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Auslese aus dem Literaturwettbewerb 2020 der Gruppe 48 e.V.
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Seitenzahl: 372
Die Anthologie „Wunderwerk Text“, Ausgabe 2020, enthält die Beiträge von 64 Autoren, die von der Jury im anonymisierten Verfahren aus den Einsendungen zum Wettbewerb ausgewählt wurden. Darunter sind die Texte der für die Endausscheidung am 20.09.2020 in Rösrath, Schloss Eulenbroich (Bildungswerkstatt), nominierten acht Autoren.
Nominiert für Lyrik:
Horst Jahns
Johannes Müller-Salo
Anita Prugger
Maria Anna Stommel
Nominiert für Prosa:
Frauke Buchholz
Franz Laubscher
Jutta Rosenkranz
Elisabeth Tondera
VORWORT HERAUSGEBER
Eine Auslese aus dem Literaturwettbewerb 2020
VORWORT DR. JÜRGEN REMBOLD
Nachhaltiges bürgerschaftliches Engagement fördert Literatur- und Sprachtalente
VORWORT DR. UTA OBERKAMPF
Literatur und Kritik
PROSA
J
UTTA
R
OSENKRANZ
Besuchszeiten
E
LISABETH
T
ONDERA
Am Fenster
FRANZ L
AUBSCHER
Am Wasser
F
RAUKE
B
UCHHOLZ
Barfly
E
MIL
F
ADEL
Aber sicher!
H
ANS
-W
ERNER
H
ALBREITER
Henderson
C
HARLOTTE
S
IGRUN
H
ELLINGER
Geschichte im Kurzwarenformat
M
ARION
Z
ECHNER
Letztes Mal Italien
W
OLFGANG
R
OSE
-H
EINE
Frau Jenny Hurtig
M
AREN
W
AGNER
Das Geflecht
C
LEO
A. W
IERTZ
Der Rabe
S
ABINE
H
ENNIG
-V
OGEL
Studienfreunde
B
ODO
R
UDOLF
Das Märchen vom Krieg zwischen Grusistan und Osbukien
H
EIDRUN
Z
INECKER
Warum hypotaktischer Satzbau Mord(en) verhindert
K
ARINA
L
UGER
Aufhören
J
ÖRG
D
EGENKOLB
-D
EĞERLI
Wiedergänger
C
AROLA
W
EIDER
S. UND ICH
L
EAH
B
RAEKAU
Das Ende der grünen Raupe
M
ONIKA
H
EINTZE
Spiegelsberge
S
ILKE
T
OBELER
Keine Heiligen
K
ATALIN
J
ANOSA
Pausenzeichen
A
LI
M
AKHLOUFI
Rachel
H
ELMUT
L
OINGER
Die Beichte
B
RIGITTE
S
CHMOLMÜLLER
Herr Eisenmangel
K
ATRIN
S
TAUDINGER
Bauchgefühl
C
HRISTEL
H
INRICHSEN
Ankunft vor der Ankunft
VIGL
I
Kaktussplitter
B
ENEDIKT
S
CHRÄPLER
Die Suche
K
ERSTIN
N
ETHÖVEL
Vorkasse
LYRIK
J
OHANNES
M
ÜLLER
-S
ALO
Schöpfung
Wochenendbeilage
Verfrühter Frühling
Die Reisebekanntschaft
Tagung
A
NITA
P
RUGGER
compassio
meine worte
dennoch
wurzelnackt
neuland
M
ARIA
A
NNA
S
TOMMEL
Immer wieder
Ihre Gedichte
Im Winter
Zuhören
H
ORST
J
AHNS
meerwärts
Entwurf von Orplid
par ce val (durch dieses Tal)
zwischen den Jahren
still in den Gärten
J
ONA
V
ENUS
M
OJEN
Letztes Licht
Der Zauberer
Frühe
Verlust
In mir lebt ein See
W
ERNER
W
EIMAR
-M
AZUR
messsysteme (thirteen)
harmonielehre
vogelmenschen sprechen armenisch
antigone
S
ILVIA
S
CHMIEDER
Drama im Ruheraum
Gott und der Klimawandel
Ist das normal
Psychiatrie Notaufnahme
Das alte Antwortspiel
G
IUSEPPE
C
ORBINO
am see entlang
für einen anderen himmel
maske
festland
vom verschwinden
R
UXANDRA
N
ICULESCU
Die große Eile
#Sprachdiskriminierung
Abschied vom Wort
Rewind
Der Gedichtleser
A
NNETTE
G
REF
Seelenverwandt
Sehnsucht
Spaziergang im Wind
U
RSULA
H
ELLMANN
Allein, nicht einsam
Kroatien, Syrien – wo überall seid ihr?
Dein Ru, dein RuRu
F
EIRE
F
IZ
schuss durch die ketten
antwort an den verlag
buchti beten
mal regel 1
S
ONJA
R
OCZEK
sosnowaja schischka (kiefern auf olchon)
stille gelb (baikal)
im postamt von khuzhir
tiere in khuzhir
tuman
K
LAUS
S
IEVERS
Hinunter ins Tal
wenn ich den Hut abnehme
zack
Ausfallstraße
nirgends
T
HOMAS
M
ARIA
M
AYR
wie schnell ist das netz
Vergessen
Krebs als Chance?!
Stiche
Leichtigkeit
J
UTTA
P
IEHLER
gerade muss es
Sabine
missverstanden
tiefes Verbundensein
Zucker
I
NGRID
T
HIEL
Leichtes Reisen
Heimweh nach Metaphysik
Futur II im Repoussoir
E
DGAR
H
ÄTTICH
WAS EIN HÄKCHEN WERDEN WILL
TOTENTANZ
ÖDIPUS GEHT
WIE ERNST
ODE AN DEN ANFANG
I
NSA
O
ERTEL
Sturz des Seeadlers
Der Wasserfloh
Versiegelte Quellen
Wird das Warten auf eure Ankunft
Abendspaziergang in der Wümmeniederung
Irreversible Naturmetapher
S
HUANG
Z
HAO
Über das Jahr
Wenn September Ihre Pforte öffnet
Press Deinen Raum
Von der Nacht
Leben
J
ULIA
B
ENZ
Das Labyrinth
Alles was ich wollte
Gut und Böse
C
HRISTI
ANA P
UCHER
am morgen
verabredet mit dir
mädchenhaarbaum
wege
waunn s gwesene
P
ETER
H. C
ARLAN
Trilogie
Im Zwiespältigen sind wir die Suchenden
Orthographie
Ich will sein
Libellen
H
ARALD
K
APPEL
Wellenfunktion
planetarischer Nebel
Morphin
Homunkulus
M
AJA
L
OEWE
Im Zeilenklang der Pappeln
An den Rändern der Sehnsucht
Auf deinen Seekarten
V
OLKER
M
ÜLLER
Sommertag in Tannenhof
Mann und Hund
Lebensgang
Goldene Hände
Weitgehend windstill
H
EINRICH
D
ICK
und was du sagst
G
AJANANA
Durchbruch
Das Vlies in Dir
Meeresrauschen
A
NDREAS
R
UMLER
LETZTE BLICKE
TIEFE BLICKE
ERSTE BLICKE
IM BLICK
ÄUGELCHEN MACHEN
R
OLAND
M
ÜLLER
Der Findling – Großräschen, IBA-Terrassen
Liebeslied
Fata Morgana
Hermsdorf. Wildpark. Röder
Das Grinsen der Entropie
S
ABINE
A
BT
Santuario de la Virgen de Barca (Galicia)
felsbrockenhaufen in fontainebleau
dringlichkeit
Hymne auf den Esel
ode an die kuh
I
RIS
S
CHMIDT
Alp
Hunger
Hundskamille
mein Jahrgang einst
Efeugedanke
H
ANS
-W
ERNER
K
UBE
ich stolpere
über die Mauer
die Kirche von Ansouis
homme ravi in La Roque d’Anthéron
aufgeschlagen
R
AINER
G. G
ELLERMANN
grünes band
Zeitzeugen
Neue Tage
Was ich wollte
Brennender Frühling
VITO VON EICHBORN
Schlussgedanke
BILD-NACHWEISE:
Mit unseren jährlichen Literaturwettbewerben möchten wir die deutschsprachige Literatur fördern und talentierten Autoren eine Chance geben, sich mit ihren Texten im Literaturbetrieb zu etablieren. Gerade bei der Menge der literarischen Titel, die Jahr für Jahr produziert werden, bedarf es vieler Systeme zum Herausfiltern förderungs- und preiswürdiger Texte. Wir verstehen uns als eines dieser Filtersysteme und beschränken uns auf die Gattungen Prosa und Lyrik. Unseren Blick richten wir vorzugsweise auf Texte, die sich einmischen - literarisch hochwertig, auf eine unverkennbare, eigene Art ihres möglichst noch unbekannten Urhebers.
Zu unserem Wettbewerb 2020 reichten uns 821 Autoren ihre Textbeiträge ein. Wir danken allen Autoren, denn die Anthologie besteht aus ihren Texten. Unser Dank gilt auch den Jurymitgliedern für ihre große ehrenamtliche Leistung, die sie mit dem Sichten, Lesen, Beurteilen und Auswählen der Texte erbracht haben. Das Auswahlverfahren ist stets anonymisiert und schließt auch das Verfahren zur Ermittlung der Text-Beiträge für unsere jährliche finale Wettbewerbsveranstaltung ein. Sie findet in diesem Jahr am 20.09. statt und wie in den Vorjahren in Rösrath, in der Bildungswerkstatt von Schloss Eulenbroich. Durch die Gelder unserer beiden Sponsoren, der Dr. Jürgen Rembold Stiftung für das bürgerschaftliche Engagement und Dr. Uta Oberkampf (alias Uta Harst), beide mit Sitz in Rösrath, können wir am Wettbewerbstag Preisgelder von insgesamt 10.000 Euro vergeben. Wir bedanken uns dafür bei unseren Sponsoren. In der Summe enthalten ist ein Überschuss aus den Teilnahmegebühren des Jahres 2019, die die einsendenden Autoren mit je Euro 8,00 zu entrichten hatten. Daher gilt unser Dank auch den Autoren des Wettbewerbs 2019.
Die acht Text-Beiträge der Finalrunde des Wettbewerbs 2020 sind in dieser Anthologie vertreten und wurden eingereicht von folgenden Autoren(innen): Dr. Frauke Buchholz, Aachen; Horst Jahns, Nürnberg; Franz Laubscher, Neustadt an der Weinstraße; Johannes Müller-Salo, Göttingen; Anita Prugger, Mals (Italien/Südtirol); Jutta Rosenkranz, Berlin; Maria Anna Stommel, Wildeshausen; Elisabeth Tondera, Lingen (Ems). Mit den Wettbewerbstexten weiterer 56 Autoren bietet unsere Anthologie eine große Auswahl an Themen und ihrer literarischen Verarbeitung.
Hannelore Furch
Die Gruppe 48 e.V., 1. Vorsitzende
Als Dr. Hannelore Furch, heute Vorsitzende der Gruppe 48 e.V., meiner Stiftung vor nunmehr fast vier Jahren die Idee eines Literaturwettbewerbs nach dem Vorbild der legendären „Gruppe 47“ vorstellte, konnte sie nicht ahnen, dass sie es mit einem eingefleischten Mathematiker zu tun hatte, der nicht für sich in Anspruch nimmt, etwas von Literatur zu verstehen. Mit Hartnäckigkeit, aber auch mit einer ansteckenden Euphorie und einem klugen Konzept überzeugten Furch und ihre Kollegen mich schließlich, mit meiner Stiftung zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements das neue Format eines Literaturwettbewerbs mit Publikumsvotum und Preisvergabe zu unterstützen.
Was die Vereinsmitglieder und Literaturbegeisterten seither nachhaltig ehrenamtlich auf die Beine stellen, ist bürgerschaftliches Engagement par excellence, das dazu beiträgt, Sprachtalente zu entdecken und Nachwuchsautoren zu fördern. 2020 unterstützt die Stiftung den Literaturwettbewerb deshalb bereits zum vierten Mal mit Preisgeldern - aufgrund der großen, europaweiten Resonanz für erstmals acht statt bislang sechs Finalisten. Ich muss sagen, auch als Mathematiker habe ich viel Freude an den hochkarätigen Vorträgen der Autoren und der persönlichen Auszeichnung der Preisträger/innen.
Nach der erfolgreichen Erstauflage im letzten Jahr gibt es auch 2020 eine Anthologie mit den Texten der Preisträger/innen sowie weiteren qualitätsvollen Beiträgen, um damit den Mut und die Kreativität der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu würdigen, die es nicht ins Finale geschafft haben. Sie als Leser haben damit die wunderbare Möglichkeit, noch mehr gute deutschsprachige Literatur zu genießen.
Ihr Jürgen Rembold
Die 2011 von Dr. Jürgen Rembold gegründete Stiftung fördert gemeinnützige Initiativen, die bürgerschaftliches Engagement und damit gemeinwohlorientiertes Handeln anstoßen und unterstützen aus den unterschiedlichsten Bereichen wie zum Beispiel Kunst und Kultur, Bildung und Erziehung, Jugend- und Altenhilfe, Wissenschaft und Forschung sowie Umwelt- und Naturschutz.
Weitere Informationen finden Sie auf Facebook und unter
www.remboldstiftung.de
Kein Literaturwettbewerb kommt ohne eine Jury aus, die sich kritisch mit den übermittelten Texten auseinandersetzt, indem sie die eingereichten literarischen Schöpfungen vergleichend betrachtet und nach Aschenputtelmanier – die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen - bewertet und beurteilt.
Die Geburtsstunde der deutschen Literaturkritik liegt in der Zeit der Aufklärung. Zwei große Namen sind mit ihr verbunden: Auf der einen Seite ist da Johann Christoph Gottsched, der preußische Literaturpapst mit seiner Schrift „Versuch einer critischen Dichtkunst“ von 1730 zu finden, der sich eng an die französischen Vorbilder anlehnte. Auf der anderen entwickelte der Dichterphilosoph Gotthold Ephraim Lessing aus Unzufriedenheit mit den konservativen Rezensionsorganen seiner Zeit ganz neue Ideen zur Bewertung von Literatur. Seine „Briefe die neueste Literatur betreffend“ ( 1759 ) hatten die geistig moralische Erziehung des deutschen Bürgertums zum Ziel. Während Gottsched in seinem Urteil noch von dem festgefügten hierarchisch geordneten Gesellschaftssystem französischer Prägung ausging und die Literatur in das Gängelband fester Regeln eingebunden wissen wollte, war Lessing der Ansicht, dass ein solches Regelwerk dem deutschen Publikum fremd sei und in die neue Zeit nicht mehr passe. Denn die durch das aufstrebende Bürgertum durchlässiger gewordene Gesellschaftsordnung brauchte in Anlehnung an Kants Forderung „sapere aude“ seiner Meinung nach den unabhängigen Geist, der in der Lage sein müsse, ein selbständiges Urteil über die Literatur abgeben zu können. Dreißig Jahre später wirbelte die Französische Revolution die alten Machtstrukturen unwiderruflich durcheinander. Andere etablierten sich und mit ihnen eine neue Sicht auf die Welt. Und Lessing, den Adam Müller noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts den „eigentlichen Vater und Urheber der deutschen Kritik“ nannte, fiel, was die Akzeptanz seiner Literaturanschauungen anging, dem einsetzenden Industriezeitalter zum Opfer. Moderne und Postmoderne eröffneten bis dahin ungeahnte Möglichkeiten der Literaturbetrachtung. Sie machten den Weg frei für eine prinzipielle Offenheit im künstlerischen Schaffen.
Dieser sehr kurz gehaltene Aufriss soll deutlich machen, dass es für die Beurteilung von Literatur keine starre Richtschnur geben kann. Das Literaturschaffen und damit auch seine Kritik sind bei der Entstehung immer abhängig von den politischen, sozialen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen. In diese eingebunden versuchen die Dichter, mit den Mitteln der Sprache die sie umgebende Welt zu erfassen.
Auch die Textauswahl für diese Anthologie ist daher nicht frei von Einflüssen des Zeitgeschmacks. In jedem Fall war es uns Juroren wichtig, dass die vorgelegten Texte eine unverwechselbare Sprache haben, die in ihrem Ausdruck das Dargestellte trifft und es für den Leser in einer neuen Sicht begreifbar macht. Darüber hinaus sollten die Texte einen „Griff durch die Zeit“ ( Paul Celan ) gestatten und so auf vielfache Weise interpretierbar sein, um den Geist des Lesers zum Weiter-Denken anregen zu können.
Das Lebensgefühl des zeitgenössischen Menschen, der sich ohne Vor-Bild in seiner Umwelt zurechtfinden muss - ein Topos der Moderne - ist vielfach Thema der eingesandten Beiträge gewesen.
Auch im Schlussgedicht der Anthologie wird dieses Thema auf parodistische Weise verarbeitet: In Anlehnung an Rilkes Gedicht „Der Panther“ steht hier jedoch nicht das Raubtier im Mittelpunkt des Geschehens, das sich, in einen Käfig gesperrt, immerfort im Kreis bewegt. Hier ist es der Mensch, der sich in der trügerischen Freiheit des weltweiten Netzes von Tablet und Smartphone verfangen hat. Das dreimalige „selbst“ in der zweiten Strophe – stilistisch eigentlich ein NO GO – ist hier jedoch schlüssig, denn es gibt dem Menschen in der Rolle des eingesperrten Tieres bei seinem „Tanz von Kraft um eine Mitte“ ein ganz neues Gesicht: In dieser modernen Nach-Dichtung ist es nicht der Blick des Panters in die Welt draußen jenseits der Gitterstäbe – er „hört im Herzen auf zu sein“ -, sondern der „Gedanke“ des Bloggers, dem dies geschieht. So tritt durch die Sprache des Dichters vor dem inneren „Blick“ des Lesers ein Mensch in Erscheinung, der sich immer noch in der Rolle des „animal rationale“ sieht, dessen „Wohlgefühl“ aber jederzeit durch einen „Gedanken“ gestört werden kann: Der im Netz gefangene Mensch verliert das, was ihn auszeichnet, seine Ratio. Über das technische Gerät gebeugt, von keinem Gedanken gestört, befindet er sich auf einer Stufe mit dem geistlosen Tier.
Uta Oberkampf
Die Gruppe 48 e.V., Sponsorin und Vorsitzende der Jury
Die Lesende: Annette Herf, Aachen
Das ist gegen die Vorschrift, erklärt die Frau am Schreibtisch hinter dem Tresen und setzt ihre Brille auf, während Vera erwidert: Ich bleibe hier, bis Sie mich noch einmal zu ihm hineinlassen. Die Frau erhebt sich langsam, geht auf Vera zu und sagt vorwurfsvoll: Sie waren heute Vormittag schon bei uns. Vera lässt sich nicht beirren und wiederholt: Ich muss noch einmal zu ihm, aber allein. Sie weiß, jetzt kommt es darauf an, es gibt keine zweite Chance. Sie muss sich durchsetzen, selbstbewusst auftreten, auch wenn sie sich nicht so fühlt. Danach hat noch nie jemand gefragt, sagt die Frau und schaut Vera verwundert an. Als ob das ein Grund wäre, denkt Vera und antwortet: Dann bin ich die Erste. Die Frau wiederholt, dass es gegen die Vorschrift sei und erklärt: Es muss immer jemand dabei sein. Warum, fragt Vera. Sie könnten ohnmächtig werden und umfallen. Vera erwidert ruhig: Das Risiko gehe ich ein. Sie denkt bei sich: Wie sehr störten Atem, Augen und Ohren der beiden Fremden, die vormittags neben der Tür standen und sich vergeblich bemühten, ihre Anwesenheit zurückzunehmen. Die Frau zögert, geht zum Schreibtisch, nimmt den Telefonhörer, wählt, spricht leise, legt auf, kommt zum Tresen zurück und verkündet: Morgen Vormittag um elf, ausnahmsweise, aber nur eine Viertelstunde. Vera bedankt sich und bittet darum, einen Stuhl in den Raum zu stellen. Erstaunt erwidert die Frau: Dort wollte noch nie jemand sitzen.
Fünf vor elf. Vera drückt auf die Klingel und wartet. Niemand öffnet. Ein leichter Druck gegen den runden Knauf und die Tür gibt nach. Vera betritt den dunkelbraun gefliesten Raum und schließt die Tür. Sofort vertreibt eine harte Kälte die Sommerwärme von ihrer Haut. Der offene Sarg steht in der Mitte, daneben ein Stuhl. Das blasse Gesicht. Graue Barthaare. Geschlossene Augen. Die Hände über der Brust gefaltet. Eine Geste, die Vera bei ihm nie gesehen hat, solange er lebte. Gelbliche Haut. Ohrläppchen und Fingerkuppen sind blau. Warum hat sie ihn nicht vor zwei Wochen im Krankenhaus besucht? Es ist nichts Ernstes, du musst nicht kommen. Wir treffen uns hinterher. Vera war froh, ihre Alltagsplanung nicht ändern zu müssen. Vorsichtig betastet sie seine Wange. Eiskalt. Schnell zieht sie die Finger zurück. Streicht über die Barthaare. Weich und warm. Die Nase ragt empor. Lebensnah ist sein Gesicht und doch so weit entfernt. Der Ausdruck wirkt fast heiter.
Ohne Brille sieht er fremd aus. Vera weiß nicht, welche Brille er noch vorgestern trug. Dicke Gläser mit dunklem Rand? Komm, sagt er, wir fahren noch einmal. Überall Weiß. Sie sausen den Abhang hinunter. Er sitzt hinter ihr und hält sie fest. Sie rasen auf einen Baum zu. Vera schreit, lacht, ruft. Kurz vor dem Stamm bremst er den Schlitten, sie fallen in den Schnee. Überall Weiß. Seine Brille ist beschlagen. Eine Schneeflocke schmilzt auf seiner Nase. Sie ist eiskalt. Seine Nase - nein - eine tote Nase. Warum ist Vera nicht einfach hingefahren? Sie berührt die Stirn. Fremde, endgültige Kälte. Überall Weiß. Das Kissen, das Hemd, die Decke. Grausames Weiß. Vera schließt die Augen und lässt die Tränen kommen. Warum trägt er kein eigenes Hemd? Dieses weiße, steife Totenhemd mit dem großen Kragen und der kleinen Schleife sieht unecht aus. Seine Hände liegen auf der Decke, ragen aus den weiten Ärmeln mit dem breiten Umschlag. Über der Brust akkurat gebügelte, parallele Falten. Warum hat sie nicht alles stehen und liegen lassen? Es ist nichts Ernstes. Wie lang ist dieses hygienisch glänzende weiße Hemd? Bedeckt es die Knie? Die Füße? Vera traut sich nicht, die Decke anzuheben und nachzusehen, ob die Zehen ebenfalls blau sind. Tragen Tote eine Unterhose? Veras Augen halten sich an den plissierten Falten fest, doch das erstarrte Gesicht lässt sich nicht verdrängen. Die Nase, die Lippen, die Ohren, die Augenlider. Tote Einzelheiten. Auch die senkrechten Stirnfalten über der Nasenwurzel sind zu erkennen. Leise summen die Neonröhren. Kein Schatten. Das Licht schmerzt. Vera schließt die Augen. Unter ihren Lidern wird das Weiß dunkel. Darf ich zu dir ins Bett? Er nickt. Ganz eng drückt sie sich an seinen warmen Körper. Lass Mutti noch schlafen, flüstert er Vera ins Ohr, streicht ihr übers Haar und legt seinen Arm um sie. Sie kuschelt sich in das Nest zwischen Brust und Armbeuge. Die Wärme hält sie fest. Unerträglich wird die Stille. Vera öffnet die Augen und geht langsam um den Sarg. Auch die Decke glänzt weiß und hygienisch. Der Sarg ist aus dunkelbraunem Holz, der Deckel lehnt hochkant an der Wand. Am oberen Ende klebt ein kleines, weißes Schild mit der Nummer 301927. In der Nacht vor seinem Tod träumte sie, dass sie in einer Werkstatt einen Sarg aus Pappe bauen sollte, aber sie wusste nicht, für wen. Am Morgen notierte Vera den Traum, den sie nicht deuten konnte und frühstückte, telefonierte, schrieb einen Brief und eine Einkaufsliste, erledigte, was der Montag von ihr forderte. Bis es abends klingelte und sie erfuhr, dass Vater im Morgengrauen gestorben war. Nein, schreit sie, nein, nein, nein. Ich will nicht. Er hält sie fest, stößt sie vor sich her ins Badezimmer. Sie kann sich nicht befreien aus seinem Griff. Schreit, tobt, wehrt sich. Er zerrt sie zum Waschbecken, dreht den Hahn auf und lässt Wasser einlaufen bis zum Rand. Vera schreit und stemmt sich gegen seine Hand, die ihren Kopf hinunter drückt. Plötzlich schlagen ihre Zähne an die Waschbeckenkante. Er lässt sie los. Im Wasser liegt ein Stück Zahn. Vera heult. Er schimpft, warum hast du dich gewehrt? Mutti kommt ins Bad. Sie streiten. Vera sucht die Lücke mit der Zunge und schaut in den Spiegel. Am Vorderzahn fehlt eine Ecke. Sie weint und lernt die Lüge: Beim Spielen hingefallen. Vera presst die Lippen zusammen. Sein Mund ist geschlossen. Sei immer schön vorsichtig, sagt er bei jedem Anruf. Eine leise, eindringliche, weiche Stimme. Vera versucht, sich an ihren Tonfall zu erinnern. Kann ihren Klang nicht mehr herstellen. Warum haben sie nur fünf Minuten miteinander telefoniert? Es ist nichts Ernstes. Komm nicht. Vielleicht wollte er nicht, dass sie ihn hilflos sieht. Das Schweigen am Telefon, wenn man die wahren Worte nicht wagt. Zu spät, hämmert es in ihrem Kopf, vorbei. Vera schließt die Augen. Ihr wird schwindelig. Sie stellt den Stuhl neben das Kopfende des Sarges und setzt sich. Warum wollte hier noch nie jemand sitzen? Es ist angenehm, sich einen Moment anzulehnen. Den Blick abzuwenden vom Vater, vom Toten, von der Leiche. Nein, das Wort passt nicht. Noch nicht. Seit der Kindheit hat sie ihn nicht mehr zwei Tage hintereinander gesehen. Vorsichtig streicht sie über die gefalteten Hände. Ungewohnte Kälte. Diese Hände haben sie gewickelt, gefüttert, geohrfeigt, ins Bad gezerrt, ihr übers Haar gestrichen. Warum sind die Fingerkuppen blau? Die Stuhllehne ist hart. Plötzlich wird es Vera warm. Sie steht auf, setzt sich, steht auf, läuft um den Sarg. Im Uhrzeigersinn. Setzt sich, steht auf. Wie klein der Kopf ist. Vera will gehen. Sofort. Nein, bleiben. Sich setzen, aufstehen, schreien, weinen, schweigen. Die Stille wird eng. Jeden Moment kann jemand hereinkommen. Wie viele Minuten sind vergangen? Vera blickt zur Uhr. Zwölf Minuten nach elf. Die Tür wird sich öffnen, der Friedhofsangestellte wird ihr sagen, dass sie gehen muss. Zwei Türen hat der gekachelte Raum. Eine öffnet sich zum Friedhof. Wohin führt die andere? In die Kühlkammer? In den Verbrennungsraum? Woher kommt diese Kälte? Ist sie echt? Ist der Tod wirklich so kalt? In einem Film im Fernsehen wurde einmal die Arbeit der Friedhofsbeschäftigten gezeigt. Die Särge mit den Toten werden im Leichenkühlschrank übereinander in Etagen gestapelt. Jeder Sarg hat eine Nummer. Gestern haben sie ihn hineingeschoben und heute, wahrscheinlich gegen halb elf, wieder herausgezogen. Vera sucht ein Taschentuch. Sie haben ihn in diesen Raum gerollt und den Sargdeckel abgenommen. Nachher werden sie den Deckel wieder schließen und den Sarg mit ihrem Vater, nein, mit der Leiche Nummer 301927 zurück in ein Fach schieben und die Tür der Kühlkammer schließen. Warum hat sie nicht noch einmal nachgefragt: Soll ich dich wirklich nicht besuchen? Ich muss jetzt gehen, verkündet Vater und steht auf. Vera räumt die Spielfiguren in die Schachtel. Wieder haben seine roten Steine gewonnen. Eine Barrikade nach der anderen hat er vor ihre blauen Steine gesetzt, damit sie nicht weiterkommt, während er zum Ziel eilt. Du musst lernen zu gewinnen, sagt er. Malefiz ist wie das Leben. Immer neue Stolpersteine liegen im Weg. Es kommt darauf an, sich nicht aufhalten zu lassen, die Steine wegzuräumen und weiterzugehen bis zum Ziel. Oder Umwege zu finden. Schnell legt sie das Spielbrett in die Schachtel und schließt den Deckel. Vater ist schon an der Tür. Ich muss los, wiederholt er, während Vera seinen Arm festhält. Seine Stimme wird hart und ungeduldig: Immer diese verlängerten Abschiede. Tschüss, sagt er laut und reißt sich los. Die Tür schlägt zu. Vera rennt zum Küchenfenster, beobachtet, wie er zum Parkplatz läuft, ins Auto steigt und abfährt. Sie rast quer durch die Wohnung zum Balkon, sieht sekundenkurz seinem Wagen nach, bis die roten Rücklichter hinter dem Nachbarhaus verschwinden. Wie spät ist es? Um drei Uhr fünfundzwanzig hörte sein Herz auf zu schlagen. Der Oberkörper lief blau an und der Kopf sackte nach vorn. Die Totenstille ist nicht auszuhalten. Vera packt den Stuhl und zieht ihn laut über die Fliesen. Das Geräusch unterbricht ihre Gedanken. Noch einmal zerrt sie die Metallbeine des Stuhls über den Boden. Doch nun stört sie der Lärm. Tränen laufen ihr über die Wangen, sie setzt sich. Der letzte Anruf. Vera nennt ihren Namen, er sagt: Hier auch. Kurzer Moment der Zusammengehörigkeit. Du musst nicht kommen. Es ist nichts Ernstes. In drei Tagen bin ich wieder zu Hause. Dann treffen wir uns. Zu spät. Vera schaut auf die Uhr. Zwanzig nach elf. Nur eine Viertelstunde! Sie muss sich beeilen. Ihre Fragen wird Vater nicht mehr beantworten. Warum bist du ausgezogen und hast mich allein gelassen? So etwas fragt man Eltern nicht. Die Fragen wachsen weiter. Hast du mich trotzdem geliebt? Veras Fragen haben ihre Laufzeit überschritten. Sie muss die Antworten selbst finden. Vera starrt auf die reglose Gestalt im Sarg. Wartet auf ihre Wut. Sekunden genügen, um Fragen zu stellen, die jahrelang unterdrückt wurden. In Gedanken probiert Vera aus, wie sich der Satz anfühlt: Ich verzeihe dir. Aber es gelingt ihr nicht, ihn laut zu sagen. Sie öffnet ihre Tasche und zieht die kleine Kamera heraus. Darf sie Vater im Sarg fotografieren? Er würde es verbieten. Aber er kann sich nicht wehren. Sie stellt das Bild scharf, bis der Tote deutlich zu sehen ist. Zu scharf. Sie dreht zurück. Die Konturen verschwimmen. Du musst durch das kleine Loch schauen, ruft Vater. Er steht neben einem Baum und lacht. Vera hat seine alte Box in der Hand. Hält ihr Auge über das runde Glas. Sieht ihn kopfüber in seiner hellen Hose und dem weißen Hemd mit offenem Kragen, die Arme in die Taille gestemmt. Ihr erstes Foto von ihm ist verwackelt, aber sein Lachen ist zu erkennen. Vera zoomt, weint, drückt auf den Auslöser. Grelles Weiß im Blitzlicht. Nicht aufstehen, den Mantel anziehen, zur Tür gehen, ins Auto steigen und wegfahren. Keine roten Rücklichter. Noch eine Aufnahme. Vera schleudert dem Toten das Blitzlicht entgegen als könnte es ihn wecken. Diese Fotos halten nichts fest. Aufhören, denkt Vera und fotografiert weiter. Dann lässt sie beschämt die Kamera in der Tasche verschwinden. Beugt sich über das vertraute, abwesende Gesicht, küsst kurz Vaters eiskalte Stirn. Elf Uhr zweiundzwanzig. Bisher ist kein Friedhofsmitarbeiter erschienen, um sie fortzuschicken. Die Viertelstunde ist vorbei. Es wird niemand kommen. Vater wird nicht gehen. Zum ersten Mal kann er ihren Abschied nicht beenden. Vera muss selbst entscheiden, wann sie geht. Komm, sagt er, wir fahren in die Stadt. Ich will dir etwas zeigen. Nach zwanzig Minuten lenkt er seinen Wagen in ein Parkhaus. Sie nehmen den Aufzug bis zur dreizehnten Etage. Vater öffnet die Tür zu einem kleinen Appartement. Kaum Möbel. Vor dem Fenster stehen Tisch und Stuhl. Keine Gardinen. Er zeigt ihr die Aussicht über die Dächer der Stadt. Auf dem Hochhaus gegenüber dreht sich ein glänzender, silberner Stern. Ich habe eine gute Nachricht für dich, sagt er, du bekommst ein eigenes Zimmer! Erstaunt fragt Vera, welches? Vater lächelt und sagt: Du ziehst in das kleine Zimmer, das hast du dann ganz für dich allein. Und wo schlaft ihr? Mutti schläft bei den Jungs im Zimmer und ich - er zögert - ich werde hier wohnen. Die senkrechten Falten über der Nase werden tiefer. Du ziehst aus? fragt Vera und muss schlucken. In seinen Brillengläsern dreht sich der silberne Stern. Es geht nicht anders, mein Herz, sagt er leise und legt seinen rechten Arm um sie. Mutti und ich, wir streiten oft miteinander. In der Woche werde ich hier wohnen und am Wochenende bin ich bei euch. Aber ich will da wohnen, wo du wohnst, protestiert Vera. Auf einmal sieht der Stern wie ein Strich aus. Die Falten auf Vaters Stirn ziehen sich zusammen. Das geht nicht, wiederholt er. Wann kommst du zurück?, flüstert sie. Er schaut aus dem Fenster. Mutti und ich, er rückt seine Brille zurecht, wir haben uns scheiden lassen. Wie ein Blitz springt ein Sonnenstrahl vom Stern in Veras Auge. Tränen laufen ihr übers Gesicht. Wie fremd der Tote aussieht. Seit Jahren war sie Vater nicht mehr so nah. Seine Besuche wurden seltener.
Neun Jahre Vater. Er versuchte, alles zu kontrollieren und richtig einzuteilen: Geld, Zeit und Liebe. Er hat gegeben, was er konnte. Er musste weggehen. Ihm ist kein guter Abschied gelungen. Vera schaut den Toten an, berührt seine Wange noch einmal mit den Lippen, dreht sich um und geht zur Tür.
Nominiert für die Endausscheidung des Literaturwettbewerbs 2020
Geb. in Berlin, studierte Germanistik und Romanistik und lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie hat Gedichte, Prosa, Autoren-Porträts und Hörfunk-Features veröffentlicht und ist Herausgeberin mehrerer Lyrik-Anthologien. 2007 publizierte sie die erste umfassende Biographie über Mascha Kaléko (dtv) und 2012 die von ihr herausgegebene und kommentierte vierbändige Mascha-Kaléko-Gesamtausgabe (Werke und Briefe). 2014 erschien „Zeile für Zeile mein Paradies“ - 18 Porträts bedeutender Schriftstellerinnen (Piper), und 2016 gab sie den Band „'Eines jeden Glück' - Mit Virginia Woolf durch den Garten“ heraus (Insel).
www.JuttaRosenkranz.de
Die Welt wirkt so klein von hier oben, so weit weg, so unwirklich. Kein Wunder, dass Gott sich nicht viel daraus macht, er schaut ja aus einer noch größeren Höhe auf die Erde herab als sie. Wenn er die Autos sieht, kommen sie ihm vielleicht vor wie dicke, bunte Käfer, die jemand auf einem grauen Band ausgesetzt hat. Jetzt rennen sie in zwei Richtungen, der Grüne überholt den Gelben, ein Blauer kommt ihm entgegen, dann ein Weißer. Ein ganz großer Käfer, weiß-rot gestreift, wird langsamer, bleibt stehen und entleert sich. Für Gott sieht es vielleicht aus, als hätte jemand in einem Ameisenhaufen mit dem Stock herumgestochert, und jetzt rennen die aufgescheuchten Ameisen in alle Richtungen davon.
Die alte Frau lächelt vor sich hin, etwas Speichel rinnt das Kinn hinab und tropft auf das Fensterbrett. Sie beobachtet die Tropfen, die sich beim Aufprall auf die glatte Fläche verformen. Einer hat die Form einer Figur mit ausgebreiteten Armen. Liegt sie auf dem Boden oder fliegt sie? Die alte Frau hebt den Blick, auf dem flachen Dach des gegenüberliegenden Blocks sieht sie einen Mann mit einer Plane in den Händen. Er hüpft über Verstrebungen, weicht tänzerisch Antennen aus, das Tuch wie ein Segel über dem Kopf. Plötzlich entreißt ihm der Wind die Plane, wirbelt sie herum, lässt sie auf und nieder schweben, neckt den Mann, der zusehen muss, wie der Wind mit seinem Besitz in den Wolken verschwindet.
Was sie hier alles sieht! In ihrem Dorf hätte sie auf den Kirchturm klettern müssen und wäre dem Himmel immer noch nicht so nahe wie hier. Dort war die Welt aber schon vom Dachboden aus größer und weiter, der Blick konnte sie gar nicht umfassen und verlor sich im Horizont. Hier prallt er an der Hausmauer auf der anderen Straßenseite ab, in den vielen Fenstern gegenüber spiegelt sich nur das Haus, in dem sie gefangen ist; sie sind wie blinde Spiegel, tot.
In ihrem Dorf standen die Fenster offen, wenn die Sonne schien, sie wusste, wer dahinter wohnte, manchmal schob jemand die Gardine zur Seite und grüßte. Den Gruß verstand sie, auch wenn ihr die polnische Sprache fremd geblieben war. In ihrem Dorf hätte sie nur vor die Haustür treten müssen, um ein bekanntes Gesicht zu sehen. Dort kannte sie jeden, selbst als die Deutschen zum Schluss alle fort waren, in den Westen, wo es besser sein sollte, leichter zu leben und schöner. Vielleicht stimmt das sogar, sie will nicht darüber urteilen, was die Leute antreibt, Haus und Acker zu verlassen, um sich irgendwo in der Fremde einer ungewissen Zukunft auszuliefern. Sie kann sich kein Urteil erlauben, schließlich hat auch sie die Tür ihres Hauses für immer hinter sich geschlossen. Aber sie hat es nicht aus freien Stücken getan, nein. Die Kinder, die Enkel. Sie haben ihr eingeredet, sie könne nicht mehr alleine leben und hier in der Stadt sei es angenehmer, bequemer, der Arzt gleich um die Ecke und die Apotheke. Sie hätte ihnen nicht glauben sollen.
Die alte Frau steht am Fenster, ihr Kopf wackelt sanft. Unten, vor dem Eingang zu einem Laden, stehen zwei Leute, spielzeuggroß, sie kann nicht erkennen, ob es Männer sind oder Frauen. Sie gestikulieren lebhaft, ein Stückchen weiter überquert jemand die Straße, schleppt etwas Schweres, Einkäufe oder einen Koffer? Zu Hause hätte sie gewusst, wer die Menschen sind und was sie tun, sie hätte sich nicht ständig fragen müssen, was das Geschehen dort unten zu bedeuten hat, sie hätte keine Leere gespürt, weil sie dazu gehörte.
Hier verbindet sie mit der Welt draußen nur noch eine Glasscheibe. Ihre Welt ist auf drei Zimmer, Küche, Bad geschrumpft, von der Wohnungstür bewacht, die alles Fremde von ihr fernhält.
„Hier ist jetzt dein Zuhause“, sagten sie, noch ganz außer Atem, weil der Aufzug kaputt war und sie die Oma die zehn Stockwerke hochtragen mussten. Sie sah sich um und sagte nichts. Ihr Zuhause war in dem Dorf geblieben, sie hätte es nicht verlassen sollen, nicht, nachdem sie es so lange verteidigt hatte, erst gegen die Russen, dann gegen die Polen, zum Schluss gegen die Kinder, die sie schon vor vielen Jahren in die Stadt mitnehmen wollten, damals, als ihr Mann gestorben war.
Mit den Russen fing es an, die mit ihren Gewehren herumfuchtelten und „Schnaps!“ brüllten und „Frau, komm!“ Sie hatte den schon Betrunkenen Schnaps eingeschenkt und die Zähne zusammen gebissen, um die Schreie zu unterdrücken, denn schreiende Frauen beruhigten die Russen manchmal mit Gewehrschüssen und manchmal drückten sie ihnen einen stinkenden Lappen tief in den Mund, dass sie daran erstickten. Hatte Gott damals von oben zugeschaut und sich gewundert, was für ein merkwürdiges Spiel sich die Menschen ausgedacht hatten? Oder hatte er gerade in dem Moment weggeschaut, denn hören kann er aus seiner Höhe bestimmt nichts?
Die alte Frau durchmisst die Wohnung mit ängstlichen Schrittchen, schlurft in die Küche, in der sie sich nicht zurechtfinden kann. Ein Herd mit glatter Oberfläche und Knöpfen, die man drehen muss, damit die Platten heiß werden. Alles solch neumodisches Zeug, so hat Gott sich das nicht vorgestellt, bestimmt nicht. Auch wenn er jetzt auf seiner Wolke sitzt und sich nicht mehr viel um die Welt kümmert, hat er sich doch etwas dabei gedacht, als er das Feuer erschaffen hat, und das muss der Mensch respektieren.
Zu Hause kochte sie nur mit Feuer, bis zum Schluss. Die Kinder wollten ihr den Kohleherd wegnehmen, sie priesen die Elektrizität an, aber sie hielt das Herdfeuer heilig, und es gehorchte ihr. Der Strom ist tückisch, er versteckt sich und tut so, als sei er gar nicht da. Das Feuer ist ehrlich. Jeden Tag trauert die alte Frau um ihren Herd. Eine Milchsuppe würde sie sich jetzt kochen wollen oder einen Kaffee, aber das kann sie nicht und darf sie nicht, nachdem sie ein paar Mal vergessen hat, die Knöpfe zurückzudrehen. Sie haben ihr Kaffee in einer Kanne gelassen, da bleibt er warm, Kekse und Brot sind im Schrank, das muss reichen, bis die Enkelin von der Arbeit kommt und was Warmes kocht.
Den ganzen Tag wartet die alte Frau, bis sie zurückkehren, und die Zeit schleppt sich müde von einer Stunde zur anderen. Was tun die anderen, während sie am Fenster steht, auf dem Sofa sitzt oder in der Küche eine Tasse Kaffee schlürft und den Keks eintunkt, bis sie ihn zerlutschen kann? Wenn sie es ihr erzählen, wackelt ihr Kopf sanft, und vielleicht denken sie, dass sie nickt, denn sie reden weiter und lachen oder ärgern sich über etwas, das sich da unten, irgendwo in der Stadt abgespielt hat. Sie lebt mit den Leuten in dieser Wohnung, mit der Enkelin, ihrem Mann und deren Tochter, es sind gute Leute, aber sie sind ihr fremd, weil sie nicht versteht, wie sie leben. Hier ist sogar der Himmel fremd, auch er ist eingezwängt zwischen den Hausmauern, die der Sonne und den Wolken im Weg stehen. Schon so mancher Sonnenstrahl ist an den dunklen Mauern abgeknickt und so manche Wolke hat sich an den Antennenmasten ein Loch in ihr Kleid gerissen.
Sie hätte im Dorf bleiben sollen, denn dort zogen die Wolken ruhig über den Himmel und blieben heil, und die Sonne blickte morgens in das Fenster ihrer Schlafstube und verabschiedete sich am Abend in der Küche. Wenn sie vor die Tür ging, sah sie vertraute Gesichter. Es waren andere als früher, sie sprachen eine Sprache, die ihr bis heute fremd geblieben ist, aber sie wusste, wer sie waren und was sie taten. Nach den Russen waren die Polen gekommen und hatten die verlassenen Häuser der Nachbarn besetzt, die in die Fremde gezogen waren. Sie war geblieben, und das war richtig, denn sie war zu Hause, und die Polen gehörten nun auch dazu.
Jetzt ist aber nichts mehr vertraut, gar nichts. Die alte Frau schaut aus dem Fenster, das Leben draußen ist ihr fremd, hier drinnen aber auch, und sie ist zu müde, um es sich noch einmal vertraut zu machen. So hoch oben ist sie Gott viel näher als im Dorf, vielleicht wartet er schon auf sie? Sie muss nur das Fenster öffnen und ihm die Hand reichen. Der Wind wird sie bestimmt zu ihm bringen, so wie er es vorhin mit der Plane getan hat. Er sollte sie nur nicht so herumwirbeln, denn davon wird ihr schwindelig.
Die alte Frau greift nach dem Fenstergriff. Mit ihren Händen konnte sie früher die dicksten Rüben dem Acker entreißen, und selbst der Bulle gehorchte ihnen, wenn sie am Strick zog. Jetzt schaffen sie es nicht, das schmale Metallstück zu drehen. Sie zerrt daran, keucht, der Speichel rinnt in einem dünnen Strahl die tiefen Furchen im Kinn herab und fließt auf das Fensterbrett. Erst als sie den Schmerz spürt, gibt sie auf, stützt sich mit den Armen ab und starrt durch die Scheibe die blinden Fenster des Hauses gegenüber an.
Nominiert für die Endausscheidung des Literaturwettbewerbs 2020
Es vergeht kaum ein Tag, an dem der See nicht ruft. Ich unterbreche dann, womit auch immer ich beschäftigt bin, und mache mich auf den Weg. Mein Haus ist fünfundzwanzig Gehminuten vom See entfernt. Eine kleine Anhöhe verhindert, dass ich direkt aufs Wasser blicken kann. Aber diese Anhöhe ist nach zehn Minuten zügigen Gehens umrundet und der See liegt vor mir. An nebligen Tagen muss ich mich noch länger gedulden, bis ich ihn sehen kann. Aber heute ist ein klarer Tag, der mir eine freie Sicht ermöglicht.
Der See liegt eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft. Wasserarme reichen in die kleinen Täler, die die ihn umgebenden Hügel voneinander trennen. An seinem südlichen Ende ist die Uferzone flach. Hier reicht ein kleiner Steg ins Wasser, an dem einige alte Boote vertäut sind. Fast alle Boote bestehen aus Holz, es sind aber auch einige Kähne aus still vor sich hin rostendem Stahl dabei. Sie sind bunt, die Boote, ein jedes trägt ein anderes Farbenkleid. Links vom Steg haben die Dorfbewohner einen kleinen Sandstrand angelegt. Rechterhand des Steges schließt sich die Liegewiese an. Es sind keine Badegäste mehr da, das Wasser ist zu kühl geworden. Nur einige Spaziergänger sind unterwegs, die Holzstöcke für ihre Hunde werfen.
Es sind Menschen aus der Umgebung, Menschen, denen ich seit vielen Jahren fast täglich hier begegne. Sie kennen mich seit meiner Kindheit. Ich bin hier aufgewachsen, zusammen mit den meisten von ihnen. Mit einigen von ihnen war ich befreundet. Sie grüßen höflich und wahren dabei in gewohnter Weise Abstand. Ich bin ihnen schon lang nicht mehr geheuer. Manche riskieren einen verstohlen forschenden Blick, den sie jedoch gleich wieder abwenden, um sich nicht ertappen zu lassen. Sie halten mich für sonderbar, in meinem Verhalten fehlgeleitet, womöglich unheilbar verrückt, denn sie wissen um meine Geschichte. Ich kann verstehen, dass sie so denken. Es stimmt ja, dass ich mich in eine Welt zurückgezogen habe, die durch einen unüberbrückbaren Abgrund von der ihren getrennt ist. Ich weiß wohl, dass ich damit einen Schritt gegangen bin, der für andere nicht zu begreifen ist. Aber dieser Schritt hat meiner Seele den Frieden gegeben, der nach den Geschehnissen vor nun schon fast zwölf Jahren so lange Zeit auf so unerträgliche Weise gefehlt hat. Er gibt mir auch jetzt noch täglich den Frieden, den ich brauche, um weiterleben zu können.
Ich lenke die Schritte zu meiner Stelle, meinem Schicksalsort. Vor zwölf Jahren war ich mit meiner Tochter hier zum Schwimmen. Es war in den frühen Abendstunden eines schönen Sommertages. Clara wollte noch gerne ans Wasser und ich hatte zugestimmt, mit ihr zum See zu gehen.
Während Clara zum Wasser ging, setzte ich mich ein Stück vom Ufer entfernt auf die mitgebrachte Wolldecke und klappte mein Buch auf. Hin und wieder hob ich den Blick, um nachzusehen, was Clara machte und um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Doch dann wurde mir bewusst, dass ich sie schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Ich starrte verwirrt auf die Wasseroberfläche und überlegte, ob sie vielleicht gerade tauchen übte. Immer hektischer suchte ich mit meinen Augen den Bereich ab, wo sie zuletzt geschwommen war.
Mein Herz begann schrecklich zu rasen, Panik erfasste mich. Ich sprang auf und brüllte immer wieder panisch ihren Namen. Dann stürzte ich mich ins Wasser und kraulte so schnell ich konnte zu der Stelle, an der ich sie zuletzt gesehen hatte. Ich tauchte im verzweifelten Bemühen, Clara zu entdecken, doch das Wasser war hier schon tief und ziemlich trüb. Unmöglich, etwas zu erkennen. In meiner Panik verlor ich jede Orientierung. Beim Auftauchen schrie und heulte ich und versuchte, ohne richtig Luft zu holen schnell wieder nach unten zu gelangen, um Clara doch noch zu finden. Nach schier endlosen Minuten des Kampfes im Wasser wurde ich nach neuerlichem Auftauchen von kräftigen Armen gepackt und halb bewusstlos in ein Boot gezogen. Ich kämpfte gegen diese Arme, versuchte wieder ins Wasser zu gelangen, um meine Suche nach Clara fortzusetzen, aber es waren zu viele Arme, zu starke Arme und ich hatte meine Kraft verbraucht. Mein Körper, meine Nerven kollabierten und ich verlor das Bewusstsein.
Als ich wieder erwachte, lag ich in einem Krankenhausbett und meine Frau saß neben mir. Ihr Gesicht war von Gram und Kummer entstellt. Sie berichtete mit tonloser, brüchiger Stimme, dass Rettungstaucher eine halbe Stunde nach meiner Rettung den leblosen Körper unserer Tochter geborgen hatten. Während sie meine Hand hielt, stellte sie immer wieder die Frage, wie das nur geschehen konnte. Selbst durch den dichten Schleier, den die verabreichten Beruhigungsmittel über mein Bewusstsein gelegt hatten, war die in den Fragen enthaltene Schuldzuweisung zu spüren. Ich war außerstande ihr zu antworten. Jeder Versuch, zu sprechen endete in einem kraftlosen, unverständlichen Gestammel.
Und ich fühlte mich schuldig. Mein Kind war wenige Meter von mir entfernt ertrunken, ich hatte es nicht retten können. Ich begann unkontrollierbar zu zittern und zu schluchzen. Die herbeigeeilte Ärztin injizierte mir eine weitere Dosis eines Sedativums, das mich gnädig in willkommene Bewusstlosigkeit gleiten ließ. Meine Frau blieb mit ihrem Schmerz ohne Unterstützung durch mich alleine zurück. Die Beisetzung von Clara erlebte ich wie in Trance. Sie hatten ein Loch gegraben. Ich musste zusehen, wie sie den Sarg mit dem Körper von Clara in dieses Loch versenkten. Dann häuften sie Erde darauf. Diese entsetzliche Erde, dieses entsetzliche Geräusch. Sie prasselte erst laut und hart auf Claras Sarg, dann schließlich immer leiser, dumpfer. Wie konnten sie nur diese Erde über meinem Mädchen aufhäufen, meinem Kind?
Der Verlust von Clara riss unsere Ehe in einen Abgrund aus Verzweiflung und Depression. Während ich betäubt darin verharrte, nahm meine Frau den Kampf auf und arbeitete sich Stück für Stück in ein normales Leben zurück. Viele Monate lang hielt sie mit mir aus, weil sie es nicht über sich bringen konnte, mich in meiner desolaten seelischen Verfassung zu verlassen. Als sie mir schließlich mit um größtmögliche Schonung bemühten Worten mitteilte, dass sie nicht länger bei mir bleiben könne, dass sie bei einem anderen Halt und Stütze gefunden habe, war das eine große Erleichterung für mich. War ich doch nicht nur für den Tod unseres Kindes verantwortlich, sondern auch für das Fortbestehen ihres Unglücks. Der Gedanke, dass sie einen Weg gefunden hatte, der sie in ein neues, vielleicht auch einmal wieder glückliches Leben führen konnte, nahm die große Last dieser Verantwortung von mir. Sie zog fort und ich blieb in unserem kleinen alten Haus zurück.