruchteil einer Sekunde, bin ich fast vollkommen erblindet.

„Marc!“

Yu reißt mich mit seinem Schrei aus meiner Schockstarre, aber es ist zu spät. Der Lkw schleudert, prallt gegen die Mittelleitplanke und kippt. Metall schabt über Asphalt. Ich schaffe es niemals rechtzeitig mit Ella im Arm von der Straße. Die Entscheidung fällt mein Körper instinktiv. Mit aller Kraft, die ich aufbringen kann, schleudere ich das Mädchen Richtung Straßenrand. Als sie meine Arme verlässt, wird es mir vollständig schwarz vor Augen. Mein Herz rast. Gleich werde ich überrollt. Es ist unvermeidlich.

Doch plötzlich packt mich jemand und mein Augenlicht kehrt schlagartig zurück. Es ist Yu. Er will mich von der Fahrbahn ziehen. Was auch geglückt wäre, hätte ich nicht gegen ihn gearbeitet. Direkt vor mir schwebt ein leuchtender Schnitt in der Luft. Irgendetwas tief in mir weiß genau, was zu tun ist. Ich greife nach meinem Freund und hechte dem Lkw entgegen.

Kapitel 3 - Marc Gray

Yus Arm entgleitet mir, als wir ruckartig in unterschiedliche Richtungen gerissen werden. Panisch versuche ich nach ihm zu rufen. Mein Mund öffnet sich, doch kein Laut verlässt meine Kehle. Um mich herum herrscht nur Dunkelheit. Nichts sonst. Nur dunkle, scheinbar endlose Leere.

Gerade als ich mit dem Gedanken spiele, dass dies hier die Welt ist, die einen Atheisten nach dem Tod erwartet, bilden sich überall helle Risse. Sie schneiden sich regelrecht durch die Finsternis. Zuerst willkürlich verteilt, einige winzig kleine, dann immer mehr, die sich binnen Sekunden ausbreiten, bis die Umgebung aussieht, wie ein gigantisches Puzzle. Ein Puzzle mit tausenden, gleich schwarzen Teilen.

Bis jetzt kam es mir vor, als würde ich an einem unsichtbaren Seil hängen und wie eine Piñata herumgeschwungen werden. Fallen ist nicht der richtige Ausdruck für dieses Gefühl. Es ist nicht zu beschreiben. Als würden zahllose Mächte gleichzeitig an mir zerren. Nun hat sich das jedoch geändert. Ich stürze auf ein gewaltiges Puzzleteil zu und mein Aufprall lässt ein ohrenbetäubendes Klirren durch die zuvor stumme Finsternis schallen. Ein Klirren wie heute Morgen auf der Baustelle. Als würde ein Spiegel zerschlagen werden.

Ich weiß nicht, was ich erwarten soll. Darf ich denn überhaupt irgendwelche Erwartungen haben? Was sollte schon hiernach kommen? An ein Leben nach dem Tod habe ich nie geglaubt. Vielleicht wache ich auch einfach auf einer Krankentrage auf und der Notarzt sagt mir, dass mich Yu gerade noch von der Straße gezogen hat, als ich mich panisch dem Lkw entgegenstürzen wollte. Schön wäre es.

Stattdessen spuckt mich der Himmel aus und ich lande nach einigen Metern freien Falls unsanft auf einem Grashügel, rolle ein Stück weit den Berg hinunter und bleibe mit dem Gesicht am Boden liegen. Stöhnend drehe ich mich auf den Rücken. Meine Ohren pfeifen noch von dem lauten Knall, den das Monsterpuzzle verursacht hat. Die Rippen muss ich mir wohl auch geprellt haben, das Atmen fällt unangenehm schwer.

Die Sonne blendet. Sofort reiße ich schützend die Hände hoch, bemerke jedoch, dass sich trotz des hellen Lichts keine schwarzen Flecken in meinen Augen bilden. Leider bleibt mir keine Zeit, mich über die wundersame Genesung zu freuen, denn kaum hat das Pfeifen in den Ohren nachgelassen, höre ich aggressives Geschrei. Mühsam rapple ich mich auf.

Okay, vielleicht sind meine Augen doch nicht geheilt. Ein Totalschaden erscheint mir irgendwie wahrscheinlicher.

Das Bild, das sich mir bietet, könnte aus einem Fantasyfilm stammen. Um mich herum tobt eine wilde Schlacht. Ein junger Krieger, der in seiner silbernen Rüstung aussieht wie Julius Cäsar höchstpersönlich, stürmt mit zwei ebenfalls seltsam gekleideten Gefolgsleuten an mir vorbei. Schild und Schwert fest im Griff. Von dem Berg aus, den ich heruntergerollt bin, feuern Bogenschützen Pfeile in den Himmel. Ich folge ihrer Flugbahn und sehe für einen kurzen Moment ihr Ziel, bevor der tödliche Regen darauf niedergeht. Die Opfer der Schützen erinnern mich an das Ding, welches ich bei der Bau- und Unfallstelle gesehen habe. Nur jede dieser Kreaturen sieht etwas anders aus. Etwas hässlicher.

„Steh nicht so dumm rum, sondern kämpf!“, schreit mich plötzlich eine junge Frau an. Verdattert glotze ich sie an und sie verdreht ungeduldig die Augen. „Waffe. Kämpfen. Los!“, brüllt sie mit einem Befehlston, der mich fast salutieren lässt.

Sie rammt ein Schwert dermaßen knapp vor meinen Zehenspitzen in den Boden, dass keine Handbreit mehr dazwischen passen würde. Bevor ich jedoch protestieren oder sie fragen kann, was hier eigentlich gespielt wird, ist sie schon wieder davon gesprintet und mit wehendem rotem Haar in dem nahe gelegenen Waldstück verschwunden.

Jetzt stehe ich hier mit meinem ollen Schwert und habe weder eine Ahnung, wo ich bin, wo hier ist, noch wie in drei Teufels Namen ich hier gelandet bin. Dann trifft es mich wie ein Schlag auf den Hinterkopf.

Yu!

Panisch wirble ich herum und suche die Umgebung nach ihm ab. Er ist nirgends zu sehen. Schwindel überkommt mich und meine Gedanken spielen verrückt. Mein bester Freund – der wichtigste Mensch in meinem Leben – ist spurlos verschwunden!

Ich muss ihn finden!

Völlig egal, was hier abgeht, und scheißegal, dass alles hier absolut keinen Sinn ergibt! Tatsache ist, dass uns dieser verfluchte Riss offenbar vor einem vierzig Tonnen schweren Lkw gerettet, dafür aber direkt in irgendeinen Krieg verfrachtet hat. Was ich getan habe, ist mir ein Rätsel, jedoch steht eines definitiv fest: Es ist meine Schuld, dass wir jetzt hier sind, und somit ist es auch meine Verantwortung, uns wieder nach Hause zu bringen. Doch dazu muss ich Yu finden. So schnell wie nur irgendwie möglich!

Was ich damit vorhabe, weiß ich zwar nicht, greife mir aber dennoch das Schwert und renne blindlings hinter dem rothaarigen Mädchen her in den Wald. Eine wirkliche Front scheint es in dieser Schlacht nicht zu geben. Es wird überall gekämpft. Durch die eng stehenden Bäume und das unebene Terrain kann ich jedoch die meisten Auseinandersetzungen weiträumig umgehen. Ich komme an einer Handvoll Krieger vorbei, die gerade eines der hässlichen Wesen zu Fall bringen.

„Elendig stinkender Ghul!“, brüllt einer der seltsamen Rüstungsträger, bevor er seine Klinge im Kopf des Ungeheuers versenkt. Der Schädel spaltet sich mit einem unbeschreiblich abstoßenden Geräusch, das sich gerade auf alle Ewigkeit in meine Erinnerungen eingebrannt und mir einen Schwung Magensäure in den Mund befördert hat.

Ghule also. Na klar, warum auch nicht? Ich bin durch einen Riss in der Luft gesprungen, fliege durch eine Welt aus Dunkelheit, zerschlage einen gigantischen Spiegel und lande mitten in einem Krieg voller Verrückter in Rüstungen. Da sind Ghule doch wie das unerwartete Geschenk von Oma zu Weihnachten.

Grünes Blut spritzt umher. Der junge Kämpfer befreit knirschend sein Schwert aus der Schädeldecke des Monsters, wischt sich den ungewöhnlichen Lebenssaft aus dem Gesicht und stürzt sich direkt auf den nächsten Feind.

Bei dem, was ich gerade mit angesehen habe, müsste sich mein Magen eigentlich mehrfach umdrehen, doch das tut er nicht. Nicht dass ich mich beklagen würde, da mir dafür sowieso die Zeit fehlt. Nur ein Gedanke treibt mich an: Finde Yu! Alles andere ist egal. Nur er ist wichtig.

Um mir eine bessere Übersicht zu verschaffen, klettere ich auf einen großen Steinbrocken und da höre ich den panischen Schrei einer Frau. Es schallen überall Schreie über das Schlachtfeld, aber dieser eine war doch zu nah für meinen Geschmack. Etwas schwang in dieser Stimme mit, das mich für einen Moment erstarren lässt.

Ein merkwürdiges Gefühl macht sich in mir breit und kollidiert mit dem Drang, Yu zu finden. Ein Teil meines Unterbewusstseins sagt mir, dass ich es einfach ignorieren und weiter nach meinem besten Freund suchen soll. Das hat Priorität!

Dummerweise sträubt sich der Rest meines Körpers intensiv dagegen, diesen Hilfeschrei in den Wind zu schlagen. Ich kann schon fast den Engel auf der einen und den Teufel auf der anderen Schulter sitzen sehen.

„Yu würde auch nicht zögern, jemandem zu helfen, der in Gefahr ist“, sage ich mir selbst mit knirschenden Zähnen und laufe in die Richtung, aus der ich den Schrei vermute.

Bei einer halb eingestürzten Mauer finde ich die Frau wieder, welche mir gerade noch das Schwert vor die Füße geworfen und mich auf eine ach so freundliche Weise zum Kampf gebeten hatte. Sie steht mit dem Rücken zur Wand. Hinter ihr liegt ein junger Mann am Boden. Er trägt eine goldene Brustplatte und scheint schwer verletzt zu sein. Unter ihm hat sich eine Blutlache gebildet. Das Mädchen setzt sich tapfer gegen acht Ghule zur Wehr, die sie jedoch stetig zurückdrängen. Sie könnte leicht über die Trümmer klettern und so ihren Angreifern entkommen, aber sie hält ihre Stellung, um den Verwundeten zu verteidigen.

„Das ist eine dumme Idee, Marc … Eine saudumme!“, rüge ich mich selbst, festige den Griff um meine neue Waffe und stürme auf die Ghule zu. Eine beinahe unnatürliche Ruhe ist dabei mein Begleiter.

Dem Ersten ramme ich von hinten das Schwert in den Rücken, bevor er überhaupt bemerkt, dass ich da bin. Die Klinge ist trotz ihrer eher primitiven Form überaus scharf und ich kann spüren, wie sie das Rückgrat des Monsters zerteilt. Ich habe so eine Waffe noch nie aus der Nähe gesehen, geschweige denn damit gekämpft, aber die Bewegungen gehen mir ungewöhnlich flüssig von der Hand. Auch mein Körper fühlt sich seltsam leicht dabei an.

Flink ziehe ich das Schwert aus der nun leblosen Bestie und schwinge es gegen den Ghul direkt daneben. Dieser will dummerweise gerade losstürmen und ich erwische ihn nur mit der Spitze. Der Schnitt zieht sich schräg über seine lederartige Haut. Grünes Blut quillt heraus. Das Monster heult auf vor Schmerz. Ein Schrei, der durch Mark und Bein geht. Natürlich hat das die Aufmerksamkeit der restlichen Feinde geweckt und mein Überraschungsmoment ist damit verpufft.

Erneut steche ich nach dem Ghul und diesmal treffe ich richtig. Die Klinge durchtrennt seinen viel zu langen Hals. Mit einem dumpfen, matschigen Geräusch fällt sein Kopf zu Boden und rollt mir entgegen. Für einen kurzen Moment bewegt sich noch der Kiefer, als würde er versuchen, mich mit seinem letzten Atemzug aufzufressen. Ekel lässt mich erschaudern und eigentlich sollte ich völlig ausflippen, aber trotz der wirren Situation verspüre ich tief in mir drin weiterhin diese mysteriöse Ruhe, die mich das Ziel vor Augen nicht verlieren lässt. Jetzt habe ich die uneingeschränkte Aufmerksamkeit von vier der sechs übrigen Ghule.

„Kommt her, ihr Stinker!“

Meine Ärzte hatten doch Recht. Ich bin verrückt und gehöre in eine weiße Jacke gesteckt.

Stachle die Monster mit den riesigen Reißzähnen auch noch an, dich zu fressen, Marc! So ist es gut!

Aber so war es ja schon immer. Yu und ich besitzen das unglaubliche Talent, uns ständig in Schwierigkeiten zu bringen, und haben bereits mehr körperliche Auseinandersetzungen durchgestanden, als mir lieb ist. Wer hätte gedacht, dass diese Erfahrungen einmal dermaßen wertvoll werden würden?

Der nächste Ghul springt mit einer überraschend schnellen Bewegung in meine Richtung, die ich dem kleinen, dicken Monster niemals zugetraut hätte. Aus Reflex reiße ich das Schwert nach oben und schlitze ihm noch im Flug den Bauch auf. Ein glücklicher Schritt zur Seite erspart mir die Erfahrung, in Eingeweiden gebadet zu haben, denn die Vermutung von meinem letzten Aufeinandertreffen mit einem dieser Wesen hat sich soeben bestätigt. Ein kleiner Schnitt hat eine fatale Wirkung. Aus der fetten Wampe des Ungetüms platzen die Innereien heraus wie der Saft aus einer zerquetschten Orange und ergießen sich über meine Füße. Mein Magen brodelt. Der Anblick ist eine Sache, aber der Gestank ist … bestialisch!

Bleiben noch drei. Mit einem kräftigen Schwertstreich versuche ich erneut in die Offensive zu gehen, doch die Bewegungen der Ghule passen in keiner Weise zu ihrer Erscheinungsform. Der Stinker rollt nach links davon und ein anderer hat sich blitzschnell hinter mir in Position gebracht. Er springt mir in den Rücken. Seiner Masse habe ich nichts entgegenzusetzen und stolpere nach vorn, drehe mich jedoch während ich stürze und schlage einfach blind in die Luft. Zumindest denke ich, dass es ein willkürlicher Hieb ist. Irgendwie fühlt er sich nämlich auch geplant an. Als hätte jemand oder etwas nachgeholfen.

Jedenfalls war der Ghul sich seiner Sache zu sicher, als er dachte, ich würde zu Boden gehen, und ist mir sofort nachgesprungen. Er landet direkt in der Klinge, die sich in sein Maul und durch seinen Schädel bohrt.

„Urgh …“ Angewidert stoße ich das stinkende Monster weg und rapple mich schnellstmöglich wieder auf. Meine geprellten Rippen melden sich zurück und ein schmerzhaftes Stechen in der Seite will sich offenbar mit ihnen zum Kaffee treffen. Eine unangenehme Kombination, die einen Schleier über meinen Blick legt.