World of Warcraft: Dragonflight - Krieg der Schuppengeborenen - Roman zum Game - Courtney Alameda - E-Book
SONDERANGEBOT

World of Warcraft: Dragonflight - Krieg der Schuppengeborenen - Roman zum Game E-Book

Courtney Alameda

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der offizielle Roman zu World of Warcraft - Dragonflight Als die Welt noch jung war erzitterte alles Leben vor der Macht von Galakrond, einem gewaltigen Protodrachen, dessen Hunger unstillbar war. An der Seite des titanengeschmiedeten Hüters Tyr erhoben sich daraufhin fünf tapfere Urdrachen, um sich dieser Bedrohung entgegenzustellen. Obwohl der Kampf nahezu aussichtslos war, fiel Galakrond schließlich, und die fünf wurden dazu auserwählt, künftig über Azeroth zu wachen. Die Titanen beschenkten Nozdormu, Ysera, Alexstrasza, Malygos und Neltharion mit Ordnungsmagie und verwandelten sie in die Aspekte – mächtige Drachen, welche die Zeit, die Natur, das Leben, die Magie und sogar die Erde selbst beherrschen. Andere Protodrachen schlossen sich ihnen an, und so erhoben sich die Drachenschwärme, um die Welt zu gestalten und den Aspekten zu dienen. Das ist zumindest die Geschichte, wie sie die Drachenschwärme immer erzählt haben ... aber es ist nicht die ganze Geschichte. Denn während die Drachenkönigin und ihre Schwärme sich daran machten, Azeroth neu zu gestalten, sahen nicht alle Drachen die Ordnungsmagie als Geschenk. Eine Schar rebellischer Urdrachen, die die Einmischung der Titanen ablehnte, wurde von den elementaren Kräften des Planeten durchdrungen und als die Inkarnationen wiedergeboren. Angeführt von Iridikron, sind diese Abtrünnigen der Ansicht, die Drachen sollten niemandem untertan sein. Und so schüren sie eine Rebellion gegen die Aspekte und alles, wofür sie stehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 613

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



AUSSERDEM VON PANINI ERHÄLTLICH

WORLD OF WARCRAFT: Aufstieg der Schatten

Madeleine Roux, ISBN 978-3-8332-3954-0

WORLD OF WARCRAFT: Illidan

William King, ISBN 978-3-8332-3265-7

WORLD OF WARCRAFT: Vor dem Sturm

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3537-5

WORLD OF WARCRAFT: Sylvanas

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-4189-5

WORLD OF WARCRAFT: Krieg der Ahnen I – Die Quelle der Ewigkeit

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3534-4

WORLD OF WARCRAFT: Krieg der Ahnen II – Die Dämonenseele

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3535-1

WORLD OF WARCRAFT: Krieg der Ahnen III – Das Erwachen

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3536-8

WORLD OF WARCRAFT: Der Tag des Drachen

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4188-8

WORLD OF WARCRAFT: Die Nacht des Drachen

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-3953-3

WORLD OF WARCRAFT: Der Lord der Clans

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3444-6

WORLD OF WARCRAFT: Der letzte Wächter

Jeff Grubb, ISBN 978-3-8332-3445-3

WORLD OF WARCRAFT: Der Aufstieg der Horde

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-3446-0

WORLD OF WARCRAFT: Kriegsverbrechen

Christie Golden, ISBN 978-3-8332-4023-2

WORLD OF WARCRAFT: Vol’jin – Schatten der Horde

Michael Stackpole, ISBN 978-3-8332-4088-1

Weitere Titel und Infos unter www.paninibooks.de

KRIEG DER SCHUPPENGEBORENEN

ROMAN von COURTNEY ALAMEDA

Ins Deutsche übertragen

von Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Englische Originalausgabe: »World of Warcraft: Dragonflight – War of the Scaleborn« by Courteny Alamede published in the US by Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York, 2023.

Copyright © 2024 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Lektorat: Tom Grimm

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Book design by Anne Metsch

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDWCTP024E

ISBN 978-3-7569-9975-0

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4342-4

1. Auflage, Dezember 2023

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Für Bo, der mich nach Azeroth gebracht hat, und für die Champions von gestern, heute und morgen. Wir haben einander noch so viele Geschichten zu erzählen.

1. TEIL

DIE GEBURT EINES KÖNIGREICHS

1. KAPITEL

Was hast du getan, Alexstrasza?, fragte sich Vyranoth, während sie über den hoch emporragenden Türmen von Valdrakken dahinglitt. Was ist dies für ein Ort?

In ihrem ganzen langen Leben hatte sie noch nie erlebt, dass Drachen einen so kuriosen Nistplatz errichtet hatten. Alexstrasza – Vyranoths älteste Freundin und die neugekrönte Drachenkönigin – hatte Valdrakken als Stadt bezeichnet. Vyranoth sprach das Wort probeweise aus; soweit es sie betraf, klang das nach Titanenmagie. Stadt. Ein seltsames Wort, passend für einen seltsamen Ort.

Nichts von dem, was Vyranoth sah, ergab Sinn: Von Hand erschaffene Felstürme ragten über den Bergen von Thaldraszus auf. Flüsse schlängelten sich durch den Himmel, getragen von goldenen Säulen. Schwebende Inseln schmiegten sich an die Wolken, und Wasserfälle stürzten in leere Luft hinab. Junge Drachen jagten einander verspielt nach und schnappten lachend nach den Schwänzen der anderen, während Erwachsene auf großen Plattformen nisteten, sich unterhielten und den schönen Tag genossen.

Valdrakken. Eine Stadt. Ein Ort, der so friedlich wirkte … und Vyranoths Herz doch mit dunklen Zweifeln erfüllte. Jeder Drache weit und breit war von der Ordnungsmagie der Hüter gezeichnet. Die Magie hatte sie völlig verändert, in Geist, Körper und Seele. Vyranoth erkannte die Geordneten nicht länger als Drachen wieder, auch wenn sie zweifellos drachenähnlich waren.

Am Boden legten die Geordneten ihre Flügel wie Vögel eng an ihren Rücken an, wohingegen urtümliche Drachen wie Vyranoth ihre Schwingen sowohl am Boden als auch in der Luft nutzten. Auch sonst sahen die Geordneten nicht aus wie richtige Drachen − nicht mehr. Als sie sich dieser seltsamen Macht öffneten, hatten Alexstrasza und ihr Gefolge sich von der Welt abgewandt, die ihnen das Leben geschenkt hatte.

Als wahrer Drache in Valdrakken war Vyranoth eine Außenseiterin unter ihresgleichen.

So viele von euch haben sich gegen ihre eigene Art und für die Hüter entschieden, dachte sie. Mit einem mächtigen Schlag ihrer Schwingen glitt sie über eine der Turmspitzen hinweg. Während sie am Stadtrand entlangflog, zählte sie Hunderte von geordneten Drachen, deren Haut wie Juwelen schimmerte, manche blau, schwarz oder bronzefarbenen, andere grün oder rot. Jede Farbe repräsentierte einen der fünf Drachenschwärme, welche von den einzelnen Drachenaspekten angeführt wurden.

Diese fünf Aspekte waren als Erste von der Ordnungsmagie der Hüter erfüllt worden. Indem sie der natürlichen Ordnung der Dinge den Rücken kehrten, hatten sie einen gefährlichen Pfad beschritten, und nun hatten sie zahllose andere überzeugt, ihnen auf diesem törichten Weg zu folgen.

Vyranoth wurde langsamer, dann tauchte sie nach unten und flog unter einem Bogen aus verziertem Stein hinweg. Der Schatten ihrer Schwingen huschte über die gezackten Winkel und harten, goldenen Kanten der Stadt hinweg. In der Tiefe schwärmten die Titanengeschmiedeten über die Berge wie Fliegen auf einem Kadaver, während sie Gesteinsbrocken aus den Felshängen schlugen, um ihre Türme und Bögen zu errichten.

Valdrakken mochte den Träumen der Aspekte entsprungen sein, dennoch war die Stadt von der Macht ihrer Meister erfüllt. Wohin man auch blickte, der Einfluss der Hüter war allgegenwärtig, unübersehbar. Die Ordnungsmagie schwängerte sogar den Wind, der Vyranoths Schwingen trug und ihre Nase und Lungen füllte. Ein Schauder rann über ihre Schuppen. Hätte sie Alexstrasza nicht ihr Wort gegeben, hätte sie kehrtgemacht und wäre nie wieder hierher zurückgekehrt. Aber Vyranoth war niemand, der leere Versprechungen machte.

Heute wollten die Drachenkönigin und der rote Drachenschwarm sich durch einen Eid zum Schutz ihrer Welt verpflichten – Azeroth, so nannte Alexstrasza sie, doch selbst das klang nur nach einem weiteren Titanenwort. Und sie hatte Vyranoth persönlich eingeladen, um an der Zeremonie teilzunehmen. Vielleicht hoffte sie ja, ihre alte Freundin könnte sich von der Rechtschaffenheit der Aspekte und ihrer Sache überzeugen lassen. Und ja, Vyranoth wusste, dass Alexstrasza ehrenhaft und aufrichtig war; sie hätte diesen Pfad nicht ohne triftigen Grund beschritten. Doch das änderte nichts an Vyranoths Zweifeln. Warum sollten die Drachen sich verändern, um die Wünsche der Titanen zu erfüllen? In ihren Augen ergab das keinen Sinn.

Ein lautes, dröhnendes Echo hallte von den Türmen der Stadt wider. Instinktiv neigte Vyranoth sich in Richtung des Geräusches, vorbei an den hohlen Knochen eines halb fertiggestellten Turms. Schuppen blitzten in der Sonne, als zahlreiche weitere Drachen in die Luft emporstiegen, und der Wind, der von ihren Schwingen aufgepeitscht wurde, verwirbelte die Wolken. Wäre der Anblick Vyranoth nicht so befremdlich erschienen, hätte sie die Szene vermutlich aufregend gefunden. Mühelos stieg sie höher, emporgetragen von den Luftströmungen Tausender schlagender Schwingen.

»Vyranoth, meine Freundin!« Ein roter Drache glitt in ihren Fahrtwind. Wie alle Geordneten hatte er einen schlanken, langen Hals und längere Vorderbeine, sodass er am Boden auf vier Beinen stand und nicht nur auf zweien. Zudem besaßen Geordnete einen schmalen Kopf, ohne die dicke, undurchdringliche Panzerung, die Schädel und Nacken eines Urdrachen schützten. Dafür hatte dieser Rote zwei schwere, gekrümmte Hörner an der Oberseite seines Kopfes und einen Kamm über den Augen.

Begleitet wurde er von einem kleinen Kontingent weiterer Roter – vier, um genau zu sein. In der Drachenwildnis hätte niemand es gewagt, sich Vyranoth einfach so zu nähern, vor allem nicht in einer Gruppe. Hatte die Magie der Hüter ihnen etwa auch die Sitten ihres Volkes ausgetrieben?

»Ich bin Saristrasz«, sagte der erste Rote, wobei er wie zur Begrüßung eine elegante Rolle in der Luft vollführte. »Majordomus der Drachenkönigin. Alexstrasza hat mich gebeten, Euch während Eures Aufenthalts in Thaldraszus zu begleiten.«

»Danke, aber das wird nicht nötig sein«, erwiderte Vyranoth, um nicht unhöflich zu sein. »Ich habe nicht vor, lange in Valdrakken zu bleiben.«

»Alexstrasza dachte sich bereits, dass Ihr das sagen würdet«, erklärte Saristrasz mit einem Lachen. »Und sie hatte recht! Für eine Eurer Art könnt Ihr sehr gut sprechen.«

Eine Eurer Art? Vyranoths Augen wurden schmal, aber sie blieb stumm.

»Lasst mich Euch zumindest zeigen, wo die heutige Zeremonie stattfindet«, schlug Saristrasz vor. »Ihr seid schließlich unser Ehrengast.«

»Nun gut«, sagte Vyranoth, und sie folgte dem Majordomus, als er nach rechts abdrehte. Die anderen Roten flogen dicht hinter ihnen her.

Als sie die nächste Ecke umrundeten, breitete sich vor ihnen ganz Valdrakken aus. In der Ferne erhob sich ein weißer Turm, der an den Wolken hoch über ihnen kratzte. Um seine Basis strömten Flüsse herum, ihre Ufer gesäumt von üppigen Bäumen mit violetten Blättern, und an seiner Spitze befand sich etwas, das wie eine Landeplattform aussah.

»Das ist der Sitz der Aspekte«, verkündete Saristrasz, seine Stimme beschwingt vor Stolz. »Der Turm ist die Seele von Valdrakken, wo unsere verehrten Aspekte im Namen der fünf Schwärme ihren Geschäften nachgehen. Aber heute liegt unser Ziel anderswo. Kommt, Vyranoth. Lasst mich Euch Tyrhold zeigen!«

»Tyrhold?«, fragte Vyranoth, wobei sie einen scharfen Unterton aus ihrer Stimme verbannen musste. Sie kannte diesen Namen – Alexstrasza hatte ihr oft von Hüter Tyr und seiner Einmischung in die Angelegenheiten der Drachenheit erzählt. Falls sie sich recht erinnerte, war Tyr derjenige gewesen, der vorgeschlagen hatte, dass sich die Aspekte einer Ordnung unterziehen sollten.

»Ja, ein großes Bauwerk im Osten«, antwortete Saristrasz mit einem Nicken in Richtung des steinernen Flusses. »Von dort stammt das lebensspendende Wasser, das durch die Aquädukte in die Stadt geleitet wird.«

»Aquädukte …« Vyranoth testete das Wort vorsichtig, während sie auf das schimmernde Wasser unter ihr hinabblickte. »Sagt, warum ist es wichtig, das Wasser von einem Ort zum anderen zu leiten? Warum muss man es von seinem Ursprung umlenken, vor allem, wo doch so viel Wasser durch die Brustlande strömt?«

»Das Wasser erfüllt in Valdrakken viele Aufgaben«, ließ der Majordomus sie wissen, als sie einen weiteren Hügel überflogen. »Und es durch Aquädukte zu leiten, ist immer noch die einfachste Methode.«

Vyranoth musterte Saristrasz aus dem Augenwinkel und zog die Braue hoch.

Er lachte. »Ich gebe zu, Valdrakken war anfangs auch für mich verwirrend; die Gebäude, die Aquädukte, die Tempel, die Gärten. Aber ich versichere Euch, schon bald wird alles Sinn ergeben.«

Gebäude?, dachte Vyranoth. Tempel? Was für eine Verwendung haben Drachen für solche Dinge?

»Vielleicht«, sagte sie voller Unbehagen. Alles an Valdrakken wirkte auf Vyranoth bizarr, und sie war nicht sicher, ob sie wollte, dass sich daran etwas änderte.

Ihre Eskorte führte sie an einem Wasserfall vorbei, der an der Seite eines Berges entlang in die Tiefe stürzte, und kühler Dampf benetzte ihre Schwingen. Weiter flogen sie, erst über sorgsam gepflegte smaragdgrüne Gärten hinweg, die die Luft mit dem Geruch süßen Honigs erfüllten, dann an den Schmieden des schwarzen Drachenschwarms und ihrer kochenden Hitze vorbei.

Eigentlich hätte es ihr ein gewisses Vergnügen bereiten sollen, hinter Saristrasz her durch die Stadt zu sausen, unter Bögen hinwegzutauchen und über den Wolken dahinzujagen, in ihren Ohren die freudigen Rufe der Drachen, während sie der Zeremonie entgegenflogen. Doch wohin Vyranoth auch blickte, sah sie nur, was Valdrakken ohne den Einfluss der Titanen hätte sein können. Wie hoch hatten diese Berge emporgeragt, bevor die Titanengeschmiedeten »Gebäude« aus ihnen herausgehauen hatten? Warum waren die Gärten zu so ordentlicher Perfektion gestutzt worden, anstatt nach ihrem eigenen, wilden Willen zu wachsen und zu wuchern? Und was war mit den noblen, urtümlichen Silhouetten geschehen, die ihre Brüder und Schwestern einst ausgezeichnet hatten – diese kräftigen Leiber und majestätischen Schwingen? Warum waren auch die um der Ordnung willen zurechtgestutzt worden?

Was die Titanen als Makel erachtet hatten, war für Vyranoth ungebrochene Schönheit. Die Welt musste nicht verbessert werden, weder durch Titanen noch durch Ordnungsmagie. Und vielleicht brauchte sie auch gar keine Städte oder Gebäude oder Aspekte.

Saristrasz und Vyranoth flogen dicht am Rand einer steilen Klippe vorbei. In der Ferne erhob sich eine mächtige Felsnadel – nein, Saristrasz hatte es einen Turm genannt –, deren weiße Marmormauern im Sonnenschein schimmerten. Dieser Turm zeigte zu den Wolken hoch und sandte einen hellen Strahl aus Licht himmelwärts. Die hohen, weißen Steine, die seine Basis umringten, erinnerten Vyranoth an ausgebreitete Flügel. Sämtliche Flüsse in Valdrakken schienen dort zu entspringen.

Tyrhold, dachte sie, ihre Lippen vor Missfallen zurückgezogen.

Hunderte und Aberhunderte Drachen schwebten um den Turm herum und verdunkelten den Tag mit ihren Schwingen. So viele von euch, fuhr es Vyranoth durch den Kopf, während sie den Blick über die Versammlung schweifen ließ. Wie konnten so viele von euch nur diesen Pfad wählen? Wie konntet ihr euch selbst und allem, was ihr wart, nur so leicht abschwören?

»Willkommen in Tyrhold«, sagte Saristrasz. »Kommt! Die Drachenkönigin möchte, dass Ihr Euren Platz auf der Hauptplattform einnehmt. Dort werdet Ihr in Gesellschaft der Aspekte höchstselbst sein.«

»Welche Ehre«, erwiderte Vyranoth tonlos. Falls ihr Missbehagen Saristrasz auffiel, sagte er nichts dazu.

Sie landeten auf der Hauptplattform, wo gewaltige Steinrippen weit über ihre Köpfe aufragten. Vyranoth blickte zu ihnen hoch, und als Saristrasz ihren Blick bemerkte, klärte er sie auf: »Das sind Säulen.« Zu beiden Seiten erstreckten sich die Gipfel von Thaldraszus. Die Präsenz der Hüter war hier am deutlichsten, was Vyranoths Schädel mit einem dumpfen Schmerz erfüllte. Sie summte in ihren Ohren wie die Stille nach einem Donnerschlag, kroch unter ihre Schuppen wie Milben. Vielleicht machte es die Ordnungsmagie leichter, diesen Einfluss zu akzeptieren, aber Vyranoth fand ihn trotzdem vom ersten Moment an unerträglich.

Eine Menge war auf der Plattform versammelt, und einige der Anwesenden glaubte sie zu erkennen: Dieser große alte Rote musste Tyrannistrasz sein, Alexstraszas Gefährte und Vertrauter. Seine braunen Schuppen hatten nun die warme, schillernde Farbe von Herzblut angenommen. Er drehte den Kopf, als er Vyranoths Blick auf sich spürte, dann nickte er ihr zum Gruß zu.

Sie erwiderte die Geste, sorgsam darauf bedacht, eine ruhige Miene zu wahren. Doch innerlich glich ihr Herz einem Mahlstrom. Allein die Vorstellung, dass ein Drache von seinem Rang und Namen das Joch der Hüter angenommen hatte! Vielleicht hatte er aus Liebe zu seiner Gefährtin gehandelt. Oder vielleicht konnte Tyrannistrasz mit all seiner Weisheit etwas in der Ordnungsmagie sehen, was Vyranoth verborgen blieb.

Ein fremder Schatten legte sich über ihr Herz. Wie konnte es weise sein, eine Macht anzunehmen, die die eigene Natur grundsätzlich veränderte? Waren die Drachen ohne die Magie der Hüter nicht nobel genug, nicht tapfer genug, nicht stark genug?

Und Tyrannistrasz war nicht der Einzige. Während Vyranoths Blick über die Versammelten schweifte, sah sie nicht einen einzigen natürlichen Drachen. Malygos – nunmehr der blaue Aspekt – war mit seinen vor arkanem Feuer brennenden Augen und den schimmernden Runen auf seinen Schwingen kaum noch zu erkennen. Seine Gefährtin Sindragosa stand an seiner Seite und unterhielt sich mit einem weiteren Blauen. Dieser Blaue sagte gerade etwas, und Sindragosa warf den Kopf nach hinten und lachte.

Alexstraszas Schwester Ysera war zum grünen Aspekt geworden. Ihre Schuppen hatten sich zur Farbe von Frühlingsblättern verdunkelt, und vier mächtige goldene Hörner zierten ihren Kopf, außerdem sprossen unter ihren Klauen Blumen hervor. Sie stand eingerahmt von ihrem Schwarm, allesamt Drachen, die Vyranoth nicht beim Namen kannte. Im Schatten ihrer Schwingen huschten kleinere Kreaturen umher, und Schmetterlinge tanzten um sie herum in der Luft. Selbst aus der Entfernung konnte Vyranoth das blühende Leben riechen, das vom grünen Drachenschwarm ausstrahlte – frisches Gras und feuchte Erde.

Auf der anderen Seite der Plattform stob eine Wolke aus bronzefarben schimmerndem Sand auf, als Nozdormu seine Schwingen bewegte. Alexstrasza behauptete, er könnte den Lauf der Zeit beeinflussen. Natürlich war Nozdormu schon mächtig gewesen, bevor er die Magie der Hüter akzeptiert hatte … aber die Zeit selbst zu manipulieren? Eine derartige Fähigkeit konnte Vyranoth sich nicht einmal ausmalen.

Schließlich richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Neltharion, den schwarzen Aspekt. Sie kannte ihn von Alexstraszas Geschichten, war ihm aber noch nie persönlich begegnet. Er war größer und breitschultriger als die drei anderen Aspekte; seine Schuppen waren schwarz wie Kohle und glänzten wie Obsidian. Alexstrasza zufolge hatten die Hüter Neltharion die Kontrolle über die Erde und die unterirdischen Tiefen übertragen.

Von Alexstrasza selbst fehlte indes jede Spur.

Alle Aspekte wurden von Mitgliedern ihres Schwarms umgeben – außerdem waren da noch mehrere rote Drachen, die am Himmel über ihnen dahinglitten. Die Versammelten standen um einen weißen Stein herum, aus dem man die Gestalt eines Drachen herausgemeißelt hatte, seine Flügel schützend um einen Edelstein erhoben. Am Fuß des Steins prangte ein großer blutroter Rubin, und selbst von ihrer Position aus konnte Vyranoth die Magie spüren, die ihm innewohnte.

»Was ist das für ein Objekt?«, fragte sie mit einem Nicken in Richtung der Figur.

»Es ist der Schwurstein des roten Drachenschwarms«, antwortete Saristrasz. »Wunderschön, nicht wahr? Wenn er erst mit Macht erfüllt ist, wird er als Symbol unseres Versprechens dienen, Azeroth und all seine Bewohner zu verteidigen. Der rote Drachenschwarm hat vor, ihn bei den Rubinlebensbecken zu platzieren – sobald sie fertiggestellt sind, versteht sich.«

Schwurstein? Rubinlebensbecken? Vyranoth konnte sich nur wundern, während sie den roten Drachen mit schräg gelegtem Kopf anblickte. Das war alles so seltsam. Je länger sie in Valdrakken war, desto unbehaglicher wurde ihr. Nichts hier wirkte natürlich; wie konnte Saristrasz den Aspekten nur so blind und beflissen folgen?

»Verratet mir eins, Saristrasz«, sagte Vyranoth mit trockener Kehle. »Warum habt Ihr Euch dafür entschieden, die Ordnungsmagie anzunehmen?«

Saristrasz schwieg einen Moment, um über ihre Frage nachzudenken. Mit einem brummenden Geräusch tief aus seiner Kehle erklärte er: »Galakrond hat vieles für unser Volk verändert. Er … nein, die Aspekte haben uns gezeigt, dass Drachen stärker sind, wenn sie zusammenarbeiten.«

»Hättet Ihr Alexstrasza nicht in Eurer alten Form unterstützen können?«, hakte sie nach. »In Eurer wahren Form?«

»Vermutlich.« Er lächelte und breitete die Schwingen aus, dann deutete er auf die Drachen, die um sie herumstanden. »Aber ich wollte ein Teil des roten Drachenschwarms sein. Ich wollte mehr sein als nur ich selbst – ich wollte am eigenen Leib erfahren, zu welchen Höhen die Aspekte uns führen können. Es gibt keine größere Berufung auf dieser Welt.«

Vyranoths Magen zog sich zusammen, aber sie entgegnete nichts. Und bevor sie weitere Fragen stellen konnte, ging ein Brüllen durch die Menge. Eine Bewegung lenkte ihren Blick zur Mitte der Plattform.

Das Tor von Tyrhold war aufgestoßen worden, und Alexstrasza trat mit hoch erhobenem Haupt ins Freie. Wie die anderen Aspekte war auch sie vollkommen verwandelt: Das Sonnenlicht schillerte auf den goldenen Spitzen ihrer Hörner, ihre Schuppen glänzten zinnoberrot, und sie schritt auf vier Beinen dahin, während sie ihre Schwingen auf dem Rücken zusammengefaltet hatte. Ihre Bewegungen waren schnell und sicher.

Unter dem geordneten Äußeren konnte Vyranoth noch immer Spuren ihrer alten Freundin erkennen: Alexstrasza hatte seit jeher Sanftheit und Güte ausgestrahlt. Die meisten Drachen hätten Mühe gehabt, an ihre Anmut und ihr Charisma heranzureichen. Und ihre Augen leuchteten vor entschlossener, unnachgiebiger Intelligenz.

Ja, sie war Alexstrasza … aber nicht Vyranoths Alexstrasza. Sie war die Lebensbinderin. Die Drachenkönigin. Der rote Aspekt, Anführerin des roten Drachenschwarms.

Der Gedanke war wie ein Stich in Vyranoths Herz.

Eine zweibeinige Gestalt schritt neben Alexstrasza ins Freie. Sie hatte Ähnlichkeit mit den titanengeschmiedeten Kreaturen, die überall in der Stadt umhereilten, doch diese hier war größer als die anderen und trug karmesinrote und goldene Kleidung. Eine ihrer Gliedmaßen schillerte silbern im Licht.

Ah, dachte Vyranoth, als ihr eine der Geschichten einfiel, die Alexstrasza über Galakrond erzählt hatte. DasistHüterTyr. Sie unterdrückte ein Knurren. Tyr hatte die Aspekte geordnet und sie mit der Erschaffung der Schwärme betraut; er war auch derjenige gewesen, der die Drachen gelehrt hatte, Städte und Gebäude zu errichten. Zweifelsohne hatte Tyr Alexstrasza zu dieser Zeremonie gedrängt – warum sollte sie es sonst für nötig halten, einen öffentlichen Eid zum Schutz ihrer Welt abzulegen? Waren ihre Absichten nicht genug? Sprachen ihre Opfer nicht für sich selbst?

Alexstrasza hielt vor dem Schwurstein inne und breitete in einer Willkommensgeste die Schwingen aus. »Seid gegrüßt, meine Freunde! Ich freue mich, Euch bei diesem monumentalen Anlass alle hier versammelt zu sehen!«

Lauter Jubel hallte durch den Himmel und ließ den Stein unter Vyranoths Füßen erbeben. Das Echo wurde als anschwellender Chor von den Türmen Valdrakkens zurückgeworfen.

»Mit großer Freude heiße ich an diesem Tag die anderen Aspekte und ihre Schwärme willkommen«, fuhr Alexstrasza fort. »Und ich bin dankbar, dass auch unser Wohltäter Tyr diesem Ereignis beiwohnt.«

Mehr Jubel. Diesmal hob Saristrasz den Kopf und fügte dem Stimmengedröhn sein eigenes, volltönendes Johlen hinzu.

»Der rote Drachenschwarm wird heute als erster einen heiligen Eid ablegen«, verkündete Alexstrasza. »Indem wir den Schwurstein unseres Schwarms ermächtigen, geloben wir, diese Welt vor allen Gefahren zu verteidigen. Nicht nur Gefahren, die Azeroth bedrohen, sondern auch die Hüter« – sie nickte Tyr zu – »und uns selbst. In den kommenden Tagen werden die Drachen der grünen, schwarzen, blauen und bronzenen Schwärme ähnliche Zeremonien abhalten und die Schwursteine, die sie selbst erschaffen haben, mit Macht erfüllen.«

»Das ist Wahnsinn«, murmelte Vyranoth, übertönt von den freudigen Rufen der anderen Drachen. Tief in ihrem Herzen verspürte sie den Wunsch, zu Alexstrasza zu eilen und sie zu beschwören, ihre Taten noch einmal zu überdenken. Den Wunsch, sich zu ihrer vollen Größe aufzurichten und Hüter Tyr aus den Brutlanden zu jagen. Den Wunsch, ihre Stimme zu erheben und die versammelten Drachen aufzufordern, Tyrhold aus der Flanke des Berges zu reißen.

Doch Vyranoth tat nichts von alldem. Alexstrasza hatte ihre Entscheidung getroffen.

Die Drachenkönigin trat gemeinsam mit dem Hüter vor den Schwurstein des roten Drachenschwarms. »Nun lasst uns beginnen«, sagte sie und breitete ihre Schwingen weit aus. Die Drachen verstummten.

»Ich, Alexstrasza, die Lebensbinderin«, begann sie in feierlichem Ton, »Aspekt des roten Drachenschwarms und Königin der fünf Schwärme, lege an diesem Tag einen Eid ab, Azeroth zu verteidigen.«

Ein Strahl rubinroten Lichts schoss aus dem Schwurstein in die Luft hoch. Es färbte den Himmel wie ein Sonnenuntergang, und die Drachen sogen bewundernd den Atem ein, während sich rosarote und orangefarbene Töne über die Wolken ausbreiteten.

»Ich erlege dem roten Drachenschwarm die Aufgabe auf, alles Leben zu beschützen«, verkündete Alexstrasza, deren Schuppen das rubinrote Glühen des Schwursteins reflektierten. »Egal ob nun auf den Smaragdebenen der Brutlande oder hoch auf den Berggipfeln von Kalimdor, ob nun tief in den Ozeanen oder im Wüstenklima – wir geloben, Harmonie und Frieden in dieser Welt zu gewähren.«

Das Rubinlicht, das aus dem Schwurstein hervorstrahlte, breitete sich unter den Versammelten aus. Wo seine Magie die roten Drachen berührte, entflohen den Anwesenden aufgeregte, freudige Rufe. Als sie sich Vyranoth näherte, wich diese jedoch furchtsam zurück. Saristrasz neben ihr sog den Atem ein. Licht tanzte bereits über seine Schuppen und ließ sie so rot lodern wie einen sonnengeküssten Horizont.

»Diese Magie«, hauchte Saristrasz, seine Augen fasziniert aufgerissen. »Sie ist so … so warm. Ich habe noch nie etwas Derartiges gespürt.«

Vyranoth knurrte nur und zog den Kopf ein. Die Magie des Schwursteins brannte in ihrem Herzen und rief ihr zu, aber sie verscheuchte die Verlockung mit gebleckten Zähnen.

»An diesem Tag«, fuhr Alexstrasza fort, »erhält jeder rote Drache mehr Mut, mehr Mitgefühl und mehr Widerstandskraft. Auf dass ihr im Angesicht der Gefahr tapfer sein, nach Versöhnung mit euren Feinden streben und immer die Kraft haben mögt, zum Schutze unserer geliebten Heimat in den Himmel emporzusteigen. Solange wir atmen, wird Azeroth nicht fallen. Dafür werden wir sorgen, mit Schwinge und Klaue.

Dies schwöre ich im Namen des roten Drachenschwarms auf unseren Schwurstein«, schloss Alexstrasza.

Als Nächstes trat Hüter Tyr vor. »Als Abgesandter der Titanen akzeptiere ich an diesem Tag Eure Eide …« Er streckte seine silberne Hand in Richtung des Schwursteins aus. »… und versiegle sie hier in Stein. Möge dieser Schwurstein als Symbol für die Aufgabe dienen, der sich der rote Drachenschwarm verpflichtet hat – und möge er nicht nur mich daran erinnern, sondern die ganze Welt. Fliegt mit Güte und Weisheit und erfüllt Euren Part in dieser Ordnung.«

Eine letzte, schillernde Explosion roten Lichts barst aus dem Schwurstein hervor, so mächtig, dass sie Vyranoths Zähne klacken ließ.

Einmal mehr wurde Jubel laut, ein Chor aus Stimmen, der vom Wind emporgetragen wurde. Als die anderen Aspekte vortraten, um Alexstrasza zu beglückwünschen, wandte sich Vyranoth mit verknotetem Magen zu Saristrasz herum.

»Bevor ich in die Wildnis zurückkehre«, sagte sie, »würde ich gerne unter vier Augen mit Alexstrasza reden, falls das möglich ist.«

»Aber gewiss doch«, erwiderte Saristrasz. Seine Schuppen glühten noch immer von der Magie des Schwursteins. »Wartet hier. Ich werde mit der Drachenkönigin alles arrangieren.«

Wenig später führte Saristrasz Vyranoth zu einer hell erleuchteten Höhle im Sitz der Aspekte – obwohl Höhle vermutlich nicht das richtige Wort für diesen Ort war. Vyranoth verharrte auf der Schwelle, und als sie den Kopf hob, sog sie verblüfft den Atem ein. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie solche Pracht gesehen: Der Raum wurde von einem weichen aquamarinfarbenen Licht erfüllt, das geradewegs von dem warmen Südmeer hereinzustrahlen schien. Zwei steinerne Drachenfiguren erhoben sich vor einem atemberaubenden »Wandbild aus Buntglas« – oder zumindest nannte Saristrasz es so –, welches einen fliegenden Drachen zeigte. Das Glas schimmerte rot und grün und blau und bronzefarben und schwarz; jede Farbe stand für einen der fünf Drachenschwärme.

»Ich muss mich jetzt wieder meinen Pflichten widmen, aber Königin Alexstrasza wird hier im Vorzimmer zu Euch stoßen.« Saristrasz Worte klangen wie eine Entschuldigung. »Hüter Tyr hat nach der Zeremonie überraschend eine Besprechung mit den Aspekten erbeten. Aber ich bin sicher, es wird nicht lange dauern.«

»Na schön«, erwiderte Vyranoth, obwohl sie die Stadt schnellstmöglich wieder verlassen wollte.

Saristrasz senkte den Kopf. »Falls Ihr irgendetwas braucht, werden die Drakoniden Euch gerne behilflich sein.« Mit einer weiteren Verbeugung wandte sich der Majordomus um, dann verließ er den Raum und ließ sie allein zurück.

Die beiden roten Drakoniden, die Wache hielten, blieben vor der Tür, um Vyranoth nicht zu stören. Dass diese Tür der einzige Ausgang des Vorzimmers zu sein schien, erfüllte sie mit Anspannung. Die Drakoniden waren Tarasek, verfremdet durch die Ordnungsmagie – weitere Manifestationen des Titaneneinflusses. Genügten den Hütern normale Tarasek etwa nicht? War es nötig gewesen, auch sie durch Magie zu verderben?

Vyranoth wusste, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Alexstraszas Herz war noch immer edel und rein; die Drachenkönigin würde niemandem die Ordnungsmagie gegen seinen Willen aufzwingen. Aber sie konnte die Zweifel nicht ignorieren, die in ihren Geist krochen. Sie vermischten sich mit einem verzweifelten Wunsch, und Vyranoth fühlte sich so hilflos, als würde sie auf unsicheren Winden dahintreiben. Einerseits lehnte sie den Gedanken ab, sich der Ordnungsmagie der Hüter zu unterwerfen, andererseits gefiel ihr die Vorstellung, dass alle Drachen in Harmonie zusammenleben könnten. Wie Alexstrasza glaubte nämlich auch Vyranoth, dass die Drachenheit mehr erreichen könnte, wenn sie zusammenarbeitete. Dass sie einander womöglich sogar brauchten.

Die Brutlande waren die Heimat vieler Drachen, sowohl geordnet als auch urtümlich, aber die Aspekte hatten klare Territorien geschaffen, in denen ihr Wort Gesetz war: die Küste des Erwachens, die Smaragdebenen, das Azurblaue Gebirge und Thaldraszus. Umgeben wurden die Brutlande von der weiten Drachenwildnis, und dorthin hatten sich die meisten der urtümlichen Drachen zurückgezogen, nachdem die Aspekte begonnen hatten, neue Drachen der Ordnung zu unterziehen.

In der Theorie hatte Vyranoth nichts an diesem Arrangement auszusetzen, aber den Hütern zu vertrauen war in ihren Augen eine Torheit. Tyr mochte den Aspekten bei der Vernichtung Galakronds geholfen haben, darüber hinaus gab es jedoch keinen Grund, seinen Motiven zu vertrauen.

Minuten vergingen, und die Zeit zog sich in die Länge, während die Sonne ihre Position am Himmel verlagerte. Gerade als Vyranoth im Begriff war zu gehen, glühte über der Treppe in der Mitte des Raumes eine längliche Säule aus Licht auf. Vyranoth hatte schon gesehen, wie der blaue Drachenschwarm derartige magische Durchgänge erschuf – falls sie sich nicht irrte, wurden sie Portale genannt. Aus diesem hier tauchte nun Tyr auf, dicht gefolgt von Alexstrasza.

Tyr schenkte Vyranoth keinerlei Beachtung, als er sagte: »Denkt gründlich über meine Worte nach, Alexstrasza. Es geht mir allein um das Wohl Eurer Drachenschwärme.«

Die Drachenkönigin reckte das Kinn hoch, und ihre Augen wurden schmal – eine unbewusste Reaktion, die schon immer ihre höfliche Unzufriedenheit ausgedrückt hatte. Doch diese Geste jetzt zu sehen, in ihrer geordneten Form, war irgendwie … verstörend.

»Ich werde über Euren Ratschlag nachdenken«, sagte Alexstrasza.

Der Hüter nickte. »Darum möchte ich auch bitten.«

Die Augen des roten Aspekts wurden noch schmaler, nachdem sich der Hüter abgewandt hatte.

Vyranoth legte den Kopf schräg. Die Drachenkönigin scheint also noch ihren freien Willen zu haben, dachte sie. Aber der Hüter versucht, sie zu kontrollieren. Was genau will Tyr wohl von Alexstrasza?

»Fürs Erste werde ich Valdrakken verlassen«, verkündete Tyr, während er die Stufen hinabzusteigen begann. »Ich werde zurückkehren, sobald Neltharion und der schwarze Drachenschwarm bereit sind, ihren Schwurstein zu ermächtigen.«

»Gut«, sagte Alexstrasza.

Hüter Tyr schob sich an Vyranoth vorbei, ohne sie mehr als eines kurzen Blickes zu würdigen.

Kaum dass er fort war, fiel der feierliche Ernst von Alexstrasza ab. »Vyranoth!«, rief sie, dann eilte sie die Treppe herab und presste ihre Wange gegen die von Vyranoth. »Worte können nicht beschreiben, wie froh ich bin, dich zu sehen, meine Freundin. Danke, dass du gekommen bist.«

Die Freude in ihrer Stimme ließ das Eis in Vyranoths Herz schmelzen.

»Ich freue mich auch«, sagte sie. Alexstrasza roch zumindest noch wie sie selbst, auch wenn da nun ein neues, unterschwelliges Aroma war, das Vyranoth nicht recht einordnen konnte. In ihrer Nase roch es wie Rauch und Sternenstaub – wie etwas, das nicht von dieser Welt stammte.

»Sag, hattest du eine angenehme Reise?«, wollte Alexstrasza wissen. »Hast du schon gegessen?«

»Die Winde waren ruhig. Die Brutlande sind unter deiner Aufsicht erblüht.«

Alexstrasza strahlte. Ihre goldenen Augen glühten geradezu. »Ich würde dir gerne noch mehr zeigen … Wie wäre es mit den Gärten von Valdrakken? Oder vielleicht die neue Konstruktion auf Neltharions Obsidianzitadelle? Es gibt so viele Wunder hier. Gib mir nur einen Moment, um den anderen Aspekten Bescheid zu geben, dann können wir losfliegen.«

Bevor Vyranoth etwas darauf erwidern konnte, hatte Alexstrasza sich bereits wieder herumgedreht, um die Stufen zu dem Portal hochzusteigen.

»Das … wird nicht nötig sein.« Vyranoth versuchte, die Kälte aus ihrem Tonfall zu verbannen.

Alexstrasza wandte sich zu ihrer Freundin um. »Was meinst du? Ich hatte gehofft, dass wir zumindest den Nachmittag miteinander verbringen könnten.«

»Du weißt, wie viel mir unsere Freundschaft bedeutet, Alexstrasza, aber das …« Vyranoth brach mit einem Kopfschütteln ab.

»Wenn du mir etwas sagen willst, dann nur zu, fahr fort.« Alexstrasza ließ einen Hauch dieses diplomatischen, königlichen Tonfalls in ihre Stimme miteinfließen, den sie schon bei Tyr benutzt hatte. »Du warst immer meine offenste und direkteste Freundin, Vyranoth. Du weißt, dass du ehrlich mit mir sein kannst.«

Vyranoth betrachtete ihre Offenheit und Ehrlichkeit als eine ihre größten Stärken, aber bei diesem Thema fühlte sie sich ungewöhnlich nervös. Die Ordnungsmagie zu kritisieren, hieß, Alexstrasza selbst zu kritisieren. Vyranoth musste ihre nächsten Worte sorgsam abwägen, denn sie wollte ihre Freundin ebenso wenig verletzen, wie sie die Meinung des Hüters ändern wollte.

»Du lässt dich von ungewissen Winden tragen, meine Freundin, und ich sorge mich um dich«, begann Vyranoth. »Du bist die Ehrenhafteste unserer Art, Alexstrasza. Ich liebte dich, wie du warst, und es schmerzt mich, zu sehen, dass du vor einem anderen das Knie beugst und dich für ihn veränderst. Zugegeben, ich bin in alldem eine Außenstehende, aber wenn ich mir das so ansehe, fürchte ich, dass der Hüter dich und deine Schwärme kontrollieren will.«

»An meinen Zielen hat sich nichts geändert«, erklärte Alexstrasza. »Tyr bietet mir Rat an, wo er kann, aber die Entscheidungen, die ich treffe, sind meine eigenen.«

»Und falls er verlangt, dass du andere Drachen zum Beitritt zu euren Schwärmen zwingst?«, fragte Vyranoth. »Was wirst du dann tun? Würdest du die Wünsche derer ignorieren, die nicht deine Ansichten teilen?«

»Nein, niemals«, sagte Alexstrasza mit einem Kopfschütteln. »Ich habe geschworen, dass die Ordnungsmagie immer eine freiwillige Option sein wird.«

»Dann schwör es nun auch vor mir«, drängte Vyranoth. »Schwöre, dass du niemals einen Urdrachen zwingen wirst, sich dem Willen der Hüter zu beugen.«

Alexstrasza blickte ihr direkt in die Augen. »Ich schwöre es.«

Während all der Jahre ihrer Freundschaft hatte Alexstrasza Vyranoth nie angelogen. Hinterlist lag nicht in ihrer Natur. Andererseits war die Alexstrasza, die nun vor ihr stand, nicht derselbe Drache, den Vyranoth schon seit Äonen kannte. Die Magie der Hüter hatte ihre körperliche Form verzaubert – war ihre Integrität womöglich gleichsam verzerrt worden? Würde sie, ebenso wie die Hüter, alles tun, um ihre Ziele zu erreichen … selbst wenn es bedeutete, eine ihrer ältesten und engsten Freundinnen zu belügen?

Vyranoth kannte die Antwort auf diese Fragen nicht. Allein die Zeit würde sie offenbaren.

»Ich vertraue dir, Alexstrasza«, sagte sie, wobei sie sich vorbeugte und ihre Stirn gegen die ihrer Freundin legte. »Aber deinen Hütern traue ich nicht.«

2. KAPITEL

Alexstraszas Herz schien in einer Schraubzwinge zu stecken, und sie hatte Mühe, zu atmen. Als Vyranoth davonging, hätte sie ihr am liebsten nachgerufen: Könntet Ihr nicht bleiben und mir zuhören, nur einen Moment? Aber die Lebensbinderin hielt die Worte zurück. Sie würde nicht betteln, vor allem, da Vyranoth sich beharrlich weigerte, zur Vernunft zu kommen.

Von all den Drachen in Azeroth sollte Vyranoth eigentlich diejenige sein, die am besten verstand, warum die Aspekte die Ordnung ihrer urtümlichen Natur vorzogen. Sie und Alexstrasza waren im Herzen und im Geiste stets verbunden gewesen. Die Ordnungsmagie machte es leichter, unschuldige Leben zu beschützen, und war das nicht ein Ziel, das Vyranoth ebenso verfolgte wie Alexstrasza? Wie viele Drachengelege hatten sie gemeinsam vor Galakronds Hunger gerettet? Und hatte Alexstrasza nicht mit Schwinge und Klaue gekämpft, um auch Vyranoths Brut – um Vyranoth selbst – zu verteidigen?

Andererseits war Vyranoth schon immer stur gewesen; dieselbe Sturheit, die sie mit jedweder Veränderung hadern ließ, machte sie gleichzeitig zu einer scharfsichtigen Überlebenskünstlerin. Aber sie hatte nichts von der Ordnungsmagie zu befürchten. Wäre sie in Valdrakken geblieben, hätte Alexstrasza ihr die Wunder dieser transformativen Macht zeigen können – und, wie sie sich als Werkzeug einsetzen ließ, um ihre geteilten Ziele zu erreichen. Stattdessen hatte Vyranoth entschieden, sich vor Alexstrasza, den Aspekten und der Zukunft der Drachenheit zu verschließen.

Aber die Lebensbinderin kannte Vyranoth besser als jede andere. Ihr Gemüt bewegte sich träge wie ein Gletscher, aber früher oder später würde es schmelzen.

Nachdem Vyranoth gegangen war, wandte Alexstrasza sich mit einem Seufzen ihren Aufgaben zu. Sie hatte keine Zeit, sich in Selbstmitleid zu suhlen; die vier anderen Aspekte erwarteten sie hoch oben im Horst des Sitzes.

Der Sitz der Aspekte war einer von Alexstraszas Lieblingsorten in Valdrakken. Innerhalb eines Wimpernschlags teleportierte sie sich zur Spitze des Turms hoch. Da er weit über der Stadt aufragte, hatte man hier an einem klaren Tag freie Sicht auf alles, von der Küste des Erwachens mit ihren vulkanischen Felsgraten bis hin zu den wogenden Hügeln der Smaragdebenen. Wenn der Südwind blies, vermochte Alexstrasza gar die holzigen, erdigen Gerüche der uralten Rotholzbäume im Azurblauen Gebirge zu riechen. Heute war der Himmel über der Stadt voll von Drachen, die den neu ermächtigten Schwurstein des roten Schwarms feierten. Sie tauchten in die Tiefe, tanzten und wirbelten durch die Luft und genossen die Magie, die der Stein ihnen geschenkt hatte.

Alexstrasza wünschte, ihr Herz wäre auch von solchem Frieden erfüllt, aber Vyranoths Worte hatten sie erschüttert … vor allem so kurz nach Tyrs Bitte.

Die Drachenschwärme müssen schneller wachsen, Alexstrasza, hatte Tyr gesagt. Nehmt die Eier von Urdrachen aus der Wildnis und durchtränkt sie mit Ordnungsmagie. Eure Schwärme müssen bereit sein, Azeroth zu verteidigen, wenn es so weit ist.

Sie sträubte sich gegen die Idee, vor allem, da sie nicht in Form einer Bitte vorgetragen worden war.

Auf der oberen Plattform fläzte Malygos vor dem Banner seines Drachenschwarms, eingehüllt in eine Aura der Langeweile, während er mit seinen blau verfärbten Krallen auf den Boden tippte. Ysera saß zu seiner Linken, ihr smaragdgrüner Schwanz um ihre Zehen gekrümmt. Alexstraszas Schwester betrachtete sie mit Güte und vielleicht auch ein wenig Mitgefühl. Vermutlich hatten sie alle gesehen, dass Vyranoth davongeflogen war.

Neltharion stand mit undeutbarer Miene und geschlossenen Augen auf der rechten Seite. Er war in Gedanken, wie immer. Nozdormu drehte den Kopf, als Alexstrasza den Sitz betrat. Bronzenefarbener Sand tanzte in ewiger Bewegung um seine Schwingen. Hinter jedem Aspekt ragte ein Banner auf, das den jeweiligen Schwarm repräsentierte, und sie alle wurden von diversen Majordomus und Wachen flankiert.

»Also«, sagte Neltharion, als Alexstrasza ihren Platz vor dem roten Banner einnahm. »Ich nehme mal an, Vyranoth hat keinen Gefallen an der heutigen Zeremonie gefunden.«

»Nein, hat sie nicht«, erwiderte Alexstrasza. »Aber es gibt im Moment drängendere Angelegenheiten. Ich würde gern über Tyrs letzte Warnung an diesen Rat reden. Majordomus, Wachen, zieht euch zurück. Ich möchte allein mit den anderen Aspekten sprechen.«

Die Majordomus neigten die Köpfe vor der Lebensbinderin und verließen den Sitz, indem sie sich in die Lüfte emporschwangen und bis außer Hörweite vom Turm fortflogen. Die Drakoniden zogen sich derweil einer nach dem anderen ins untere Gemach zurück.

Als sie schließlich allein waren, wandte Alexstrasza sich wieder dem aktuellen Thema zu. »Tyr will, dass wir die Eier von Urdrachen aus der Wildnis nehmen und mit Ordnungsmagie durchtränken, auf dass unsere Schwärme schneller wachsen. Ich werde nicht lügen, diese Bitte …«

»Dieser Befehl, meinst du wohl«, warf Malygos ein. Der blaue Aspekt ließ eine Flamme arkanen Feuers zwischen seinen Klauen hindurchtanzen, während er die Lebensbinderin anblickte. »Es ist nicht so, als hätte er uns eine Wahl gelassen.«

»Wir haben immer eine Wahl«, entgegnete Alexstrasza. »Wir können seiner Warnung Folge leisten oder sein Missfallen in Kauf nehmen und uns weigern. Was sagt ihr?«

Neltharion legte den Kopf auf die Seite, und das Licht bewegte sich über seine ölschwarzen Schuppen. »Du hast stets betont, dass die Ordnungsmagie eine persönliche Entscheidung sein sollte, Alexstrasza. Warum sollten wir Eier ohne das Einverständnis ihrer Blutlinie – oder ihr eigenes – dieser Magie aussetzen?«

Alexstrasza spürte weder Boshaftigkeit noch Trotz in dem schwarzen Aspekt. Neltharion war stets der Erste, der Alexstrasza infrage stellte – es gefiel ihm, Diskussionen anzustoßen und Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Hin und wieder konnte er dabei recht taktlos sein, aber letztlich erzielten seine Fragen stets das gewünschte Ergebnis.

»Du hast recht, Neltharion, aber wir wissen so wenig über die Gefahren, die dieser Welt drohen … oder über die dunklen Mächte, vor denen die Titanen uns abschirmen«, erwiderte Alexstrasza. »Wir wurden damit betraut, die Drachenheit und ganz Azeroth zu beschützen. Falls wir zukünftigen Bedrohungen besser gewachsen wären, indem wir Eier mit Magie durchtränken, dann sollten wir diese Möglichkeit vielleicht in Betracht ziehen.«

»Du wirkst selbst nicht überzeugt, meine Königin.« Malygos ließ seine Klauen in der Luft kreisen, und die arkanen Flammen wirbelten um sie herum wie leuchtende Bänder. »Aber ich teile Tyrs Ansicht – falls die Drachenschwärme überleben sollen, wäre es vermutlich in unserem eigenen Interesse, sie schneller wachsen zu lassen.«

»Aber die Schwärme wachsen und gedeihen doch, oder etwa nicht?«, entgegnete Alexstrasza.

»Ja, fürs Erste.« Der blaue Aspekt hob den Kopf, und die Flammen erloschen, als er mit den Klauen schnippte. »Aber Widerstand erhebt sich auf schnellen Schwingen. Dein eigener Cousin spricht sich gegen dich aus.«

»Fyrakk?« Alexstrasza schnaubte. »Fyrakk mag ein Hitzkopf sein, aber er ist kein Anführer. Sollte er eine Rebellion gegen uns entfachen, würde er vermutlich mehr Zeit damit verbringen, gegen seine eigenen Verbündeten zu kämpfen, als unsere Schwärme anzugreifen.«

»Fyrakk ist ein Kriegstreiber und ein Fanatiker, und ich finde, dass wir ihn besser nicht unterschätzen sollten«, sagte Neltharion.

»Ihr kennt ihn nicht so gut wie ich.« Alexstrasza machte eine Pause und wog ihre nächsten Worte ab. Wenn es etwas gab, was Fyrakk liebte, dann den Kampf. Sowohl in der Luft wie am Boden war er ein meisterhafter Kämpfer, und er hatte Alexstrasza beigebracht, zu jagen und sich zu verteidigen. Während der letzten Jahrhunderte war Fyrakk dem Nervenkitzel der Jagd jedoch mehr und mehr verfallen. Zweifelsohne war das auch der Grund, warum er zur Rebellion gegen die Ordnungsmagie aufgerufen hatte.

»Aber ihr habt gute Argumente«, fuhr sie schließlich fort. »Fyrakk war wie ein Bruder für mich, aber seine Taten lassen sich nicht verleugnen. Er ist nicht länger derselbe wie früher. Er hat sich verändert.«

Malygos legte den Kopf schräg. »Und zwar auf vielerlei Weise, wie es scheint. Habt ihr die Gerüchte gehört? Es heißt, Fyrakk hat sich elementare Energien einverleibt. Niemand weiß, wie er es angestellt hat – ob sie ein Geschenk eines mächtigen Verbündeten waren oder ob er sie aus der elementaren Ebene gezogen hat. Jedenfalls behauptet er, seine Kräfte würden an die der Aspekte heranreichen. Viele Urdrachen haben sich bereits um ihn geschart.«

»Dasselbe haben auch meine Späher berichtet«, bestätigte Alexstrasza. »Sie sagen, Fyrakk ist größer und stärker geworden, und dass nun lebendige Flammen über seine Schuppen tanzen. Trotzdem habe ich keine Angst vor meinem Cousin; er würde seine eigenen Verbündeten abschlachten, wenn er sich nicht angemessen respektiert fühlt. Im Moment mag er viele Urdrachen durch seine feurigen Worte und seine Leidenschaft auf seine Seite ziehen, aber seine rücksichtslose Art und seine Impulsivität werden sie schon bald wieder verscheuchen.«

»Dem mag so sein, trotzdem stellt er eine Bedrohung dar, die wir nicht ignorieren sollten«, warf Malygos ein. »Wenn wir Fyrakk und seine Hetzreden ignorieren, könnte er unseren Schwärmen immensen Schaden zufügen. Was würde geschehen, wenn er die anderen Urdrachen überzeugen könnte, ebenfalls von den Elementen zu zehren, so wie er es tat?«

»Wir haben keinen Einfluss auf Fyrakk«, sagte Alexstrasza. »Was soll ich eurer Meinung nach denn tun? Ihn töten? Mein eigenes Blut? Das ist ein Pfad, den ich ganz sicher nicht beschreiten werde.«

Malygos öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Neltharion unterbrach den blauen Aspekt mit einem vibrierenden Brummen tief aus seiner Brust. »Meine Sorge gilt nicht Fyrakk«, erklärte der Erdwächter, seine Stimme kaum mehr als ein Murmeln, »sondern Iridikron.«

Der Name senkte sich wie ein bleiernes Gewicht über den Raum, und der Boden unter ihren Füßen schien bei seinem Klang zu erzittern. Alexstrasza konnte den Schrecken der anderen Aspekte deutlich spüren. Selbst Nozdormu, der so gefasst und stoisch wie immer wirkte, schauderte bei dem Gedanken. Ysera ließ aufgebracht ihren Schwanz peitschen. Malygos blinzelte, und seine schimmernden Runen flackerten einen Moment lang.

Iridikron lebte so von der Welt zurückgezogen, dass Alexstrasza ihn nie auch nur gesehen hatte. Der Steingeschuppte blieb meist in der Nähe seines Horts in Eggengrund, weit im Norden Kalimdors; aber sie wusste, dass er in Sachen strategisches Verständnis, Raffinesse und Kraft an Neltharion heranreichte. Tatsächlich waren die beiden seit Langem schon Rivalen. Iridikrons taktisches Geschick und seine beträchtlichen Ressourcen, kombiniert mit Fyrakks Ungestüm … das wäre in der Tat besorgniserregend.

Malygos zog die Brauen zusammen und blickte Neltharion an. »Du hast mir nicht erzählt, dass Fyrakk Iridikrons Unterstützung sucht.«

»Nein, ich habe erst heute Morgen davon erfahren«, erwiderte Neltharion. »Sollte Iridikron sich mit Fyrakk zusammentun, könnten sie den Wind des Krieges anfachen.«

»Ich kann nicht glauben, dass sie so weit gehen würden«, entgegnete Alexstrasza mit einem Kopfschütteln. »Drachen sollten nicht gegen Drachen kämpfen.«

»Unsere Kritiker sehen in uns keine Drachen, sondern Rekruten der Hüter«, gab Neltharion zu bedenken. »Wenn man ihnen Gelegenheit dazu gäbe, würden sie Valdrakken dem Erdboden gleichmachen. Ich teile Tyrs Einschätzung. Wir sollten unsere Schwärme vergrößern. Jedes Ei, das wir aus der Wildnis holen, ist ein Feind weniger, den wir in der Zukunft bekämpfen müssen, und ein Verbündeter mehr, der auf unserer Seite steht.«

»Das ist Wahnsinn«, sagte Alexstrasza, aber sie konnte spüren, wie tief die Sorge des Erdwächters saß. »Unterstützt du diesen Plan ebenfalls, Malygos?«

Der blaue Aspekt zögerte. »Unterstützen ist vielleicht zu viel gesagt, meine Königin, aber an Neltharions Logik lässt sich nicht rütteln. Falls Iridikron der Steingeschuppte beschließt, sich mit Fyrakk zusammenzutun, um die Urdrachen anzuführen, könnten die Schwärme die Brutlande in ihrer aktuellen Größe nur mit Mühe verteidigen.«

Alexstrasza schüttelte erneut den Kopf. »Ich weigere mich, zu glauben, dass die Drachenheit wegen einer solchen Meinungsverschiedenheit an den Rand eines Krieges getrieben werden könnte.«

»Ist es wirklich nur eine Meinungsverschiedenheit?«, fragte Neltharion. »Oder ist es ein Kampf darum, wie wir leben sollen? Wie unsere Blutlinien aussehen werden? Nicht jeder will unserer Sache folgen, und mehr als nur ein paar haben geschworen, sich gegen uns zu stellen. Ihre Reihen werden weiter anschwellen, genauso wie unsere.«

Ein Seufzer, tief in ihrer Seele geboren, kam über Alexstraszas Lippen. Sie wusste, Neltharion war mehr von ihrem Ziel überzeugt als jeder andere Aspekt, ausgenommen vielleicht Ysera. Sein Schwarm war mit dem Schutz der Brutlande betraut worden, insofern war es nicht weiter verwunderlich, dass er Tyrs Warnung gegenüber aufgeschlossen war. Und dasselbe galt für Malygos, schließlich waren er und Neltharion meist einer Meinung.

»Es wäre klug, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein«, sagte der blaue Aspekt. »Findest du nicht auch, Nozdormu?«

Der bronzene Aspekt schnaubte und schlug kalkuliert mit seinen beiden Schwingen, sodass sich bronzefarbener Sand über den Boden verteilte. »Nein, finde ich nicht. Ein solches Vorgehen könnte genau den Konflikt herbeiführen, den wir vermeiden wollen.«

»Was soll das heißen?«, fragte Neltharion mit hochgezogener Braue.

»Es ist unmöglich, konkrete Voraussagen zu machen«, erwiderte Nozdormu. »Ich sehe tausend mögliche Zukünfte für unsere Schwärme, doch kann ich dir nicht sagen, in welche Richtung der Sand der Zeit wehen wird. Die Eier von Urdrachen aus der Wildnis zu holen, mag unseren Schwärmen zum Vorteil gereichen … aber ebenso gut könnte es die Entscheidung sein, die unser Ende besiegelt.«

»Es ist wirklich frustrierend, dass du seit dem Geschenk des Hochvaters nur noch in Rätseln sprichst, mein Freund«, seufzte Malygos, aber er lächelte dem bronzenen Aspekt dabei zu. Nozdormus Erwiderung bestand aus einem eleganten Schulterzucken.

»Und was ist mit dir, Schwester?«, wandte Alexstrasza sich an Ysera. »Du warst während dieser Beratung ungewöhnlich still.« Ysera, die das ganze Ausmaß von Alexstraszas Gaben kannte, brachte ihrer Schwester – und der Drachenheit im Allgemeinen – Liebe und Mitgefühl entgegen. Nun war da auch Mitleid, was angesichts der Schwere ihrer Entscheidung nur verständlich schien.

Ysera neigte den Kopf und blickte Alexstrasza einen langen Moment nachdenklich an. »Ich teile in dieser Sache Nozdormus Ansicht«, erklärte sie dann. »Alles muss auf seine eigene Weise und in seinem eigenen Tempo wachsen. Ich kann es nicht gutheißen, den natürlichen Zyklus des Lebens zu stören, auch wenn die Ordnungsmagie diesen Zyklus letztlich bereichert.«

»Dann stecken wir wohl in einer Sackgasse«, sagte Alexstrasza. Sie hatte das Gefühl, als würde ein schweres Gewicht von ihren Schultern genommen. Ihr war klar gewesen, dass die Rolle der Drachenkönigin nicht einfach sein würde, aber sie hatte nicht erwartet, dass ihre tief empfundenen Prinzipien einmal im Konflikt mit den Bedürfnissen der Drachenschwärme stehen könnten. Wie sollte sie so eine Entscheidung treffen? Wie könnte sie, die selbst eine Mutter war, kostbare Eier stehlen, um sie mit Ordnungsmagie zu durchtränken? Es wäre gewissenlos, selbst wenn sie nur Eier nahmen, die schutzlos in der Wildnis zurückgelassen worden waren – denn das war die Bedingung, auf die sie sich mit Tyr geeinigt hatte.

Doch Neltharion und Malygos hatten recht – Tyr ließ ihnen keine Wahl. Und was würde geschehen, falls die Aspekte sich dem Willen des Hüters widersetzten? Würde man ihnen die Gaben wieder entziehen, die ihr Leben vollkommen verändert hatten? Würde man sie zurück in die stumpfsinnige Existenz zwingen, die sie einst geführt hatten? Oder würde ihr Licht vollends erlöschen, zerquetscht wie Stechmücken im Angesicht göttlicher Macht?

Alexstrasza blickte zu den Drachen hinaus, die den Himmel über Valdrakken füllten. Ihre Freude war so rein, so vollkommen. Ihre Herzen leuchteten wie Sterne, oder zumindest kam es Alexstrasza so vor; es war, als würden sich ganze Galaxien um den Sitz herum erstrecken, eine rot, eine grün, die anderen bronzefarben und schwarz und blau. Sie war die Drachenkönigin, ja, aber stand es ihr zu, das Wohl und das Glück der Drachen zu gefährden, die sich ihr auf der Reise zu einem neuen Horizont angeschlossen hatten? Wie könnte sie ihre eigenen moralischen Prinzipien über die Unversehrtheit der Schwärme stellen? Das Wohl einer Einzelnen durfte nicht über dem Wohl des Kollektivs stehen – nicht mal, wenn diese Einzelne eine Königin war.

Nein, Alexstrasza würde es nicht riskieren, die Hüter gegen sie aufzubringen, schon gar nicht, wenn Fyrakk zur Rebellion gegen die Brutlande aufrief. Sollte diese grässliche Zukunft Realität werden, dann würden die Aspekte jeden Verbündeten brauchen, den sie nur kriegen konnten.

»Ich sehe auf beiden Seiten gute Argumente«, begann sie, nachdem sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die anderen Aspekte gerichtet hatte. »Aber auch wenn ich persönlich dagegen sein mag, Urdracheneier aus der Wildnis zu holen, dürfen wir es nicht riskieren, die Unterstützung von Tyr oder den anderen Hütern zu verspielen. Wer weiß, ob sie unsere Ordnung nicht rückgängig machen würden, wenn wir zu weit von ihrem Rat abweichen.«

Neltharion fletschte bei der Vorstellung die Zähne, enthielt sich aber eines Kommentars.

»Außerdem«, fuhr Alexstrasza fort, wobei ihr Blick zu ihrer Schwester wanderte, »wissen wir beide, dass die meisten Urdracheneier in der Wildnis nicht überleben. Und nur jeder vierte Welpling erreicht das Erwachsenenalter. Von den Überlebenden bringt es gerade mal die Hälfte auf fünfhundert oder tausend Jahre. Wir müssen an die Leben denken, die wir retten würden – diese Eier wären in den Brutlanden viel sicherer. Unter der Obhut des roten Drachenschwarms würden es viel mehr Welplinge bis zum Erwachsenenalter schaffen, und wenn unsere Zahl anschwillt, können wir auch besser die Welt verteidigen, die wir so lieben.«

Alexstrasza machte eine Pause. Niemand sagte etwas.

»Also gut«, erklärte Alexstrasza, obwohl sie noch immer nicht sicher war, ob ihre Worte richtig waren – und obwohl sie ihr Versprechen an Vyranoth dabei in ihren Hinterkopf verbannen musste. »Ich werde es den Titanengeschmiedeten gestatten, Urdracheneier zu sammeln, die sie ungeschützt in der Wildnis finden.«

Neltharion und Malygos wechselten einen zufriedenen Blick, während Nozdormu nur zustimmend den Kopf senkte. Ysera beugte sich zu ihrer Schwester hinüber und stieß mit der Schnauze ihre Schulter an.

Aber ganz gleich, wie sehr Alexstrasza auch versuchte, die Entscheidung vor sich selbst zu rechtfertigen, konnte sie nicht verhindern, dass sich ein Schatten über ihr Herz legte.

Den Rest des Tages verbrachte Alexstrasza damit, diverse Mitglieder ihres Schwarms zu empfangen, die Fortschritte bei den Rubinlebensbecken zu besichtigen, und einer großen Gruppe roter Drakoniden Anweisungen für die Pflege der erwarteten Urdracheneier zu geben. Doch wohin sie auch ging, Neltharions Worte ließen ihr einfach keine Ruhe: Unsere Kritiker sehen in uns keine Drachen, sondern Rekruten der Hüter. Wenn man ihnen Gelegenheit dazu gäbe, würden sie Valdrakken dem Erdboden gleichmachen.

Und wie zur Antwort hallten Vyranoths Worte durch ihren Geist: Schwöre, dass du niemals einen Urdrachen zwingen wirst, sich dem Willen der Hüter zu beugen.

Und Alexstrasza hatte es geschworen. Oh, wie sie ihre Worte nun bereute! Wenn Vyranoth schon etwas so Simples wie Ordnungsmagie nicht akzeptieren wollte, würde sie erst recht kein Verständnis für die Nuancen von Alexstraszas heikler Position haben – nicht etwa weil sie es nicht begreifen konnte, sondern weil die Lösung in ihren Augen ganz einfach war: der Ordnungsmagie abschwören und die Drachenheit in ihren Urzustand zurückfallen lassen. Doch leider war die Antwort nicht so einfach, wie Vyranoth sie sich vorstellte.

Als die Sonne dem Horizont entgegensank, verließ Alexstrasza Valdrakken. Von den luftigen Höhen des Sitzes der Aspekte stieß sie steil in die Tiefe, und sie genoss den Nervenkitzel des freien Falls. Der Boden sprang ihr entgegen, und erst im letzten Moment breitete sie die Schwingen aus, um sich mit einem einzelnen Flügelschlag nach vorne zu katapultieren.

Alexstrasza liebte die Stadt, von ihren weiß schillernden Türmen bis hin zu den glänzenden Aquädukten. Valdrakken entwickelte sich schnell zum pulsierenden Herzen der Brutlande, und seine Türme wachsen zu sehen, erfüllte sie mit grenzenloser Freude. Dieser Ort war ein Wunder und mit nichts anderem auf dem Angesicht Azeroths vergleichbar. Außerdem hatte Valdrakken die fünf Drachenschwärme auf eine Weise zusammengeführt, die Alexstrasza bis dahin für schlichtweg unmöglich gehalten hatte. Bronzefarbene und blaue Drachen jagten gemeinsam, wobei sie gleichermaßen Sand in einem Bronzeton und arkane Magie einsetzten; rote und grüne Drachen legten in den stillen, schattigen Flecken der Stadt üppige, blühende Gärten an; und in der Enklave der schwarzen Drachen halfen Mitglieder aller fünf Schwärme dabei, einen neuen Schwurstein vorzubereiten.

Wohin sie auch blickte, sah Alexstrasza Einigkeit und Einheit. Wohlstand. Mitgefühl. Falls die fünf Drachenschwärme einen Weg finden konnten, in Harmonie zusammenzuarbeiten, dann konnten sie auch eine friedliche Lösung mit Fyrakk und seinen Anhängern finden.

Es muss einfach einen Weg geben, Blutvergießen zu verhindern, dachte Alexstrasza, während sie über die Randgebiete von Valdrakken hinwegglitt. Und wir werden diesen Weg finden.

Ihr Weg führte sie zu einem ihrer Lieblingsplätze in den Brutlanden: einem kleinen Sims an der Grenze zwischen den Smaragdebenen und der Küste des Erwachens, von wo aus man den Sonnenuntergang beobachten konnte. Sie streckte sich auf dem noch sonnenbeschienenen Stein aus und sog seine Wärme in sich auf. Über ihr kreisten zwei große Rote, um ehern über ihre Königin zu wachen. Unter ihr flutete der Sonnenuntergang die Küste des Erwachens mit goldenem Licht, sodass es aussah, als würden die roten Steinsäulen und -bögen des Tals in Flammen stehen. Die Luft roch nach süßem, trockenem Gras, und überall wimmelte das Leben. Normalerweise konnte sie hier die Augen schließen und sich in dem Gesang der Natur ringsum verlieren, während die uralten Bäume im Wind ihre Äste neigten und die Falken ihre Jagdschreie ausstießen … aber nicht heute Abend. Ihre Gedanken rumorten, und ihr Herz schmerzte in dem Wissen, dass die Sonne morgen früh über einer anderen Welt aufgehen würde. Einer Welt, deren Friede durch Alexstraszas Entscheidung gesichert oder zerstört worden war.

Es überraschte sie nicht, als sie Ysera auf schnellen Schwingen näher kommen spürte.

»Ich wusste doch, dass ich dich hier finden würde«, sagte der grüne Aspekt. Kleine Staubwirbel wallten hoch, als sie neben Alexstrasza auf dem Sims landete. »Wie geht es dir, liebe Schwester?«

Alexstrasza lächelte traurig. »Ich spüre Sorge in deinem Herzen, Ysera. Aber du brauchst meinetwegen keine Angst zu haben. Es geht mir gut.«

»Sicher?« Ysera stieß Alexstraszas Schulter mit der Schnauze an.

»Gut genug.«

»Gut genug«, echote Ysera. »Aber trotzdem haderst du mit dir.«

»Ist es so offensichtlich?«

»Da musst du dich schon mehr anstrengen, wenn du deine Gefühle vor mir verbergen willst«, sagte Ysera, und sie legte sich an Alexstraszas Seite. »Zerbrich dir nicht den Kopf, Schwester. Wir haben die richtige Entscheidung getroffen. Indem wir jetzt entschlossen handeln, werden wir mehr Leben schützen, als ein Krieg kosten würde. Vor den Hütern führten wir eine grausame Existenz, auch wenn es Momente wilder, ungezähmter Schönheit gab. Vielleicht lassen sich jene, die gegen uns stehen, ja überzeugen, gemeinsam mit uns eine friedlichere Zukunft zu schmieden. Vielleicht können die Welplinge, die wir retten, sogar helfen, Brücken zwischen uns und unseren urtümlichen Brüdern und Schwestern zu schlagen.«

»Das sage ich mir auch«, erwiderte Alexstrasza. »Aber die Zweifel bleiben. Natürlich war mir klar, dass es nicht leicht werden würde, als ich den Platz der Drachenkönigin einnahm, aber … nie hätte ich damit gerechnet, dass ich mal so eine Entscheidung treffen muss.«

»Lass deine Zweifel ziehen, Schwester.« Ysera lehnte sich gegen Alexstraszas Seite. »Dein Mitgefühl ist endlos – deswegen haben die Hüter dich auch zur Königin gemacht. Du bist unser Leuchtfeuer, unser Wegpunkt. Die Beste von uns. Ich weiß, es ist leichter gesagt als getan, aber du trägst die Bürde der Herrschaft nicht allein. Die Aspekte stehen hinter dir. Ich stehe hinter dir.«

»Ich weiß, und ich danke dir dafür.« Alexstrasza lehnte sich ihrerseits gegen ihre Schwester. Wie dankbar sie für Yseras Unterstützung war! Der Pfad, den sie gemeinsam beschritten, war unerforscht, und das Gewicht der Führerschaft lastete schwer auf Alexstraszas Schultern. Im Lauf der Zeit würde sie sich gewiss an den Druck ihrer Position gewöhnen, aber hier, jetzt, spürte sie allein die Erwartungen, die andere an sie hatten. Vor allem Tyr.

Yseras Fänge glänzten im sterbenden Licht, als sie gähnte, und die Schwestern beobachteten schweigend, wie die Sonne hinter dem Horizont versank. Als sich das Abendrot über den Himmel senkte, färbte es die Felsen violett. Schatten zogen sich am Fuß der Schlucht zusammen. Über ihnen tauchten Sterne auf, aber nur, um ihr Angesicht hinter den Wolken zu verbergen, die auf die Brutlande zukrochen.

Als der Wind auffrischte, stieg Alexstrasza der Geruch feuchter Erde in die Nase, und der scharfe Geschmack von Blitzen erfüllte ihren Rachen.

»Wir sollten gehen«, sagte sie. »Es ist spät, und du stehst bereits mit einem Bein im Traum.«

»Ja«, erwiderte Ysera, gedehnt und abwesend. »Ja, ich glaube, du hast recht.«

Die Monde gingen auf, und Neltharion kehrte in die Obsidianzitadelle zurück. Oder zumindest kehrte er an den Ort zurück, der später einmal die Obsidianzitadelle werden sollte. Bislang hatte sein Schwarm nur die Bergflanke abgetragen, vulkanische Schächte umgeleitet und Steinblöcke für die unteren Ebenen zurechtgehauen. Aber eines Tages würde dies eine Bastion an der westlichen Grenze der Brutlande sein und sie gegen alle Feinde aus jener Richtung schützen.

Alexstrasza war weise, aber sie unterschätzte Iridikrons tief sitzendes Misstrauen gegenüber den Hütern und allem, was sie berührten. Natürlich hatte Neltharion absolutes Vertrauen in die diplomatischen Fähigkeiten der Drachenkönigin, aber selbst sie würde alle Mühe haben, das Herz des Steingeschuppten zu erweichen. Und falls alle friedlichen Mittel scheiterten und Iridikron den Krieg in die Brutlande brachte … dann wollte Neltharion bereit sein.

Doch der Erdwächter würde seine Vorbereitungen mit großer Vorsicht treffen müssen, um weder Iridikrons Argwohn noch den Zorn der Drachenkönigin auf sich zu ziehen. Er rief zwei seiner vertrauenswürdigsten Schuppenhandwerker zu sich – Umbrenion, den Hauptarchitekten der Obsidianzitadelle, und Calcia, die Anführerin der Schuppenschmiede. Gemeinsam stiegen sie durch die Zitadelle in die große natürliche Höhle darunter hinab, die sich Hunderte Flügelspannen weit unter den Brutlanden dahinzog. Die Temperatur stieg an, und ein schwefliger Geruch schwängerte die Luft. Lava quoll aus Rissen im Gestein und sorgte für dumpfe Helligkeit, während sie als roter Fluss durch die Mitte der Höhle kroch und sich dann vor einer keilförmigen Felsklippe teilte. Aus mehreren Nischen und Winkeln strahlte dunstiges Licht her, welches gewaltigen Aquamarinkristallen und phosphoreszierenden Pilzen entstammte.

Neltharion blieb vor einem Sims am oberen Rand der Höhle stehen. »Umbrenion, jetzt, wo der Bau der Zitadelle begonnen hat, will ich, dass sich deine Ingenieure auf die unteren Höhlen konzentrieren.«

»Natürlich, mein Aspekt«, erwiderte Umbrenion. »Was sollen wir hier tun?«

»Ich will Waffenkammern, Werkstätten und zusätzliche Schmieden«, antwortete Neltharion, wobei er erst nach Westen, dann nach Norden und schließlich nach Süden zeigte. »Außerdem werden wir Übungsplätze für die Drakoniden benötigen. Aber nicht die Zaralekhöhle – die beanspruche ich für mich selbst.«

»Darf ich fragen, warum wir bereits jetzt mit dem Ausbau in den unteren Höhlen beginnen sollen?«, erkundigte sich Calcia. Sie trat vor, um ebenfalls in die Höhle hinabzublicken. »Reicht die Zitadelle nicht aus, um die westliche Flanke der Brutlande zu verteidigen, mein Aspekt?«

»Fürs Erste genügt die Zitadelle, ja«, erwiderte Neltharion. »Aber wir müssen auf eine ungewisse Zukunft voller unberechenbarer Gefahren vorbereitet sein. Erforscht und kartografiert die Höhle bis zu unserem nächsten Treffen mit den Flugführern – dann werden wir entscheiden, wie wir unsere Ressourcen auf die verschiedenen Bauprojekte verteilen.«

Umbrenions Kopf wippte auf und ab. »So soll es geschehen.«

»Eine letzte Sache noch«, sagte Neltharion, während er sich herumdrehte. »Dieser Ort wird allein unserem Schwarm dienen. Also verratet niemandem davon, nicht mal den anderen Aspekten. Habt ihr verstanden?«

»Ja«, antworteten Umbrenion und Calcia einstimmig.

»Gut«, nickte Neltharion. »Dann macht euch an die Arbeit.«

Als er zum Ausgang der Höhle ging, ertönte plötzlich ein wortloses Zischen in seinem Hinterkopf. Neltharion blieb stehen und blickte über die Schulter, aber niemand folgte ihm; Umbrenion und Calcia standen mehrere Flügelspannen entfernt, wo sie über Prioritäten stritten und Pläne schmiedeten. Was hatte ihn dann …?

»Ist alles in Ordnung, mein Aspekt?«, fragte Calcia, nachdem sie sich wieder zu ihm herumgedreht hatte.

Neltharion nickte streng. »Ja«, sagte er, obwohl es nicht das erste Mal war, dass er hier unten dieses seltsame, körperlose Wispern hörte. »Macht weiter«, befahl er, dann eilte er ohne ein weiteres Wort aus der Höhle.

3. KAPITEL

Fyrakk flog hoch über den nördlichen Ebenen dahin, und die kalte Luft strich über seine geschmolzenen Schuppen. Die eisigen Temperaturen konnten jedoch nicht den Zorn abkühlen, der durch seine Adern brandete – das vermochte allein der Nervenkitzel der Jagd. Er sehnte sich nach dem Schnappen von Zahn und Klaue, nach dem schneidenden Biss des Schmerzes, dem heißen Rausch der Gewalt.

Heute würde Fyrakk Iridikrons steinerne Haut zum Bluten bringen.

Wenn man dem Wispern des Windes glaubte, hatte Iridikron Raszageth durch die notwendigen Rituale geführt, um sie mit der Urkraft der Elemente zu erfüllen. Die Tatsache, dass sie den Prozess überlebt hatte, zeigte, wie tief ihre Verbindung mit der Sturmmagie sein musste, denn Hunderte andere waren bei dem Versuch gestorben, Fyrakks erfolgreichem Beispiel zu folgen.